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Bernhard Gitschtaler

GEERBTES SCHWEIGEN

BERNHARD GITSCHTALER

Geerbtes
Schweigen

Die Folgen der NS-„Euthanasie“

OTTO MÜLLER VERLAG

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Titelbild: Leere Kongresshalle vor dem Nürnberger Parteitag der NSDAP im Jahre 1938; fotografiert von einer Privatperson. Die Kongresshalle war Teil des Reichsparteitagsgeländes und bot bis zu 50.000 Menschen Platz. (Bildquelle: Verein Erinnern Gailtal und Michael Skihar)

Auf die Verwendung des Binnen-I wurde aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichtet, in der Regel sind aber beide Geschlechter gemeint.

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1246-7

© 2016 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., 69123-Pohořelice, Tschechien

VIELLEICHT

Erinnern

das ist

vielleicht

die qualvollste Art

des Vergessens

und vielleicht

die freundlichste Art

der Linderung dieser Qual

Erich Fried

INHALT

VORWORT

METHODISCHE GRUNDLAGEN

ENTWICKLUNGEN UND TRANSFORMATIONEN DES „ÖSTERREICHISCHEN GEDÄCHTNISSESIN BEZUG AUF DEN NATIONALSOZIALISMUS

1. Etappen des österreichischen Gedächtnisses: Gedenken an den österreichischen Freiheitskampf bis 1949 und die Entstehung der „Opferthese“

2. Vom Freiheitskämpfer- zum Soldatengedenken

3. Umkämpfte Erinnerung: Vom „ersten Opfer“ zum „Mittäter“

4. Die Waldheimaffäre: Der Anfang vom Ende der „Opferthese“

DIE FAMILIE ALS ORT DER GESCHICHTSKONSTRUKTION, DES VERSCHWEIGENS UND DER AUSEINANDERSETZUNG

DIE NS-EUTHANASIE

1. Die zentralisierte Euthanasie

2. Dezentralisierung der Euthanasie 1941 bis 1945

OPFER DER NS-EUTHANASIE: „SCHLIMMER ALS TOTGANZ VERGESSEN

1. Fehlende gemeinsame Identität

2. Fehlende Interessensvertretung

3. Angst und Scham der Nachfahren

4. Erschwertes Gedenken und NS-Kontinuitäten

5. Motive für die Suche nach NS-Euthanasie-Opfern in der Familie

WAS IST EIN TRAUMA?

1. Seelisches Leid und die Leerstellen des Gedächtnisses

2. Traumaarbeit: Der Verein Aspis

VERLETZLICHER ABER STÄRKER: DAS BIO-PSYCHO-SOZIALE MODELL

1. Soziale Unterstützung: Hilfe für Angehörige und Nachfahren von Euthanasie-Opfern

2. Salutogenese: Über das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit

NS-EUTHANASIE, TRANSGENERATIONALE TRAUMAÜBERTRAGUNG UND DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DER FAMILIENGESCHICHTE

1. Familie Müller: „Da hat‘s was gegeben, aber still sein!“

2. Familie Schneider: „Das hat sich wie eine große Trauerwolke über die Familie gelegt.“

3. Familie Sandner: „… das Gefühl, was Gutes getan zu haben, auch wenn etwas Schlimmes dabei rausgekommen ist.“

4. Maria Gruber: „Meine Mutter hat mich verlassen und jetzt verlassen mich alle.“

RESÜMEE

Der Verein Erinnern Gailtal

Anmerkungen

Literaturliste

VORWORT

Als alliierte Truppen im Mai 1945 Europa von der NS-Herrschaft befreiten, wurden die unzähligen Konzentrationslager, die Todesfabriken, in denen Millionen Menschen ermordet wurden, gefunden. Was die Alliierten nicht wussten war, dass auch Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten oder „Nervenkliniken“1 vom mordenden NS-Personal hätten befreit werden müssen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Menschen aus den Konzentrationslagern, den wohl schlimmsten je von Menschenhand errichteten Orten, befreit werden konnten, während das NS-Personal in den Krankenhäusern bzw. den jeweiligen Abteilungen und Heilanstalten oft noch Monate nach dem Ende des „Dritten Reichs“ sein stilles aber mörderisches Unwesen treiben konnte.2 Still, aber nicht unbemerkt, wurde gemordet, still und unbemerkt sollten die Opfer, auch in der Zweiten Republik, vergessen werden. Es gibt keine andere NS-Opfergruppe, die mehr mit gesellschaftlichen Tabus und stillschweigend akzeptierten Sprechverboten belegt ist, als die sogenannten „Euthanasie“-Opfer.3 Der Weg zu finanzieller Entschädigung, sofern Entschädigung oder Wiedergutmachung für ermordete Angehörige in diesem Zusammenhang überhaupt die richtigen Worte sein können, wurde in den letzten Jahren spät aber doch zugänglich gemacht und die nachholende wissenschaftliche Aufarbeitung kam vor allem in Deutschland voran. Etwas anders stellt sich die Lage hinsichtlich der Aufarbeitung und Verantwortungssuche in Österreich dar. Aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Euthanasie-Opfer, der jahrzehntelangen Nichtthematisierung der österreichischen NS-Vergangenheit, aufgrund des fehlenden Wissens über diese NS-Verbrechen und die Menschen, die ihnen zum Opfer fielen, sowie den damit verbundenen Schamgefühlen bei Nachfahren bis hin zur Negativbesetzung von Behinderungen oder Beeinträchtigungen in unserer heutigen Zeit, ist es für tausende betroffene Angehörige bis dato nicht oder kaum möglich, sich mit der Familiengeschichte und den traumatischen Euthanasie-Morden auseinanderzusetzen, diese aufzuarbeiten und damit zu bewältigen. Mit den Folgen der durch die NS-Medizin gewaltsam aufgerissenen Wunden haben viele Menschen noch heute zu kämpfen. Dabei geht es Jahrzehnte danach nicht mehr um „offene“ Wunden, sondern beinahe ausschließlich um tiefe, seelische Verletzungen und Traumatisierungen, die das Leben vieler Menschen bis heute begleiten und beeinflussen. Wunden, die ebenso präsent wie unsichtbar sind.

Ging man lange davon aus, dass Gewalterfahrungen nur dann wirken, wenn eine Person direkt von solchen traumatischen Erlebnissen betroffen ist, zeigen aktuelle Forschungen, dass Traumata auch innerhalb einer Familie, von einer Generation auf die Nächste, übertragen werden können. Nachfahren können die Traumatisierungen sogar Jahre später nacherleben, was die traumatisierenden Euthanasie-Morde einmal mehr zu einem brandaktuellen Thema in der Gegenwart macht.4 Zöchmeister und Wutti zeigen dabei besonders eindrucksvoll, wie ähnlich der familiäre Umgang mit den Herausforderungen bei den vielen Betroffenen aus unterschiedlichen Opfergruppen sein kann. Um diese Prozesse verstehen zu können, hat es sich bewährt, NS-Opfer und deren Familien und Nachfahren im Rahmen größerer sozialer Gruppen zu betrachten und zu analysieren. So hatte Zöchmeisters umfangreiches Werk die Shoah und damit die Opfergruppe der Juden sowie deren Nachfahren in Österreich zum Thema. Bereits einige Jahre davor erschien in Österreich der Sammelband „Holocaust im Leben von drei Generationen“ von Gabriele Rosenthal, die ebenfalls Überlebende der Shoah und deren Nachfahren zum Thema machte.5 Gerti Malle wiederum befasste sich als Psychologin mit den Leidensgeschichten und den traumatischen Erfahrungen der Zeugen Jehovas in Österreich, speziell in Kärnten, und Daniel Wutti behandelt in seinem Werk „Drei Familien, drei Generationen“ das Trauma des Nationalsozialismus im Leben von drei Generationen von Kärntner Slowenen.6 All diese Studien zeigen, dass die Be- und Verarbeitung von NS-Traumata nicht nur eine enorme Herausforderung für die direkt betroffene Person, sondern für das gesamte Umfeld sein kann. Gewalt kann auch von einer Gruppe in einer Gesellschaft „kollektiv“ erlebt werden, schlicht dadurch, dass diese Gruppe, welche sich selbst nicht als eine solche definieren muss, Ziel von Gewaltakten – welcher Art auch immer – wird.7 Zur Zeit des Nationalsozialismus waren dies beispielsweise Juden und Jüdinnen, Homosexuelle, Geistliche, Zeugen Jehovas, Roma & Sinti oder Kärntner Slowenen, um nur einige Wenige zu nennen.

Es ist dabei kein Zufall, dass in Österreich und Deutschland einige Opfergruppen mehr im Zentrum des (Forschungs)Interesses stehen als andere. Damit wird eine (Macht)Hierarchie der Aufarbeitung und des Gedenkens zwischen den NS-Opfergruppen in der Gegenwart deutlich und es zeigt sich die gesellschaftliche Dimension des Themas. So lässt sich an den bisherigen Forschungen bis zu einem gewissen Grad auch die gesellschaftliche Verankerung und Institutionalisierung der jeweiligen Opfergruppen im „Hier und Jetzt“ ablesen. Welches Leid wird gesehen? Wer wird gefragt? Wer wird ernst genommen und als Opfer(gruppe) anerkannt? Wo gibt es überhaupt ein Bewusstsein und die „Möglichkeit“ des Erinnerns und Sprechens über die Opfer und die erlebte Gewalt? Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer wird nicht anerkannt? Oder wem wird nicht zugehört? Wer darf oder kann das erlebte Leid nicht zur Sprache bringen? Welche Opfer(gruppen) bleiben – auch in der Forschung – unsichtbar und warum? Diesen Fragen soll im vorliegenden Buch nachgegangen werden.

Eine jener Gruppen, die aus unterschiedlichsten Gründen lange unsichtbar und anonym blieb, respektive bleibt – zum einen hinsichtlich der Erforschung transgenerationaler Traumaweitergabe, zum anderen in Bezug auf den Status als NS-Opfer –, ist jene der sogenannten Euthanasie-Opfer. Dies überrascht nicht nur aufgrund der Größe dieser Opfergruppe, sondern auch deshalb, da in die zehntausendfachen Euthanasie-Morde Ärzte schuldhaft verstrickt waren und daneben viele weitere Professionen wie z.B. die Pflege oder jene Tätigkeiten, die man heute wohl als „Soziale Arbeit“ bezeichnen würde.8 Die Zahl der heute in gerader Linie mit Euthanasie-Opfern Verwandten beziffert Götz Aly dabei vorsichtig mit nicht weniger als zehn Millionen (!) Menschen. „Geht man von 200.000 Menschen aus, die diesen Morden zum Opfer fielen, dann sind diese mit rund zehn Millionen heute lebenden (nicht später zugewanderten) Deutschen (und Österreichern) in gerader Linie verwandt.“9 Spätestens jetzt werden die Dimensionen der von den Euthanasie-Verbrechen Betroffenen langsam erahnbar.

Der Höhepunkt der Vernichtung sogenannter „Defektmenschen“ wurde während der NS-Herrschaft unter dem Deckmantel der Medizin erreicht. Ein Prozess, in dem Menschen einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen und so über Leben und Tod entschieden wurde. Ziel dieses Buches ist es, die Gruppe der Euthanasie-Opfer, deren Angehörige und deren Leid ins Zentrum des Interesses zu stellen und anhand einer Auswahl von generationenübergreifenden Interviews der Frage nachzugehen, wie in österreichischen Familien mit dem Erlebten umgegangen wurde und wird, ob es dabei Ähnlichkeiten zwischen den familiären Auseinandersetzungsprozessen gibt, inwiefern es bei Nachfahren zu transgenerationaler Traumaübertragung kam und inwiefern diese bei ihrer Auseinandersetzungs- und Trauerarbeit unterstützt und begleitet werden können. Dabei stehen gerade Angehörige der Euthanasie-Opfer vor enormen emotionalen und psychisch belastenden Aufarbeitungsschritten.

Nicht selten stellt sich im Forschungsprozess heraus, dass angehörige Vorfahren oder andere Verwandte bei der Ermordung oder zumindest der Einweisung der Patienten aktiv beteiligt waren. Gerade in ökonomisch schwachen und/oder kinderreichen Familien war das Abgeben der Verantwortung für einen als belastend empfundenen Angehörigen an NS-Heil- und Pflegeeinrichtungen eine Möglichkeit, sich einen „unproduktiven zusätzlichen Esser“ und zusätzliche Arbeit ersparen zu können. Durch einen Blick auf den damaligen gesellschaftlichen Umgang mit vermeintlich „unproduktiven Volksgenossen“ sollen solche Entscheidungen in diesem Werk entsprechend kontextualisiert werden. Oft genug waren es aber auch die ideologischen Überzeugungen der Angehörigen oder schlicht Gleichgültigkeit, welche zu den Todesurteilen für Verwandte wurden.10

Immerhin, Millionen Österreicher und Deutsche bekleideten Positionen in den unzähligen, das Leben strukturierenden, NS-Organisationen. Die meisten ehrenamtlich. Warum? Weil es dafür soziale Anerkennung und somit Zustimmung zu diesem System gab. Orden für alle. Die Volksgemeinschaft war eine unbarmherzige Leistungsgemeinschaft, unter anderem mit dem Ziel, alle in ihren Augen nicht Leistungsfähigen oder Abgefallenen auszumerzen. In einer von Umbrüchen und Unsicherheiten bestimmten Zeit bot sich der Nationalsozialismus als Ersatzreligion an. Inszenierungen und martialische Symbolik sind Säulen faschistischer Systeme. Fahnen, die Hitler berührte, wurden Reliquien. Hitler, der Führer, inszenierte sich als Erlöser, auf den so viele sehnsüchtig gewartet hatten. Die Menschen wollten an das 1000-Jährige Reich glauben. Weil sie wussten, was sie und ihr Regime taten, hatten viele panische Angst vor einer Niederlage des NS-Regimes und kämpften deshalb umso fanatischer. Durchhalten und weitermachen. An der Front ebenso wie in den Krankenhäusern und Pflegeanstalten, die zur damaligen Zeit gerade den jungen Medizinern nie dagewesene Chancen zur Forschung und zum karrieretechnischen Aufstieg boten. Die Verfolgung der „Nichtsnutze“ hatte Millionen Österreicher und Deutsche begeistert. Der Psychiater Paul Nitsche fasst die freudige Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit mit zweifelhaften aber klaren eigenen Worten zusammen: „Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast los werden und nun wirklich richtige Therapie [Elektroschocks!] treiben können.“11 Ab 1934 wurden in Hitlerdeutschland Massensterilisierungen bei „belasteten“ Personen durchgeführt. Diese Zwangsmaßnahmen fanden Zustimmung, weit über die NS-Anhängerschaft hinaus. Was bei erzwungenen Sterilisierungen und Abtreibungen begann, endete nur wenige Jahre später in hunderttausendfachem Mord.

Später, gegen Ende der NS-Herrschaft, wurden „unliebsame“ oder „unverlässliche“ Menschen, auch ohne Behinderungen, vermehrt der Euthanasie zugeführt. Tatsächlich konnte schon ein Sprach- oder Sehfehler, ein Trauma, eine Psychose, epileptische Anfälle, Armut oder einfach nur das Pech, als uneheliches Kind geboren worden zu sein, als Grund reichen, um in die Fänge der NS-Euthanasie zu gelangen.12 Die Dorfgemeinschaft wusste sehr genau, wo ihre vermeintlichen biologischen Schwachstellen zu finden sind. Den zu Vernichtenden wurde ihr Recht zu Leben abgesprochen, der „erlösende“ Tod sollte ihnen dafür von der Volksgemeinschaft geschenkt werden. Die sprachliche Gleichsetzung der späteren Opfer mit Ungeziefer ist dabei nur ein Schritt auf dem Weg zur Vernichtung gewesen. Eine Form der Entmenschlichung, die auch heute bei der medialen Berichterstattung z.B. über Flüchtlinge immer wieder neu angewendet wird.

Einer der Gründe, warum es bisher keine vergleichbare Arbeit in Bezug auf die Familien und Nachkommen von Euthanasie-Opfern gibt, ist, dass es eben diesen Betroffenen und Nachfahren besonders schwerfällt und zumeist auch schwergemacht wird, über das Erlebte zu sprechen. Wie in keiner anderen Opfergruppe herrscht in dieser und unter den Nachfahren gut 70 Jahre nach dem Untergang des NS das Schweigen. Das Besondere dieser Arbeit ist nun, dass es erstmals gelingt, mit Betroffenen und deren Nachfahren ausführlich über ihre Erlebnisse zu sprechen und somit die Gründe für dieses lange Schweigen untersuchen und thematisieren zu können.

Eine Würdigung der Euthanasie-Opfer und eine wissenschaftliche Untersuchung, inwiefern es bei dieser Opfergruppe zu transgenerationaler Traumaübertragung gekommen ist und wie solche Familien unterstützt werden können, ist somit auch der Versuch, nach der Verantwortung der in die Morde involvierten Personen und Fachdisziplinen im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen zu fragen. Eine Frage, die gerade in Österreich bisher kaum gestellt wurde. Literatur zur Thematik bezieht sich bisher hauptsächlich auf die Bundesrepublik Deutschland. Dieses Buch aber soll allen Nachfahren von NS-Euthanasie-Opfern Mut zur Beschäftigung mit der eigenen Geschichte machen und eine Hilfe und Inspiration bei der Auseinandersetzung, auch mit den leidvollen Jahren der NS-Herrschaft, sein.

Mein persönlicher Zugang zum Feld

Mit der Thematik der transgenerationalen Traumaübertragung bin ich durch meine Arbeit als Obmann des Vereins Erinnern Gailtal konfrontiert worden. Seit 2012 erforschen wir im Team die Zeit des NS und dessen Auswirkungen in Österreich und speziell in Kärnten bis heute. Wir betreiben eine eigene Homepage, auf der alle erarbeiteten Texte und die Namen der von uns erforschten NS-Opfer zu finden sind, sowie eine Facebookseite13, wodurch wir sehr viele Menschen erreichen. Wir konnten bereits drei Bücher zu unserer Forschungstätigkeit veröffentlichen, organisieren Veranstaltungen, Workshops und Vorträge zur Thematik und bieten „Stadtspaziergänge gegen das Vergessen“ an. Darüber hinaus engagieren wir uns für den Erhalt und das Bestehen des Gailtaler Slowenischen Dialektes. Die Arbeit in Vereinsstrukturen bietet dabei einige zu nennende Vorteile. Sind Forschungsprojekte von Universitäten oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen zumeist auf ein, zwei oder drei Jahre beschränkt, so ist die Forschungsarbeit von Erinnern Gailtal eine zeitlich kontinuierliche. Die gewonnenen Kontakte und das Vertrauen in unsere Arbeit, die sich im Grunde nicht von jener von Wissenschaftlern an Hochschulen unterscheidet, verdichten sich so im Laufe mehrerer Jahre hartnäckiger Tätigkeit zu einem engen Unterstützungs- und Informationsnetzwerk. Je länger wir an der Thematik dranbleiben, umso mehr scheinbar Vergessenes können wir zurück ans Licht bringen, umso mehr Zusammenhänge können wir erkennen sowie verstehen und umso mehr Gesprächspartner können wir finden. Eine solche, auch organisatorische Arbeit, begeisterte mich schon im Rahmen meines Politikwissenschaftsstudiums, in dem ich einen Studienschwerpunkt in diese Richtung setzte, den ich beim Studium der Klinischen Sozialen Arbeit fortsetzen konnte.

Forschungsarbeit als familiärer Begleitprozess

Im Zuge meiner Forschungsarbeit konnte ich etliche Familien, welche mich kontaktierten, bei der Suche nach ermordeten Vorfahren begleiten. Im Laufe einiger Jahre wurden so mehr als 20 Interviews geführt und es konnten viele unvergessliche Bekanntschaften mit den Nachfahren von NS-Opfern und mit überlebenden KZ-Insassen gemacht werden. Mit den Meisten stehe ich in dauerndem freundschaftlichem Kontakt und Austausch.

Diese sehr intensive Arbeit kann einerseits eine belastende sein, denn die vielen Schicksale der von den Nazis Ermordeten, die vielen einzelnen Geschichten und das Leid und die Trauer der Angehörigen, welches man als Forscher in diesem Feld immer wieder aufs Neue miterlebt, können nicht spurlos an einem vorübergehen, selbst wenn man auf die in der Wissenschaft gebotene Distanzierung achtet und Wert legt. Auch der „lange Schatten des Nationalsozialismus (und der Revisionisten) ‚zwingt‘ einen, deren Arbeit bis zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen.“14 Immer wieder nehme ich mir deshalb Auszeiten von der Forschungstätigkeit, um mich nicht selbst der Gefahr einer „sekundären Traumatisierung“ auszusetzen.15 Andererseits ist die Begegnung mit unterschiedlichen Menschen, die mehr über die eigene Familiengeschichte und das familiäre Verhältnis zum Nationalsozialismus erfahren wollen, jedes Mal aufs Neue eine bereichernde Erfahrung, so dass nach all den Jahren der Begleitung von Familien, den intimen und oft sehr berührenden Gesprächen mit Angehörigen, die daraus resultierende positive und entlastende Wirkung für Nachfahren und Verwandte von NS-Opfern für mich bei weitem im Vordergrund stehen. Jedes Gespräch, jeder begleitete Trauerprozess, wird so auch für mich zu einer Quelle der Erkenntnis, der Inspiration und des persönlichen Wachsens. Und an der eigenen Geschichte zu „wachsen“ ist die Perspektive, die jenen gegeben werden kann, die sich bereit fühlen, sich mit den ermordeten und verschwiegenen Familienmitgliedern auseinanderzusetzen. Denn heute wissen wir, dass Menschen aus traumatischen Erfahrungen auch Kraft schöpfen und daran wachsen können. Gemeint ist das sogenannte „posttraumatische Wachstum“, das in diesem Buch noch genauer angesprochen werden wird.

Zurück zum schematischen Ablauf meiner Unterstützungsarbeit. Nachdem es zu einer ersten Kontaktaufnahme kam, führe ich meistens mehrere Gespräche mit einem oder mehreren Familienmitgliedern über die Familiengeschichte und alle vorhandenen Details zur gesuchten Person. Erhärtet sich der Verdacht, dass es sich um einen (Euthanasie)Mord handeln könnte, organisiere ich die Kontaktaufnahme mit Archiven oder anderen Institutionen, bei denen Aktenmaterial zum Fall lagern könnte. Eine Begleitung und Vorbereitung der Familie wird, sollte Aktenmaterial auffindbar sein, ab diesem Punkt noch wichtiger. Die neuen Informationen zu den Todesumständen von Vorfahren können für Angehörige, gerade von Euthanasie-Opfern, schockierend und sehr belastend sein. Die in den NS-Akten verwendete Sprache tut dabei ihr Übriges. Es tauchen zumeist viele Fragen auf, mit denen die Angehörigen nicht alleine gelassen werden sollten. Meine Aufgabe im Auseinandersetzungsprozess ist es dabei, sowohl als geduldiger Gesprächspartner einfach und unkompliziert präsent zu sein aber auch mit Hintergrund- und Fachwissen zu den Abläufen z.B. der NS-Euthanasie, dem Aktenmaterial, Folgeprozessen gegen Täter, weiteren Kontakten usw. zur Seite zu stehen und nicht selten den nachzuholenden Trauerprozess zu begleiten.

Nur durch diese jahrelange Arbeit war es überhaupt möglich, dass manche betroffenen Familien sich bereit erklärten, über das Geschehene im Rahmen von ausführlichen, aufgezeichneten Interviews mit mir zu sprechen. Dieses positive Klima und das langsam aufgebaute Vertrauensverhältnis waren die Basis auf der es möglich wurde, erste Familien für diese Studie zu gewinnen. Davon ausgehend fanden sich dann in längerer Recherchearbeit weitere Familien aus unterschiedlichen Bundesländern, welche bereit waren, mit mir zu sprechen. Diese Arbeit setze ich bis heute fort und ich werde sie weiter betreiben. Einige der Interviews und Analysen in Bezug auf Euthanasie-Opfer sollen in diesem Buch nun öffentlich zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt werden, um einen Beitrag zur Entstigmatisierung der betroffenen Familien und der Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung zu leisten. Wer sich aber damit beschäftigt, wird nicht darum herumkommen, sich mit gegenwärtigen moralisch-ethischen Fragen zur Sterbehilfe, im Hospizbereich, der Palliativmedizin oder der Pränatalen Diagnostik und Reproduktionsmedizin bis hin zur Leihmutterschaft – die zumeist nichts Anderes als moderne Sklaverei und ein Geschäft auf Kosten der Mütter ist – auseinanderzusetzen.16 Selbstbestimmung muss da ihre Grenze haben, wo sie ihre eigene Grundlage zu vernichten beginnt.17

METHODISCHE GRUNDLAGEN

Die Datengrundlage für diese Studie wurde mit problemzentrierten Interviews, welche mit Hilfe eines teilstandardisierten Interviewleitfadens durchgeführt wurden, geschaffen. Grundgedanken des problemzentrierten Interviews sind dabei, dass die Forschung an konkreten gesellschaftlichen Problemen ansetzt, deren objektive Seite bereits vor dem Interview vergegenwärtigt und thematisiert wird. Es wird so ein Rahmen für das Gespräch geschaffen. Außerdem werden die Interviewten zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Themen gelenkt, sie sollen auf die Fragen aber offen ohne Antwortvorgaben reagieren und erzählen können.18 Den Interviewten war, anders wäre es gar nicht möglich gewesen diese Gespräche zu führen, im Vorhinein klar, um welches Thema es sich beim Interview bzw. den Interviews handeln würde. Es war ihnen auch möglich, im Vorhinein Fragen zu stellen und Bedenken anzusprechen. Ziel war es, ein möglichst offenes Gespräch führen zu können und möglichst keine Frage-Antwort-Situationen aufkommen zu lassen. Dies gelang sehr gut, was oft dazu führte, dass für die Forschung relevante Inhalte automatisch angesprochen wurden, ohne dass explizit nachgefragt werden musste. Da die Thematik als solche für viele bereits eine belastende ist, sollte es durch ein offenes Gespräch zumindest ein wenig erleichtert werden, über das Erfahrene zu reden. Ich bemerkte dabei, dass alle Personen sich im Laufe eines Gespräches immer leichter damit taten, mit mir über Gefühle im Allgemeinen und schmerzhafte Erfahrungen im Besonderen zu sprechen.

Als Untersuchungsdesign wurde die (Einzel)Fallanalyse als unterstützendes Instrument ausgewählt. Anders als der Name im ersten Moment vermuten lassen würde, kann der Gegenstand einer Fallanalyse auch ein komplexes System wie z.B. eine Familie sein.19 In Bezug auf diese Arbeit sind dies Personen unterschiedlicher Generationen aus vier Familien, die mit mir sprachen. Ein weiterer Punkt, der ausschlaggebend für die Entscheidung zur Verwendung der Fallanalyse war, ist, dass es damit möglich, ja sogar unumgänglich wird, den einzelnen Fall in einen „größeren Zusammenhang“ einzuordnen. Durch das Vergleichen mit anderen Fällen kann die Gültigkeit der Ergebnisse abgeschätzt werden.20 Das ist für diese Arbeit deshalb so relevant, da es bei der Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit und von Traumatisierungen stark auf das nähere, weitere und gesamtgesellschaftliche Umfeld ankommt. Dieser „weite“ Fokus ist auch im Sinne des bio-psycho-sozialen Modells, welches für diese Arbeit als Erklärungs- und Deutungskontext besonders wichtig ist. Erwähnt werden muss noch, dass alle Interviews von mir persönlich geführt, auf Tonband aufgenommen und transkribiert wurden.

Als letzter Schritt wurde mit Hilfe der strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring das transkribierte und umfangreiche Datenmaterial nach definierten Kategorien geordnet.21 Die Kategorien werden schrittweise aus den Inhalten der Interview-Transkripte gebildet, wobei die Gesprächsinhalte bereits durch das offene Leitfrageninterview vordeterminiert waren.22 Im Falle dieser Arbeit wurden insgesamt fünf Kategorien gebildet, die sich an dem Buch „Drei Familien, drei Generationen“ orientieren.23

1.Erfahren der Familiengeschichte bzw. der Geschichte des NS-Opfers in der Familie

2.Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Wahrnehmen des Erzählten

3.Umgang mit der Familiengeschichte

4.Präsenz, Folgen und Bedeutung der Familiengeschichte im eigenen Leben

5.Was wurde beim Auseinandersetzungsprozess als unterstützend empfunden, was nicht?

Das Kategoriensystem findet später in den Interviewanalysen praktische Anwendung. Auf diesem Wege wird es dann möglich, die individuellen Eindrücke entlang generationenübergreifender Deutungszusammenhänge zu analysieren. Darüber hinaus wurde das Interviewmaterial aber auch nach jenen Inhalten und Bedeutungen untersucht, die nicht angesprochen wurden. So können generationenübergreifende Analysen hinsichtlich der Tradierung der Familiengeschichte und dem Umgang damit innerhalb einer Familie durchgeführt werden. Bei der Analyse der Interviews stehen besonders folgende Fragen im Vordergrund: Welche Erzählungen hinsichtlich der Euthanasie und des Nationalsozialismus wurden innerhalb der Familie weitergegeben? Welche nicht und warum? Gibt es in den Erzählungen spezifische Erzählfiguren, welche sich im Leben der Nachfahren wiederspiegeln? Gibt es Erfahrungen, welche von Eltern an ihre Kinder oder auch Enkelkinder weitergegeben wurden? Enthalten diese bewusste oder unbewusste Botschaften? Gibt es so etwas wie transgenerationale Wiederholungen in den jeweiligen Familien, die sich in Szenen, Sätzen, Wörtern oder Geschichten zeigen?24 Durch die Interviews mit Personen unterschiedlicher Generationen wird es möglich, nach den Geschichten in einer Familie und deren Auswirkungen, welche nicht immer offen angesprochen werden können, zu forschen. Der israelitische Sozialpsychologe Dan Bar-On meint dazu, dass „(…) unerzählte Geschichten oft mit größerer Macht von Generation zu Generation weitergegeben [werden] als Geschichten, die erzählbar sind.“25 Auf die Spuren ebendieser begebe ich mich in diesem Buch.

„Belastete Familien“ und der lange Weg zum Gespräch

Insgesamt wurden im Laufe der bisherigen Vereinsarbeit von Erinnern Gailtal weit mehr als die vier in diesem Werk vorgestellten Familien, z.B. aus Tirol, Kärnten, Wien und Niederösterreich, begleitet und interviewt. Die in diesem Buch abgebildeten Familiengeschichten und Interviews stehen aber stellvertretend und beispielgebend für die steinigen und schweren, oft verschleppten oder nie angegangenen Auseinandersetzungsprozesse vieler belasteter Familien.

Darüber hinaus wurde ein Expertengespräch mit dem Psychologen und Vorstandsmitglied vom Verein Aspis – Forschungs- und Beratungszentrum für Opfer von Gewalt, Daniel Wutti, geführt. Damit sollte eine professionelle Einschätzung zur Situation und Lage von traumatisierten NS-Opfern bzw. deren Angehörigen und Nachfahren sowie zu potentiellen Hilfsangeboten für diese möglich werden.

Die Fälle der Ermordungen sind dabei in allen Familien dokumentiert bekannt, sie werden am Anfang der jeweiligen Interviews mit einer Familie kurz skizziert. Die einzelnen Familien lassen sich in Generationen unterteilen, wobei erwähnt werden muss, dass eine solche Einteilung manchmal zweideutig bleiben muss.

Die erste Generation bezeichnet Zeitzeugen von NS-Gewalt, also Personen, die im Fall dieser Studie die späteren Euthanasie-Opfer noch persönlich gekannt und die gewaltsame Trennung miterlebt haben. Diese sind in der Regel bereits über 75 Jahre alt. Darüber hinaus sind mit der „ersten Generation“ natürlich auch jene gemeint, die selbst Opfer der NS-Gewalt wurden.

Die zweite Generation beschreibt die Kinder der Opfer oder nahe Verwandte im Alter der eigenen Kinder.

Schließlich meint die dritte Generation die jüngste Gruppe der Interviewten, also zum Beispiel die Enkel- oder Urenkelkinder der ersten Generation.

Um die durchaus komplexe und heikle Ausgangslage dieser Forschungsarbeit zu bewältigen und die Interviews auch tatsächlich führen zu können, war – wie bereits angeklungen – einige Vorarbeit notwendig. Eine Interviewanfrage sollte nicht überfallsartig passieren. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen und die Idee der Arbeit und worum es in den Interviewgesprächen gehen soll zu erklären. Skepsis und Ängste wurden in Vorgesprächen thematisiert. Immerhin wurde über manche Fälle Jahrzehnte nicht gesprochen, oft weiß man erst seit wenigen Jahren, dass es in der Familie überhaupt ein Euthanasie-Opfer gibt. All das macht es nicht leichter, mit „Außenstehenden“ darüber zu sprechen. Die Interviewpartner erlauben einen intimen Blick in innerfamiliäre Kommunikation, Auseinandersetzungs-aber auch Verdrängungsprozesse mit bzw. von Themen, welche lange – teilweise bis heute – als Tabu gelten, bzw. mit Tabus besetzt sind. Eine gemeinsame, vorsichtige Annäherung an das Interview im Sinne von Hermanns „Regieanweisung zur Interviewführung“ wurde deshalb angestrebt.26

Als besonders schwer zu erreichendes Ziel stellte sich das Ansinnen, mit Personen aus der ersten Generation einer Familie ein Gespräch zu führen, heraus.27 Nur gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern, welche bei der Vorbereitung und Motivation zur Teilnahme an der Studie beitrugen, war es schließlich möglich, bei zwei Familien Zusagen zu erhalten. Auch die Zusage, die Familiennamen zu anonymisieren, wirkte sich auf die Forschungstätigkeit aus. Leider wurde eine dieser Zusagen später vom Interviewpartner der ersten Generation einer der Familien wieder zurückgezogen. In einer dritten Familie gelang es leider von Anfang an nicht, ein Interview mit einer Person der ersten Generation zu verabreden. Die Gründe dafür wurden dann aber im Gespräch mit den anderen Generationen thematisiert. Die Zusage und spätere Absage bzw. die grundsätzliche Ablehnung eines Interviews, welches ja bedeutet hätte, die damaligen Geschehnisse noch einmal durchleben und reflektieren zu müssen, ist zwar schade, aber nachvollziehbar. Diese Reaktionen werden als Teil des Erkenntnisprozesses in dieser Arbeit Berücksichtigung finden.28 Wissenschaftler stehen gerade bei der Suche nach Interviewpartnern in diesem Feld immer wieder vor großen Herausforderungen.29 Für diese Forschungsarbeit kann aber bereits festgestellt werden, dass es zwar das Eine ist, die Biographie eines der Euthanasie zum Opfer gefallenen Vorfahren zu rekonstruieren und diese öffentlich zu machen, es aber um einiges schwieriger ist, die persönlichen Gefühle in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte öffentlich anzusprechen und zugänglich zu machen. Dies war in vielen Fällen nur durch die Anonymisierung der Interviewpartner möglich.

Schließlich wurde eine vierte Familie ausgewählt, welche genau genommen nur aus einer Person besteht. Maria Grubers Mutter wurde von den Nazis ermordet, als diese noch ein Baby war. Kinder hat sie keine, dennoch fügen sich ihre Geschichte und das Interview sehr gut in diese Arbeit, wie sich später noch zeigen wird. Ihr spezieller Fall wird im Kapitel „Maria Gruber: ‚Meine Mutter hat mich verlassen und jetzt verlassen mich alle‘“ ausführlich behandelt.

Konkret bedeutet dies nun, dass in einer Familie mit drei Generationen gesprochen werden konnte, in zwei Familien mit zwei Generationen und in einer mit einer Generation. Diese Einschränkung bei der ersten Generation ergibt sich natürlicherweise daraus, dass es so viele Jahre nach den Euthanasie-Morden schwierig ist, überhaupt noch Zeitzeugen zu finden.

Es wurde bereits angesprochen, dass die sogenannten Euthanasie-Opfer und deren Nachfahren sowie deren Umgang mit den Gewalterfahrungen unter der NS-Herrschaft kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung und öffentlicher Debatte waren. Die Gründe dafür sind vielseitig. Im folgenden Kapitel soll darauf eingegangen werden.

ENTWICKLUNGEN UND TRANSFORMATIONEN DESÖSTERREICHISCHEN GEDÄCHTNISSESIN BEZUG AUF DEN NATIONALSOZIALISMUS

Im Folgenden sollen einige zentrale Hintergründe und Entwicklungen österreichischer Erinnerungskultur in Bezug auf den NS skizziert werden. Dies ist deshalb wichtig, da so das gesellschaftliche Umfeld, in dem Euthanasie-Opfer und deren Nachfahren sich zurechtzufinden hatten und haben, und die damit verbundenen Herausforderungen, deutlich werden. Die breite Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit, den NS-Verbrechen, Opfern und Tätern ist speziell in Österreich ein Prozess, der noch nicht allzu lange in Gange ist. Anders als Deutschland konnte sich Österreich zumindest außenpolitisch als erstes Opfer des NS-Regimes darstellen. Als „erstes Opfer“ anerkannt zu werden, brachte Vorteile mit sich, die sich bei der Feststellung der tatsächlichen schuldigen Verstrickungen der österreichischen Gesellschaft in NS-Verbrechen nicht ergeben hätten. Der Nationalsozialismus und dessen Verbrechen konnten so alleine den Deutschen zugeschrieben werden. Tatsächliche NS-Opfer und deren Leiden wurden jahrzehntelang negiert, ausgeblendet und geleugnet. Die Etablierung eines solchen Geschichtsnarratives, welches von Gerhard Botz als „Lebenslüge“ der Zweiten Republik betitelt wurde, stellt eine eindrucksvolle „staatliche Leistung“ dar, die sich noch bis in die 80er Jahre weitgehend unhinterfragt halten konnte. Nicht zuletzt brauchte sich ein Land der Täter, dem es gelingt sich selbst als Opfer darzustellen, auch nicht mit Restitutionsansprüchen und ähnlichen „Wiedergutmachungsverfahren“ befassen.

„Die Selbstdarstellung als erstes Opfer nationalsozialistischer Expansionspolitik – in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 wurde festgeschrieben, daß der „Anschluß“ durch „militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes dem hilflos gewordenen Volke Österreichs aufgezwungen“ worden war – und die Berufung auf den österreichischen Freiheitskampf gegen das NS-Regime beschreiben jedoch nur ein Argumentationsmuster im komplexen österreichischen Gedächtnisdiskurs, nämlich die offizielle Geschichtserzählung der Zweiten Republik. In Konkurrenz bzw. im Gegensatz dazu stand eine andere Deutung, die Kurt Waldheim 1986 mit seiner Rechtfertigung auf den Punkt brachte: ‚Ich habe im Krieg nichts Anderes getan als Hunderttausende andere Österreicher, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt‘.“30

Dieser Satz stellt dabei einen der Höhepunkte der sogenannten „Waldheimaffäre“ dar, welche den Beginn der emotionalen Neuverhandlung über die Deutung der österreichischen NS-Vergangenheit und Mitverantwortung an NS-Verbrechen einläutete. Darauf wird aber später noch genauer eingegangen.

1. Etappen des österreichischen Gedächtnisses: Gedenken an den österreichischen Freiheitskampf bis 1949 und die Entstehung der „Opferthese“

In Österreich kam es im Laufe der letzten sieben Jahrzehnte zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen und Transformationen im Erinnerungsfeld. Die Jahre direkt nach 1945 lassen sich dabei besonders gut charakterisieren.

„Der öffentliche Umgang mit der NS-Vergangenheit war von spezifischen politischen Interessen geleitet, und während außenpolitisch das Insistieren auf den Status ‚erstes Opfer‘ bis zur Waldheimaffäre bestimmend blieb, wurden auf innenpolitischer Ebene andere Leitlinien wirksam: Das Bemühen um die Integration und, damit zusammenhängend, um das beträchtliche Wählerpotential der ehemaligen Nationalsozialisten, aber auch die Auswirkungen der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse seit den 60er Jahren (Studentenbewegung, Konsolidierung eines österreichischen Nationalsbewußtseins etc.) prägten die widersprüchlichen Perzeptionen der NS-Zeit in der Zweiten Republik.“31

Früh wurde der Weg für die sogenannte „Opferthese“ geebnet. Diese besagt, dass Österreich zum „Anschluss“ im Jahre 1938 gezwungen wurde und fortan unter Zwang und Gewalt an den Verbrechen des deutschen NS-Regimes „willenlos“ teilnehmen musste. Dies entsprach freilich nie den historischen Fakten.

Bereits 1943 wurde Österreich in der sogenannten „Moskauer Deklaration“, einem Dokument der alliierten Außenminister, auf das sich Vertreter von SPÖ, KPÖ und ÖVP in einer ersten „Unabhängigkeitserklärung“ Ende April 1945 beriefen, als das „(…) erste freie Land, das der Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist (…)“ bezeichnet. Allerdings wurde in der sogenannten „Mitschuldklausel“ der Moskauer Deklaration „Österreich darauf aufmerksam gemacht, daß es für die Beteiligung am Kriege auf seiten (sic!) Hitlerdeutschlands Verantwortung trägt.“32 Diese Mitverantwortung sollte eigentlich auch im Staatsvertrag 1955 niedergeschrieben werden.

Darüber hinaus wurde in der Moskauer Deklaration ein Beitrag Österreichs zur Befreiung von Hitlerdeutschland gefordert, wenn es in seinen Grenzen von vor 1938 wieder entstehen sollte. Diesen „Beitrag“ lieferten die Kärntner Partisanen und dabei besonders, aber nicht ausschließlich, Kärntner Slowenen, die damit das Fundament für Österreichs Wiedererrichtung nach dem NS-Regime legten.33 Es gehört zu den widersprüchlichen Besonderheiten des österreichischen Gedächtnisses, dass diese Widerständigen und Befreiungskämpfer über Jahrzehnte – oft bis heute – keinen positiv besetzten Platz im historischen Gedächtnis innehaben.

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