Christine Fehér
Wie Brausepulver
im Bauch
Mit Illustrationen
von Daniela Bunge
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1. Auflage 2017
© 2017 cbt Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: zeichenpool
Umschlagmotive: Shutterstock (LuckyKeeper,
Kostsov, Alex Gorka)
Innenillustrationen: Daniela Bunge
MI · Herstellung: KW
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. Ammersee
ISBN 978-3-641-21862-1
V002
www.cbt-buecher.de
Warum Amsel der größte Angeber in unserer Klasse ist und wie ich es trotzdem schaffe, bei ihm ins Fettnäpfchen zu treten.
Frieda an Emily: Hol mich bitte so spät wie möglich ab. Ich will keine Sekunde eher in der Schule sein als nötig. Wetten, wir kriegen Mathe zurück? F.
Ich bin Frieda, aber heute wäre ich am liebsten jemand ganz anderes, egal wer.
»Bestimmt habe ich wieder nur eine Vier«, stöhne ich, als ich neben meiner besten Freundin Emily zur Schule trotte. In meiner Hand, die in der Jackentasche steckt, drücke ich meinen Schlüsselanhänger-Frosch ganz fest. Als ich kleiner war, habe ich ihn meinen Glücksbringer genannt. Jetzt glaube ich nicht mehr so richtig an Glücksbringer. Aber Frösche sammle ich trotzdem noch, ich mag sie einfach.
»Muss nicht sein«, erwidert Emily. »Im letzten Diktat dachte ich auch, bei mir würde es nur so von Fehlern wimmeln, und dann hatte ich doch eine Zwei.«
»Nett von dir, dass du mir Hoffnungen machen willst«, seufze ich. »Aber Mathe kann ich nun mal nicht. Wozu gibt es Taschenrechner? In jedem Handy ist einer eingebaut.«
»Aber das kann kaputt gehen.« Emily bleibt vor dem Schaufenster des Zeitungsladens stehen und fährt sich mit der Hand durch ihre langen blonden Locken. Natürlich sieht sie wieder viel besser aus als ich und besser in der Schule ist sie sowieso. »Kaufen wir uns noch Brauseherzen?«
Zehn Minuten später rennen wir jede mit einer Papiertüte voller Süßigkeiten in der Hand die letzten Meter bis zur Schule, denn jetzt sind wir wirklich spät dran. Genau gleichzeitig mit unserer Klassenlehrerin Frau Siebenhaar erreichen wir den Klassenraum im zweiten Stock. Kann sie nicht ausnahmsweise mal krank sein, denke ich und spüre, wie ich unter meiner Jacke zu schwitzen beginne. Es muss ja nichts Schlimmes sein, nur ein klitzekleines Kratzen im Hals oder eine winzige Magenverstimmung. Frau Siebenhaar liegt doch bestimmt lieber gemütlich zu Hause auf dem Sofa und liest, statt sich mit talentfreien Schülerinnen wie Frieda Bock aus der 4a herumzuärgern. Auch wenn sie das natürlich nie zugeben würde.
»Da hat wohl jemand beinahe verschlafen«, bemerkt sie mit hochgezogenen Augenbrauen, als Emily und ich uns an ihr vorbei durch die Tür drücken. Schon jetzt sehe ich den Stapel Mathearbeiten aus ihrer Tasche ragen. Mit flauem Gefühl im Magen husche ich auf meinen Platz. Auch alle anderen Kinder setzen sich hin und sind sofort leise. Mit Frau Siebenhaar will sich niemand anlegen.
Wie üblich beginnt sie beim Austeilen mit den besten Noten.
»Als einziger hat Anselm die volle Punktzahl erreicht«, verkündet Frau Siebenhaar. War ja klar. Anselm von Polheim, der schrägste Junge in unserer Klasse, den alle nur Amsel nennen, konnte schon bei der Einschulung bis Hundert rechnen und bekommt immer Zusatzaufgaben, weil er sich sonst langweilt. Wahrscheinlich rechnet er zu Hause den ganzen Nachmittag, weil er sich nichts Schöneres vorstellen kann. Oder er zockt am PC, bis er noch im Schlaf Autorennen fährt oder mit Außerirdischen durchs Weltall fliegt. Deshalb ist er auch so blass und dünn, leicht wie eine Amsel mit seinem schmalen Körper. Bloß fliegen kann er nicht und ist auch nicht dunkelhaarig, sondern hat einen kurzen blonden Fransenschnitt, der meistens in alle Richtungen absteht.
»Daran sieht man, dass ich offenbar doch nicht so schlecht erkläre, wie man bei einigen eurer Klassenarbeiten denken könnte«, fährt Frau Siebenhaar fort. »Und es gibt allem Anschein nach auch Schüler, die gerne lernen und nicht nur an die nächste Pause denken.« Ich weiß schon, wen sie damit meint. Über ihren Brillenrand hinweg sieht sie mich an, dann teilt sie die Arbeiten aus. Die Zweitbeste hat Amsels Sitznachbar Elias mit einer Eins minus, dann kommen Olivia, Nabil, Hannah, Kim und Luis mit ihren Zweien. Emily strahlt über ihre Zwei minus, dann geht es weiter mit einem Stapel Dreien. Bei den Vieren spüre ich mein Herz wummern. Wie üblich sind Bruno, Berkay, Laura, Michelle und Kilian dabei. Gleich werde ich meine Arbeit bekommen und sehe mich jetzt schon stundenlang zu Hause in meinem Zimmer über der Berichtigung brüten. Dabei will ich doch raus. Es ist Ende April, draußen ist endlich fast alles grün und der Wind nachmittags schon richtig warm. Morgen zum Beispiel wollen Emily und ich auf Inlinern die neue Skaterbahn im Volkspark ausprobieren. Und gleich am 1. Mai, wenn die Freibäder wieder aufmachen, Schwimmen gehen. Unsere Lieblingslieder aus den Disney-Musicals singen üben und so tun, als ob die Tischtennisplatte im Park unsere Bühne wäre. Lange draußen bleiben, weil es jetzt abends immer länger hell ist und die halbe Klasse auf Fahrrädern die Gegend unsicher macht. Und jetzt …
»Und jetzt kommen wir leider zu den Arbeiten mit den wenigsten Punktzahlen«, verkündet Frau Siebenhaar. »Frieda – allmählich mache ich mir wirklich Sorgen. Dieses Mal hat es nur zu einer Fünf gereicht, und auch das nur knapp.« Kopfschüttelnd legt sie mir meine Arbeit auf den Tisch. Die große, unfreundliche rote Zahl in der rechten unteren Ecke brüllt mir ins Gesicht. Eine Fünf. Acht von dreißig Punkten erreicht. Mangelhaft. Verflixter Mist.
Der Rest der Stunde rauscht an mir vorbei. Ich bekomme nicht mit, wie viele schlechte Noten es außer meiner noch gibt. Ich schreibe mit, als Frau Siebenhaar die schwierigsten Aufgaben noch einmal vorn an der Tafel erklärt, doch das Einzige, was ich wirklich ausrechnen will, ist, wie viele Wochen es noch bis zu den Sommerferien sind. Oder wenigstens bis zu unserer Klassenfahrt im Juni. Da kommt außer Frau Siebenhaar noch unser Musiklehrer Herr Zwolski mit, der ist wenigstens locker drauf und hat nicht nur Lernen im Kopf.
Als es endlich zur kleinen Pause klingelt, stopfe ich meine Mathesachen in den Ranzen, so schnell ich kann. In der zweiten Stunde haben wir Sport, wenigstens das. Ich muss raus, nicht eine Minute länger halte ich es hier im Klassenraum aus. Auch die anderen stehen auf, beißen rasch vom Frühstücksbrot ab, nehmen einen Schluck aus ihren Trinkflaschen und drängen sich vor dem Regal, in dem unsere Sportsachen liegen.
»Hoffentlich turnen wir draußen«, sage ich zu Emily. »So kann ich Mathe am schnellsten vergessen.«
Aber heute ist die ganze Welt gegen mich. Ein Blick durchs Fenster zeigt mir, dass sich der Himmel zugezogen hat. Zu allem Überfluss fängt es auch noch an zu regnen. Auch Emily jammert, dass sie dann wohl den Ausritt heute Nachmittag vergessen kann. Statt froh zu sein, dass sie überhaupt reiten darf, denke ich missmutig. Meine Eltern haben nämlich nicht genug Kohle dafür. Zum Glück kann ich mich auch so amüsieren.
Amsel schiebt sich zwischen Emily und mich, um ebenfalls sein Sportzeug zu holen. Noch immer hält er seine Mathearbeit in der Hand, er kann sich wohl gar nicht von seiner Eins trennen. Will er die jetzt mit in die Turnhalle nehmen?
»Die Aufgaben waren voll einfach «, tönt er und blickt mir mitten ins Gesicht. »Wie kann man da bitte eine Fünf schreiben?«
Zum Glück bin ich nicht auf den Mund gefallen. »Ich bin nun mal nicht so ein hobbyloser Nerd wie du, der den ganzen Nachmittag zu Hause hockt und keine Freunde hat«, kontere ich. Amsel bleibt der Mund offen stehen und seine Augen weiten sich. Blaue Augen hat er, so blau wie seine Jeans. Wenn er so guckt, sieht er beinahe niedlich aus. Aber nur beinahe, und so genau will ich auch gar nicht hinsehen.
»Tja, Amsel«, sagt Elias, der sich als Einziger aus der Klasse mit Amsel abgibt. »Eins zu Null für Frieda.«
Ich fühle mich nicht wirklich besser, also schnappe ich mir meinen Sportbeutel und dränge an Amsel vorbei auf den Ausgang zu. Emily stürzt hinter mir her.
»Dem hast du es aber gegeben«, meint sie. »Das mit dem hobbylosen Nerd ohne Freunde war gemein.«
»Wieso?« Ich gehe noch schneller. »Stimmt doch. Wenn ich nichts Besseres zu tun hätte, als den ganzen Tag zu Hause zu hocken und zu rechnen, würde ich auch eine Eins schreiben.«
»Vielleicht ist Amsel nur schüchtern und geht deshalb nicht raus«, meint Emily.
»Mir doch egal«, erwidere ich. »Sein blöder Spruch wegen meiner Fünf war mindestens genauso fies.«
Wir gehen in den Umkleideraum und machen uns für die Sportstunde fertig. Emily hält ein weißes T-Shirt mit einem schwarzen Pferd drauf vor ihren Körper. »Das habe ich gestern neu bekommen«, verkündet sie. »Meinst du, es steht mir?«
»Wie man beim Sport aussieht, ist doch egal«, erwidere ich. »Ich ziehe immer die Sachen an, die mir schon fast zu klein sind. Wird sowieso alles schmutzig.«
Emily streift ihr neues T-Shirt über. Dazu trägt sie eine passende Sporthose und Turnschuhe in derselben Farbe. Ich blicke an mir herunter und zucke mit den Achseln, dann gehen wir alle in die Turnhalle.
»Wir turnen am Barren«, verkündet unser Sportlehrer Herr Pahl. »Aber ab nächste Woche trainieren wir für die Bundesjugendspiele, sofern das Wetter besser ist, versprochen.« Ohne auf unser Murren einzugehen, gibt er uns Anweisungen, wo wir die Barren aufbauen und die Matten hinlegen sollen. Dann turnt er die erste Übung vor: Wir müssen uns mit den Armen auf je einem Holm abstützen, mit gestreckten Beinen vor und zurück schwingen und schließlich über eine Seite abspringen.
»Frieda als Erste«, bestimmt Herr Pahl. »So seht ihr gleich noch einmal, wie man es richtig macht.«
Aha, ich bin also doch zu etwas gut. Die Übung gelingt mir fehlerlos, ich bleibe zum Schluss sogar stehen, ohne zu wackeln. Emily und die meisten anderen Mädchen haben ebenfalls keine großen Schwierigkeiten und auch die Jungs schlagen sich tapfer. Bis Amsel an der Reihe ist. Seine Arme zittern, er schafft es nicht mal, sie durchzustrecken und so seinen Körper abzustützen. Als seine Beine auf die Holme des Barrens plumpsen, muss ich lachen. Er sieht aber auch zu komisch aus, beinahe wirklich wie ein Amseljunges, das aus dem Nest gefallen ist. Geschieht ihm ganz recht.
»Ist doch voll einfach«, lästere ich und mache seinen Tonfall von vorhin nach. »Wie kann man da bitte so ablosen?« Amsel stolpert auf die Matte, kommt auf mich zu und schubst mich. Ein paar seiner blonden Haare stehen hoch, andere kleben ihm verschwitzt am Kopf.
»Ich bin ja kein Schimpanse wie du«, sagt er, macht Affenbewegungen mit den Armen und glotzt mich wieder so an. Vollidiot.