Kimberly
Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so verloren gefühlt. Nicht mal an dem sonnigen Sommernachmittag in Arcata, als ich ungefähr fünf gewesen war und meine Eltern in dem Trubel auf dem Markt verloren hatte und allein herumgeirrt war. Nicht an meinem ersten Tag in der Schule, wo ich meine wenigen Freunde aus den Augen gelassen und plötzlich ganz allein auf dem Gang herumgestanden hatte, ohne eine Ahnung, wie ich zu meinem Klassenraum zurückfinden konnte. Und nicht einmal dann, als Marlon mir von Werwölfen erzählt und damit mein ganzes Leben verändert hatte, war ich mir so verloren vorgekommen wie in den Stunden im Flugzeug.
Denn in diesem Moment hatte ich überhaupt kein Leben mehr. Obwohl ich nun ein Werwolf war, dem normalerweise ein sicherer Platz in der Werwolfs Gemeinschaft zugestanden hätte, war ich obdachlos und so gut wie allein. Ohne Marlon würde ich mich niemals in dieser fremden Welt zurechtfinden können, selbst wenn sie so gütig sein würde, mich aufzunehmen.
Und so waren meine einzigen Gedanken während des Fluges, dass wir uns beeilen mussten. Da wir die Geschwindigkeit des Jets selbst nichts beeinflussen konnten, war es wohl dieser Hilflosigkeit zu verdanken, dass wir umso rasanter und hektischer unterwegs waren, als wir es wieder konnten. Dean raste wie ein Bescheuerter mit dem geklauten Geländewagen über die dunklen Straßen von Silver Bay. Wie schon auf der Fahrt in Arcata hockten Ronia und Jason ganz hinten im Kofferraum, ich mit Marlon auf der Rückbank, Mac quetschte sich in den Zwischenraum und Dean und Chris saßen vorne.
»Wo soll ich hin?«, fragte Dean gestresst, während er mit uns über die Schnellstraße fuhr. Chris wühlte im Handschuhfach und zog schließlich hastig eine Karte von Silver Bay heraus. »Das weißt du selber nicht?«, stellte Dean fest und schnaubte entrüstet.
»Fahr erst mal Richtung See«, murmelte Chris mit gerunzelter Stirn, die mir Sorgen machte. Alles machte mir Sorgen, denn durchgehend hatte ich das Gefühl, dass wir zu langsam waren. Der Flug hatte mehrere Stunden gedauert, was Marlons Gesundheitszustand so kritisch machte, dass ich mich schon die ganze Zeit dazu anhalten musste, meine Hoffnung nicht vollständig aufzugeben.
»Wo ist denn bitte hier der See?«, erwiderte Dean. Ich sah mich ebenfalls um, doch die getönten Scheiben machten es mir schwer bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Abgesehen davon war ohnehin fast nichts um uns herum, bis auf hohe Bäume, welche die Straße einrahmten.
»Die nächste rechts«, meinte Mac und zeigte auf die rechte Seite.
»Woher weißt du das?«
»Keine Ahnung. Sagt mir meine Intuition.«
Dean schnaubte. »Mac, nichts für ungut, aber deine Intuition ist nicht grade die beste und wir haben jetzt echt keine Zeit, irgendwelche Wege zu fahren, die nachher nur in die reinste Pampa führen.«
»Dann fahr halt geradeaus. Wirst schon sehen, wo wir landen«, maulte Mac, der dabei aber keineswegs so patzig klang wie er es unter normalen Umständen getan hätte.
Dean stöhnte und machte Ansätze zum Abbiegen, als Chris rief: »Nein. Nicht da rein.« Erschrocken riss Dean das Lenkrad wieder rum und etwas schlangenförmig blieben wir auf der Straße. »Das hier muss es sein«, redete Chris in normalerem Ton weiter.
Ich konnte nicht erkennen, worauf er zeigte, doch Dean schielte auf die Karte und fragte: »Ein Golfclub? Das sollen sie sein?« Ungläubig runzelte er die Stirn.
»Die Umgebung passt perfekt. Ich glaube schon, dass sich das gut dafür eignet.«
»Hoffentlich«, murmelte Dean und gab Gas. Es war eine Katastrophe, dass wir nicht sicher wussten wo wir hin mussten. Was, wenn dieser Golfclub nicht das Zuhause von Clarus und den anderen Werwölfen war? Wo sollten wir dann hin? Doch Chris nickte immer wieder stumm vor sich hin, während er die ganze Zeit die Karte studierte, was mir ein bisschen mehr Sicherheit gab, dass wir richtig lagen.
Irgendwann begann Marlon sich zu bewegen. Erst bemerkte ich ein minimales Zucken in seiner Hand, dann wurde es stärker. Schließlich zitterte sie. Beunruhigt sagte Mac zu Dean, er solle schneller fahren. Daraufhin gab dieser genervt zurück, dass er schon alles gebe. Ich nahm Marlons Hand in meine und neue Tränen quollen mir aus den Augen. Er wachte nicht auf, er zitterte nur. Doch das Zittern wurde immer stärker und meine Hände zitterten mit.
»Wo lang jetzt?«, fragte Dean endlich, als wir an einer Kreuzung hielten. Sie war die Erste nach der langen einsamen Schnellstraße, die hier offensichtlich endete.
Chris hob seinen Kopf nicht von der Karte, als er antwortete. »Links«, murmelte er. Dean gab wieder Gas. »Gleich musst du rechts.«
Es dauerte nicht lange, da gab Chris das Zeichen zum Abbiegen, wodurch wir auf einen Weg gelenkt wurden, der nicht mehr asphaltiert war. Das Schild Durchfahrt verboten kennzeichnete den Schotterweg, kurz bevor sich dessen Umgebung von einem weit reichenden Ausblick über vertrocknete Felder mit ein paar mageren Bäumen zu einem Wald verwandelte. Er schien im Licht der Scheinwerfer saftig grün zu sein, mit dichten Baumkronen. Trotzdem stellte ich es mir ziemlich unheimlich vor, jetzt allein dort durch zu laufen, selbst als Wolf. Schon hindurch zu fahren war ein komisches Gefühl. Ich hatte plötzlich den Eindruck von tausend Augen angesehen zu werden, die sich dort verbargen.
Der Weg wurde immer schmaler, bis schließlich kein anderes Auto mehr Platz hatte, um an uns vorbei zu kommen. Das sollte ein Golfclub sein? War so ein Weg nicht ziemlich unpassend? Aber vielleicht war gerade das ein gutes Zeichen für uns. Vielleicht war Chris' Theorie wirklich richtig. Hoffentlich.
Es ging eine Weile auf diesem Weg weiter, bis sich vor uns schließlich ein riesiges Gebäude aus dem Wald emporhob. Ich zog meinen Blick mit geweiteten Augen über das große Tor, das sich wie aus dem Nichts aufgebaut hatte. Es stand genau vor uns, war jedoch nicht an eine riesige Mauer gebunden, wie es in Wheeler der Fall war. Dafür, dass das Tor so groß war, erschien der Zaun, der das ganze Haus zu umgeben schien, mickrig klein. Für einen Werwolf überhaupt kein Problem. Das Gebäude dahinter war jedoch ebenso riesig wie in Wheeler, aber irgendwie wirkte es überhaupt nicht unheimlich, abgesehen davon natürlich, dass es mitten in einem schwarzen Wald stand. Die Fassade sah freundlich aus, sie war weiß und auch die Tür, zu der ein kleiner Pfad hinter dem Tor führte, war nicht so überdimensional, wie die in Wheeler. Sie war zwar braun gestrichen, wirkte dabei aber nicht erdrückend. Um das Haus herum erstreckte sich eine breite Wiese, welche wiederrum vom Zaun und unmittelbar angrenzenden Wald eingerahmt wurde und sich so breit auszudehnen schien, dass ich das Ende durch meinen von Bäumen beschränkten Blickwinkel nicht erkennen konnte.
»Ist es das?«, fragte Ronia von hinten.
Chris nickte. »Das muss es sein«, sagte er leise.
»Und wie kommen wir jetzt da rein?«, fragte Mac.
Keiner antwortete. Nach einigen schweigsamen Sekunden schnallte sich Dean ab und öffnete die Tür. »Wir müssen jetzt gehen, sonst ...«, er warf einen Blick auf Marlon und stieg aus dem Auto, den Satz in der Luft hängen lassend.
»Er hat Recht«, meinte Chris und öffnete ebenfalls seine Tür. Mac schlängelte sich durch die Sitzreihen aus dem Auto heraus, bevor er mit Dean zusammen Marlons regungslösen Körper von der Sitzbank zog. Ich achtete darauf, dass sein Kopf nicht unnötig hin und her schaukelte, bevor ich ihnen in die kalte Nachtluft folgte. Hinter uns schlugen Jason und Ronia die Türen zu. Chris stand ganz vorne vor dem Tor.
»Wir müssen rein«, sagte er zu uns gewandt und sah sich um. Er lief an die Seite des Tores und sprang über den relativ niedrigen Zaun. Jason ging an mir vorbei und war auch mit einem Satz drüben. Die zwei anderen Jungs trugen Marlon dorthin und übergaben ihn vorsichtig an die anderen Beiden, ehe sie selbst über den Zaun sprangen und ihn wieder übernahmen. Ich nahm etwas Anlauf und war auch mit einem Satz drüben. Ronia stand gleich darauf neben mir.
Chris lief mit Jason einige Meter zur Tür hin, bis diese vollkommen unerwartet geöffnet wurde. Wir erstarrten. In meinem Körper entstand so viel Angst, dass sie meine Gedanken für einen Augenblick lähmte. Drei Männer blieben unschlüssig im Türrahmen stehen. Als ich sie sah, bekam ich sofort ein eigenartiges Gefühl im Bauch. Es ging von zweien der Männer aus. Der eine hatte eine ähnliche Ausstrahlung wie Dion, weshalb ich mir sofort sicher war, dass er eine Fähigkeit hatte, die jedoch eine andere Auslegung zu haben schien als Dions. Denn anders als mein Gefühl ihm gegenüber war es bei diesem Mann nicht so allarmierend. Was den Anderen betraf, war ich mir nicht sicher, wie ich meine Gefühle deuten konnte. Irgendwie erinnerte er mich an Leroy, denn er schien keine Fähigkeit zu haben. Offensichtlich hatte er trotzdem etwas an sich, was ihn besonders machte. Das musste Clarus sein. Der dritte Mann hatte keine außergewöhnliche Aura. Er strahlte keine besondere Macht aus. Jedenfalls nicht mehr, als es Chris und die Anderen taten.
Ihre Blicke wanderten misstrauisch über jeden Einzelnen von uns, was mir bewusst machte, wie ungewöhnlich es für sie wirken musste, dass wir mitten in der Nacht vor ihrem Haus standen. Auf Marlon verweilten ihre Augen besonders lange, denn sie schienen nicht einschätzen zu können, was diese Aufmachung bedeuten sollte.
»Wer sind Sie?«, fragte nun der Mann mit der komischen Aura. Er hatte eine tiefe Stimme, die zu seinem Alter passte, das etwa um die Vierzig herum liegen musste.
»Clarus, nehme ich an«, sagte Chris statt eine Antwort auf seine Frage zu geben. Der Mann sah ihn lange an, dann nickte er. »Wir sind Werwölfe. Aber -«, begann Chris, doch er wurde von dem dritten Mann unterbrochen.
»Was wollt ihr hier?« Sein Ton war unhöflich und grob. Er war wohl nicht gut auf andere Werwölfe zu sprechen, beziehungsweise, er war nicht so gut auf die anderen Werwölfe zu sprechen. Na ja, verständlich. Was würde ich denken, wenn plötzlich Werwölfe von einem anderen Clan vor unserer Haustür stehen würden? Und das mitten in der Nacht.
Von hinten traten zwei weitere Männer an Clarus heran. Sie sahen in einem Mix aus Neugier und Misstrauen auf uns und ich erkannte durch das Licht des Mondes, welches die Männer allesamt beschien, dass sie gerade aus dem Bett gekommen sein mussten, da sie Jogginghosen trugen.
»Bitte, wir brauchen einen Mediziner«, drängte Chris und deutete mit dem Kopf auf Marlon. »Wir sind den ganzen Weg von Arcata in Kalifornien bis hierher geflogen. Das Gift ist schon lange in seinem Körper. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bitte ...« Ich wusste, dass es nicht Chris‘ Art sein konnte, zu betteln, doch in diesem Moment sah er es wohl als die einzige Möglichkeit, unseren Gegenübern die Dringlichkeit der Situation mitzuteilen. Vielleicht würden sie uns nur so Glauben schenken.
Ich hätte mich am liebsten vor ihnen auf die Knie geschmissen und mit gebettelt, als ich Chris so hörte. Neue Tränen stiegen in meine Augen, ich musste heftig blinzeln und ein Aufschluchzen unterdrücken. Ich hasste mich dafür, dass mir eine einzelne Träne über die Wange lief. Der blonde Mann mit der Fähigkeit hatte seinen Blick die ganze Zeit auf mich gerichtet, sodass ihm die Träne nicht entging. Sein Blick wirkte dabei noch nachdenklicher, obwohl er so forsch mit uns gesprochen hatte. Er wandte seinen Blick aber nicht ab, als ich sah, dass er mich die ganze Zeit beobachtete. Was hatte er? Spürte er, dass ich eine Fähigkeit hatte?
Ich versuchte den Blick zu ignorieren und schaute stattdessen auf Clarus. Er beobachtete immer noch Marlon. Bitte lasst uns doch rein … bitte …, flehte ich in Gedanken. Schließlich sah Clarus wieder auf und er musterte jeden Einzelnen von uns genau. Unsere ernsten, verzweifelten Gesichter mussten nachher der Auslöser dafür sein, dass er beiseitetrat und die zwei Männer hinter sich rein scheuchte. »Gut, kommt mit«, sagte er, was in mir einen ganzen Bach an Erleichterung freiließ, der sich in mir ergoss.
Mit bebendem Herzen setzten wir uns langsam in Bewegung. Irgendwie fühlten sich meine Beine jetzt an als wären sie aus Blei. Es fiel mir schwer einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch ich erreichte die Tür genauso wie alle anderen. Ich fühlte ihr Unbehagen als wir an den zwei Männern vorbei gingen. Der Mann mit der Fähigkeit hatte seinen Blick noch immer auf mir, was mir eine Gänsehaut bescherte, da es unangenehm war, von ihm angestarrt zu werden.
Drinnen war kein Licht an, dennoch konnte ich alles erkennen. Es führte eine breite Treppe ins zweite Stockwerk, die genau gegenüber der Tür positioniert war. Hier war die Decke nicht so hoch wie in Wheeler und insgesamt wirkte der Eingangsbereich nicht so hochgestochen majestätisch. Stattdessen sah es aus wie ein überdimensional großer Flur, der sowohl nach oben als auch nach links und rechts abführte. Oben auf der Treppe standen fünf weitere Werwölfe. Sie sahen mit aufgeregten, skeptischen Augen zu uns herunter, so wie die zwei anderen, die dazugekommen waren. So war es eine verdammt unangenehme Situation für uns.
Clarus ging nicht zur Treppe, sondern führte uns durch eine offene Stelle in der Wand in einen angrenzenden Gang nach rechts, in dem sich zwei Türen befanden. Mit einem starken Griff drückte er die Klinke runter und öffnete sie für uns, sodass die Träger Marlon vorsichtig in den Raum bringen konnten, in welchem Clarus das Licht anknipste. Es blendete mich, sodass es ein paar Sekunden dauerte, bis ich ein Krankenzimmer erkennen konnte, das viel mehr danach aussah als jenes in Wheeler. Es standen mehrere kleine Schränke nebeneinander gereiht, ein Schreibtisch und dann natürlich das Bett, welches mit einer hellgelben Bettwäsche bezogen neben einem kleinen Waschbecken und einem Stuhl platziert war. Auf der anderen Seite war noch ein kleines Schränkchen, wie es sie im Krankenhaus auch gab, auf welchem eine Lampe und ein leeres Glas standen.
»Legt ihn auf das Bett«, kommandierte Clarus und deutete darauf.
Dean und Mac trugen Marlon vorbei und legten ihn vorsichtig ab. Ebenso vorsichtig zog ihm Chris die Decke und den Verband vom Körper, sodass er mit nacktem Oberkörper und offener Wunde dalag.
»Wie lange ist das Gift schon in seinem Körper?«, fragte Clarus, während er aus einem der Schränke ein paar Sachen nahm. Ich bewunderte ihn dafür, dass er nicht erst für seine eigene Sicherheit sorgte, indem er uns bewachen ließ oder uns praktische Fragen stellte wie Warum kommt ihr zu uns? oder Wer schickt euch? Aber vielleicht war er sich seiner Fähigkeiten und aufmerksamen Freunde auch sicher genug, dass er darauf verzichtete. Dankbar war ich ihm ohnehin für diese Verhaltensweise, denn sie sparte uns viel Zeit.
»Ein bisschen weniger als sechs Stunden«, mutmaßte Chris.
»Oh«, entfuhr es Clarus. »Das ist schon ziemlich lang.«
Er ging ohne uns anzugucken zu dem kleinen Schrank in der Ecke und holte allerlei Zeug heraus, mit dem er sich ganz fachmännisch und ruhig daran begab, die Wunde zu säubern. Ohne ein Wort an uns zu verschwenden, strich er mit Desinfektionsmitteln über die Wunde, welche mittlerweile nicht mehr von Blut bedeckt war. Der Rand des Einschussloches hatte eine eigenartig dunkle Farbe, weshalb ich gar nicht so lange hinsehen konnte, weil es mir selbst wehtat.
Als er mit dem Säubern fertig war, nahm er sich eine kleine Packung, auf der irgendetwas Kleingedrucktes stand. Daraus zog er eine Zahnpasta ähnliche Tube und hielt sie über die Wunde. Er drückte und heraus kam eine grünliche Pampe. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich wirklich gesagt, dass es Zahnpasta war. Mit einem löffelähnlichen Gerät verteilte er das grüne Zeug über der Wunde, dann nahm er sich ein Handtuch und drückte es darauf. Beunruhigt sah ich zu, wie Marlons Körper zu zucken begann. Er bebte unter den Schmerzen, bis Clarus den Druck wieder wegnahm und die Paste von der Wunde strich.
Was er dann tat, konnte ich nicht mit ansehen, denn allein das Skalpell, welches er danach zur Hand nahm, jagte mir einen unfassbaren Schrecken ein. Ich wandte mich deswegen mit verschwommenen Augen zur Seite und starrte in Macs Augen, die meinen Blick mitleidig und gütig zugleich entgegennahmen. Währenddessen war nichts zu hören als die lauten Herzschläge aller Werwölfe in diesem Raum und die Geräusche, die Clarus mit dem Skalpell auf der Haut meines Freundes machte. Er hantierte mit allen möglichen Sachen herum, was ich nur hören konnte und dabei den Schrecken in Macs Gesicht betrachtete, während dieser Clarus dabei zusah.
»Du kannst wieder gucken«, raunte er mir kaum hörbar zu, als es schließlich leise wurde.
Vertrauensvoll wandte ich meinen Kopf deshalb wieder nach vorne und starrte erschrocken auf die Wunde, welche sich jetzt vergrößert hatte. Offenbar hatte Clarus ein ganzes Stück der Haut um das Loch herum weg geschnitten, sodass jetzt plötzlich violette Flecken auf dem Gewebe darunter zu erkennen waren. Einzelne dunklere Striemen erkannte ich sehr gut auf dem violetten Hintergrund. Es gab nur noch ein paar winzige Stellen, die noch die normale rote Farbe hatten.
»Das ist schlecht«, murmelte Clarus anscheinend eher für sich selbst als für uns. Ich sah ihn beunruhigt an.
»Was bedeutet das?«, fragte Jason und ich hörte dieselbe Verzweiflung heraus, die auch ich verspürte.
Clarus erklärte ohne aufzublicken: »Die violetten Stellen zeigen, wo sich das Gift schon überall tiefer in die Zellen gefressen hat. Und hier ist fast der gesamte Körper voll. Sechs Stunden ist eine lange Zeit. Ich weiß nicht, ob er es schafft.« Er sah auf. »Seine Chancen stehen schlecht.«
Wieder unterdrückte ich ein Schluchzen, doch die Tränen konnte ich nicht mehr zurückhalten. Sie liefen leise und ungehindert meine Wange hinab. Ich bemerkte wie Clarus mich musterte, doch ich konnte nur gebannt auf Marlon starren, während mir die Tränen langsam die Sicht verschwimmen ließen. Ein Arm legte sich tröstend um meine Schultern. Ich musste gar nicht hinsehen, um zu wissen, dass es Mac war. Ohne ein Wort lehnte ich mich leicht an ihn, froh über die Stütze.
Dies waren die einzigen Worte, mit denen Clarus uns eine Prognose ausstellte, bevor er den Rest seiner Behandlung fortführte. Da ich von Medizin keine Ahnung hatte und nicht davon ausgehen konnte, dass diese Medizin auch solche war, die für Menschen verwendet werden konnte, beobachtete ich nur schemenhaft was Clarus tat: mit Wasser aus dem Kran schüttete er direkt auf der Wunde zwei weiße Pillen auf, die sich daraufhin in ihre Bestandteile lösten. Danach gab er Marlon drei Spritzen hintereinander. Zwei in den Arm, eine in den Bauch. Dabei zuckte der Körper des Jungen unnatürlich und tat es auch noch, als Dean Clarus stumm dabei half, einen Verband um seinen Oberkörper zu binden, damit alles verschlossen wurde. Erst nach einer vierten Spritze schien sich der Schmerz in ihm zumindest so weit zu legen, dass er regungslos liegen blieb.
»Er ist jetzt erst mal versorgt«, beendete Clarus letztlich seine Versorgungsmaßnahmen und lehnte sich tief durchatmend in dem Stuhl vor Marlons Bett zurück. »Wir können nur hoffen, dass die Mittel schnell helfen. Bei dieser Menge an Gift ist das aber nicht sehr wahrscheinlich. Ich würde nicht mit dem Besten rechnen.« Er musterte uns mit einem langen, intensiven Blick, ehe er weitersprach: »Und nun zu dem anderen: wer seid ihr und wieso seid ihr hier?« Mir fiel auf, dass er von der höflichen Anredeform zur normalen Gewechselt hatte. Vielleicht war das so unter Werwölfen, vielleicht hatte er aber jetzt auch nicht mehr so viel Respekt vor uns, weil er offenbar gemerkt hatte, dass wir keine bösen Absichten haben konnten.
Ich sah wie Chris sich aufs Sprechen vorbereitete und die Schultern straffte. Er deutete auf jeden einzelnen von uns, während er unsere Namen nannte: »Das ist Jason Navis, Dean Lister, Ronia McShauter, Kimberly Marys, Mac Silverman, ich bin Chris Naword und das ist Marlon Adams.«
Clarus folgte Chris' Andeutungen auf die Personen bis hin zu Marlon. Natürlich konnte er mit den Namen nicht wirklich viel anfangen, weshalb er daraufhin nur eine Augenbraue hob.
»Wir sind alle Werwölfe aus Charts Clan«, sagte Chris, redete aber schnell weiter, als er sah wie sich Clarus etwas versteifte: »Aber wir sind nicht in seinem Auftrag hier. Im Gegenteil. Er, beziehungsweise einer seiner Männer, war es, der Marlon angeschossen hat.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Das, was er sagte war nicht richtig. »Nein, er wollte mich treffen. Marlon hat mich runter gedrückt und wurde selbst getroffen.«
Clarus musterte mich eine Weile, dann sah er zu Marlon und schließlich wieder zu Chris. »Warum hat Chart das getan?«, fragte er mit ruhiger Stimme, die ihn in meinen Augen zu einem sehr viel kompetenteren Anführer machte als Chart es war. Diesen Eindruck hatte ich schon, seit ich Clarus vorhin das erste Mal in die Augen gesehen hatte. Das ist ein gutes Zeichen, würde Leroy jetzt sagen.
Chris zögerte. »Wir haben etwas herausgefunden. Dann sind wir geflohen, nach Arcata. Er ist gekommen und es kam zum Kampf.«
Clarus sah ihn nachdenklich an. »Was habt ihr herausgefunden?«
Wieder zögerte Chris kurz, doch dann sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus: »Er möchte die Menschen unterwerfen. Er will, dass Werwölfe die führende Macht in der Welt werden. Dazu braucht er die restlichen Werwölfe, deine Werwölfe. Aber dich möchte er töten. Seine Rache ist ihm wichtig, glaube ich.«
Clarus sah ihn eine Weile an, dann lächelte er vergnügt. »Er hat es sechshundert Jahre lang nicht geschafft, mich zu töten. Warum sollte er das jetzt? Und wieso sollten dann die restlichen Werwölfe zu ihm gehen?« Ich sah ihm an, dass er uns nicht ganz glaubte.
»Es gibt einen Werwolf, der mit seiner Fähigkeit unser Bewusstsein steuern kann. Er ist in der Lage, uns zu einem bestimmten Glauben zu bringen ohne dass wir es merken. Jeder, der in seine Nähe kommt, wird beeinflusst, wenn er es so will. Darum sind auch die anderen Werwölfe auf seiner Seite. Er arbeitet für Chart.«
»Wie ist sein Name?«, fragte Clarus und sah dabei schon nachdenklicher aus als vorher. Anscheinend war ihm die Sache doch nicht so geheuer.
»Dion.«
Mit dieser Äußerung verschwanden mit einem Mal alle Züge aus Clarus‘ Gesicht und er starrte nur unverfroren zu Jason, der es gesagt hatte. »Dion«, wiederholte er murmelnd.
»Was ist mit ihm?«, stellte Mac vorsichtig die Frage, die uns alle beschäftigte.
Clarus' Augen wanderten auf den Boden und schienen glasig zu werden. Er sah zurück in die Vergangenheit und seine Stimme klang monoton und ausdruckslos als er antwortete: »Dion ist Charts Sohn.«
Sein Sohn?, hallte es in meinen Gedanken nach. Die Worte sackten langsam in mein Gedächtnis. »Sein Sohn?«, platzte es ungläubig aus Mac heraus. Sie wirken überhaupt nicht Vater-Sohn mäßig, setzte ich innerlich noch an seine Frage an. Nie hatte ich das Gefühl gehabt, zwischen den beiden eine enge Bindung feststellen zu können. Nie war auch nur ein Wort gefallen, das uns darauf hätte schließen lassen.
Clarus nickte. »Schon seit einigen Jahrhunderten. Seine Mutter ist ein paar Jahre nach der Geburt gestorben. Sie wurde von Menschen umgebracht.«
»Seitdem hat Chart ohnehin einen riesigen Hass auf Menschen entwickelt«, spekulierte Chris. »Von dem Mord an seiner Frau wusste ich. Aber nicht von irgendeinem Kind.«
Clarus nickte. »Auch davor meinte er, wir wären mehr wert, als uns unter Menschen zu verstecken, aber dieser Vorfall hat ihn noch gehässiger gemacht als er es schon war.«
»Aber zu dieser Zeit warst du gar nicht mehr mit ihm zusammen«, stellte Dean fest.
»Nein, war ich nicht, aber ich habe immer verfolgt, was bei ihm so passiert. Ich denke, das hat er auch getan. Man soll seinen Feind kennen«, antwortete er gelassen und runzelte dann die Stirn. »Wenn das wirklich stimmt, was ihr sagt, dann verstehe ich nicht wie ihr der Macht von Dion entkommen konntet.«
Ich sah mich schon unbehaglich im Raum um, noch bevor Chris erklärte: »Kimberly hat eine Fähigkeit, die jede andere Fähigkeit wie ein Schutzschild abwehrt. Und vielleicht noch etwas darüber hinaus«, erklärte Chris und sah beim letzten Satz zu mir. Bisher hatte mich noch keiner darauf angesprochen wie ich Chart und die anderen Werwölfe einfach so hatte wegschleudern können, denn unsere einzigen Gedanken und Gespräche hatten sich darum gedreht wie wir Clarus beibringen konnten, dass er uns helfen musste. Doch ich war mir sicher, dass sie das jetzt gleich alles nachholen würden. Dabei wusste ich doch selbst keine Antworten.
Clarus‘ Blick bohrte sich in mich hinein. »Du kannst jede Fähigkeit abwehren?«
Ich zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht genau. Bis jetzt hat es immer geklappt. Aber so viele Leute mit Fähigkeiten sind mir noch nicht begegnet.«
»Wie auch?«, murmelte Mac. »Sie hat sich erst gestern verwandelt.«
Clarus Augenbrauen fuhren in die Höhe. »Woher wisst ihr dann, dass eure Theorie stimmt?«
Chris blickte mich mit gerunzelter Stirn an, während er Clarus‘ Frage beantwortete. »Wir haben einen Magier besucht, als Kimberly sich noch nicht verwandelt hatte. Er hat eine Art Zeremonie mit ihr durchgeführt und uns gesagt, wie wir vorgehen sollen, wenn sie sich verwandelt.«
»Seit wann wisst ihr von dem Ganzen?«, fragte der alte, weise Werwolf.
Jason seufzte. »Wie wäre es, wenn wir alles nochmal von Anfang an erzählen?«
Clarus nickte. »Ja, das ist vielleicht das Beste.« Ich war erleichtert über diese Aussage, denn sie schob zumindest noch einen Moment lang die Fragen über das ganze Ausmaß meiner Fähigkeit nach hinten.
Und so begann Chris. Er erzählte von dem Moment an, als Marlon nach Arcata geflogen war, um mich aufs Werwolfsein vorzubereiten. In der Zwischenzeit war bei ihnen Dion angekommen, doch es war an ihm angeblich nichts Ungewöhnliches gewesen. Er war ihnen einfach als ein ganz normaler neuer Werwolf erschienen. Bevor ich meinen Informantenbesuch in Wheeler hatte, war nur ein ungewöhnliches Ereignis vonstattengegangen, das aber weder Chris noch ich haarklein erzählen konnten: Charts scheinheilig freundlicher Anruf bei Marlon. Clarus konnte auf Chris‘ spekulative Fragen über Charts Motivation keine genaue Antwort geben, aber in seinem Gesicht sah ich, dass er trotzdem mehr wusste als er preisgeben wollte.
Erst ab dem Nachmittag, an dem ich in Wheeler zusammengebrochen war, schien unsere Erzählung für Clarus wirklich interessant zu werden. Dean sprang ein, um wiederzugeben, wie wir Chart und Dion im Zimmer nebenan belauscht hatten und wie wir herausgefunden hatten, dass ich sie von Dions Magie heilen konnte, wenn ich sie berührte. Dann erzählte Jason wie sie Chart, Rosello und Dion in Charts Zimmer belauscht hatten und dass wir daraus den Schluss gezogen hatten, sie würden Clarus‘ Werwölfe angreifen wollen, um Rache zu üben.
Dann erklärte Chris wieder wie wir nach Arcata geflogen waren, was Chart am Telefon gesagt hatte und was uns Leroy erklärt hatte. Schließlich kamen wir zu dem Teil, wo Marlon und ich auf Masons Party waren. Ich schilderte mit Unwohlsein wie es mir gegangen war; wie sich plötzlich alles in mir verändert hatte und wie mich Marlon in einem Schuppen untergebracht hatte. Chris erzählte zum Schluss noch, was Chart und Dion kurz vor dem Kampf gesagt hatten; wie Chart versucht hatte, uns alle umzubringen, wie es zum Kampf gekommen war und schließlich, warum Marlon angeschossen worden war. Er erklärte aus seiner Sicht wie es gewesen war, als ich Chart und die Anderen plötzlich weggeschleudert hatte. Der entscheidende Unterschied zu meiner Perspektive war dabei die fehlende gelb glitzernde Wand, welche für meine Augen sichtbar, für ihre jedoch offenbar nicht zu erkennen gewesen war.
Clarus hörte die ganze Zeit aufmerksam und von Mal zu Mal beunruhigter zu. Als Chris fertig war, lagen alle Blicke auf mir. Ich schluckte unbehaglich. »Ich … ich weiß auch nicht wie ich das gemacht habe«, gestand ich.
»Aber du musst doch irgendwas gespürt haben«, sagte Mac, wobei es schon eher eine Frage war.
»Ich war … wütend und dann hab’ ich einfach die Hand ausgestreckt und sie sind geflogen«, schilderte ich die Bilder meiner Erinnerungen.
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß noch, dass du sie zur Faust geballt hast.«
»Ja, aber ich weiß nicht wie ich sie dann wegschleudern konnte. In dem Moment war ich … ich habe einfach intuitiv gehandelt. Ich kann es nicht beschreiben.« Ich erinnerte mich noch still daran wie sich eine Art Wand aus mir heraus auf sie zugeschoben hatte, welche die Werwölfe weggeschleudert hatte, aber das sagte ich nicht. Meine Augen gingen hinab zu meiner Hand, die ich jetzt wieder zur Faust ballte als könnte ich den magischen Kasten so erneut entstehen lassen.
»Das ist äußerst erstaunlich«, murmelte Clarus und er klang schon wie Chris, wenn dieser laut nachdachte. »Spürst du es auch, wenn jemand anderes eine Fähigkeit hat? Das ist bei allen anderen Werwölfe so, die eine Fähigkeit haben.«
Also hatte der Typ draußen doch gefühlt, dass ich eine hatte. Deshalb hatte er wohl so komisch geguckt. Ich nickte. »Ja, der Mann draußen neben dir hatte eine starke Fähigkeit«, sagte ich, um ihm das zu bestätigen. Im ersten Moment war ich mir unsicher, ob ich Clarus duzen sollte, aber dann fiel mir auf, dass ich Chart auch geduzt hatte und dass es zu förmlich für diese Situation war, jemanden zu siezen.
Jason und Dean hoben gleichzeitig die Augenbrauen und sahen mich erstaunt an. Auch die Blicke der Anderen waren überrascht. »Das konntest du so leicht erkennen?«, wollte Dean es bestätigt haben.
Clarus erhob sich, als ich Deans Frage nickend beantwortete. »Okay, also ich gehe davon aus, dass ihr die Wahrheit sagt«, meinte er, was mich erleichterte. »Dann ist das hier eine ernste Angelegenheit. Er wollte euch umbringen, obwohl er euch selbst auserwählt hat. Also muss es für ihn sehr ernst sein. Und wenn Chart etwas sehr ernst nimmt, sollten die Anderen es erst recht tun. So wie ich ihn kenne, lässt er vermutlich erst einmal ein wenig Zeit verstreichen. Das war schon immer seine Strategie, die uns allerdings auch einen Zeitvorteil bringt.« Er pausierte einen Moment, indem er nachzudenken schien, ehe er weiterredete. »Ich werde jetzt kurz die Anderen informieren und mich beraten. Ihr bleibt bitte hier im Raum, bis jemand kommt und euch abholt.«
Wir stimmten zu und blieben somit allein zurück, als Clarus die Tür öffnete und dahinter verschwand. Danach blieb es einen Moment totenstill um uns, denn wir alle lauschten nur auf die Schritte, die jedoch hinter der Tür schon nicht mehr zu hören waren.
Ich atmete zittrig aus, als dann die Anspannung langsam aus meinem Körper wich. Ohne drüber nachzudenken ging ich auf die andere Seite von Marlons Bett und zog mir den Stuhl ran, auf dem Clarus gesessen hatte. Meine Hand suchte Marlons und drückte sie, als ich sie fand. Er zeigte keine Regung, nur das lautlose Zittern und der sich flach hebende Brustkorb deuteten darauf hin, dass er noch lebte. Wenn er wüsste wie sehr sich sein Leben gerade gewendet hatte, würde er vielleicht erst recht nicht mehr aufwachen wollen.