Für Mom und alle anderen Bibliothekarinnen und Bibliothekare
Mid-City ist ein Stadtteil von Los Angeles, der vor allem dafür bekannt ist, dass er zwischen anderen Stadtteilen liegt. Im Norden und Süden eingerahmt von je einem -wood (Holly- beziehungsweise Ingle-), im Osten von Downtown, im Westen von Santa Monica, liegt Mid-City, das Oklahoma von L.A., genau in der Mitte der Stadt. Ich wohnte dort nach der Uni ein Jahr lang mit ein paar Freunden zusammen in einer Gegend, die vor kurzem durch eine Reihe brutaler Schießereien auf offener Straße bekannt geworden war und die außerdem die weltweit höchste Dichte an Reifenhändlern aufwies. Falls ich jemals fürs städtische Tourismusbüro arbeiten sollte, hätte ich schon den passenden Slogan: »Mid-City: Nicht gerade familienfreundlich – bis auf die Mietpreise.«
Es muss aber tatsächlich Leute gegeben haben, die dort Kinder großzogen, denn bei uns um die Ecke – direkt gegenüber vom City Spa, einem heruntergekommenen Schwimmbad – gab es eine Kita namens Kinder Kids. Die hohe blaue Kita-Mauer war mit dichtgerolltem Stacheldraht gesichert, aber nicht etwa mit diesem stinknormalen, an dem man sich höchstens die Jeans aufreißt. Das hier war NATO-Kaliber: riesige, scharfkantige Stahlzacken, die einem das Bein abtrennen konnten und garantiert mit dem Schweißbrenner aus dem Rumpf eines ausrangierten Kriegsmarineschiffs geschnitten worden waren. Sorgte jedenfalls dafür, dass die Bösen draußen blieben und die Kids drinnen.
Wir waren alle zusammen aus Boston hierher und in das einstöckige, fincamäßige Haus mit Ziegeldach eingezogen. Die alte Geschichte: vier Collegejungs, die gemeinsam Hollywood im Sturm erobern wollten. Vorerst war der Sturm leider noch nicht mal ein Lüftchen, und wir fühlten uns in Mid-City dem Entertainment-Biz kein Stück näher als in Boston. Von unserem Haus aus konnten wir zwar in der Ferne, jenseits von Kinder Kids, Hollywood sehen, das sich mit hohen Mauern und Stacheldraht ganz eigener Art abschottete, aber wir waren draußen und lebten in einer Art Zwischenzustand. Ich konnte immerhin einen Auftritt bei einem Poetry-Slam auf HBO vorweisen, doch der war schon ein paar Jahre her, und seitdem war ich meinem Karriere-Ziel »Rapper und allseits beliebter A-Promi« noch nicht viel näher gekommen. Ab und zu flog ich ins echte Oklahoma und trat mit meinen Spoken-Word-Texten in irgendeiner Studentenkneipe auf, aber meistens hingen meine Freunde und ich auf der Couch ab, glotzten stundenlang die Doku-Serie Der gefährlichste Job Alaskas, suchten halbherzig nach einem Job, warteten darauf, dass das Telefon klingelte, und langweilten uns ansonsten zu Tode. Wir steckten fest zwischen nicht mehr und noch nicht.
An einem Augustabend saß ich mit meinem Mitbewohner Jackson, einem aufstrebenden Filmemacher, der keine Ahnung hatte, wie gut er eigentlich aussah, im Garten hinterm Haus. Wir tranken Bier und unterhielten uns über unsere Pläne für den Sommer. Jackson wollte in ein paar Wochen zum hundertsten Geburtstag seiner Großtante June nach Denver fahren. Ich hatte sie nie kennengelernt, aber ihr legendärer Ruf eilte ihr voraus. Die alte Dame habe, erzählte mir Jackson, die verrücktesten Ideen, wie aus einem düsteren, blutrünstigen Märchen der Brüder Grimm entsprungen. Sie liebte alles, was exotisch, versteinert oder ausgestopft war. Tante June bezeichnete sich selbst als Mineralien-Freak, und so wie ein Deadhead keinen Auftritt der Grateful Deads verpasst, ließ sie keine Gesteinsbörse aus. Gemeinsam mit ihrem Sohn – Mitte siebzig und erzkonservativ – verbrachte sie ihre Freizeit auf Edelstein- und Fossilienschnäppchenjagd in Lagerhallen, die an den Wochenenden drauf für Rodeo- oder Monstertruckshows dienten. Wenn Tante June einen mochte, steckte sie einem einen kleinen Quarz zu, den man ab sofort als Glücksbringer mit sich herumzutragen hatte. Wenn man sie das nächste Mal traf, zog sie ihren eigenen Quarz aus der Tasche und rief: »Zeig her!« Konnte man seinen nicht vorweisen, schuldete man ihr fünf Cent. Hatte man ihn parat, bekam man fünf Cent von ihr. Tante June duldete keine Ausreden – wenn man was vorzuweisen hatte, schloss sie einen für immer ins Herz. Wenn man sie enttäuschte, war’s das. Zweite Chance? Fehlanzeige.
Außerdem hatte June eine ganze spezielle Leidenschaft: Narwale. Um diesen arktischen Wal, einen Cousin des Belugas, ranken sich aufgrund seines riesigen Stoßzahns viele Legenden. Genau genommen handelt es sich dabei um einen übergroßen Eckzahn, der die Lippe des Wals durchstößt. Als ich Tante June endlich kennenlernte, stellte ich fest, dass ihr gesamtes Haus vom Keller bis zum Dach mit Narwalen bevölkert war: Es gab bunte Origamiversionen, Glasfigürchen, und an der Kühlschranktür hing ein Foto von ihr, wie sie triumphierend über einem blutigen Narwalkadaver mit abgesägtem Horn steht. Das Foto war einige Jahre zuvor auf einer Kreuzfahrt mit ihrem Sohn durch die kanadische Arktis entstanden. Als das Tier ausgeweidet war, hatte sie den Stoßzahn ganz legal gekauft. Es gibt eine Ausnahmeregelung im Gesetz für Bedrohte Arten, die es den Inuit erlaubt, die Tiere weiterhin für den eigenen Bedarf zu jagen. So viel Krimskrams, Nippes und Plunder Tante June schon gesammelt hatte, der Stoßzahn war ihr absolutes Lieblingsstück.
Zu ihrem Leidwesen gelten Narwalstoßzähne aber als Elfenbein, und es ist somit illegal, sie in die USA einzuführen. Das Gesetz richtet sich eigentlich gegen afrikanische Elefantenwilderer, aber auch die Narwale verfangen sich in diesem rechtlichen Schleppnetz. Tante June sah sich also gezwungen, ihren geliebten Stoßzahn in Vancouver zurückzulassen, wo er die folgenden Jahre im Schrank der Tochter einer Nachbarin einstaubte. Sie hatte ihre Familie immer wieder angefleht, das gute Stück endlich zu ihr zu holen, aber bis jetzt war niemand dazu bereit gewesen.
Als Jackson mir das alles erzählt hatte, wurde uns schnell klar: Das war eine Geschichte, von der wir Teil werden wollten. Die Route Los Angeles– Vancouver–Denver–Los Angeles stellt ein gleichschenkliges Dreieck dar, jede Seite an die tausend Meilen lang. Tante June hatte in dreizehn Tagen Geburtstag. Wir hatten ein Auto. Mehr als genug Zeit. Und absolut nichts Besseres zu tun.
Ich war dank Bambi und Wilbur und Charlotte seit gut zehn Jahren Vegetarier und hatte anfangs Bedenken. Wir wollten hier immerhin ein Stück von einem seltenen Meeressäuger über die Grenze schmuggeln, der gejagt, ausgeweidet, fürs Erinnerungsalbum fotografiert, in Einzelteile zerhackt und verkauft worden war. Und dann gab es ja auch noch dieses leidige Gesetz. Trotzdem. Nach zwanzig führen einem runde Geburtstage vor allem die eigene Sterblichkeit vor Augen: dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig – alles potentiell bedrückende Momente im Leben eines Menschen. Hundert zu werden ist dagegen, als würde man dem Sensemann beide Mittelfinger zeigen. Und wenn Tante June es nun so weit gebracht hatte, wer waren wir denn, ihr diesen Herzenswunsch abzuschlagen. Sie war in einer Zeit aufgewachsen, da diente Waltran als Lampenöl, Gitarren wurden mit Darmsaiten bespannt, und Schweinehirn galt als Delikatesse. Ihr jetzt als verwöhnter Millenial mit Moral zu kommen, das wäre ein Schlag ins Gesicht ihrer gesamten Generation.
Je länger Jackson und ich darüber redeten und je näher ich dem Boden meiner Bierflasche kam, desto einleuchtender erschien uns alles. Ich glaube sowieso, niemand nimmt sich bewusst vor, in den internationalen Elfenbeinschmuggel einzusteigen. Es passiert einfach eines Tages.
Wie viele rastlose Menschen fahre ich für mein Leben gern Auto. Autofahren gibt mir ein Ziel und einen Weg vor, und die immer neuen Landschaften, die draußen vorbeifliegen, erzeugen die angenehme Illusion, voranzukommen. In der zehnten Klasse hatte ich einmal eine besonders schlimme Phase mit Panikattacken und Schlafstörungen. Ich lag nachts im Bett und starrte zu dem Riss hoch, den das Loma-Prieta-Erdbeben von 89 in der Zimmerdecke hinterlassen hatte. Wenn ich das nicht mehr aushielt, rief ich einen Freund an, und wir machten eine Mitternachts-Spritztour im silbernen Volvo-Kombi meiner Mutter. Mal fuhren wir die fünfundsiebzig Meilen nach Santa Cruz, mal die hundertfünfzig bis Lake Tahoe und einmal sogar die sechshundertfünfzig Meilen bis nach Portland – und zurück. Am Ende drehten wir jedes Mal wieder um und fuhren nach Hause, ohne dass meine Eltern mein Verschwinden bemerkt hätten.
Aber mittlerweile besaß ich ein eigenes Auto, einen praktischen blauen Subaru Outback, der übrigens aus irgendeinem Grund mit Lesben in Verbindung gebracht wird. Das heißt wohl, dass Lesben unauffällige, verlässliche Autos mögen, die einen sicher von A nach B bringen, und wenn der Subaru Outback kein schlagendes Argument für die Stabilität gleichgeschlechtlicher Familien ist, dann weiß ich auch nicht. Mein Auto war vielleicht nicht sonderlich glamourös, aber Jacksons mintgrüner Toyota Camry von 1994 mit der kaputten Klimaanlage war nun wirklich keine Konkurrenz, und so wurde mein Outback zum Dienst eingezogen.
Unser Freund Zach wollte bis San Francisco mitfahren, und während wir nach Fort Tejon die Berge allmählich hinter uns ließen und uns den Erdbeerfeldern des Central Valley näherten, besprachen Jackson und ich unseren Plan. Als wir bei der Harris Cattle Ranch wegen des Gestanks die Fenster schließen mussten, war bereits klar, wie unglaublich unvorbereitet wir waren. Ich hatte einfach Wechselklamotten für ein paar Tage in meinen lila Rucksack geworfen, und wir hatten mit Lydia in Vancouver telefoniert, der Hüterin des Stoßzahns. Über den kriminellen Aspekt unseres geplanten Verbrechens hatten wir dagegen noch gar nicht nachgedacht: Wie sollten wir hundertzwanzig Zentimeter illegales Elfenbein in meinem nicht abschließbaren Kofferraum vor den Grenzposten verstecken, deren Job es war, genau so was zu finden? Also fuhren wir in Modesto vom Highway 5 ab. Wir würden erst mal einen kleinen Abstecher zum Yosemite-Nationalpark machen und uns in Ruhe überlegen, wie wir vorgehen wollten.
Wir verstecken den Stoßzahn in der Innenverkleidung des Autos. Wir wickeln ihn in eine Decke und schnallen ihn auf den Dachgepäckträger. Wir nähen ihn in einen Sitzbezug ein oder binden ihn unten am Fahrgestell fest. Bei kreativen Prozessen ist es ja normal, dass man erst mal ein paar schlechte Ideen verwerfen muss, bevor man dann eine richtig gute hat. Wir hatten sehr viele schlechte Ideen. Am Ende einigten wir uns darauf, dass die einfachste Taktik die beste war: Wir würden den Stoßzahn im Kofferraum verstauen, irgendwas drüberlegen, hoffen, dass niemand den Wagen durchsuchte, und falls doch – uns einfach dumm stellen. Der Plan passte perfekt zu unserem Auto, fanden wir. Unspektakulär und solide. Solange es keine unangenehmen Überraschungen gab, würde alles glattgehen.
Die erste unangenehme Überraschung trat nach knapp vierzig Minuten auf dem Highway 132 auf. Keine Ahnung, wieso, aber Reifenpannen passieren ja gerne nach siebzehn Uhr, wenn alle Werkstätten schon zu sind. Als wir mitbekamen, dass ein Reifen Luft ließ, fuhren wir schon zu lange auf einer verschlungenen, einspurigen Straße, um noch umzukehren. Als wir endlich holpernd das verstaubte Bergarbeiterstädtchen Coulterville erreichten, hatte die Tankstelle mit angeschlossener Werkstatt und Mini-Markt wie erwartet bereits zu. Wir hielten am Straßenrand, untersuchten den Reifen und zogen einen langen Nagel heraus. Wir hatten keinen Handyempfang, waren meilenweit von der nächsten Pannenhilfe entfernt und erst seit ein paar Stunden unterwegs – aus der Ferne schien uns das Dickicht von Reifenläden in Mid-City gehässig auszulachen.
Irgendwann fanden wir dann doch noch raus, wie man den Wagenheber, der im Kofferraum lag, benutzt, und rollten etwas später nach Tuolumne Meadows – wegen des zu kleinen Ersatzrads mit etwas Schlagseite. Die riesigen Granitfelswände des Half Dome und des El Capitan ragten schräg über das Armaturenbrett. Im Dorf angekommen, aßen wir bei einer alten Freundin von mir aus San Francisco zu Abend, die jetzt als Ranger im Yosemite Nationalpark arbeitete. Laura und ich waren seinerzeit gemeinsam dem Schulsport entkommen, indem wir stattdessen einen Salsakurs besucht hatten, der uns angerechnet wurde. Heute war sie die Hüterin des Yosemite-Archivs und entschied darüber, wem zu Forschungszwecken Einlass gewährt wurde und wem nicht. Von allen Menschen auf dem Planeten hat eine Nationalpark-Angestellte vermutlich mit am meisten Grund, Elfenbeinschmuggel scheiße zu finden. Meine alte Schulsportfluchtkomplizin konnte aber durchaus nachvollziehen, dass es in Sachen Moral auch mal Abwägungen gibt, und Umweltschutz und Liebe nicht immer miteinander vereinbar sind. Wir verließen den Park zwar nach wie vor mit leichter Schieflage, aber wenigstens mit ihrem Segen. Vor dem nächsten Morgen würden wir keine Werkstatt finden, und so rumpelten wir, immer dicht am Seitenstreifen, die letzten drei Stunden nach San Francisco.
Durch einen kosmischen Zufall kamen wir genau rechtzeitig zur Geburtstagsparty meines Vaters in der Bay Area an. Nachdem wir Zach im Mission District abgesetzt und den Reifen gewechselt hatten, machten wir uns auf nach Inverness, einem Ort kurz hinter Point Reyes an der Küste von West Marin. Meine Eltern wohnen in San Francisco immer noch im dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, aber sie verbringen mittlerweile viel Zeit in dem Haus in Inverness, das der Familie meiner Mutter seit den Fünfzigern gehört. Früher war es fast immer an Fremde vermietet, aber jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind, nutzen Mom und Dad es häufig selbst. Auf der frischrenovierten Holzveranda, auf der sich meine Eltern dreißig Jahre zuvor das Ja-Wort gegeben hatten, standen alternde Beatpoeten aus Bolinas und eine Menge Psychologen herum (darunter Saul, der beste Freund meines Vaters) und aßen gegrilltes Fleisch. Insgesamt waren vielleicht zwanzig Leute da, aber für meinen Vater war das schon eine Riesenmenge. Ich weiß nicht mehr, warum er seinen achtundsechzigsten Geburtstag so groß feierte, seinen siebzigsten dann aber mehr oder weniger unter den Tisch fallen ließ, aber er hat sich von runden Geburtstagen noch nie beeindrucken lassen.
Ich weiß ja eigentlich auch, dass sie nichts bedeuten, aber ich mag sie trotzdem. Wir Menschen messen den Vielfachen von zehn eine gewisse Bedeutung bei, weil wir nun mal zehn Finger haben. Hätten wir an jeder Hand sechs, würden wir es beim zwölften, vierundzwanzigsten, sechsunddreißigsten und achtundvierzigsten Geburtstag krachen lassen. Haben wir aber nicht. Schon als Kind hatte ich davon geträumt, mal bei einem dreistelligen Geburtstag dabei zu sein, was nicht unwesentlich zu meiner Lust beitrug, mich bei Tante Junes Feier einzuschleichen. Ich hatte zu meiner letzten noch lebenden Großmutter, der Mutter meines Vaters, nie ein besonders enges Verhältnis gehabt, und als sie im Alter von neunundneunzig Jahren und elf Monaten starb, trauerte ich um die verpasste Chance zum runden Geburtstag genauso sehr wie um die Verstorbene. Mein Vater selbst war erleichtert, seine herrschsüchtige und dominante Mutter los zu sein, die Ehre, hundert zu werden, hatte sie seiner Meinung nach sowieso nicht verdient. Grandma Syde besaß eine Härte, die ich in Jacksons Beschreibungen von Tante June wiedererkannte, zwischen den beiden gab es jedoch einen fundamentalen Unterschied im Stil: Wenn Tante June etwas wollte, egal, wie verrückt es war, dann bat sie schlicht und ergreifend darum. Syde hingegen zog subtile Manipulation vor. Dass mein Vater zu dem liebevollen, zurückhaltenden Mann wurde, der er heute ist, liegt an ihr und noch viel mehr daran, dass er sich schwor, nie so zu werden wie sie.
Zu seinem Geburtstag brachte ich meinem Vater lediglich neue Gründe mit, sich um mich zu sorgen. Er wusste nicht, was er von unserem geplanten Coup halten sollte. Einerseits war er ein gesetzestreuer, mehr oder weniger gläubiger Jude, der sich sowieso ständig Gedanken um die schlechten – und auch um manche von den guten – Entscheidungen machte, die ich im Laufe meines Lebens getroffen hatte. Andererseits versteht er auch was von Stoßzähnen. Er ist selbst ein halber Mineralien-Freak, hatte mir zum zehnten Geburtstag einen ausgestopften Leguan geschenkt, und in seinem Arbeitszimmer türmen sich komplette National-Geographic-Jahrgänge. Dad hatte um 1960 herum als Teenager mal ein Praktikum im American Museum of Natural History gemacht, und auf einem Familienausflug nach Manhattan führte er mich durch seine alte Wirkungsstätte, zeigte mir jeden einzelnen Schmetterlingskasten in den verschlungenen Gängen, in denen er sich Jahrzehnte nach seinem Praktikum immer noch bestens auskannte, und versuchte meine Begeisterung für die Evolution zu wecken, dafür, wie alles Leben eingeteilt und begriffen werden kann.
Er hatte dort unter einem Mann namens J.P. Chapin gearbeitet, einem passionierten Ornithologen und überzeugten Kolonialisten. Chapin, der Autor des 1932 erschienenen Buchs Birds of the Belgian Congo, konnte mit Stolz von sich behaupten, die Existenz des sagenumwobenen Kongopfaus bewiesen zu haben. Nicht ganz so stolz war er darauf, dass er das einzige jemals gesichtete Exemplar einer seltenen Unterart des Afrikanischen Scharlachgimpels abgeschossen hatte, womit er diese Spezies mit einem Schuss zugleich entdeckte und ausrottete. Chapin war der siebzehnte Präsident des berühmten Explorers Club, des angesehensten der damals so beliebten Weiße-Männer-entdecken-Dinge-die-es-schon-immer-gab-Klubs. Als Mitglieder des Klubs 1951 ein vollständig erhaltenes Wollhaarmammut im sibirischen Eis fanden, dessen Fleisch bestens konserviert war, war ihr erster Gedanke nicht etwa, es der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nein, sie organisierten stattdessen mit diesem zehntausend Jahre lang ganz hinten im Gefrierfach der Natur vergessenen Fleischstück ein exklusives Mammut-Festmahl. Denn die drängendste Frage, die diese großartige Entdeckung für die Gelehrtenrunde aufwarf, lautete: Wie zum Teufel schmeckt Mammutfleisch denn eigentlich? Als ich diese Geschichte im Alter von zehn Jahren hörte, leuchtete mir das vollkommen ein.
Wir ließen San Francisco hinter uns und fuhren nun durch die nordkalifornischen Trinity Alps bis zur kleinen Hütte meines Onkels und meiner Tante in der Nähe von Hyampom. Jackson und ich verbrachten dort einen Tag, ließen Steine übers Wasser titschen und freuten uns über die Libellen und die Adler, die über uns daherflogen. Dann machten wir uns wieder auf nach Norden. Unser nächster Halt war Seattle, wo Jacksons Bruder als Wassertaxikapitän arbeitete und morgens um vier aufstehen musste, um Pendler vom Festland zu ihren Arbeitsstellen auf den kleinen Inseln vor der Küste zu schippern. In der Nacht verbrachten Jackson und ich die letzten Stunden vor Beginn unserer Schmugglerkarriere in Decken gekuschelt im dunklen Wohnzimmer und stellten uns den schlimmstmöglichen Ausgang unseres Unterfangens vor.
»Der Typ hatte in Mexiko Gras verkauft, und dann haben die dem zwei Morde angehängt.« Die Geschichte stammte aus Horror Trips – Wenn Reisen zum Alptraum werden, Jacksons Lieblings-Reality-Serie über Reisende, die Gesetze brachen und deren Reisen … na ja, zum Alptraum wurden. In jeder Folge, die Jackson nacherzählte, hatte der Missetäter am Ende ein byzantinisches Gerichtsverfahren am Hals, hockte ohne Kontaktmöglichkeit zu seiner Familie fest, musste trockenes Brot essen, das von Maden nur so wimmelte, und kratzte Nachrichten in die Steinwände seines Verlieses, das er sich mit einem sexuell unersättlichen Bodybuilder-Typ namens Tiny teilen musste.
Per Münzwurf bestimmten wir, dass Jackson uns nach Kanada fahren und ich den Rückweg übernehmen würde. Während wir uns, zwischen Wäldern und Bergen, allmählich der Grenze und der ersten tatsächlich riskanten Situation näherten, verlor das Abenteuer, dessen Helden wir hatten werden wollen, zusehends an Reiz. Wir können jederzeit einen Rückzieher machen, versicherten wir einander, das wäre keine Schande. Nur stimmte das leider nicht – es wäre eine entehrende, vernichtende Schande. Obwohl die Stimmung im Auto immer mehr sank, fuhren wir weiter und reihten uns in die Warteschlange am Grenzübertritt ein.
Schließlich waren wir dran.
»Ihren Reisepass, bitte. Was ist der Grund Ihres Aufenthalts in Kanada?«
»Wir besuchen eine Freundin der Familie.« Jackson übernahm das Reden und reichte dem Beamten unsere Pässe.
»Und was machen Sie da?«
»Wir gehen zusammen wandern«, gab Jackson an – das war das Alibi, das wir uns zurechtgelegt hatten.
»Ach ja? Wo denn?«
Weiter als bis zum Stichwort »wandern« waren wir bei unserer Geschichte nicht gekommen. Jackson schluckte. »Keine Ahnung.«
Der Beamte sah von den Pässen auf.
»Haben Sie irgendwelche Drogen, Waffen oder Alkohol dabei?«
»Nein«, sagte Jackson. Er klang nicht gerade überzeugend.
»Fahren Sie bitte rechts ran, stellen Sie den Motor ab, und warten Sie drüben im Zollbüro.«
Durchs Fenster des Zollbüros sahen wir zu, wie eine halbe Hundestaffel an den Autotüren herumschnüffelte und ein Beamter das Wageninnere durchwühlte, jeden einzelnen Gegenstand in die Hand nahm und untersuchte.
Jackson lehnte sich zu mir herüber. »Die finden doch nichts, oder?«, flüsterte er.
»Pssst!«, machte der Beamte am Schreibtisch.
Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatten wir jegliches Gefahrengut vor dem Grenzübertritt beseitigt. Nach einer hitzigen, aber ergebnislosen Debatte darüber, ob Hunde psychedelische Drogen riechen können, hatten wir sogar mein letztes Stück Shroom-Schokolade bei Jacksons Bruder in Seattle gelassen und somit ein reines Gewissen. Tatsächlich gab der Beamte irgendwann auf und kam zu uns in den Warteraum.
»Wer von Ihnen ist George?«
Ich hob die Hand und ging auf ihn zu, auf das Schlimmste gefasst.
»Sie sind also Musiker, hm?«
»So was ähnliches, ja.«
»Und Sie gehen demnächst auf Tour?«
Der Beamte reichte mir mit ernstem Gesicht meinen Kalender und lächelte dann überraschend. »Viel Spaß!«
Obwohl wir kurz darauf den Stempel im Reisepass und das rosa Einreiseformular in der Tasche hatten, das uns offiziell in Kanada willkommen hieß, kam uns die Durchsuchung wie ein schlechtes Omen vor. Bestimmt standen wir jetzt auf irgendeiner internationalen Liste zwielichtiger Gestalten, die uns beim Verlassen des Landes eine weitere Durchsuchung einbringen würde.
Wir fuhren direkt nach Vancouver weiter und gaben uns große Mühe, dabei nichts Verdächtiges zu tun. Sobald unsere Handys sich ins internationale Roaming eingewählt hatten, riefen wir Lydia an und sagten ihr, dass wir bald da sein würden. Vor dem Fenster zog die gespenstisch fremde Landschaft mit ihren Tim-Hortons-Filialen, Entfernungsangaben in Kilometern und verschlafenen Seitenstraßen vorbei.
»Das findet ihr totenstill? Ihr hättet mal hier sein sollen, als die Canucks das Cup-Finale verloren haben«, begrüßte uns Lydia. »Da konnte man einzelne Herzen brechen hören.«
Ihre Wohnung war blitzblank und spärlich dekoriert. Ich wartete ungeduldig, während sie und Jackson über Leute aus Denver tratschten, die sie beide über Tante June kannten. Endlich führte sie uns ins Schlafzimmer. Der Stoßzahn lag schon auf ihrem Bett bereit, halb in die Decke eingesunken. Ein faszinierendes Meisterwerk der Natur: ein gewundener Speer, dessen Spiralringe unten weit waren und sich nach oben hin mit mathematischer Präzision immer mehr verengten. Der Stoßzahn war kompakt, tödlich und gleichzeitig wunderschön, ebenso geisterhaft wie greifbar. Jetzt konnte ich Tante Junes Besessenheit verstehen. Auch Lydia schien es nicht ganz leicht zu fallen, sich von ihm zu trennen. Sie wusste ja, dass wir gekommen waren, um ihn mitzunehmen, und half uns gern. Aber als Jackson ihr das schwarze Plastikrohr abnehmen wollte, in dem er steckte, flackerte in ihren Augen kurz eine Gollum-mäßige Gier auf. Dann ließ sie los, und der Stoßzahn gehörte uns.
In der Küche verpackte sie die Beute für den Transport. Dabei schüttete sie ein paar lose Elfenbeinstückchen aus dem Plastikrohr in ihre Hand, winzige Partikel, die von der Basis des Stoßzahns abgesplittert waren, dort, wo er einst mit dem Schädel verbunden war. Sie wollte sie gerade in den Mülleimer werfen, da durchzuckte mich der Gedanke, dass Narwalstoßzähne, und sei es in Form von Spänen, bestimmt irgendwelche geisterabwehrenden/potenzsteigernden/halluzinogenen oder sonstwie magischen Kräfte besaßen.
»Warte mal, die nehm ich als Souvenir mit.«
Sie schüttete die Stücke in einen kleinen Zip-Beutel und gab ihn mir. Dann gingen wir hinaus, um das Plastikrohr im Auto zu verstauen. Während ich es mit meiner Schmutzwäsche bedeckte, besprachen wir das weitere Vorgehen. Jackson und ich hielten es für das Klügste, erst spätnachts, im Schutze der Dunkelheit, zurück über die Grenze zu fahren. Das hieß, dass wir noch ein paar Stunden totzuschlagen hatten.
»Kommt doch einfach wirklich mit mir wandern«, schlug Lydia vor.
Am Stadtrand von Vancouver gibt es ein kleines Skigebiet namens Grouse Mountain, dessen Piste man im Sommer hochwandern kann. Der Spitzname der fast vertikalen Route, »der Todesaufstieg«, hat für die Heerscharen von Fitnessmasochisten in der Stadt offenbar einen verführerischen Klang. Lydia wollte an diesem Nachmittag ohnehin für einen bald anstehenden Triathlon trainieren, was für den Durchschnittskanadier gar nicht so ungewöhnlich ist, wie ich überrascht erfuhr. Wir hatten ja gewusst, dass sie wandern gehen wollte, das war schließlich die Basis unseres wackligen Alibis gewesen, und wodurch wird ein wackliges Alibi besser? Genau, indem man es wahr macht.
Also joggten wir gemeinsam mit zwei von Lydias Trainingsfreunden, die in teure Sportkleidung gehüllt waren, vom Parkplatz zum Fuß des Bergs, wo uns eine Parkwächterin gerade das schmiedeeiserne Tor vor der Nase zuschlagen wollte.
»Schluss für heute, wir machen zu!«, rief sie.
Lydia schob das Tor unbeeindruckt mit der Schulter ein Stück auf, und wir schlüpften schnell hindurch, bevor es hinter uns metallisch krachend ins Schloss fiel. Vor uns stand ein riesiges Warnschild: »WANDERN AUF EIGENE GEFAHR. ES WIRD KEINERLEI HAFTUNG ÜBERNOMMEN FÜR VERLETZUNGEN ODER TODESFÄLLE DURCH LAWINEN, STEINSCHLAG, SCHLUCHTEN, KLÜFTE, GLETSCHERSPALTEN, WASSERFÄLLE, PLÖTZLICHE WETTERUMSCHWÜNGE, HAUS-, WILTDIERE ODER WEITERE GEFAHRENQUELLEN.« An einem Zaun ein paar Meter weiter warnte ein zweites Schild, dass hier vor kurzem Schwarzbären gesichtet worden waren. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Schlucht und einer Kluft?, überlegte ich. Das ist doch eine unglaublich spitzfindige Unterscheidung. Wahrscheinlich war das Formular für die Schlucht-Todesfälle irgendwann voll gewesen, und da hatten sie eben ein neues mit Kluft-Todesfällen angefangen. Die Parkwächterin rief uns noch einmal halbherzig etwas hinterher. Geistig war sie schon längst im Feierabend, wahrscheinlich wollte sie uns lediglich noch mal darauf hinweisen, dass im Falle des Falles niemand unsere Leichen vom Berghang runterholen würde.
»Wer als erster oben ist!«
Lydia und ihre Freunde sprinteten los wie kleine Road Runner und waren Sekunden später in einer Staubwolke verschwunden.
Der »Todesaufstieg« ist so steil, dass Holzstufen – oder eher Leitersprossen – in den Berg gehauen werden mussten. Jackson und ich quälten uns hinauf und hatten nach einer Ewigkeit gerade mal den Stein erreicht, der das erste Viertel der Strecke markierte. Wir dachten über die Ironie des Schicksals nach: Hier, auf einem kanadischen Berg, würden wir sterben, bevor wir überhaupt dazu kamen, das Land zu berauben. Wir schleppten unsere Couch-Potato-Plauzen weiter keuchend den Berg hoch, wurden mit jedem schmerzhaften Schritt langsamer, und all unsere Ängste strömten zusammen und schäumten über. Wir hatten immer noch die Hälfte der Strecke vor uns, als Jackson plötzlich stehen blieb, hochrot im Gesicht und mit irrem Blick.
»Wir werden so was von im Gefängnis landen.«
Als wir endlich oben ankamen, erfuhren wir, dass die Seilbahn, die uns wieder ins Tal bringen sollte, eine Panne hatte. Das machte uns aber nicht mehr allzu viel aus. Wir rangen nach Atem, genossen den Ausblick über Vancouvers wunderschöne Skyline, die der Sonnenuntergang rosarot färbte, und waren einfach nur glücklich, nicht tot in einer Kluft zu liegen. Die Seilbahn wurde schließlich repariert, wir fuhren im Dämmerlicht den Berg wieder hinunter und fühlten uns auf einmal unverwundbar.
Wir verabschiedeten uns von Lydia und näherten uns um ein Uhr morgens der Grenze. Um diese Zeit, dachten wir, standen die Chancen am besten, dass die müden Grenzposten lieber weiter Diamond Mine spielten, als unsere Körperöffnungen zu durchsuchen. Wir fuhren schweigend. Jacksons Handy klingelte. Sein Dad rief aus West-Massachusets an, wo es jetzt vier Uhr morgens war, und beschwor ihn umzukehren, es sei noch nicht zu spät. Unsere Entscheidung stand jedoch fest, erklärte ihm Jackson, und legte auf. Dann rief er seine Freundin an.
»Falls du in zwanzig Minuten nicht von uns hörst, ist was schiefgegangen«, warnte er sie. Dann stellte er die Frage, die ihn schon den ganzen Abend umtrieb.
»Falls ich für fünf Jahre ins Gefängnis muss, wartest du dann auf mich?«
Wir sahen starr geradeaus. Der Grenzübergang kam immer näher. Dieses Mal mussten wir uns nicht in eine Schlange einreihen. Dieses Mal war unser Alibi wasserdicht, wir hätten stundenlang in allen Details von unserer Wanderung erzählen können. Ich hielt an.
»Ihre Pässe, bitte.«
Ich händigte sie dem Mann so selbstbewusst wie möglich aus.
»Grund für Ihren Aufenthalt in Kanada?«
»Wir wollten den ›Todesaufstieg‹ hochwandern.«
Der Beamte überflog unsere Dokumente und gab uns die Pässe zurück.
»Schönen Abend noch.«
Ich wartete auf weitere Fragen, aber der Mann winkte uns einfach durch.
Das war’s?
Ein paar letzte kanadische Straßenkurven, und dann gelangten wir schon auf die I-5 und waren in den USA. Wir lauschten auf Sirenen. Nichts.
Das war’s.
Wir schalteten das Radio ein, drehten die Lautstärke auf, grölten mit und hielten Kurs auf Seattle. Bei der erstbesten Kneipe hielten wir an, knapp vor der letzten Runde, und stießen auf uns an. Jegliche Angst war vergessen. Wir waren zwei eiskalte Schmuggler, vor uns tausend Meilen offene Straße und hinter uns im Auto ein Meter zwanzig illegale Ware.
Es gibt im Wesentlichen zwei Routen von Vancouver nach Denver. Die südliche schneidet ein Stück von Oregon ab, macht einen Schlenker durch Utah, kriecht am unteren Ende von Wyoming entlang und führt dann hinunter nach Colorado. Die nördliche Route verläuft durch Montana, bevor sie Wyoming von oben nach unten durchquert, über Casper und Cheyenne. Ich weiß nicht mehr, warum, jedenfalls entschieden wir uns für die nördliche Route und fuhren auf dem Weg nach Billings, wo wir eine Nacht in einem kleinen günstigen Motel gebucht hatten, hunderte von Meilen lang im Sonnenlicht durch herrlich dichte immergrüne Wälder.
Als wir kurz nach Mitternacht in Billings ankamen, verpasste ich die Abzweigung zu unserem Motel. Außer uns war weit und breit niemand zu sehen, also wendete ich mitten auf der Straße, über die doppelte gelbe Linie hinweg.
»Was machst du denn da?!«, fauchte Jackson sofort.
»Alter, hier ist doch kein Mensch.«
Ich war genervt, aber eigentlich hatte er recht. Wir hatten genug Zeit, um nach Denver zu kommen. Unnötige Risiken einzugehen, war einfach nur dumm. Also trafen wir folgende Abmachung: Wir würden uns von jetzt an streng an die Verkehrsregeln halten. Auf keinen Fall zu schnell fahren. Sooft wie möglich mit Tempomat.
Ich bog diesmal vorsichtig ab und stellte das Auto auf dem unasphaltierten Parkplatz neben einer Reihe von Sattelschleppern ab. Mottenwolken umschwebten die Motellampen und dämpften ihr Licht.
Ich dachte immer, die tatsächliche Höchstgeschwindigkeit läge zehn Meilen über der, die auf den Schildern steht. Ich kann Jackson also schlecht vorwerfen, dass er seine eigene Regel brach und den Tempomat in einer 75er-Zone auf 84 Meilen pro Stunde setzte. Aber am Vorabend von Tante Junes Geburtstag, nur noch eine Stunde von Colorado entfernt, hörten wir auf einmal Sirenengeheul, die Rocky Mountains vor uns flackerten blau und rot, und im Rückspiegel näherte sich ein Polizeiauto.
Wir kriegen höchstens einen Strafzettel, keine große Sache, beruhigten wir einander. Jackson fuhr rechts ran. Ein gut dreißigjähriger Streifenpolizist mit beginnender Glatze schlenderte auf uns zu.
Er beugte sich zum Fahrerfenster herunter. »Sie können sich denken, wieso ich Sie angehalten habe.«
»Tut mir wirklich leid, Sir, ich habe gerade nicht auf den Tacho geachtet«, sagte Jackson.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere. Wo kommen die Herren denn her?«
»Eigentlich aus Los Angeles. Jetzt aus Vancouver. Wir wollen nach Denver.«
Der Polizist hob die buschigen Brauen. »Was habt ihr denn in Vancouver gemacht, Jungs?«
Jackson blinzelte nervös. »Familienbesuch.«
»Hm.« Der Polizist lehnte sich vor und sah sich im Auto um.
»Ihr habt doch sicher nichts dagegen, wenn ich euch getrennt voneinander ein paar Fragen stelle, oder?«
»Überhaupt nicht«, log Jackson.
Der Polizist ging mit ihm zu seinem Streifenwagen, um ihn als Ersten zu befragen, und ich versuchte, den Verlauf des Gesprächs anhand ihrer Gesten zu erahnen. Nachdem er mit Jackson fertig war, kam der Polizist zurück zu mir.
»Solange du die Wahrheit sagst, haben wir kein Problem«, versicherte er mir.
Da Jackson und ich keine Zeit gehabt hatten, unsere Geschichten abzugleichen, hielt ich mich an die Fakten: Wir waren von L.A. nach San Francisco gefahren, hatten dort mit meinem Vater Geburtstag gefeiert, dann Jacksons Bruder in Seattle besucht, dann eine Freundin in Vancouver, und jetzt waren wir auf dem Weg zum Geburtstag einer alten Dame in Denver.
»Habt ihr irgendwelche Drogen dabei?«
»Nein, Sir.«
»Dann ist ja gut. Ich frag nur, weil eure Strecke eine ziemlich beliebte Drogenroute ist.«
»Ach, wirklich?«
»Ja, wirklich. Ihr habt bestimmt nichts dagegen, wenn ich mir euer Auto mal ein bisschen näher angucke, oder?« Er sah mich prüfend an. »Riecht irgendwie komisch da drin.«
Ich hatte nicht den Eindruck, dass er sich auf eine Diskussion einlassen würde, also sagte ich ja. Der Polizist befahl Jackson und mir, am Straßenrand zu warten, rief Verstärkung und fing an, unser Auto zu durchsuchen. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass ein Streifenpolizist aus Wyoming wahrscheinlich nicht nach Narwalstoßzähnen Ausschau hielt und nicht einmal einen erkennen würde, wenn er ihn fand. Er drückte das Ohr gegen die Türverkleidung und klopfte gegen das Plastik. Dann entdeckte er etwas in der einen Sitztasche.
»Was ist das denn?«
»Kopfschmerztabletten«, antwortete Jackson.
Der Polizist öffnete die Packung. »Advil sind doch normalerweise rot«, murmelte er und stopfte sie zurück in meinen Kulturbeutel.
»Das sind diese neuen Gelkapseln.«
Er suchte immer verbissener weiter und arbeitete sich nach hinten durch, bis er beim Kofferraum ankam und in dem Klamottenberg wühlte, unter dem unser Geheimnis versteckt war. Dann nahm er sich meinen kleinen lila Rucksack vor und sah schließlich mit einem Grinsen auf.
»Und was haben wir hier Hübsches?«
Er hielt eine durchsichtige Tüte mit verdächtig aussehendem weißem Inhalt hoch. Wer hätte das gedacht – auf den ersten Blick sieht ein Zip-Beutel mit Stoßzahn-Bröseln einem Meth-Tütchen zum Verwechseln ähnlich.
»Das sind Muscheln«, sagte ich hastig, »vom Meer.«
Er betrachtete den Inhalt des Tütchens genauer und legte ihn enttäuscht zurück. Und dann war seine Hand direkt neben dem Stoßzahn. Meine Kiefer mahlten, mir schlug das Herz bis zum Hals, die Zeit schien stehenzubleiben. Da griff seine Hand nach etwas und er grinste wieder von einem Ohr zum anderen.
»Und wem gehört das hier?«
Jackson und ich sahen uns an. War schön, dich zu kennen. Dito.
»Ich dachte, ihr hättet keine Drogen dabei?«
Der Polizist hielt eine kleine Glaspfeife in der Hand. Nicht den riesigen Stoßzahn genau daneben. Nicht das Stück Shroomschokolade, das ich in Seattle wieder eingesammelt hatte. Nein, nur diese winzigkleine One-Hitter, die in irgendeiner Tasche meines lila Rucksacks gelegen hatte, mit vekrusteten Resten von vor einem halben Jahr im Pfeifenkopf, ein Gegenstand, von dem ich nicht mal mehr gewusst hatte, dass ich ihn überhaupt besaß, und der den kanadischen Grenzposten seltsamerweise nicht in die Hände gefallen war, obwohl die alles so gründlich durchsucht hatten, dass sie hinterher meine Tourdaten auswendig kannten. Ein Ding, das unsere Mission von Anfang an hätte scheitern lassen können, stattdessen aber lieber auf den allerunpassendsten Moment gewartet hatte.
»Wir mögen keine Lügner hier in Wyoming.«
Bevor ich’s mich versah, stand ich mit den Händen auf dem Rücken am Streifenwagen, und Handschellen bissen mir in die Handgelenke wie Piranhas. Jackson, der ein schlechtes Gewissen hatte, weil er zu schnell gefahren war, flehte den Polizisten an, ihn an meiner Stelle mitzunehmen. Vergeblich. So fuhren wir noch ein Stück den Interstate 25 South entlang, gemeinsam, aber getrennt, Jackson am Steuer meines Subaru, ich auf dem Rücksitz des Streifenwagens, bis wir an der Ausfahrt 140 nach Douglas abbogen und Jackson am Horizont verschwand. Der Polizist, der mir durch das Gitter zwischen uns im Rückspiegel tadelnde Blicke zuwarf, hatte keine Ahnung, dass ihm gerade ein Elfenbeinschmuggel durch die Lappen ging, der ihm garantiert eine Beförderung eingebracht hätte. Jetzt war Jackson allein unterwegs nach Denver, unsere kostbare Beute sicher im Kofferraum, und noch zweihundert Meilen und fünfzehn Stunden bis zur Feier.