Lyle Bowman war ein alter Mann, der sehr gern naschte, weshalb er nur noch zwölf Zähne hatte.

Als ihn an diesem Tag der tägliche Heißhunger auf Süßes überfiel, verpasste er gerade einer Scheuerleiste einen neuen Anstrich. Schnurstracks ging er in die Küche, stellte den Pinsel in ein Glas mit Terpentin, wusch sich die Hände und zog sich eine Jacke über. Ein Schokoriegel von Cadbury, ein Double Decker, sollte es heute sein, beschloss er.

Er wollte gerade aus dem Haus, da fiel ihm ein, dass er sein Antibiotikum in Pulverform heute Morgen zwar in einem Glas Wasser aufgelöst, aber noch nicht getrunken hatte. (Zahnarzt Blum hatte darauf bestanden, dass er drei Tage lang ein Antibiotikum nehmen sollte, weil ihm demnächst schon wieder ein Zahn gezogen werden musste.)

»Scheißzähne«, seufzte Lyle und trank das Glas in einem Zug leer.

Dass das Medikament nicht gut schmeckte, wusste er schon, aber das Hitzegefühl, das sich nach dem Trinken in seinem Hals ausbreitete, überraschte ihn doch. Er verzog das Gesicht wie nach einem Löffel Lebertran und steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

Er schloss die Haustür hinter sich ab, und als er den Gartenweg hinunterging, entdeckte er Mrs. Turton im Nachbarhaus am Fenster, winkte ihr zu, und sie winkte lächelnd zurück. Einen Moment mühte er sich mit dem Riegel des Gartentors ab, dann war er auf dem Weg zum Laden um die Ecke.

Lyle Bowman war noch nie im Leben betrunken gewesen und wusste deshalb nicht, wie sich ein Rausch überhaupt anfühlte. Ein Glas Sherry zu Weihnachten oder mal ein kleines Bier, mehr hatte er noch nie an Alkohol zu sich genommen. Aus diesem Grund führte er das Schwindelgefühl und seinen zunehmend unsicheren Gang auf die Farbdämpfe des Lacks zurück und nahm sich vor, bei seiner Rückkehr gleich das Fenster zu öffnen und zu lüf‌ten.

Er betrat den Laden und tappte auf wackligen Beinen zum Süßwarenregal. Endlich entdeckte er seinen Lieblingsriegel und ging damit zur Kasse.

Nach langem Suchen fand er schließlich auch seine Ein-Pfund-Münze in der Tasche und legte sie auf den Tisch.

»Das sind dann 72 Pence«, sagte der Kassierer.

»72 Pence?«, lallte Lyle. »Im Laden gegenüber kosten die nur 57 Pence. Damit sind die hier ja …« Er versuchte, den genauen Preisunterschied auszurechnen, musste jedoch aufgeben und seinen Satz etwas weniger dramatisch beenden als geplant: »… sehr viel teurer als dort.«

Der Kassierer zuckte mit den Schultern. »Ich mach die Preise nicht, ich arbeite nur hier. Nehmen Sie jetzt den Double Decker oder nicht?«

Das war keine gute Entscheidung.

Anstatt zum Zebrastreifen zu gehen, überquerte Lyle die Straße direkt vor dem Laden. Oder besser gesagt: Es wäre eine direkte Überquerung gewesen, wenn er nicht diagonal gelaufen und dabei in eine Kurve geraten wäre, wo Fahrzeuge und Fußgänger einander nicht sehen konnten.

Dort widerfuhr Lyle Bowman eine schicksalhafte Begegnung mit einem Bus.

Sofort bildete sich eine Menschentraube um ihn und leistete ihm Gesellschaft, bis der Krankenwagen eintraf.

»Ich glaube, er will etwas sagen«, meinte einer der Umstehenden.

Ein junger Mann kniete sich neben Lyle.

»Double Decker«, flüsterte dieser.

»Nein, das war kein Doppeldecker, das war ein ganz normaler Bus«, erwiderte der junge Mann freundlich.

Lyle Bowman starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Er wurde dreiundachtzig Jahre alt.

Bambus

Drei Wochen später lag Lyle Bowman in einem Bambussarg in einer kleinen Kapelle. Es war eines von wenigen Malen, dass er je Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit wurde. Obwohl es Hochsommer war, hatte sich von Westen her ein Tiefdruckgebiet angeschlichen, und der Tag der Beerdigung war grau verhangen und regnerisch. Passend zur trüben Stimmung herrschte also auch trübes Wetter und bildete damit nach Mrs. Turtons Meinung den perfekten Rahmen für eine Beerdigung. Sie wandte sich zu ihrem Sohn Barry, der neben ihr saß.

»Gott ist traurig, dass Mr. Bowman tot ist«, flüsterte sie. »Die Regentropfen sind bestimmt seine Tränen.«

Barry nickte zustimmend und sah auf die Uhr. »Du, ich soll Diane um zwölf vom Friseur abholen«, flüsterte er zurück. »Müsste der Gottesdienst nicht schon längst angefangen haben?«

Das dachte sich auch Reverend Tinkler. Bald würde die nächste Trauergemeinde eintreffen, und das Krematorium war bekannt dafür, die Termine eng zu legen. Er ging zu Lyles ältestem Sohn, der neben seiner Frau und seiner kleinen Tochter saß.

Billy sah nervös zur Tür.

»Sieh’s endlich ein, der kommt nicht mehr«, sagte seine Frau gehässig. »Als dein Vater noch am Leben war, wollte er ihn doch auch nie sehen. Wieso sollte er ausgerechnet jetzt damit anfangen, wo er tot ist?«

»Aber er hat es mir doch versprochen, Jean«, antwortete Billy. »Er hat versprochen, dass er kommt.«

»Fangen Sie einfach an«, sagte Jean zum Reverend. »Katy soll noch Zeit für ihr Lied haben.«

Billy nickte unglücklich. Reverend Tinkler ging vor zum Podium. Einen Moment lang stand er schweigend da und betrachtete die Versammelten. Ob zu seiner Beerdigung wohl auch nur so wenig Menschen kommen würden? Er war eigentlich ein bescheidener Mensch, hoff‌te aber heimlich dennoch auf mehr als zwölf Trauergäste. Die Gemeinde ahnte natürlich nichts von Reverend Tinklers Gedanken und erwiderte seinen Blick erwartungsvoll. Besonders gespannt sah ihn Lyles jüngerer Bruder Frank an, der gerade mit dem Lautstärkeregler seines Hörgeräts kämpf‌te.

»Mach das leiser, Onkel Frank«, flüsterte Billy. »Es pfeift doch schon.«

»Aber was sagt der da vorne denn?«, gab Onkel Frank zurück. »Ich versteh kein Wort!«

»Er hat ja auch noch gar nichts gesagt«, erklärte Billy.

»Wieso denn nicht? Du hast ihn doch ordentlich bezahlt, oder?«

»Natürlich hab ich das, und jetzt sprich mal ein bisschen leiser, du schreist ganz schön.«

»Er sammelt sich nur kurz. Schau, jetzt fängt er gleich an.«

Wie aufs Stichwort hustete Reverend Tinkler in diesem Moment verhalten und begrüßte dann die Versammelten. Sie seien heute nicht etwa zusammengekommen, um den Tod von Lyle Bowman zu betrauern, sondern um dessen Leben zu feiern, begann er, und am besten ginge das doch mit dem Lied O Happy Home. Man solle sich aber bitte aus Zeitgründen auf die erste und die letzte Strophe beschränken. Als sie den Namen Lyle Bowman hörten, erhoben sich zwei Trauergäste, entschuldigten sich bei ihren Sitznachbarn, dass sie auf der falschen Beerdigung seien, und verließen den Raum. (Ein Glück für Lyle Bowman, dachte Reverend Tinkler bei sich, dass für diesen Anlass kein Quorum notwendig war.)

Billy, der die beiden Trauergäste für seine Cousins Beryl und Kenneth gehalten hatte, befragte Onkel Frank zu deren Abwesenheit.

»Die sind seit sechs Jahren tot«, antwortete Onkel Frank lapidar. »Im Urlaub ertrunken.«

»Ist nicht wahr!«, entfuhr es Billy, und er leitete die Information schnell an Jean weiter.

Die zehn verbliebenen Trauergäste sangen das Lied, und danach verlas Reverend Tinkler einen Bibelvers. Dann klappte er das Buch zu und holte einen kleinen Stapel Karteikarten aus seiner Jackentasche. Er hätte nicht sagen können, wie viele Beerdigungsansprachen er bereits gehalten hatte, und erinnerte sich auch nur noch vage namentlich

Reverend Tinkler hatte Lyle Bowman nie persönlich kennengelernt und deshalb auf Billys unzusammenhängende und quantitativ durchaus überschaubare Erinnerungen zurückgreifen müssen. Damit seine Rede, mit der er Lyles Leben zusammenfassen wollte, länger als drei Minuten würde, musste er trotzdem noch die eine oder andere abgedroschene Formulierung und ein paar eigene lebensphilosophische Bonmots einbauen. Er hatte die Rede mehrere Male umgeschrieben und sich wirklich Mühe gegeben, war sich jedoch dessen bewusst, dass es kein Glanzstück geworden war. Und vor allem war er recht unglücklich über die fehlenden Überleitungen.

»Der Mensch lernt im Laufe seines Lebens viele andere kennen«, begann er. »Einige von ihnen hinterlassen Erinnerungen, die uns noch lange zum Lächeln bringen, nachdem sie aus dem Leben geschieden sind. Andere hingegen bleiben uns unfreiwillig im Gedächtnis wie ungeladene Gäste.«

»Lyle Bowman gehört zur ersten Kategorie«, sagte der Reverend. »Er war ein guter Mann. Ein stiller Mann. Ein Mann, der oft seufzte, und ein Mann, der gern allein war. Er lebte nicht auf großem Fuß und hat das auch nie angestrebt.« Ebenso wenig wie ich, dachte Reverend Tinkler,

»Lyle ist hier geboren, aufgewachsen und hat auch sein ganzes Leben hier verbracht«, fuhr der Reverend fort. »Er mochte keine Katzen. Er war ein intelligentes Kind, besuchte die örtliche Schule, kauf‌te sich nach dem Schulabschluss einen Papagei und fand eine Anstellung in einem Treuhandbüro im Ort. Man kann dem Papagei wohl nicht die Schuld daran geben, aber es ist dennoch eine Tatsache, dass Lyle kurz nach dem Kauf an Arthritis erkrankte und längere Zeit ans Bett gefesselt war. Da er keiner regelmäßigen Tätigkeit mehr nachgehen konnte, entließ ihn das Steuerbüro kurzerhand – was heutzutage zum Glück nicht mehr so gehandhabt würde, wie ich hinzufügen möchte.

Zwei Jahre später hatte Lyle die Krankheit so weit überstanden, dass er eine Stelle als Packer in der Blusenabteilung eines Damenbekleidungsfabrikanten antreten konnte. Dort blieb er die nächsten fünfzig Jahre. Als er in Rente ging, hatte er es nicht nur zum Leiter der Mantelabteilung gebracht, sondern war mittlerweile sogar Firmendirektor.

Nach dem Tod des Papageis gab Lyle dessen Käfig in einem Secondhandladen ab.

Lyle Bowman wird manchen als eigenwilliger Mensch in Erinnerung bleiben, als ein Mann, dem korrekte Grammatik genauso wichtig war, wie das Haus nie ohne Krawatte

Dies war ebenfalls ein ständiger Anlass zum Streiten zwischen ihm und seiner Exfrau gewesen, dachte Tinkler. Sie hatten das Thema Kinder vor der Ehe nie explizit besprochen, doch er war immer davon ausgegangen, dass sie gemeinsam eine Familie gründen würden. Dementsprechend schockiert war er deshalb über Joans Eröffnung, sie werde ihm weder Töchter noch Söhne schenken. Kurz darauf entschied sie außerdem, seinen sexuellen Avancen von nun an nicht mehr nachzugeben.

»Lyle heiratete spät. Seine Frau war noch jung. Sie hatten sich in der Kantine kennengelernt, und sie und Lyle hatten sich wirklich gesucht und gefunden, obwohl – wie Lyle gern scherzte – er an jenem Tag in der Kantine eigentlich nur auf der Suche nach dem Gurkensalat gewesen war.«

Es wurde kurz höf‌lich gelacht, ehrlich gesagt sehr viel kürzer, als es sich der Reverend erhoff‌t hatte, und so machte er denn auch nur eine kleine Kunstpause.

»Mary war ihm eine liebe Frau, und Lyle verbrachte mit ihr seine schönsten Jahre. Sie gingen gern gemeinsam tanzen, gingen in Opern von Gilbert & Sullivan und hörten Musik von Jim Reeves.

Mary mochte ebenfalls keine Katzen.

Leider starb sie früh, und Lyle war nun alleinerziehender Vater von zwei Söhnen – Billy, der mit seiner Frau Jean und Tochter Katy hier vorn sitzt, und Gregory, der heute leider nicht mit dabei sein kann.«

Billy war nicht in der Lage, eine Antwort zu geben, und ignorierte die Frage einfach. Tränen liefen ihm die Wangen herunter, und er zitterte am ganzen Körper. Der Reverend bemerkte, wie sehr seine Rede Billy mitnahm, und seine Laune besserte sich schlagartig. Er hatte nur noch eine Karteikarte zu verlesen, und alles lief prima.

»Ich hatte ja bereits erwähnt, dass Lyle eher zurückgezogen lebte«, fuhr er fort. »Dass die Lokalzeitung auf der Titelseite über seinen Tod berichtet hat, ist deshalb eine gewisse Ironie des Schicksals. Einige unter Ihnen erinnern sich bestimmt an die Stelle im Artikel, an der Kritik an einer Gesellschaft geübt wird, die ihre älteren Mitglieder sich selbst überlässt und sozusagen zusieht, wie sie an Einsamkeit sterben – oder in Lyles Fall an einer Terpentinvergif‌tung.

Billy hat mich übrigens gebeten, diese Sache ein für alle Mal klarzustellen. Lyle Bowman war kein Alkoholiker und hat am Tage seines Todes lediglich aus Versehen Terpentin getrunken. Er war er gerade dabei, sein Haus zu streichen, und hatte zwei Gläser verwechselt – den Farbpinsel stellte er in das Glas mit aufgelöstem Antibiotikumpulver und trank stattdessen das Glas mit dem Terpentin. Eine Verwechslung, die nicht nur zu Lyles Tod führte, sondern auch – wie dessen Bruder Frank trocken anmerkte – einen einwandfreien Pinsel ruinierte.«

»Na toll, ausgerechnet an dieser Stelle erwähnt mich der Idiot jetzt doch noch!«, schimpf‌te Onkel Frank. »Das muss doch nicht jeder wissen!«

»Gar nicht erst so alt werden«, rief Onkel Frank.

»Ich hatte da eher an etwas anderes gedacht«, erwiderte Reverend Tinkler mit einem Lächeln.

»Dass man die Straße immer auf kürzestem Weg überqueren sollte«, sagte Mrs. Turton würdevoll.

»Bingo, Mrs. Turton! Sehr gut! Immer auf kürzestem Weg über die Straße.«

Onkel Frank warf Mrs. Turton einen gif‌tigen Blick zu.

Reverend Tinkler bedachte die Versammelten mit einem bedeutungsvollen Blick. Dann steckte er die beiden Karteikarten wieder ein und verkündete, nun werde Katy Bowman das Lieblingslied ihres Großvaters singen.

Katy stand auf und stellte sich vor die Trauergäste.

Jean nickte Reverend Tinkler zu, und dieser drückte auf einen Knopf. Offensichtlich erwischte er jedoch den falschen, denn der Bambussarg mit Lyle Bowman darin bewegte sich daraufhin langsam auf den Ofen zu. Der Reverend fuhr ihn schnell wieder ein Stück zurück und

Katy sang nicht nur, sondern tanzte auch dazu, ließ die Hüf‌ten kreisen und stolzierte mehrmals den Mittelgang hinauf und hinunter.

»Ich wusste gar nicht, dass Mr. Bowman ein Britney-Spears-Fan war«, flüsterte Barry Turton seiner Mutter zu.

»Ich auch nicht«, flüsterte Mrs. Turton und betrachtete missbilligend Katys Auf‌tritt. »Wahrscheinlich ist das eher Katys Lieblingslied. Dass die Kleine auch immer so angeben muss!«

Ein ähnlicher Gedanke ging auch Reverend Tinkler in diesem Moment durch den Kopf. Er hatte nicht gewusst, dass sich Katy dieses Lied ausgesucht hatte, und eher mit etwas wie Grandad We Love You gerechnet. Entsprechend erleichtert war er, als Katy endlich zum letzten Mal die Zeile »… hit me, baby, one more time« gesungen hatte.

Katy begab sich frustriert zurück zu ihrem Platz. »Aber Mum, es gab ja gar keinen Applaus! Niemand hat geklatscht!«

Jean erklärte ihr, dass es nicht üblich sei, in Kirchen oder bei Beerdigungen zu applaudieren, dass sie das Lied jedoch sehr schön gesungen habe. Sobald sie wieder zu Hause wären, versprach sie Katy, würde sie den Auf‌tritt ihrer Bewerbungsmappe hinzufügen und ihn dort in den höchsten Tönen loben.

Die Gemeindemitglieder senkten die Köpfe und beteten gemeinsam mit Reverend Tinkler ein paar unspektakuläre Gebete. Dann bat der Reverend, die Anwesenden

Katy drehte sich als Erste um. Der Mann war groß und sonnengebräunt, hatte lange blonde Haare, trug Bermudashorts, ein Hawaiihemd und eben Flip-Flops. Sie stieß ihren Vater an. »Was macht denn der Surfer hier?«

Billy drehte sich um. Er lächelte. »Das ist dein Onkel Greg! Ich hab ja gesagt, dass er diesmal kommt.«

Es war das erste Mal seit sieben Jahren, dass sich die beiden Brüder wiedersahen.

Buche

Das Hotel ›Zur Buche‹ lag etwa acht Kilometer vom Krematorium entfernt. Es verfügte über sechs Zimmer, der letzte Gast hatte hier jedoch vor über drei Jahren genächtigt, und das Hotel lebte inzwischen vom Publikum, das vom Wochenendbuffet angelockt wurde, und von seinem Cateringservice. Draußen hing ein großes Plakat, das potentiellen Übernachtungsgästen riet, jetzt schon für Weihnachten zu buchen. Es war Juli. Kurz nach Mittag an diesem kalten, verregneten Sommertag hielten fünf Autos knirschend auf dem Kies vor dem Gebäude. Man hatte ein Buffet für achtzehn Personen bestellt, doch nun stiegen lediglich elf Menschen aus: Billy, Jean und Katy Bowman

Während Billy sich auf die Suche nach dem Hotelmanager machte, bestellte Greg an der Bar schon einmal Getränke für alle. Er zitterte. Drinnen im Hotel war es genauso kalt wie draußen, und das Knacken der Heizkörper verriet, dass sie eben erst angeschaltet worden waren.

Nun bereute er, sich für die Reise nicht wärmer angezogen zu haben, aber wer konnte denn ahnen, dass das Flugzeug unterwegs technische Probleme haben würde und in Island zwischenlanden musste? Da befand sich wahrscheinlich im Moment auch sein Gepäck.

Onkel Frank gesellte sich zu ihm. »Du sieht ja halbverhungert aus, Junge. Hol dir mal einen Brandy, dann wird dir wenigstens warm. Hast du mir schon was bestellt?«

»Ein kleines Pils, das trinkst du doch immer, oder?«

»Stimmt, aber heute gönne ich mir ein großes. Passiert schließlich nicht alle Tage, dass man sich von seinem Bruder verabschieden muss.«

Greg drehte sich zu dem kleinen Mann um und lächelte. »Schön, dich mal wieder zu sehen.«

Onkel Frank bemerkte aus dem Augenwinkel ein Glitzern und besah sich seinen Neffen näher. »Um Gottes willen, was hast du denn da am Ohr?«

»Das ist ein Diamantstecker, den hat mir Cyndi geschenkt.«

Greg lachte. »Nein, so was tragen doch heutzutage alle. Sogar Cowboys.«

»Echte Cowboys bestimmt nicht, die sind nämlich alle schon tot.«

»Darüber können wir ja später noch reden. Magst du erst mal das Tablett hier zu Jean und den anderen bringen?«

Onkel Frank verschwand mit dem Tablett. Der Barkeeper stellte noch mehr Getränke auf die Theke.

»Sie wollten ein Lager, nicht?«, rief Greg Syd Butterf‌ield zu.

Syd kam auf ihn zu. »Kannst du den Barkeeper bitten, mir einen Schuss Limettensaft reinzutun?«

Syd war Ende siebzig und hatte in Ohren und Nase mindestens genauso viele Haare wie auf dem Kopf. Er war großgewachsen, aber sehr schmal und hatte einen Buckel, der ihn kleiner wirken ließ. Er und Lyle hatten sich vor zwanzig Jahren auf einer Müllhalde kennengelernt und waren sofort Freunde geworden.

Lyle mühte sich gerade mit einem alten Fernseher ab, den er im Kofferraum hatte, und Syd, der acht Säcke mit Heckenschnitt abgeladen hatte, bot seine Hilfe an. Daraus entspann sich ein Gespräch, in dessen Verlauf die beiden Männer viele Gemeinsamkeiten feststellten: Beide konnten nicht nachvollziehen, wieso die Leute, die von der Gemeinde beschäf‌tigt wurden, ihr Gehalt also aus Steuergeldern bezogen, den ganzen Tag herumsitzen, rauchen und Tee trinken durf‌ten, während die Nutzer der Müllhalde

»Ich hab dein erstes Buch gelesen«, sagte Syd zu Greg. »Ganz schön beeindruckend, was du da alles recherchiert hast.«

Er trank einen Schluck von seinem Bier und verkündete dann, es schmecke köstlich.

»Deinem Dad hat das Buch auch gefallen, er meinte nur, du hättest den einen oder anderen Grammatikfehler dringehabt. Ich war da selbst nie so richtig firm drin, ich rede halt, wie ich will, aber meinen Lesegenuss hat es jedenfalls nicht getrübt. Schön flüssig. Dein Dad meinte immer, der einzige Schriftsteller mit einwandfreier Grammatik wäre Charles Dickens gewesen, aber ich habe seit der Schulzeit kein Buch mehr von ihm gelesen. Der ist mir zu deprimierend. Wenn einem die Frau an Krebs gestorben ist, will man so was einfach nicht mehr lesen.«

Greg nickte mitfühlend.

Billy unterbrach die beiden. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich muss kurz mit Greg reden.«

»Kein Problem«, sagte Syd. »Ich setz mich mal zu den Collards, mit denen redet anscheinend sonst keiner.«

Billy wartete, bis Syd gegangen war, und wandte sich dann im Flüsterton an Greg. »Wenn es ans Essen geht, kümmerst du dich um den einen Tisch und ich mich um den anderen, ja? Ich hätte an einem Tag wie heute natürlich gern neben dir gesessen, aber das ist wohl leider nicht

»Klar«, sagte Greg. »Soll ich mir meine Schäfchen schon mal zusammensuchen?«

»Noch nicht, die Tomatensuppe wird erst in zehn Minuten serviert.«

Die Trauergäste hatten sich bis auf Onkel Frank und Reverend Tinkler schon von selbst in die geplanten Gruppen aufgeteilt.

»Das mit deinem Dad tut mir und Margaret sehr leid, Greg«, sagte Ian Collard. »Ein richtiger Gentleman alter Schule. Es müsste mehr Menschen auf der Welt geben wie ihn. Deine Mutter war auch so eine nette Frau. Und so ein hübsches Lächeln!«

Greg bedankte sich und nahm einen Schluck Brandy.

»Du hast dir ein paar neue Dinge in den USA angewöhnt, was?« Margaret deutete auf den Brandy.

»Kann man so nicht sagen. Ich will nur schnell warm werden.«

»Was hat es eigentlich mit deinen Sachen auf sich, wenn ich fragen darf?«, fragte Ian.

»Katy hat ein sehr schönes Lied gesungen …«, sagte Margaret.

»Deinem Dad hätte es sicher nicht gefallen«, warf Syd kopfschüttelnd ein. »War so ein Popsong, und dein Dad hat Popmusik ja gehasst. Hätte das Mädchen mal lieber was aus den Piraten von Penzance oder Der Mikado gesungen. Das hätte deinem Dad besser gefallen.«

»Da haben Sie recht«, stimmte Ian Collard zu. »Mr. Bowman hat immer nur Radio 3 oder Radio 4 gehört.«

»Wieso haben sie ihn eigentlich in einem Bambussarg verbrannt?«, fragte Syd. »Das hätte deinem Dad bestimmt auch nicht gefallen, er war ja nun weiß Gott kein Öko.«

»Aber die Rede von Reverend Tinkler hat mir gefallen«, meldete sich Margaret Collard zu Wort. »Sehr kurzweilig.«

»Aber was sollte das ganze Zeug über die Katzen und die Papageien?«, fragte Syd. »Ich habe Lyle nie von so was erzählen hören. Weißt du was darüber, Greg?«

»Meine Mutter mochte keine Katzen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals eine Meinung dazu geäußert hätte. Und was den Papagei angeht – da müssen wir wohl Onkel Frank fragen.«

Dieser stand in einer Ecke und redete gerade lebhaft auf Reverend Tinkler ein. Das Gespräch hatte ganz harmlos

»Sie sind also der Junggeselle in der Familie«, hatte der Reverend das Gespräch begonnen.

»Das habe ich mir aber nicht ausgesucht, falls Sie das denken«, gab Frank zurück. »Darf ich Sie eigentlich beim Vornamen nennen?«

»Natürlich. Ich heiße Bill.«

»Alles klar, Bill. Also, was mein Junggesellendasein angeht: Es stimmt, aber ich hab mir das wie gesagt nicht ausgesucht. Ich bin mein ganzes Leben lang schon auf der Suche, auf meinem Herzen steht deutlich lesbar ›Zu verschenken!‹, aber es gab noch keine Frau, die es haben wollte. Frauen finden mich einfach nicht gutaussehend genug. Jeans Mutter nennt mich immer einen Troll.«

»Ach, das meint sie bestimmt liebevoll.«

»Wann haben Sie denn das letzte Mal jemanden liebevoll Troll genannt?« Onkel Frank schnauf‌te verächtlich. »Wann hat je ein Liebesbrief mit ›Geliebter Troll‹ angefangen?«

Reverend Tinkler tat so, als würde er ernsthaft über eine Antwort nachdenken.

»Überlegen Sie doch mal: Wenn Sie eine Frau wären, würden Sie mich dann um ein Date bitten?«

»Das ist aber eine schwierige Frage. Ganz schön hypothetisch.«

»Na gut, dann stellen Sie sich eben vor, Sie wären ein warmer Bruder, Sie wissen schon, einer von diesen Kerlen, die auf Männer stehen. Würden Sie dann mit mir ausgehen wollen?«

Zum Glück blieb es ihm erspart, näher auf die aktuelle Position der anglikanischen Kirche zur Homosexualität einzugehen, da in diesem Moment Greg auf‌tauchte und sie bat, Platz zu nehmen, das Essen würde nun serviert.

»Ich setz mich zu dir, Bill«, erklärte Onkel Frank.

»Nein, der Reverend sitzt bei Jean und Billy mit am Tisch, du kommst neben mich«, stellte Greg klar.

»Aber ich wollte ihn gerade was zur Arche Noah fragen!«

»Das kannst du auch noch später. Erst mal erklärst du uns bitte ein paar Dinge über Papageien.« Damit führte er seinen Onkel zum Tisch, an dem bereits Syd Butterf‌ield und die Collards saßen.

Die Platzvergabe war offensichtlich nach Beliebtheitskriterien erfolgt, und es überraschte Greg kein bisschen, dass er am Tisch der weniger Beliebten gelandet war. Ob Billy mit seiner Darstellung der Uneinigkeit unter den Anwesenden vielleicht auch übertrieben hatte, nur damit er und Greg nicht nebeneinandersitzen mussten? Zwischen den Brüdern hatte schließlich die letzten sieben Jahre

 

»Worüber haben Sie sich denn mit Onkel Frank unterhalten?«, fragte Jean den Reverend.

»Ach, über dies und das«, wich dieser aus. »Ein eigenwilliger Typ, finden Sie nicht auch?«

»So kann man’s auch ausdrücken«, antwortete Betty Halliwell.

Nun wandte sich Mrs. Turton an Katy. »Du hast vorhin wirklich ganz entzückend gesungen, meine Kleine. Wie lange hast du denn dafür geübt?«

»Ungefähr drei Monate. Ich war gut, nicht?«

Betty Halliwell zog ihre Enkelin zu sich heran und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du warst phantastisch, mein Schatz. Du wirst mal ein ganz großer Star.«

»Ich weiß«, antwortete Katy. »Und Mum sagt, ich sollte nicht nur an die Casting-Shows im Fernsehen denken.«

»Jetzt mal einen Schritt nach dem anderen«, mischte sich Billy ein. »Erst mal strengst du dich schön in der Schule an, und danach studierst du was. Wenn das mit dem Singen nicht klappt, brauchst du eine Ausbildung als Plan B.«

Katy starrte ihren Vater mit offenem Mund an. »Natürlich klappt das mit dem Singen! Ich brauche keinen Plan B, stimmt’s, Mum?«

(Man braucht immer einen Plan B, dachte Billy im Stillen, egal, was sie den jungen Leuten heutzutage einreden. Je früher seine Tochter das erkannte, umso besser.)

»Natürlich brauchst du keinen«, sagte Jean. »Nur weil Daddy sein Geld damit verdient, Bücher zu verkaufen,

Billy ignorierte den Kommentar. Er hatte ihn schon oft genug gehört.

Reverend Tinkler prüf‌te vorsichtig mit dem großen Zeh, wie kalt das Schweigen war. »Der Bambussarg war ja eine recht ungewöhnliche Wahl. Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

»Das war meine Idee«, sagte Jean. »Das ist umweltfreundlicher. Ich hoffe, dass andere meinem Beispiel folgen werden. Es ist ja allgemein bekannt, dass die natürlichen Ressourcen des Planeten nicht unerschöpf‌lich sind, und meine Generation hat die Pflicht, sie für zukünf‌tige Generationen zu bewahren. Ich will nicht, dass Katy in einer Welt ohne Bäume aufwächst. Mahagoni – und Eiche mittlerweile wahrscheinlich auch schon – gibt es kaum noch, aber Bambus gibt es genug.«

»Außerdem ist es billig«, fügte Billy hinzu. »Was wir im Vergleich zu einem herkömmlichen Sarg sparen, stecken wir in einen Kopierer für Katys Tanzschule. Der Direktor hat versprochen, dafür eine Gedenktafel für meinen Vater an der Wand neben dem Kopierer anzubringen.«

»Das ist sehr löblich«, sagte Reverend Tinkler beeindruckt. »Schade, dass so wenige Menschen das Thema Recycling so ernst nehmen wie Sie.«

»Der Bambus war doch nicht recycelt, der war nagelneu!«, rief Jean empört. »Und außerdem glauben Billy und ich ohnehin nicht an Recycling, wir finden, das ist Aufgabe der Regierung. Wir zahlen schließlich schon wahrhaftig genug Steuern, da kann man uns ja wohl nicht auch

»Ich trenne meinen Müll auch nicht«, gab Mrs. Turton zu. »Ich habe gehört, das wird sowieso alles wieder zusammengekippt, und Barry meint, es gibt schon genug Plastik- und Papierberge auf der Welt. Ich fände es viel wichtiger, dass man strenger mit Leuten umgeht, die Abfall einfach auf den Boden werfen. Damit würde die Verbrechensrate automatisch schlagartig fallen, sagt Barry, denn die Basis einer geordneten Gesellschaft sind nun mal saubere Straßen.«

»Ganz Ihrer Meinung«, pflichtete ihr Betty Halliwell bei. »Wenn ich durch die Stadt fahre und das viele Papier und die Scherben und Dosen überall auf der Straße sehe … da wird einem ganz anders. Man kommt sich ja vor wie in einem Drittweltland. Ein Glück, dass Henry das nicht mehr sehen muss.«

»Barry meint, wir sind heutzutage kein Drittweltland mehr. Er sagt, durch die Einwanderer ist der Lebensstandard hier sogar gestiegen.«

Betty Halliwell schüttelte traurig den Kopf. Reverend Tinkler bereute diese Unterhaltung bereits genauso wie die letzte mit Onkel Frank. Er hatte doch nur eine einfache Frage zu dem Bambussarg gestellt.

»Henry war Ihr Mann, nehme ich an?« Er würde dem Gespräch wieder eine andere Richtung geben, koste es, was es wolle.

»Ja, genau. Und wenn man ein Problem mit den Füßen hatte, musste man sich nur an Henry wenden, und alles war wieder gut. Er war der beste Podologe weit und breit.«

»Alles in Ordnung, Daddy?«, fragte Katy.

»Na klar, alles in Ordnung. Ich vermisse nur deinen Großvater.«

»Ich kann nicht fassen, dass so wenig Leute auf der Beerdigung waren«, sagte Betty. »Als wir Henry beerdigt haben, kamen über hundertfünfzig Gäste. Hatte Ihr Vater keine Freunde?«

»Nur ganz wenige. Er war nicht so gern unter Menschen, und es wurde noch schlimmer, nachdem meine Mutter gestorben war. Er selbst hätte bestimmt nicht mit mehr als sechs Leuten auf seiner Beerdigung gerechnet, also hätte er sich über die elf bestimmt gefreut.«

»Während wir das erste Lied gesungen haben, ist übrigens eine junge Frau dazugekommen. Die ist dann aber gleich nach dem Segen wieder gegangen«, erzählte der Reverend. »Haben Sie eine Ahnung, wer das war?«

»Nein.« Billy schüttelte den Kopf

»Dein Bruder hat es gerade noch so zum letzten Lied geschaff‌t, danach wurde dann ja nur noch die Leiche in den Ofen gefahren. Der hätte das Ganze ruhig ein bisschen ernster nehmen können, wenigstens einen Anzug anziehen, zum Beispiel«, sagte Jean.

»Ich habe dir das doch schon erklärt. Gregs Flugzeug hatte Probleme, und sein Gepäck ist abhandengekommen. Und er ist nicht absichtlich zu spät gekommen.«

Jean sah nicht überzeugt aus, schwieg jedoch.

Eine Kellnerin kam an den Tisch, nahm die leeren

Mrs. Turton entdeckte die Collards am Buffet. Die nahmen sich bestimmt die ganzen Sandwiches mit Shrimps und Mayonnaise, und die anderen durf‌ten sich dann mit Käse und Schinken begnügen. Sie flüsterte Betty Halliwell zu, dass die Collards keinen Anstand hätten und sich bestimmt auch noch die ganzen Schokoladenkekse nähmen. Betty zögerte ebenfalls noch, zum Buffet zu gehen, weil Onkel Frank dort stand und sie keinerlei Lust hatte, von ihm in ein Gespräch verwickelt zu werden. Erst als er endlich mit einem Teller voller Sandwiches zurück zu seinem Platz ging, erhob sie sich und machte sich auf den Weg zum Buffet. Sie war gerade dabei, sich einen Überblick über das Essensangebot zu verschaffen, da stand Onkel Frank, der im letzten Moment noch die Würstchen im Schlafrock entdeckt hatte, plötzlich neben ihr.

»Hallo, Betty.«

»Hallo, Frank«, antwortete sie zögernd.

Schweigen. Onkel Frank überlegte fieberhaft, was er noch sagen könnte.

»Und, was gab’s bei dir gestern Abend so zu futtern?«, fragte er schließlich.

»Ich futtere nicht, ich diniere«, kam die spitze Antwort.

Onkel Frank überraschte der verächtliche Ton kein bisschen, aber genervt war er davon durchaus. »Und was hast du nun diniert? Kutteln?« Er wusste, dass er Betty damit einen Stich versetzen konnte, denn sie wurde nicht gern an ihre Vergangenheit erinnert. Sie schämte sich dafür, dass

»Wenn du es unbedingt wissen musst: Lammkoteletts, Brokkoli und Kartoffelgratin.« Sie gab sich größte Mühe, ruhig zu bleiben.

»Köstlich!«, sagte Onkel Frank und schmatzte anerkennend. »Nicht schlecht für ein Mädchen, das früher fast nur Innereien gegessen hat.«

Gopher-Holz

Der Kaffee wurde in der Lounge serviert.

Mrs. Turton wartete, bis alle anderen den Speisesaal verlassen hatten, und steckte sich dann schnell noch eine Handvoll Doppelkekse mit Cremefüllung in die Manteltasche. Für den Fall, dass sie jemand darauf ansprach, hätte sie behauptet, sie würde sie in ihre Carepakete stecken, die sie nach Indien schickte. Unter den Mitgliedern ihrer Kirchengemeinde war allgemein bekannt, dass sie Schals für indische Waisenkinder strickte, also hätte man ihr sicher geglaubt. Insgeheim war sie mittlerweile jedoch zu der Überzeugung gelangt, dass man immer zuerst sich selbst etwas Gutes tun sollte.

Katy trat neben Greg, der sich gerade mit Onkel Frank unterhielt.

»Wenn du mein Onkel bist, wieso habe ich dich dann noch nie gesehen?«

»Kennst du irgendwelche Filmstars?«

»Zum Glück nicht, nein. Ich bin Dozent an einer Uni, und wir haben wenig Filmstars unter den Studenten.«

»Ich werd später jedenfalls mal Filmstar«, sagte Katy. »Dann bin ich berühmt und verdiene ganz viel Geld.«

»Find ich super! Wenn du mal reich bist, leihst du mir dann was?«

»Du kannst auch jetzt gleich was haben.« Katy öffnete ihre Handtasche und studierte den Inhalt. »Ich kann dir drei Pfund leihen. Aber die musst du mir zurückgeben, bevor du wieder nach Hause fährst.«

Greg lachte laut. Jean sah zu ihnen herüber.

»Katy, kommst du mal kurz?« Jean war nicht wohl dabei, dass sich Katy mit Greg anfreundete.

»Wir beide sterben bestimmt an einer Krankheit oder weil wir alt sind«, sinnierte Onkel Frank, nachdem Katy weg war. »Aber das kleine Mädchen da stirbt irgendwann noch mal an zu viel Aufmerksamkeit, glaub mir.«

Eine Kellnerin stellte den beiden Kaffee hin, aber Onkel Frank bat sie, seine Tasse wieder mitzunehmen. Er würde stattdessen einen Whisky trinken – es passierte schließlich nicht alle Tage, dass man sich von seinem Bruder verabschieden musste.

»Jetzt bin nur noch ich übrig«, sagte er nachdenklich zu Greg. »Erst Eric, dann Irene und jetzt Lyle. Die nächste Beerdigung wird dann wohl meine sein.«

»Du hast ganz bestimmt noch viele schöne Jahre vor dir, Onkel Frank.«

»Ich hol dir mal deinen Whisky«, bot Greg an.

»Den hol ich mir selbst«, lehnte Onkel Frank ab. »Ein paar Sachen kann ich schon noch allein.«

Greg schenkte sich Kaffee ein. Billy setzte sich neben ihn. »Ist doch ganz gut gelaufen, oder?«

»Find ich auch. Danke, dass du das alles organisiert hast. Ich war dir ja bis jetzt keine große Hilfe, aber ich bleibe auf jeden Fall noch und mach mit bei der Haushaltsauf‌lösung.«

»Das wäre nett. Du kannst natürlich so lange bei uns schlafen, Jean hat schon das Gästezimmer vorbereitet.«

»Ich will dir wirklich keine Umstände machen. Bist du sicher, dass es für Jean in Ordnung ist?«

»Natürlich«, log Billy. »Und es wird ja auch Zeit, dass wir beide uns wieder zusammenraufen. Ich kann gar nicht mehr verstehen, dass wir uns überhaupt zerstritten haben.«

Greg nickte. »Was haben wir uns bloß dabei gedacht?«

Billy ließ die Frage unbeantwortet, da sie sicher rhetorisch gemeint war, und erklärte Greg stattdessen, wie die Gäste nach Hause kommen würden. »Kannst du Onkel Frank zu Hause absetzen und dann nachkommen?«

»Klar, aber kannst du mir noch mal sagen, wie ich genau hinkomme?«

»Immer geradeaus und dann den Hügel rauf. Unser Haus ist das letzte auf der linken Seite. Wenn du Probleme hast, ruf einfach an.«

Wohl wahr, dachte Billy bei sich. Laut sagte er: »Ich muss noch mal kurz mit dem Manager sprechen.«

Reverend Tinkler hatte sich ein Stück von der Gesellschaft entfernt und betrachtete ein Gemälde am anderen Ende der Lounge. Es war ein Frauenporträt, das seiner Exfrau Joan überraschend ähnlich sah. Einen kurzen Moment lang fehlte sie ihm; sie hätte ihm geholfen, den vielen Konversationsfettnäpfchen aus dem Weg zu gehen. Jemand rief seinen Namen. Er drehte sich um und sah Onkel Frank auf sich zukommen. Wie bei den meisten Menschen löste sein Anblick auch beim Reverend leichte Panik aus. Wenn er mit seinem rätselhaften Lächeln und dem entschlossenen Gang auf einen zukam, war man nie sicher, ob er ein höf‌liches Gespräch oder eine Prügelei im Sinn hatte. Betty Halliwell hatte schon recht, wenn sie ihn als Troll bezeichnete, überlegte Reverend Tinkler.

»Sie habe ich gesucht, Bill. Seitdem mir die Regierung den Strom abgedreht hat und ich nicht mehr fernsehen kann, lese ich immer in der Bibel, und ich verstehe die Geschichte von der Arche Noah irgendwie nicht so ganz. Erst mal: Was soll denn Gopher-Holz bitte schön sein?«

»Sie meinen das Holz, aus dem die Arche gebaut wurde?«

Frank nickte.

»Das wird in der Bibel ja nur einmal erwähnt, aber man geht davon aus, dass es Zypressenholz war.«

»Dann hätten wir das also geklärt. Aber ich verstehe noch eine ganze Menge anderer Sachen nicht. Also, laut meiner Berechnung fängt es am 17. Mai an zu regnen und

Reverend Tinkler nickte zustimmend. So weit, so gut. Solange es um die Bibel ging, fühlte er sich auf sicherem Terrain. Andererseits hatte er ja heute bereits feststellen müssen, dass daraus schnell Treibsand werden konnte, sobald Frank Bowman beteiligt war.

»Wie lange die Flut gedauert hat, kann ich ja noch glauben, aber mit der Arche selbst habe ich ein Problem. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die wirklich groß genug war. Die Größe ist ja in Ellen angegeben, das hab ich mal in neuzeitliche Maße umgerechnet, und dann wäre die Arche etwa hundertvierunddreißig Meter lang, zweiundzwanzig Meter breit und knapp über dreizehn Meter hoch. Es gab drei Decks, aber selbst bei einer großzügigen Schätzung kann sie nicht mehr als hundert Quadratmeter Fläche gehabt haben. Das ist ja nur ein bisschen mehr als ein Rugbyfeld, und da mussten sich dann sieben Paare von jedem reinen Tier, ein Paar von jedem unreinen Tier und sieben Paare von jeder Vogelart tummeln? Und ich meine, die kann man ja auch nicht durcheinander laufen lassen, da würde es ja drunter und drüber gehen. Man müsste sie getrennt voneinander halten, so was wie Käfige bauen, und das nimmt ja auch wieder Platz weg. Und dann muss man ja auch noch Platz für Futter für alle einrechnen, das ein ganzes Jahr halten muss. Da sind die Fleischfresser aber noch nicht berücksichtigt. Das ergibt doch irgendwie alles keinen Sinn. Die Tiere mussten ja bestimmt auch mal, und es gab nur

Reverend Tinkler lockerte wieder seinen Kragen und schluckte.

»Es werden nämlich zum einen keinerlei Insekten genannt«, fuhr Onkel Frank fort. »Wie haben die denn überlebt, wenn sie nicht mit auf die Arche durf‌ten? Spinnen können ja nicht schwimmen. Und Würmer und Schmetterlinge auch nicht. Die dürf‌te es also der Logik nach heutzutage gar nicht mehr geben.

Zweitens: Was ist mit Kängurus, Elefanten und so weiter, also Tieren, die es im Heiligen Land gar nicht gegeben hat? Wie haben die überlebt?

Und drittens: Wie haben die drei Männer und ihre Frauen es geschaff‌t, die gesamte Erde neu zu bevölkern, als sie schließlich völlig am Ende ihrer Kräf‌te wieder von der Arche runterdurf‌ten? Ich weiß, dass Noah sechshundert Jahre alt war, als der Regen angefangen hat, und dass die Menschen damals wohl generell länger gelebt haben, aber es ist trotzdem noch eine ganz schöne Aufgabe für drei Männer. Von den drei Frauen mal ganz zu schweigen!

Also, Bill, wie soll ich das jetzt alles verstehen? Lügt die Bibel etwa? Ich dachte, darin steht nur die Wahrheit.«

Reverend Tinkler verabschiedete sich schnell bei allen und trat in den Regen hinaus.

Wie angenehm ein Sommergewitter doch sein kann, wenn man gerade ein Gespräch mit Frank Bowman hinter sich hat. Er hätte trotzdem nicht Mrs. Hodges als Vorwand benutzen dürfen, dachte er beschämt; sie war vor zwei Jahren gestorben, und wenn er sich richtig erinnerte, hatte ihr Leben damals neun Karteikarten gefüllt.