Dieser Roman entstand, trotz oder wegen mannigfaltiger Ablenkungen und Inspirationen, während meiner Stipendienaufenthalte in der Villa Concordia in Bamberg (2015/16) und im Palazzo Barbarigo della Terrazza (Deutsches Studienzentrum Venedig, Herbst/Winter 2016).
Die Personen und Begebenheiten in diesem Roman sind imaginär, aber nicht ohne Bezug zur Realität.
Für Katja, Anna und Xenia
Endlich sagte der Vetter: »Es ist nur schade, dass man nicht weiß, was an solchen Dingen wahr ist. Alles kann man kaum glauben, und etwas muss doch an der Sache sein …«
Jeremias Gotthelf, Die schwarze Spinne
Nicht, dass sie böse auf die Welt gekommen wäre. Das ist niemand. Sie hat wohl, wie alle anderen Kinder auch, den Fliegen die Flügel ausgerissen, um zu sehen, wie sie ohne zurechtkommen. Sie fand einen Vogel mit gebrochenem Bein, schiente das Bein (wobei sie den marmornen Briefbeschwerer auf den Rumpf des zappelnden Vogels legte) mit einem Streichholz und viel Bindfaden, wollte ihn dann aufstellen, er aber ist umgefallen und, weil tot, warf sie ihn, den Undankbaren, an die Wand. Sie will das Gute. Worin das Problem liegt – sie will es. Sie lässt es nicht kommen oder wachsen oder gedeihen, sie will es, sofort, unbedingt, hilft nach Kräften nach und holt sich Hilfe, wo sie sie findet. Das kann ich alles sagen, weil ich sie gut kenne. Sie ist meine Mutter und so eine Art Bürgermeisterin hier. Ehrenamtlich, dafür umso engagierter.
Ich habe das Dorf verlassen, nachdem ich es für die Kulisse einer – alles in allem – glücklichen Kindheit benutzt hatte. Barfuß laufen, fremde Kirschen essen, das erste Herumfummeln am eigenen und am anderen Geschlecht, Natur überall, das Gefühl, neben dem frisierten Mofa des Nachbarn das lauteste Geschöpf in einem stillen Hain zu sein. Mir tun die leid, die nicht auf dem Dorf aufwachsen; und die, die ihr ganzes Leben dort verbringen müssen. Sobald ich konnte, ging ich in die Stadt, weil ich dachte, nur dort finde ich die Welt.
Jetzt bin ich zurück auf dem Dorf, und alles ist anders.
An einem Frühlingstag kam ein Kleinbus voller Menschen mit kleinem Gepäck im Dorf an; meine Mutter wollte, dass alles gut werden würde, ich küsste einen dunkelhäutigen Mann, und am Ende brannte es – lichterloh, wie ein Dichter sagen würde. Herzen, Häuser, Hass. Poesie macht es nicht besser oder erträglicher, aber leichter lesbar. Dabei war es bloß die schlichte, manchmal knirschende und quietschende Mechanik der Gefühle, der echten, der geheuchelten und der eingebildeten, die hier am Werk war.
Wir sind das letzte Funkloch in Deutschland. Die Telefongesellschaften haben Köpfe gezählt und gerechnet und lassen uns in Rückständigkeit versauern. Auf unseren Dächern schwanken turmhohe, dünne Eisenstangen, gekrönt von den mageren Fischgräten der Fernsehantennen. Hilft nicht viel, der Empfang ist schlecht, immerzu schneit es auf der Mattscheibe, und bei Sturm fallen die Stangen um. Die E-Mail, wie wir sie kennen, ist nur unwesentlich schneller als die gelbe Post und weniger zuverlässig. Breitband-Internet wird seit Jahren von der Regierung versprochen. Niemand glaubt noch daran. Genauso wenig, dass irgendwann mehr Busse fahren werden oder sich ein Hausarzt in der Gegend niederlässt oder dass der Krämerladen wieder aufmacht.
Es gibt eine Menge leere Häuser im Dorf. Mehr und mehr. Die Molkerei, das Schulhaus, Scheunen, Ställe. Die Häuser der Weggezogenen, der Weggestorbenen, der Verreisten, der Verschwundenen, derer, die man nie sah. Und eine Schiefertafelfabrik, am Rande der Siedlung, vor dem kleinen Bergwerk, aus dem die Fabrik ihren Rohstoff bezog. Wir haben Raum.
Wegen der Strahlenarmut sind ein paar Spinner hierhergezogen. Sie glauben, gesünder zu leben, weil keine schlimmen Funkwellen durch ihre Körper vibrieren, oder was sie eben im Körper tun. Natürlich besitzen wir seit einiger Zeit Mobiltelefone: Weil alle sie haben; und sogar wir ab und zu rauskommen.
Um damit zu telefonieren, steigen wir auf den Handyberg. Das ist eine flache, mit spärlichem Buschwerk beflockte Kuppe südlich vom Dorf, zu der einige Pfade sich hinaufschlängeln. Man hat dort oben einen großartigen Rundumblick, aber nicht viel zu sehen: Wald, noch mehr Wald, die Burg, die auf der anderen Talseite über dem Dorf hockt wie der Alb auf dem Bauch des nächtlichen Schläfers. Die Mobilfunkantennen auf dem Hügel gegenüber. Manchmal, wenn es klar ist, ein paar ferne Kirchturmspitzen.
Ich wollte auf dem Handyberg einmal einen Kiosk eröffnen, Stühle und Tische hinstellen, Sonnenschirme. Die Leute könnten telefonieren und dabei eine Bratwurst essen und ein Bier trinken, zum Sonnenuntergang vielleicht einen Cocktail. Bei Kälte würde ich Kohlebecken anheizen und Glühwein ausschenken. Ich hätte ein Geschäft und ein Auskommen und müsste mir keine Sorgen um meine Zukunft machen. Kleine Ziele. Außer solch verwegenen Träumen hatte das Dorf einer, die nicht mehr Kind und noch nicht ganz erwachsen ist, nicht viel zu bieten.
Eine Woche nach meiner Heimkehr ins Dorf ließ ich mich von Georg, dem Wirt und Brauer, dazu überreden, an vier Tagen der Woche im Wirtshaus auszuhelfen, als Mädchen für alles, in der Küche, am Tresen, gelegentlich beim Auftragen und Abräumen. Diese Fertigkeiten sind das einzig Verwertbare, das ich aus der Stadt mitgebracht habe. Das andere, was ich mitgebracht hatte, war noch gut verborgen, unsichtbar unter Kleidern, unsichtbar unter der Haut, selbst für mich noch kaum spürbar, auch wenn die Anzeichen mehr und deutlicher wurden. – Meine Schwangerschaft und nicht bloß das Heimweh, hatte mich zuletzt aus der Stadt getrieben. Heim zu Mutter: die traurige Wahrheit; aber ich getraute mich nicht, es ihr zu sagen. Noch nicht. Sie gab sich zufrieden mit dem, was ich ihr auftischte, jedenfalls fragte sie nicht nach: abgebrochenes Semester wegen Totalausfall eines wichtigen Professors; Rückkehr in die Stadt zur planmäßigen Fortsetzung des Studiums im Herbst. Obwohl ich natürlich wusste, dass sich in Kürze alles ändern würde. Ich wollte warten, bis zum letzten Moment. In ihrer Nähe zu sein gab mir Sicherheit. Aber ich kenne sie zu gut: Gib ihr eine Chance, dich zu bemuttern, und sie tut es ohne Gnade.
Mit dem Wirtshausjob konnte ich ein bisschen Geld verdienen und war mitten im Geschehen, denn bei uns werden die wichtigen Dinge noch im Wirtshaus besprochen. Auch der inoffizielle Dorfrat – unter der Führung meiner Mutter – tagt in einem Nebenzimmer. Wir sind schon lange keine eigenständige Gemeinde mehr und in dem Verband, zu dem wir gehören, das kleinste, unbedeutendste, abgelegenste Dorf. Dabei geht es den meisten gut. Niemand hungert, niemandem regnet es durchs Dach. Man hält zusammen. Trotzdem nagt das Gefühl, vernachlässigt und vergessen zu sein, an vielen hier.
Vom Vorratsraum hinter der Küche bekam ich alles mit. Da ist eine Lüftungsklappe in der Wand; die auf der anderen Seite, im Nebenzimmer, durch ein Gruppenbild der Feuerwehr verdeckt ist. Georg hatte mich geschickt, den Eimer mit hausgemachtem Kartoffelsalat zu holen, der zu den genauso wenig hausgemachten Fleischkrapfen gehört. Ich hörte meine Mutter sagen:
Da könnt ihr euch auf den Kopf stellen, die kommen, ich hab’s schwarz auf weiß. Früher oder später sind die da. Besser wir stellen uns drauf ein.
Die anderen Stimmen konnte ich nicht zuordnen. Alle redeten durcheinander, zornig und erregt. Die Bruchstücke, zusammengesetzt: Die wollten sie hier nicht haben. Ich aber verspürte eine unbestimmte, leise Vorfreude – dann müsste ich mich nicht mehr als die einzige Außenseiterin im Dorf fühlen.
Die Burg wendet uns ihre Rückseite zu. Die Prachtseite, die mit dem wappengeschmückten Portal, der Zugbrücke und dem trockenen Wassergraben, können wir vom Talgrund nicht sehen, auch nicht die beflaggten Ecktürme, nicht die Obstbaumspaliere. In manchen Jahren sollen dort oben sogar Aprikosen gedeihen; sie wärmen sich an der besonnten Mauer. Uns zeigt die Burg eine hohe kalte graue Wand, die die meiste Zeit im Schatten liegt.
Die Dörfler haben sich deswegen nie gegrämt. Sollen die Prunkabordnungen doch über die Zugbrücke anrücken, flatternde Standarten an den Lanzen oder blankpolierte Sterne auf der Kühlerhaube. Denn am Fuß der hohen kalten grauen Wand befindet sich eine kleine Pforte; angeblich das Ende des alten Geheimganges. Wir haben immer geliefert; alles, was durch die Pforte passte: die Jungfrauen für den lüsternen Robert von Stoffeln (wenn die Legende stimmt), Bier und Wein für den Ritter Sebaldus ganz bestimmt. Sonst und alle Tage Brot und Früchte des Feldes, Waldes und der Obstwiesen. Dienstleistungen aller Art, Botengänge, Hand- und Spanndienste. Bei uns gab es sogar einmal einen Perückenmacher – ein Perückenmacher, hier, wo man sich die Haare mit dem glühenden Holzscheit sengt.
Dabei gehörte das Dorf nie zum Lehen der Burg. Unterhalb der Mauer verläuft eine Grenze; und über die Grenze unser stiller Grenzverkehr. Für Wohlstand hat das nie gereicht, aber ein Auskommen oder ein Zubrot hat es für viele von uns bedeutet (und so ist es noch).
Von der Pforte wissen nur wir im Dorf und die jeweiligen Burgherren – nicht die Verfassungsschützer, die über viele Jahre an der Schokoladenseite der Burg in unauffälligen orangefarbenen Audis dösten und das Kommen und Gehen dokumentieren sollten. Angeblich haben sie sich an kalten Tagen auch gern mal einen Kaffee vom Burgherrn servieren lassen, hat mein verstorbener Opa erzählt. Uns zeigt die Burg den Arsch, pflegte mein Opa außerdem zu sagen, aber wo was rauskommt, wird wohl auch was hineingehen, oder? Wenn es einem nichts ausmacht, braun zu werden, natürlich.
Mehrere Wege führen vom Talgrund an die Pforte. Einer von ihnen ist mit einem geländetauglichen Wagen passierbar. Die Pfade sind auf keiner Karte verzeichnet. Sollte sich einmal ein Wanderer in unsere Gegend verirren, er würde kaum zufällig auf sie stoßen. Genauso wenig ein Autofahrer auf den Fahrweg. Dazu müsste er nämlich bei uns läuten und darauf warten, dass meine Mutter, mein Bruder oder ich das vordere Tor zur alten Scheune aufschließen, den Wagen hinein- und durch das rückwärtige Tor hinausfahren lassen. Nach ein paar Metern verschwindet das Auto dann im Wald, der das Motorgeräusch dämpft. Dann sind alle Tore wieder verschlossen, das Licht gelöscht. Es ist so still wie zuvor.
Durchfahren darf nur einer – jener, den ich für mich, als Kind, immer den »Grünen« nannte. Die anderen im Dorf aber kennen ihn als den »Burgherrn«; und sie sagen das ganz ohne Ironie.
An uns ist immer alles vorbeigegangen. Die Handelswege, die Eisenbahnlinien. Die Straße zu uns endet hier. Das Dorf liegt am Ende eines flachen Tales; keine Felswände türmen sich um uns, es ist keine dramatische Landschaft, eher lieblich. Oder langweilig. Man kann sich hier fühlen wie ein Käfer, der in eine Salatschüssel gefallen ist.
Als Kind bin ich oft im Gras gelegen und habe Kondensstreifen geguckt und mir vorgestellt: Dieser Flieger kommt aus New York und fliegt nach Peking, dieser Flieger kommt aus Berlin und fliegt nach Casablanca, und dieser Flieger … Einmal sah ich zwei genau aufeinander zusteuern. Ich dachte, der eine oder der andere wird schon ausweichen, aber sie blieben stur auf Kurs. Ich bin aufgesprungen und habe in den Himmel geschrien: Passt auf! Flieg du nach links! Weich doch aus! Ich sah mich schon in einem Regen von glühenden Metallsplittern und verbranntem Fleisch stehen. Inzwischen weiß ich auch, dass die in verschiedenen Höhen unterwegs sind.
Jedenfalls ist es so: Die Linien kreuzen sich genau über dem Dorf. Deswegen habe ich mir vorgestellt, dass irgendjemand, irgendetwas Großes sich über den Globus gebeugt und hier, über uns, ein Kreuz oder ein »X« eingezeichnet hat; wie man das so macht, auf Landkarten, da, wo der Schatz vergraben liegt. Das hatte etwas zu bedeuten, ganz bestimmt. Wir waren auserwählt und sind es noch.
Der Herr der Burg ist hoch belesen. Das Lesen hat ihn aber nicht gebessert, moralisch gesehen, glaube ich. Er besitzt viele tausend Bücher: meine Leihbibliothek, seit ich neun Jahre alt war. In einem Nebenbau des Pfarrhauses hatte es bis dahin eine kleine Bücherei gegeben; aber die wurde aufgelöst, als der Bischof den Pfarrer abzog, unsere Seelen aufgab und sie dem Burgherrn überließ.
Mutter hatte gekämpft und getobt, gebettelt und gefleht, dass uns der Priester erhalten bleiben solle, aber die Kirchenoberen verhandelten nicht. Mutter war und ist eine eiserne Kirchgängerin; seit wir seelsorgerisch verwaist sind, nimmt sie jeden Sonntag den Bus in die nächste Stadt, um die Messe zu hören. Sonst spüre ich nicht viel von ihrer Religiosität. Sie predigt nicht, treibt keinen Kult, hat nie verlangt, dass wir vor dem Essen beten. Sie hofft stets, durch Vorbild zu überzeugen (und wenn das nicht geht, mit anderen Mitteln), ist keine von den Frauen, die sich um nichts anderes drehen als um Haus, Mann und Kinder. Meine Mutter wollte immer wissen, was ging, und sie mischte sich ein, wo sie glaubte, im Recht zu sein oder ein besseres Argument zu haben. Manchmal ohne Argument, immer mit Überzeugung.
Dem Pfarrer trauerte ich nicht nach. Er unterrichtete Religion, als ich im Dorf zur Schule ging. Es mag harmlos gewesen sein – aber ich mag die handfeste Pädagogik nicht, egal, ob sie als Getätschel oder Maulschelle daherkommt. Mir tat es um die Bücher leid, obwohl ich die meisten schon gelesen hatte. Am Abend des Tages, an dem der Pfarrer reichlich beweint und reich beschenkt das Dorf verließ, hielt der Burgherr vor der Scheune an, ließ das Fenster herunter, grinste mich an und sagte: Du liest doch so gern, nicht?
Da hatte er mich.
Den Weg hinauf an die Burgmauer, durch die geheime Pforte und über die 147 Stufen dieses muffig-feuchten Ganges bin ich viele Hunderte Male gegangen. Er endet in der Bibliothek des Burgherrn, hinter einer schwenkbaren Abteilung des Bücherregales. Die Bibliothek ist nach keinem erkennbaren System geordnet, man entdeckt die erstaunlichsten Dinge an den erstaunlichsten Stellen. Nathan der Weise steht eine Reihe über der Kollektion signierter und vom Verfasser gewidmeter Exemplare von Mein Kampf; eines der besonderen »Sammelgebiete« des Herrn von der Burg. Er hat mir die Göring und Goebbels zugeeigneten gezeigt. Keine Kante gewellt, keine Ecke geknickt, nichts angestrichen, nie geöffnet. Nie gelesen. Wenn das der Führer wüsste! Dabei ist ihm »der Führer« herzlich egal. Er verehrt ihn nicht; das hätte ich irgendwann mitbekommen. Nur wenn er irgendeinen braunen Trottel überzeugen muss, sagt er etwas Nettes über »den Führer«. Das habe ich ein paarmal mitbekommen: bei meinem eigenen Bruder.
Der Burgherr macht einen altmodischen Eindruck – wie er redet, wie er sich kleidet –, ist aber ganz modern: Ideologien streift er ab und zieht er über, wie er sie braucht, wie einen Pullover. Angeblich war er eine große Nummer in der Studentenbewegung Ende der sechziger Jahre. Getratscht wird viel: vom Saulus zum Paulus, sagen die Leute. Ich bin ja ein und aus gegangen bei ihm. Eine Zeitlang hatte er eine »Hausdame« aus Nordafrika; war wohl eher eine Putzfrau. Vielleicht denkt er, solche Menschen sind nur als Domestiken zu gebrauchen. Vielleicht denkt er das nicht. Aber ganz sicher denkt er an sich und vielleicht noch an seine Allernächsten. Ich bin nicht sicher, wer das ist. Frau und Kinder hat er nicht, nur »Gefolgsleute«, wie er den Schwarm nennt, den er um sich hat.
Fünf Bücher durfte ich jedes Mal mitnehmen. Er guckte sich an, was ich auswählte, kommentierte es beiläufig: Bist du dafür nicht zu jung? Oder: Da hast du ja wieder ein paar harte Brocken ausgesucht. Er notierte die Titel – der guten Ordnung halber! –, aber er schlug die Bücher nie auf. So kam ich auf die Idee, das eine oder andere Buch mit einem falschen Schutzumschlag zu tarnen. Besonders, als mich erotische Literatur zu interessieren begann. Wegen ihm wäre das wohl nicht nötig gewesen; er hat nie versucht, mich zu erziehen, er hat mir nie ein Buch verwehrt; aber bei einer kontrollierenden Mutter und einem schnüffelnden Bruder war der Schafspelz um meine Wolfsbücher ganz nützlich.
Er war immer schon da, soweit es meinen Horizont betrifft jedenfalls. Keiner hat ihn je auf die Jagd gehen sehen; er besitzt keinen Jagdhund und ist dennoch stets in Jägergrün gekleidet, er trägt einen jägergrünen Hut mit einer langen roten Feder. Sein bürgerlicher Name ist bekannt. In der Zeitung stand er manchmal unabgekürzt zu lesen, wenn es um die Prozesse ging, in die er verwickelt war. Er saß auch schon im Gefängnis, aber nie für lange. Ich glaube, er würde viel von seiner – man kann schon sagen: Aura – verlieren, wenn wir ihn bei seinem wirklich hundsgewöhnlichen Namen nennten und nicht immer geheimnisvoll »Burgherr« raunten.
Wenn meine Mutter sagt: Der Burgherr ist da, mach das Scheunentor auf, dann laufe ich los. Lasse alles fallen, laufe los, seitdem ich ein kleines Kind gewesen bin, ich laufe, damit ich nur ja schneller bin als mein kleiner Bruder, öffne die Torflügel, stehe da, während der Grüne seinen schweren Geländewagen in das schwarze Loch der Scheune gleiten lässt, und ich warte darauf, dass er mich ansieht, mit diesem leisen Lächeln, und dass er mit dem Finger an die Hutkrempe tippt, worauf die unters Hutband gesteckte rote Feder wippt. Das war meine einzige Belohnung, das reichte mir, auch wenn er ab und zu einen Schokoriegel aus dem Fensterspalt fallen ließ. Der Burgherr hat mich so gut wie alle anderen im Dorf dressiert. Schwer, davon loszukommen, aber ich habe es mir vorgenommen, jetzt, wo ich wieder da bin.
Er hat die Burg vor vielen Jahren als Ruine gekauft und von seinen »Gefolgsleuten«, Willigen und Handwerkern aus dem Dorf herrichten lassen. Woher er das Geld nahm, blieb rätselhaft. In der Zeitung wurde er gelegentlich als »Plakatmaler« bezeichnet, gelernt hat er wohl Graphiker. Opa meinte, der Burgherr müsse mächtige Freunde haben, welche »die Sache« mit viel Geld unterstützten. Was »die Sache« war, konnte oder wollte er mir damals nicht erklären.
Das Dorf macht gute Geschäfte mit ihm; er ist der Burgherr, und wir sind die Vasallen. Und keiner wundert sich, wenn ein Trupp seiner Männer in grünbraun gesprenkelten Tarnanzügen und mit Holzgewehren fuchtelnd durch den Wald huscht. Wir lachen nicht einmal, obwohl es lächerlich aussieht. Wir grüßen, die grüßen, und ein jeder geht seiner Wege. So war das bei uns, ist das bei uns, und so wird es wohl immer bleiben, wenn es nach dem Burgherrn gehen sollte – wenn er sich da mal nicht täuscht.
Der kleine weiße Bus stand eine ganze Weile da, bevor jemand ausstieg.
Ich hielt einen Blumenstrauß in der einen und den Schlüssel zum alten Schulhaus hinter uns in der anderen Hand. Meine Mutter wartete mit offenen Händen, wippenden Füßen, überfließendem Herzen. Sie hielt sich bereit für die Umarmungen der Ankömmlinge, das Umarmen und das Umarmtwerden, mit dem sie fest rechnete. Sie hatte den ganzen Vormittag davon gesprochen. Wie wichtig das sei, als Symbol einer universalen Menschlichkeit, nach allem, was vorgefallen war – woanders, Gott sei Dank. Da stand sie also und konnte nicht anders, glühend und entschlossen, von ihrer Wärme abzugeben. Sonst wartete da niemand – nur wir beide.
Das war im Frühsommer und ich seit einigen Wochen im Dorf. Die erste Welle von Geschwätz und schiefen Blicken wegen meiner außerplanmäßig frühen Heimkehr war da schon über mich hinweggerollt. Von mir hatten sie nur dürftige, ausweichende Erklärungen gehört, »verkürztes Semester«, »Professor ausgefallen« oder »auf Sabbatical«, aber keine Sorge, im Herbst ginge es weiter. Je öfter ich das sagte, desto eher glaubte ich es selbst. Die anderen – eher nicht. Das sah man ihnen an.
Wir hörten Stimmen aus dem Bus. Sie diskutieren, sagte meine Mutter. Sie streiten, sagte ich. Dann stieg der Fahrer aus und stellte sich neben mich, hielt mir eine Zigarettenschachtel hin, zündete sich eine an.
Sultan und Sultanine sind uneins, sagte er, ob sie euer Tadsch Mahal da beziehen wollen.
Er zeigte mit dem Kinn auf das Schulhaus. Einen neuen Anstrich hätte es vertragen können, aber es war sauber und ungezieferfrei, die Betten frisch bezogen, die Matratzen ordentlich, die Toiletten geputzt, Vorhänge gewaschen, Energiesparlampen eingeschraubt, Papier und Buntstifte für die Kinder bereitgelegt – falls welche ankommen sollten; so was teilte man uns »behördlicherseits« nicht mit. Für die vier Tage Vorwarnung, die wir bekommen hatten, eine beachtliche Leistung. Wir hatten das im Wesentlichen zu zweit gemacht, meine Mutter und ich, mit etwas Unterstützung vom Technischen Hilfswerk aus der Kreisstadt. All jene im Dorf, die sich für einen Kegelausflug ihres Vereins erschöpfend engagieren konnten, hatten keine Zeit oder »es mit dem Rücken« gehabt, und die Feuerwehrler mussten auf dringende Übungen mit den Nachbarwehren.
Das Tadsch Mahal liegt in Indien, sagte ich.
Wo auch immer, sagte der Kleinbusfahrer, ich fahr jedenfalls nicht dorthin.
Ein alter Herr verließ den Bus, langsam und tastend. Mutter schoss los und umarmte ihn. Auf den Mann wirkte die plötzliche Zufuhr mitmenschlicher Wärme, als hätte man ihn schockgefrostet; nachdem Mutter von ihm abgelassen hatte, stand er an den Bus gelehnt wie ein Besenstiel. Mutter umarmte auch alle anderen, die ausstiegen: zwei jüngere Männer, eine alte und zwei junge Frauen, zwei Kinder zwischen vier und sechs, geschätzt.
Ich hatte sie gewarnt. Dass es in anderen Kulturen nicht üblich sei, Fremde zu umarmen, Männer schon gar nicht und alte Männer auf keinen Fall. Aber sie hatte Menschen im Fernsehen gesehen, die am Bahnhof applaudierend Spalier standen, um die Ankömmlinge zu begrüßen, und wollte das toppen.
Die Jüngeren holten ihre Telefone hervor und verloren ihr verlegenes Lächeln, als sie merkten, dass auch außerhalb des Kleinbusses keine vier Strichlein der Empfangsanzeigen erschienen. Nicht mal ein einziges. Einer der Jungs sah mich an, ich nahm seinen Blick auf und lenkte ihn weiter in Richtung Handyberg, unsichtbar über dem dunklen, stillen Wald. Fremder, der du hier eingehst, lass alle Hoffnung fahren, hätte ich auch sagen können. Er tat mir sofort leid, der Junge. Telefone, das sind die Luftwurzeln, die weit reichen, dorthin, woher sie gekommen sind, diese Leute. Ich hatte wenigstens noch ein paar Wurzeln in der Erde dieser Gegend (auch wenn ich einiges probiert hatte, um sie auszureißen, aber Erde, oder meinetwegen auch Heimat, hat einen festen Griff).
Schau, schau, schicke Handys können sie sich leisten, sagte der Kleinbusfahrer.
Ich wollte sagen, dass das überall auf der Welt (außer bei uns im Dorf) nichts Besonderes mehr sei, doch schon begann der Typ, wie eine überdrehte Spieluhr zu leiern:
Jeder Kongoneger hat ’n Hosenträger, aber unsereiner, der hat nichts, unsereiner, der hat nichts. Jeder Kongoneger …
Ich stieß ihn mit dem Ellbogen in die Rippen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Den Jungen lächelte ich entschuldigend an, schnell die Frage verdrängend, ob das Anlächeln jüngerer Männer ihrer Kultur durch jüngere Frauen meiner Kultur ähnlich unangebracht sei wie spontanes Umarmen. Der sah auf einmal viel jünger aus, verletzlich, verlassen, als bezöge er das bisschen an Stärke und Männlichkeit, das er noch besaß oder wiedererlangen wollte, aus der Empfangsanzeige seines Telefons. Am liebsten hätte ich ihn an die Hand genommen und auf den Handyberg geführt.
Stattdessen führten wir die Leute nach ein paar offiziellen Worten von Mutter in das Schulhaus. Es war mir nicht klar, ob sie eine Familie bildeten oder ein zufälliges Behördengemenge. Der alte Mann machte keine Anstalten, Zimmer und Betten zu verteilen; sah nicht nach pater familias aus. Jedenfalls verhandelten sie miteinander. Mutter versuchte ihre eigene Familienaufstellung, aber der Alte wollte sich partout nicht mit der alten Frau ins selbe Zimmer legen lassen. Die jungen Männer und Frauen und die Kinder liefen von einem Raum zum anderen, formten alle paar Sekunden neue Gruppen – ich blickte nicht durch. Mutter auch nicht, redete von einem »typischen Fluchttrauma« und probierte es weiter.
Ich ging hinaus und sah den Jungen über den Schulhof kreiseln, das Telefon wie eine Taschenlampe bald in die eine, bald in die andere Richtung haltend, auf die Burg, den Kirchturm, den Schlossberg, den Gullideckel, den Polarstern, keine Ahnung. Er trug einen dieser dunkelgrün gewachsten Tuchmäntel, wie die Land Rover fahrenden Gutsherren in den Rosamunde-Pilcher-Filmen; wer weiß, wann und wo er den aus den Haufen gespendeter Kleider gezogen hatte.
No handy here, erklärte ich und, weil mir einfiel, dass wir die Einzigen sind, die »Handy« sagen: Telephones not work here.
Ich machte flatternde Wellenbewegungen mit der Hand: No waves, no telephone waves.
Und weil ich noch etwas Nettes in einer offensichtlich beschissenen Situation sagen wollte: Only nature and good air. It is silent. Listen how silent.
Thank you but I cannot listen to something that is not there, sagte der Junge.
Ah ja, was nicht da ist, das kann man auch nicht hören: Sehr ordentliches Englisch, dachte ich beschämt (und ärgerte mich, dass ich im Gymnasium auf Französisch gesetzt hatte, weil ich es irgendwie für »eleganter« gehalten hatte), besser als meines jedenfalls, sogar wenn ich nicht versucht hätte, wie mit einem Minderbegabten zu sprechen. Einfach eben, damit er mich verstünde. Kein Empfang und von Dorftrotteln umzingelt, las ich in seinem Gesicht. Genauso hatte ich mich nach meiner Rückkehr auch gefühlt.
Where are we?, fragte er, als könne es für diesen unwirklichen Ort keinen Namen geben.
Und ich nannte ihm nicht den Namen unseres Dorfes, wie es heute heißt, sondern seinen fernen alten, den geheimnisvollen. Als ich jünger war, hat mich der Klang dieses Namens getröstet, so wie die sich kreuzenden Kondensstreifen am Himmel, so, als sei hier doch irgendetwas anderes, mehr als bloß das stille, öde Dorf. Der Junge aber schien mich nicht zu verstehen. Oder er war gegen den Zauber gefeit. In der Hand hielt er irgendein offizielles, gestempeltes Papier, das ich ihm sanft entwand. In Großbuchstaben schrieb ich darauf; mit der flachen Hand als Unterlage in krakeligen Runen:
TYFENELREN.
Wie ich ihm bei dieser Sache so nahe gekommen war, erkannte ich, dass der Junge gar nicht so jung war. Seine Hände waren rauh und rissig, die Fingernägel hätten eine Maniküre vertragen. Mir schien, sein Gesicht hätte ebenfalls Risse – ganz anders als die meiner (ehemaligen) Kommilitonen mit ihren rosigen Apfelbäcklein, ihren flauschigen Vollbärtlein –, und er hatte einen Blick, geübt, Dinge aus den Augenwinkeln aufzufassen. Er sah mich auch nicht an, als er sagte:
Ahmed.
Wo soll das sein, dachte ich – verwirrt und verunsichert von der ganzen schwebenden Situation –, er berührte mit der rechten Hand seine Brust da, wo das Herz sitzt, und dann kapierte ich es und sagte meinen Namen: Xenia.
Der Franz und ich sitzen eng nebeneinander in einem der Schuttfelder unterhalb des Eulensteins. Mit den Schuhsohlen schieben wir Sand und Steine von uns; wir gucken durch unsere gespreizten Knie, ob sich etwas findet, im Freigelegten. Es findet sich fast immer was. Hier war mal Meer – Urmeer, das Dorf, das Tal, die ganze Gegend. Ich muss nur die Augen zusammenkneifen und untertauchen. Ein riesiger grauer Hai schwimmt vorbei, guckt mich prüfend an und schnappt sich doch einen anderen Fisch. Um den Eulenstein – ein Riff, bevölkert von bunten Korallen, Schwämmen und Seeanemonen – tastet ein gigantischer Krake, erst mit einem, dann mit zwei Tentakeln und mit Saugnäpfen so groß wie Autoreifen. Er nähert sich, und die schleimigen Arme ringeln sich um meine Taille, um mich zum gierig aufgesperrten Schnabel zu reißen. – Ich öffne die Augen. Unter meinen Schuhen wuseln die Asseln, wollen aus der Sonne. Ihre Vorfahren haben es aus dem Urmeer aufs Trockene geschafft; die da unten leben auf dem Friedhof ihrer Ahnen. Hier gibt es überall Versteinerungen, deswegen kommen wir hierher. Franz kommt deswegen, ich wegen Franz.
Schau, ein Bruchstück von Rhabdocidaris, sagt Franz, und da, ein halber Cardioceras alternans.
Das eine sieht aus wie ein Nadelkissen ohne Nadeln und ist das Skelett eines Seeigels, das andere ein Ammonit, eine Art Schnecke, gewickelt wie ein Posthorn. Franz macht sich nicht die Mühe, die Stücke aufzuklauben. Da besitzt er schönere. Er war der Erste, den ich besucht habe, nachdem ich zurückgekehrt war. Franz ist in vielem besonders, nicht nur, weil er mir immer wieder gezeigt hat, dass wir hier auf dem Meeresboden umherlaufen. Unter den ungefähr gleichaltrigen Buben aus dem Dorf ist er der einzige, der nie versucht hat, mit mir etwas anzufangen. Manch eine, die ich kenne, wäre da beleidigt; ich mag ihn dennoch gerne. Mit ihm kann man reden. Aus ihm hätte was werden können, ein großer Versteinerungsforscher, aber seine Leute haben ihn nicht studieren lassen. Eine Familienmafia aus siechen Alten hat gewollt, dass er Krankenpfleger lernt. Er arbeitet im Krankenhaus des Nachbarlandkreises. Daheim darf er sich dann um die Mafia kümmern, bis der Letzte von ihnen das Zeitliche gesegnet hat. Nicht fair, aber ich wünsche mir, dass er immer im Dorf bleibt; das macht es für mich erträglicher.
Was meinst du zu den Fremden?, frage ich.
Ach, sagt er, dreitausend Kilometer unterwegs, dann zu uns.
Mit ihm kann man reden. Das heißt: Man erhält zuverlässig eine Antwort, wenigstens ein Geräusch, man wird nicht zugetextet.
Meine Mutter will ein Willkommensfest veranstalten. Reden, Girlanden, Bratwurst, Blasmusik.
Mhmm.
Ich nehme das als anerkennende Zustimmung und frage ihn, ob er uns bei der Vorbereitung helfen kann, Biertische aufstellen und solche Dinge.
Ja, sicher, aber ist das eine gute Idee?, sagt er.
Wieso nicht?
Du weißt doch, wie die Leute sind, sagt er, für die ist einer aus dem übernächsten Dorf ein Fremder.
Da hat der Franz recht. Ein paar Monate draußen genügen, um den Stallgeruch zu verlieren. Dabei bin ich hier geboren, im Dorf, im Haus, im Ehebett. Ziemlich sicher hier gezeugt. Mehr hier geht kaum, und es reicht trotzdem nicht.
Eine kleine Dorfgeschichte, wie Opa sie erzählt hat. Originaltitel: Als der Neger vom Laster fiel.
Zeit: Kurz nach dem Krieg, oder in den letzten Tagen vor dem 8. Mai 1945, der Kapitulation. Ein kleiner Konvoi, offensichtlich verirrt, fährt ins Dorf ein, kehrt wieder um. Am Ortsausgang lauert ein riesiges Schlagloch in der nicht asphaltierten Straße, da rutscht der Neger – so nannte man die, so hat mir das der Opa erzählt – mitsamt der Trage aus dem Lkw, und niemand merkt etwas. In dem Laster liegen wohl noch mehr schwere Fälle, die haben genug mit sich zu tun; aber das sind Vermutungen.
Tatsache ist: Als der Konvoi weg war, kamen sie wieder aus den Häusern. Der Schwarze (Opa blieb trotz meiner Ermahnungen eisern beim »Neger«) lag noch immer auf der Trage festgeschnallt, steil und schräg im Graben, machte keinen Mucks. Nur die Augen rollte er so hin und her; das machte Eindruck auf die Dörfler. Große weiße Augäpfel in einem kohlrabenschwarzen Gesicht. So sah nicht einmal der Kaminkehrer bei uns aus, sagte Opa. Natürlich wussten alle, was zu tun war: Helfen, von Mensch zu Mensch, sogar, wenn er schwarz ist und so eine Art Feind. Auch wenn unklar war, ob der Krieg zu Ende oder nicht zu Ende war. Jedenfalls war der Soldat unbewaffnet.
Ich schäme mich ja so, sagte Opa unter Tränen, ich schäme mich unendlich.
Er wollte es loswerden und erzählte es mir; mir, einem vierzehnjährigen Mädchen. An den Anlass kann ich mich nicht mehr erinnern. Vielleicht der Jahrestag, es war Frühling. Er hatte öfter mal »einen Sentimentalen«, wie Mutter das nannte (ihr ist Sentimentales total fremd). Die Dorfbewohner – wer genau, das hatte Opa angeblich vergessen – hatten dann, nach kurzem Palaver, die Gurte der Trage gelockert und den Soldaten tiefer in den Straßengraben hinabgleiten lassen, so dass er mit dem Gesicht im Schlamm steckte. Das ging ganz schnell, sagte Opa, weißt du, die hatten Angst, sie kommen zurück.
Und wenn?, fragte ich.
Ach, weißt du, sagte Opa, er war doch ohnehin so schwer verletzt. Man konnte zwischen den Rippen direkt in ihn hineinsehen.
Und, sagte ich da, und die Empörung in mir wallte auf, hat er denn da drin anders ausgesehen als ihr?
Meinen Opa liebte ich, aber in dem Moment, da er mir das alles – ungefragt – erzählte, die widerliche Geschichte, da hasste ich ihn. Ihn und die anderen Dörfler.
Nein, sagte er, aber woher soll ich das wissen, ich weiß ja nicht einmal, wie es in mir drinnen aussieht. Stell dir vor, wir hätten den in ein Haus gebracht, und der wäre gestorben, und sie wären zurückgekommen und hätten gedacht, wir hätten ihn auf dem Gewissen. Die hätten uns an die Wand gestellt. Da gab es kein Recht und kein Gesetz, in diesen Tagen.
Und, sind die Soldaten wiedergekommen?, fragte ich.
Der Opa weinte und sah klein und jämmerlich aus: Nach einer Dreiviertelstunde, ein Jeep mit drei Männern, einer am Maschinengewehr, der zielte immer auf unsere Fenster. Sie sahen die Trage aus dem Graben ragen und fanden den Soldaten. Einer der Amerikaner klopfte dann an zwei oder drei Türen, er sprach Deutsch mit den Leuten. Ja, sagten die, die Trage, die haben wir gesehen, aber den Soldaten nicht. Wir haben uns nichts gedacht. So was fällt schon mal runter, die Straße hat aber auch ein paar kapitale Schlaglöcher, uns nämlich hat die Partei nichts Gutes getan, sicher nicht, sie wollten zwar unsere Straße den Berg hinauf verlängern, in ein paar scharfen Kehren hinauf auf die Ebene, und wir wären endlich nicht mehr am Ende der Sackgasse gewesen, aber das kam nie, stattdessen kam der Krieg, der hat uns nichts gebracht, nur genommen.
Und der Opa klagte voller Selbstmitleid: Irgendwann durften wir nicht einmal mehr den Rahm von der Milch abschöpfen und mussten Vollmilch in die Stadt liefern. Da sind wir, in gewisser Weise, irgendwie, in den Widerstand gegangen, sagte der Opa, und haben ein paar der Kühe auf die versteckten Waldwiesen getrieben.
Jedenfalls haben die den Toten wieder auf die Trage geschnallt und die quer über den Jeep gelegt, und ab. Die waren das gewohnt, Tote. Das haben die jeden Tag gesehen. Der Einzelne zählte damals doch nicht, sagte der Opa.
Manchmal denke ich, der Schwarze, der vom Laster fiel, war der letzte Fremde, der in unser Dorf kam. Der Letzte, der uns in gewisser Weise herausforderte, in seiner Fremdheit. So gesehen, zählen die wenigen anderen kaum; die Touristen, die Zuzügler aus den Städten, die Scherenschleifer, der kleine Wanderzirkus. Wir hatten sogar für eineinhalb Jahre eine Pizzeria hier, im Lamm, nachdem der alte Besitzer gestorben war. Hielt sich aber nicht. Wir Mädchen fanden den italienischen Wirt toll. Ich war sogar schwer verknallt in Luca.
Wir hatten also, in gewisser Weise, wenn ich an den Schwarzen denke, etwas gutzumachen.
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