… und was hat es davon?
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Bildnachweise des Titels: Um Himmels willen: dpa, Kölner Dom: Mel B / pixelio, Steinmeier: Pressefoto Thomas Köhler, Merkel: Tim Reckmann / pixelio, Berliner Dom: Thomas Wolf, www.foto-tw.de, Kohl: dpa, Adenauer: dpa, Käßmann: Rolf K. Wegst, Kretschmann: Bündnis 90/Die Grünen NRW, Papst Benedikt XVI: dpa, Altötting: Siddharta Finner, Dipl.Ing-Architektur
ISBN 978-3-89710-712-0
eISBN 978-3-89710-743-4
© 2017 by Bonifatius GmbH Druck · Buch · Verlag Paderborn
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Gewidmet allen Brüdern und Schwestern im Glauben, die sich in den ideologischen Wirrungen unserer Zeit unbeirrt und unerschrocken an Jesus Christus ausrichten; die mitfühlend und streitbar für die Würde und Freiheit jedes Menschen und für eine kluge, demokratische Politik mit Mut und Augenmaß eintreten; die gegen falsche Propheten in ihrer Kirche die Geister unterscheiden, komme es gelegen oder ungelegen, um Lob und Tadel unbesorgt.
Vorwort
I. Wie katholisch ist Deutschland?
„Kognitiv minoritär“: Die katholische Konfession in der Defensive
1990: Statt „Deutschland wird protestantischer“ eine „katholische Machtübernahme“
Evangelische Underdog-Ängste in der EU, katholische in der Berliner Republik
Die doppelte Legende der erst „schweigenden“, dann machthungrigen Kirche
Von deutscher Papstverdrossenheit zum „Santo subito!“
„Wir sind Papst!“: Deutschland wird kurzzeitig katholischer
Vom „Hosianna“ zum „Kreuzige ihn!“: Das konfessionelle Wendejahr 2009
Kirchennahe Katholiken als unbedeutende CDU-Randgruppe?
Evangelische Häme für den „angeschlagenen Boxer“
Missbrauchsskandal: Glaubwürdigkeits-GAU und antikatholische Kampagne
Einmal Kampagne, immer Kampagne? Die Limburger Geisterfahrt
Benedikts XVI. letzter Deutschlandbesuch und Rücktritt
Zwei Päpste, vier Meinungen: Eine Katholikentypologie
Kirchendemoskopie: Tradierungskrise und „Relevanzdiffusion“
Fazit: Ein schrumpfender, aber nicht chancenloser deutscher Katholizismus
II. … und was hat es davon?
Katholische Beiträge zum Gemeinwohl der Bundesrepublik Deutschland
Zwischen Gemeinplatz, institutioneller Evidenz und einseitigem Tabu
Unzulässige „Funktionalisierung“ der Religion?
Bastion für Lebensrecht und Menschenwürde der Wehrlosesten
Rechtsgehorsam, Gewaltverbot und Bürgerloyalität
Staatsethische Differenzierung, politische Urteilskraft und Mäßigung
Moralgrundsätze, Ordo-Orientierung, anthropologischer Realismus
Soziale Integration, Vertrauen, Familiensinn, Toleranz
„Seelenheimat“ und Hort der Transzendenz
Fazit: Grund zum Selbstbewusstsein und zur Demut
III. Kirche und Demokratie vor neuen Herausforderungen
Das „Schifflein Petri“ zwischen Skylla und Charybdis
„Gesundschrumpfung“ oder Krankschrumpfung? Das Wagenburg-Syndrom
Unheilige Allianzen katholischer Rechtsausleger
Säkularisierung als Chance? Zur Idee einer „entweltlichten“ Kirche
Dankbarkeit für die „bescheidenste Staatsform der Weltgeschichte“
IV. Statt eines Epilogs: Predigt zur „Freiheit eines Christenmenschen“ am Reformationstag 2016
Danksagung
Als ich mich für einen Vortrag im Jahr 2011 erstmals des Themas „Wie katholisch ist Deutschland – und was hat es davon?“ annahm, ging es mir biografisch eigentlich „gegen den Strich“. Gerade war auf Initiative evangelischer Freunde in einem evangelischen Verlag mein Buch „Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands“ erschienen. Um bei der medizinischen Begrifflichkeit zu bleiben: Als Kirchen mit sichtlich nachlassender Vitalität ohne klare Diagnose und anschlagende Therapie gemeinsam darniederliegend, macht es wenig Sinn zu spekulieren, wer wohl einflussreicher und nützlicher in der Gesellschaft sei. Zudem war ich als Mitarbeiter evangelischer Zeitschriften und Freund einer „Ökumene der Frommen“ gerade erst in ein evangelisches Medien-Kuratorium gewählt worden. Meine erste Predigt in einer Gemeinde der rheinischen Landeskirche stand bevor – wohin ich zur Eröffnung des Jubiläumsjahres am Reformationstag 2016 als Prediger zurückkehrte. Insofern fühlte ich mich weder damals noch heute prädestiniert und disponiert dazu, Vorzüge des Katholizismus in die Welt zu posaunen.
Andererseits: Seit meiner Jugend in der unter Konrad Adenauer aus Trümmern erstandenen, von Helmut Kohl regierten Bundesrepublik hatte die konfessionelle Stimmungslage sich so verändert, dass es mir angebracht schien, einmal gegen den Trend eine kleine „katholische Leistungsschau“ zu versuchen. Nicht zur Untermauerung religiöser Wahrheitsansprüche, für die ein Sozialwissenschaftler keine Kompetenz hat. Ebenso wenig, weil ich wie jeder Rheinländer, laut Konrad Beikircher, auch der evangelische, „chromosomal katholisch“ wäre und meine subjektive Befindlichkeit öffentlich zu rationalisieren gedächte. Noch weniger, weil mir der organisierte deutsche Katholizismus besonders imponierte. Mich motiviert vielmehr sein schwindendes Selbstbewusstsein. Eine wichtige Aufgabe des Publizisten sehe ich darin, „antizyklisch“ zu wirken. Thomas Mann bezeichnete sich 1934 als „Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht – und umgekehrt.“ Drohendes Kentern nach rechts – nicht der hiesigen katholischen Kirche, aber etlicher Demokratien und leider auch von Teilen des katholischen Milieus – gibt Anlass, der Rückschau auf konfessionelle Prägungen und Konkurrenzen (I) und katholische Gemeinwohlbeiträge in der Bundesrepublik (II) einen Ausblick zum kirchen- und staatspolitischen Kurs des deutschen Katholizismus (III) folgen zu lassen. Die eben erwähnte Predigt zur „Freiheit eines Christenmenschen“ (IV) soll die Überlegungen ökumenisch beschließen.
Wer dieses Buch in der Erwartung zur Hand nimmt, eine kleine Chronik oder Organisationsskizze der deutschen katholischen Kirche samt Würdigung seines Bistums, Verbandes, Ordens, Forschungsbeitrags oder klangvollen Namens darin zu finden, wird enttäuscht sein. Deshalb wollen wir ihn erst gar nicht mit einem Namens- und Sachregister, Literaturverzeichnis und großen Anmerkungsapparat in Versuchung führen. Vielmehr geht es um das nicht so leicht Fassbare oder Sichtbare des Katholischen in Deutschland, um seine politisch-kulturellen und sozialpsychologischen Spuren, vorzugsweise um Missverstandenes und Umstrittenes, um Imageprobleme und Machtfragen, speziell (aber nicht nur) im Vergleich zum Protestantismus. Enttäuschen werde ich wohl auch jene, die Bücher über Glaube und Kirche vor allem zur Selbstbestätigung ihrer theologischen oder kirchenpolitischen Lagerzugehörigkeit lesen. Solche Beheimatung brauche ich nicht. Mir reicht die römischkatholische Kirche, die mir vertraut und lieb geworden ist. Doch auch mit Christen anderer Konfessionen und sogar mit manchem Agnostiker weiß ich mich verbunden in der Überzeugung: „Mag die geistige Kultur nun immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen, und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will, über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen“, so Goethe am 11. März 1832 zu Eckermann. Und nur dann, wenn dieser Geist in der Kirche wach und kritisch in alle Richtungen bleibt, kann unser Glaube dieses hohe Niveau halten und seine in alle Lebensbereiche hinein wirkende Strahlkraft entfalten, die für Deutschlands größten Dichter „von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art, wie nur je auf Erden erschienen ist. Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, ihm anbetende Ehrfurcht zu erweisen, so sage ich: Durchaus.“
Für das 500-jährige Reformationsgedenken konnte man erwarten, dass das konfessionelle Meinungsklima in „Deutschland, Lutherland“ (Christine Eichel, 2015) sich trotz eines vergleichsweise beliebten Papstes noch deutlicher zur evangelischen Seite hin neigen würde. Daher erschien mir ein antizyklischer Beitrag zur Rolle der Konfessionen sinnvoll, als der Bonifatius-Verlag mich zu einem Buchprojekt einlud. Dass das Manuskript kürzer als „Gesellschaft ohne Gott“ wurde und auch gemeinsame Herausforderungen der Kirchen behandelt, möge verdeutlichen, wie nachrangig mir konfessionelle Aspekte gegenüber der Bedeutung des Christlichen an sich erscheinen. Sie sollten nur nicht ignoriert, kulturell unterschätzt oder aus ökumenischer Rücksicht unterschlagen werden. Im Geleitwort zu meiner Dissertation: „Ziviler Ungehorsam und christliche Bürgerloyalität. Konfession und Staatsgesinnung in der Demokratie des Grundgesetzes“ (1994) machte sich Wolfgang Bergsdorf eine Mahnung des Historikers Thomas Nipperdey zu eigen: Es gelte, die konfessionelle Spannung, auch wenn sie im öffentlichen Erscheinungsbild verblasse, weiterhin als eine der „fundamentalen alltäglichen und vitalen Grundtatsachen des deutschen Lebens“, des Denkens, der Identifikation und des Habitus, zu verstehen und auch als eine Wirklichkeit der Politik wahrzunehmen.
Dass es heute weniger gläubige Christen in Deutschland gibt als damals, und wohl auch etwas weniger in der Politik – wenngleich überdurchschnittlich in Regierungsverantwortung –, macht Nipperdeys These nicht obsolet. Ethisch und soziokulturell bleiben konfessionelle Muster auch dort noch für geraume Zeit wirksam, wo Glaube und religiöse Praxis schwinden. „Der Platzregen des Evangeliums rauscht nicht mehr, aber klamm ist es in Deutschland geblieben“ (Johannes Gross) – und das ist weit vorteilhafter als es klingen mag.
Bonn, im Februar 2017
Andreas Püttmann
In Umfragen zum Vertrauen in Institutionen schneidet die katholische Kirche regelmäßig schlecht ab, signifikant schlechter als die evangelische. Auf die Infratest-Frage: „Ich nenne Ihnen jetzt eine Reihe von Einrichtungen und Organisationen. Bitte sagen Sie mir für jede, wie viel Vertrauen Sie in sie haben: sehr großes Vertrauen, großes Vertrauen, wenig Vertrauen oder gar kein Vertrauen?“, sprach im Juni 2015 nur jeder Fünfte der katholischen Kirche das Vertrauen aus (4 % „sehr großes“, 16 % „großes“), 40 Prozent bekundeten „weniger“ und 31 Prozent „gar kein Vertrauen“. Der evangelischen Kirche vertrauten 41 Prozent (davon 5 % „sehr“), also mehr als doppelt so viele und deutlich mehr als sie Mitglieder hat. Zudem fiel die krasse Distanzierung: „gar kein Vertrauen“ ihr gegenüber mit 13 Prozent weit geringer aus1.
Bei einer Forsa-Umfrage im Februar 2016 zum Vertrauen in Institutionen2 schaffte es die evangelische Kirche mit „großem Vertrauen“ bei 45 Prozent der Befragten ins Mittelfeld, die katholische mit nur 27 Prozent auf Rang 29 von 38, knapp vor Versicherungen und Banken, hinter dem Zentralrat der Juden (40 %) und nicht sehr weit vor dem Zentralrat der Muslime (21 %). Deklassiert wurden beide Kirchen von den Universitäten (80 %), der Polizei (77 %), dem Bundesverfassungsgericht (72 %), den Schulen (71 %), der Bundeswehr (60 %), den Krankenkassen und Meinungsforschungsinstituten (je 57 %) sowie den Stadtverwaltungen (56 %); die katholische zudem von Gewerkschaften (46 %) und Unternehmern (44 %). Selbst die krisengeschüttelte Europäische Union und die viel gescholtene Presse (35 %) schnitten besser ab. Einziger Trost: Der Papst übertraf mit 50 Prozent weit das Vertrauen in seine Kirche – und auch in die evangelische Kirche. An den Bundespräsidenten (68 %) und die durch die Flüchtlingskrise gebeutelte Bundeskanzlerin (54 %) reichte allerdings auch er nicht heran.
Hitliste des Vertrauens (2016)
1997, als die Katholiken auch im wiedervereinigten Deutschland wieder knapp zur Mehrheitskonfession geworden waren, schrieb Hans Conrad Zander über seine katholische Kirche: „In der Hackordnung der öffentlichen Wertschätzung stehen wir inzwischen, in den Medien täglich erfahrbar, so tief, dass unter uns niemand mehr kommt außer Hare Krishna und Scientology. […] Ob es uns passt oder nicht, wir sind ‚kognitiv minoritär‘ geworden. So komisch sind wir wie zuvor die Juden. Mehrheiten sind nämlich dumm. Die kognitive Majorität ist genauso dumm, wie wir es waren, als wir, damals im Mittelalter, die kognitive Majorität waren. Aber sie merkt das nicht. Wir haben das damals auch nicht gemerkt. Es kennzeichnet ja die Mehrheit – und es macht sie dumm –, dass sie sich selber nicht infrage stellt. Weil sie die kognitive Macht hat, ist sie zugleich dumm und selbstbewusst. An ihren eigenen Begriffen misst sie, souverän und selbstverständlich, die kognitiven Minoritäten, zum Beispiel heute die katholische Kirche.“ In der Tat: Zur Dummheit tendieren Mehrheiten, sofern sie Teile der Realität, die nicht ins etablierte Schema ihrer „herrschenden Meinung“ passen, durch unbewusste Vermeidungsstrategien „kognitiver Dissonanz“ ausblenden. So kann sich ein Realitätsverlust entwickeln, der irgendwann in einer Bruchlandung auf dem Boden unverrückbarer Tatsachen zu enden droht. Bis dahin dauert es allerdings oft eine Weile.
Für eine Minderheit – die katholische Kirche versammelt offiziell noch gut ein Viertel, nach Umfragen zur Kirchenverbundenheit ein Sechstel der Bevölkerung – heißt dies zunächst, einen langen Atem zu haben und sich vom Unverständnis kognitiver Mehrheiten nicht so rasch beirren zu lassen. Allzu leicht tut sie es aber doch und misst sich, „angstvoll und verkrampft, nicht an den eigenen Maßstäben, sondern an den Maßstäben der Majorität“; sie unterliegt damit, „fremdbetrachtet, fremdbewertet, den Gesetzen des Zerrspiegels und wirkt, auch auf sich selber, notwendig komisch“. Das führt dann zu Selbstaussagen wie: „Der Katholizismus in Deutschland ist historisch auf dem Weg von einer selbstbewussten, vitalen Avantgarde in ein Nischendasein.“3
Aus dieser Wahrnehmung erwachsen laut Zander zwei Versuchungen: „Je tiefer wir absinken in die kognitive Minorität, desto mehr gerät unsere Kirche in eine spastische Bewegung. Angstvoll starrend auf das, was die Welt, was die kognitive Mehrheit von ihr hält, versucht sie abwechselnd, sich in ihre abseitig und komisch gewordene Identität trotzig einzubunkern, dann wieder versucht sie, ihrer Komik zu entfliehen, indem sie sich, mit enormem theologischem Wortgeklingel, ‚liberalisiert‘.“ So habe das Erste Vatikanische Konzil beschlossen, „diesen ganzen komisch gewordenen katholischen Hokuspokus im kulturellen Ghetto integral zu restaurieren“, während das zweite den Ausweg im „aggiornamento“ gesucht habe: „Wie eine Eidechse auf der Flucht vor einem Mächtigeren plötzlich ihren Schwanz fallen lässt, so ließen wir jetzt alle jene Teile unseres komisch gewordenen Erscheinungsbildes, die uns zuvor unentbehrlich schienen, plötzlich fallen: Latein? Komisch, weg damit. Der Teufel? Komisch, weg damit. Weihrauch? Komisch, weg damit. Beichtstuhl? Komisch, weg damit. Rosenkranz? Komisch, weg damit. Kreuzweg? Komisch, weg damit. Thomas von Aquin? Komisch, weg damit. Kutten und Soutanen? Alles komisch, weg damit. Die Gregorianik? Ganz ganz komisch, sofort weg damit. Und nachdem wir so viel Komik so übereilig abgeschafft haben, wundern wir uns maßlos darüber, dass die Welt uns nicht nur unverändert komisch findet, sondern sogar, eindeutig, noch komischer als zuvor. Woran könnte das liegen? Nur an einem: Noch haben wir das Allerkomischste nicht abgeschafft. Noch haben wir den Zölibat. Den müssen wir abschaffen. Ganz ganz schnell. Dann, ja dann, sind wir endgültig raus aus unserer unerträglichen Komik.“4
Kein Wunder, dass in einer Situation gebrochenen Selbstbewusstseins eine Art „aggressiven Mitleids“ mit zölibatären Priestern Konjunktur hat: „Statt diesen antibürgerlichen Frömmigkeitsartisten und Entsagungskünstlern Respekt entgegenzubringen, möchte sie das Saalpublikum unserer Spaßgesellschaft mit rhythmischem Klatschen zum Beischlaf treiben, denn die regelmäßige und möglichst sofortige Triebabfuhr ist einer der heiligsten Glaubenssätze der Gegenwart.“5 Die negative Zölibat-Fixiertheit einer sonst kirchenindifferenten Öffentlichkeit verwundert angesichts des Befundes einer österreichischen Studie6, wonach 80 Prozent der katholischen Geistlichen bei einer Aufhebung des Zölibats „sicher“ (47 %) oder „wahrscheinlich“ (33 %) weiter ehelos leben würden und zwei Drittel (69 %) ihr eheloses Leben bisher als „recht glücklich“ betrachteten. Ein Fazit der Studie: „Pfarrer leben in einem dichten Netzwerk von Beziehungen, das sie trägt. Ehelos leben erleben viele Pfarrer daher auch nicht als vereinsamend.“ Das Argument, dann könne man den Zölibat ja ruhig der Freiwilligkeit des Einzelnen überlassen, verkennt: Ehelos Lebende gibt es in allen Berufen aus verschiedensten Gründen, ganz ohne religiösen Grund. Das Alleinstellungsmerkmal des katholischen Priesters wäre somit verloren. Die verbleibenden zölibatären Priester würden irgendwann als gewöhnliche Singles wahrgenommen, die nur nicht „die Richtige gefunden“ hätten, habituell eben „Solitäre“ seien oder dem anderen Geschlecht eh nicht zugeneigt. Insofern ist die Rede, man wolle doch nur den „Pflichtzölibat“ abschaffen, nicht realistisch zu Ende gedacht und ein Pseudokompromiss. Womöglich würden ehelose Priester sogar unter einen Erwartungsdruck geraten, eine patente Pfarrfrau mitzubringen, die – ob mit eigenem Beruf oder nicht – im Gemeindeleben mittut. Kurzum: Ein Stück „Verbürgerlichung“ der Kirche mehr, ein Stück Kontrastgesellschaft weniger.
Es ist hier nicht der Platz, um die gewichtigen Argumente für und gegen den Zölibat, den laut dem letzten „Trendmonitor Religiöse Kommunikation“ auch etwa 80 Prozent der deutschen Katholiken ablehnen, ausführlicher abzuwägen. Zur Illustration der geistlosen Leichtfüßigkeit, mit der sich unsere säkulare Gesellschaft über jahrhundertealte Eigenheiten und Gesetze einer Weltkirche erhebt und mokiert, ist dieses Identitäts- und Unterscheidungsmerkmal des Katholischen aber durchaus zu erwähnen. Für das Zweite Vatikanische Konzil, auf das sich katholische Zölibatskritiker sonst meistens gern berufen, ist es „ein Zeichen und zugleich ein Antrieb der Hirtenliebe und ein besonderer Quell geistlicher Fruchtbarkeit in der Welt“. Der Zölibat, die Lebensform Jesu, sei „in vielfacher Hinsicht dem Priestertum angemessen“ und „eine köstliche göttliche Gnadengabe“ (Lumen Gentium 42). Darüber sollte man nicht so einfach wie heute üblich hinweggehen, insbesondere nicht über den Zeichencharakter für Gottes Gegenwart und für eine zukünftige Welt, in der die menschliche Liebe erst ihre definitive Erfüllung finden wird. Übersehen wird auch, dass ehelos lebende Priester, Ordensleute sowie manche geistlich berufene Laien sich damit nicht nur ganz dem Dienst an Gott und dem Nächsten bzw. an ihrer Gemeinde hingeben, sondern auch die schicksalhafte Ehelosigkeit oder Verlassenheit vieler Menschen solidarisch teilen. Kardinal Woelki sprach im August 2016 von einem „widerständigen und scheinbar unzeitgemäßen Zeichen der Liebe Gottes mitten unter uns“, das „seine Bedeutung ganz und gar nicht verloren“ habe und nicht in erster Linie aufgrund geringer Nachwuchszahlen über Bord geworfen werden dürfe.
Auf die Versuchung „trotziger Einbunkerung“ einer „komisch gewordenen“ Minderheit müssen wir später noch zurückkommen. Was Zander nämlich nicht sieht: Das Verdummungsrisiko herrschender, denkfaul und unangemessen selbstbewusst gewordener Mehrheiten kann unter Umständen auch Minderheiten ereilen, je nach dem Maß ihrer sozialen Abkapselung. In den Nischen und Wagenburgen Gleichgesinnter herrschen sogar, künstlich hergestellt, nahezu 100-prozentige Mehrheiten. Sie halten für jede durch Kritik von außen erzeugte kognitive Dissonanz eine Vermeidungsstrategie parat. Für eine Kirche ist damit das Risiko der Versektung angesprochen. Auch das von Zander so effektvoll karikierte Fallenlassen traditionell-katholischer Glaubensinhalte und Riten trifft nur einen Teil der Wahrheit. Denn anders als „die Eidechese auf der Flucht vor einem Mächtigeren“ ihren Schwanz, ließ die katholische Kirche einen Teil ihrer tradierten Frömmigkeitskultur nicht ängstlich fallen, sondern es gingen einfach immer weniger Katholiken hin.
Zu den Allgemeinplätzen der Wiedervereinigungsdiskussion nach dem Zusammenbruch der SED-Diktatur gehörte die Feststellung, Deutschland werde künftig „protestantischer, nördlicher und östlicher ausgerichtet sein“, so CDU-Generalsekretär Volker Rühe; das in der Bonner Republik erst zehn Jahre zuvor entstandene leichte Übergewicht des katholischen Bevölkerungsteils kehre sich mit dem Beitritt der knapp 17 Millionen Deutschen in den Stammlanden der Reformation um in Richtung eines „Deutschland, protestantisch Vaterland“7 – so wie 1871 nach der „kleindeutschen“ Gründung des „Heiligen Evangelischen Reiches deutscher Nation“, wie sich der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stoecker ausdrückte. In diesem Reich waren katholische Christen allerdings eine als Reichsfeinde verdächtigte und als „Staatsbürger zweiter Klasse“ (Oswald von Nell-Breuning) behandelte Drittel-Minorität. Für den preußischen Philosophen Eduard von Hartmann mussten Katholiken „begreifen lernen, dass sie nicht gesetzestreue deutsche Staatsbürger“ sein könnten, ohne nach dem „katholischen Prinzip als Ketzer dazustehen, und dass sie gute Katholiken nicht sein könnten, ohne, mindestens der Gesinnung nach, Hochverräter an ihrem Vaterland zu werden“8. Preußens Religionspolitik hatte der Freiherr vom Stein 1819 so charakterisiert: „Der preußische Staat ist ein evangelischer Staat und hat über ein Drittel katholischer Untertanen. Das Verhältnis ist schwierig. Es stellt sich richtig dar, wenn die Regierung für die evangelische Kirche sorgt mit Liebe, für die katholische Kirche sorgt nach Pflicht. Die evangelische Kirche muss begünstigt werden.“9
So wundert es nicht, dass der Kölner Erzbischof und frühere Oberhirte von Berlin mit Wohnsitz im Osten der Stadt, Joachim Kardinal Meisner, der im Dezember 1988 von Johannes Paul II. gleichsam als Vorbote der Deutschen Einheit nach Köln versetzt worden war, in einem Interview des Rheinischen Merkur vom 24. November 1990 warnend auf die Reichsgründung von 1871 anspielte: „Das Elend mit der deutschen Nation ging doch los, als uns gleichsam der südliche Lungenflügel amputiert wurde. Dann wurden wir kurzatmig und sind von einer Katastrophe in die andere gestürzt.“ „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein – er hatte 1953 (alias „Jens Daniel“) unter dem Titel: „Deutschland – ein Rheinbund?“ beklagt, die Eliten der Bundesrepublik opferten „das Land östlich der Elbe auf dem Altar eines imaginären West-Europa“ – erklärte dagegen mit Genugtuung, das vereinte Deutschland werde „mehr protestantisch als katholisch dominiert sein“; die Achse Europas verlaufe fortan nicht mehr am Rhein, sondern verschiebe sich nach Osten, just in jene Gebiete jenseits der Elbe, die sein Erzfeind Adenauer nach anekdotischen Berichten aus seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister als „asiatische Steppe“ bezeichnet und auf Bahnreisen in die „heidnische Stadt“ Berlin nur bei zugezogenem Vorhang durchquert haben soll10.
Die konfessionellen Untertöne der Wiedervereinigungsdebatte erinnerten an die Gründungszeit der Bundesrepublik, in der Linke den dezidiert christlichen, aber nicht klerikalen Konrad Adenauer als kirchlichen Erfüllungsgehilfen darstellten und die katholische Kirche als eine „fünfte Besatzungsmacht“. Der Präsident der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Martin Niemöller, schmähte das 1949 aus den Westzonen gegründete staatliche „Provisorium“ als „ein Kind, das in Rom gezeugt und in Washington geboren“ worden sei; Westdeutschland sei ein letztlich „katholischer Staat“, im Bundeskabinett säßen zu viele Katholiken11 – es waren 10 von 14. Das lässt sich über die Kabinette Merkel nicht mehr sagen: Im jetzigen finden sich neun Protestanten und sechs Katholiken. Diese kommen allerdings zur Hälfte von der SPD. Aus der Partei der Kanzlerin stehen sechs Protestanten einem Katholiken gegenüber, der zudem noch nie sonderlich als solcher aufgefallen ist. Auch Merkels Generalsekretär und der Fraktionschef sind evangelisch, und zwar profiliert. Dieses krasse konfessionelle Ungleichgewicht unter den relevantesten CDU-Bundespolitikern wird durch die fünf stellvertretenden Bundesvorsitzenden (zwei katholisch, drei evangelisch) und die katholische Kulturstaatsministerin bei der Bundeskanzlerin nicht wesentlich verringert. Es ist auffällig für eine Partei, deren Mitgliederbasis etwa zur Hälfte katholisch und nur zu einem Drittel evangelisch ist und deren Fraktion mit der CSU im Bundestag stets mehrheitlich aus Katholiken bestand.
Lässt sich daraus schließen, „dass die CDU-Vorsitzende ihre Partei systematisch entkatholisiert hat und nur die Protestanten fördert? Nicht ganz. Angela Merkel hatte auch Pech mit den Katholiken“, gab 2015 ein Essay der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung unter dem Titel: „Luther regiert“12 zu bedenken und erinnerte an das Scheitern von Christian Wulff, Karl Theodor zu Guttenberg, Norbert Röttgen und Annette Schavan, um dann zu folgern: „Eine Aversion gegen Katholiken hat Merkel nicht, zumindest nicht grundsätzlich“; vielmehr brächten „frühere Vor- feld-Organisationen der CDU wie der Bund der Deutschen Katholischen Jugend, die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung oder Kolping“ wegen ihres Bedeutungsverlustes „keinen Parteinachwuchs mehr hervor“. Zudem seien für protestantische Politiker wie Merkel, Schäuble oder de Maizière „Bescheidenheit und Demut wichtig, das Verständnis von Politik als Dienen“, was bei den Bürgern gut ankomme. „Glamour-Politikern misstrauen sie eher. Der barocke, lebemännische Stil, den katholische Politiker von Franz-Josef Strauß bis Oskar Lafontaine an den Tag legten, scheint jedenfalls fast ausgestorben.“ Vielleicht etwas zu klischeehaft und selektiv diese Beschreibung, denn man wird auch lebemännische Protestanten und bescheidene, eher asketische Katholiken in der Politik finden. Wichtiger ist: Einem überzeugten katholischen Christen wird heute ein überzeugter, bekenntnisfreudiger Protestant in herausragender politischer Position lieber sein als ein konfessionell nahezu unkenntlicher Katholik – oder ein „Paradekatholik“, der durch die Betonung seiner Konfessionszugehörigkeit (und dann meist auch Rechtgläubigkeit) Kompetenzmängel kaschieren oder Milieusympathien, Medienaufmerksamkeit, Posten und Spendengelder generieren will. Solche durchsichtigen Versuche, konfessionelle Larmoyanz- und Empörungsressourcen zu bewirtschaften, nützten weder der Partei noch der christlichen Sache, im Gegenteil13.
Abgesehen von einer gewissen Protestantisierung der CDU unter Angela Merkel spürte man entgegen den Prognosen lange nichts von einer Verschiebung der konfessionellen Gewichte in Deutschland durch die Vereinigung mit den Stammlanden der Reformation. Das lag zunächst daran, dass die Zahl der ostdeutschen Protestanten in der „Wendezeit“ immer weiter nach unten korrigiert werden musste: Aus dem ursprünglich 80-prozentigen evangelischen Bevölkerungsanteil in der DDR waren 1990 nicht 31 (wie noch im Dezember 1989 angenommen), sondern 21 Prozent geworden14. Zugleich sank die Einschätzung, dass der Einfluss der Kirche zunehmen werde, in nur vier Monaten zwischen Mai und September 1990 von 77 auf 63 Prozent15. Als am 3. Oktober beim Freudenfest des wiedervereinigten deutschen Volkes die Glocken der Volkskirchen fast überall stumm blieben, war dies ein sinnfälliger Ausdruck dafür, dass die Kirchen etwas ins Abseits geraten waren. Die Desillusionierung musste besonders den konfessionell dominanten und gesellschaftlich ambitionierten ostdeutschen Protestantismus hart treffen, in dessen Reihen sich ein volkskirchliches Selbstbild erhalten hatte, mit dem sich nicht selten die durch politische Anerkennung von außen beförderte Vorstellung einer „Heldenkirche“ verband: „Mithilfe gewaltiger finanzieller Zuschüsse aus dem reichen Westen hielt die Minderheitenkirche über drei Jahrzehnte die Fiktion aufrecht, sie sei nach wie vor eine große Volkskirche […], eine in ihrer selbstbewussten Demut wahrhaft christliche Kirche, die das Martyrium schon geschmeckt hatte und die sich so wohltuend von der satten, oberflächlichen Westkirche abhob, deren vermeintlich inniges Bündnis mit dem kapitalistischen System und dessen Hochrüstung sie jeglichen geistlichen Charismas entkleidete.“16
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik begann eine zweite Phase protestantischer Desillusionierung: Bei den Wahlen und der Besetzung öffentlicher Ämter in den neuen Bundesländern erlangten katholische Christen, die „Minderheit in der Minderheit“, weit überproportionale politische Präsenz. Die „Kinder der doppelten Diaspora“ wurden aus der inneren Emigration an die Schalthebel der Macht katapultiert. Etwa in Sachsen: Fast jeder dritte Landtagsabgeordnete war Katholik. Der Ministerpräsident, der Landtagspräsident, der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Dresden und jener von Chemnitz: alle katholisch. Auch die Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, Gomolka und Duchac: Katholiken. Als 1991 nach dem Rücktritt des Protestanten Gerd Gies mit Finanzminister Werner Münch auch noch ein Katholik zum Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt gewählt wurde, während in Sachsen eine Diskussion über den konfessionellen Proporz in den Rundfunkräten entbrannte, waren dies die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten.
„Wir haben die SED entmachtet, und nun übernehmen die Katholiken die Macht.“ – Dieser Satz gehe um im ostdeutschen Protestantismus, berichtete Ehrhart Neubert, Referent für Gemeindesoziologie in der Theologischen Studienabteilung beim DDR-Kirchenbund in Berlin und Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“. Die Katholiken störten den konfessionellen Frieden durch „eine Legendenbildung, die die Rolle der Protestanten in der DDR verdächtigt und schmälert und die der katholischen Kirche aufwertet“17. Die evangelischen Kirchen seien aber „die entscheidenden Träger der Veränderung der DDR“ gewesen, indem sie einer Gleichschaltung in das Gesellschaftssystem widerstanden, als Anwalt der Bevölkerung gedient und als Wortführer der Wende ein Schutzdach für die Gruppen der Opposition gestellt hätten; „mehr noch, das gesamte Phänomen kann geradezu als protestantische Revolution bezeichnet werden“. Dieser „überragende Anteil der Evangelischen an der Wende“ sei „in einem Land mit protestantischer Geschichte und Prägung eigentlich folgerichtig. Das ist mit der Rolle der katholischen Kirche in Polen vergleichbar.“ Im Unterschied dazu habe die katholische Kirche in der DDR zu gesellschaftlichen Fragen weitgehend geschwiegen. „Erst sehr spät, als die Revolution praktisch vollzogen war, im Dezember 1989, haben die Bischöfe die Katholiken zur politischen Mitarbeit aufgerufen. Da aber galt es schon, Machtpositionen für die neue Ordnung zu erringen.“ Nun werde, ausgehend von den vier katholischen Ministerpräsidenten und einer Mehrzahl katholischer Minister, „die Personalpolitik in den neuen Ländern in katholischem Interesse betrieben. Wo die Personaldecke der Katholiken reicht, setzt sich dieses auch in untere politische Ebenen bis in die Landratsämter und Kommunen fort. Auch bei der Neugründung sozialer Einrichtungen streben die Katholiken in einer Art Verdrängungsstrategie an, möglichst überall präsent zu sein, auch wenn schon evangelische Anstalten vorhanden sind.“18 Auch der überaus medienpräsente Wittenberger Pfarrer und Dozent am dortigen Predigerseminar, Friedrich Schorlemmer, griff die katholische Kirche scharf an. Sie habe vierzig Jahre lang geschwiegen, ihre Mitglieder zum Schweigen angeleitet und sich dann nach der Wende als entschiedener Gegner des DDR-Staates dargestellt, der sich „nie die Finger mit Formeln wie ‚Kirche im Sozialismus‘ schmutzig gemacht“ habe19; wer damals geschwiegen habe, solle auch jetzt „stille sein“20.
Die massive Katholizismuskritik vornehmlich linksorientierter protestantischer Kreise beschränkte sich nicht auf den Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Sie hatte ein Pendant im Westen: Das von der EKD subventionierte „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ führte am 26. Oktober 1990 unter dem Titel: „Das Kreuz sucht wieder den Adler“ einen heftigen Angriff gegen „die konfessionelle Eigensucht“ der römisch-katholischen Weltkirche. Nach der rhetorischen Eingangsfrage, ob es wohl die Gottesdienstübertragungen von Radio Vatikan gewesen seien, die Osteuropa vom real existierenden Sozialismus befreit hätten, ging Autor Clemens Müller mit dem „triumphalismusanfälligen Katholizismus römisch-wojtylanischer Herkunft“ ins Gericht. Rom reklamiere unter Berufung auf die Bedeutung der Papstwahl von 1978 die Urheberschaft für die Befreiung des Ostens vom Kommunismus für sich und beraube durch diese Fehldeutung der jüngsten Geschichte, wie sie Bischof Georg Sterzinsky als „Bauchredner“ des Papstes verbreite, die Demokratiebewegungen Osteuropas ihres Sieges.
Da kam es allerdings nicht gelegen, dass ausgerechnet Michail Gorbatschow, als Sprachrohr des Papstes gänzlich unverdächtig und von Amts wegen einer der intimsten Kenner der einschlägigen politischen Prozesse, in einem Interview der Tageszeitung „La Stampa“ vom 3. März 1992, das von etwa hundert Zeitungen weltweit übernommen wurde, erklärte: „Was in Osteuropa in den letzten Jahren geschehen ist, wäre nicht möglich gewesen ohne diesen Papst, ohne die große, auch politische Rolle, die Johannes Paul II. im Weltgeschehen gespielt hat. […] Ich bleibe überzeugt von der Wichtigkeit des Handelns Papst Johannes Pauls II. in diesen Jahren. […] Wir stehen vor einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Ich möchte nicht übertreiben, aber ich habe einen besonderen Eindruck empfunden, als ob von diesem Mann eine Energie ausgeht, dank der man ein tiefes Gefühl des Vertrauens ihm gegenüber empfindet.“
Das „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ ging noch weiter: Die von Rom postulierte Neuevangelisierung Europas sei, wie der Tübinger Theologe Jürgen Moltmann dargelegt habe, „eine schlechte Idee“, weil sich dahinter die Absicht einer „Rekatholisierung Europas“ verberge. Das Gefährlichste an der „Ver- päpstlichung der Befreiung Osteuropas“ und der „römischkatholischen Kriegsgewinnlerei“ sei, dass sie einhergehe „mit einer neuen Schwärmerei für das Abendland. Schon in den Jahren nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges war solche Schwärmerei einmal in katholischen Kreisen Mode.“ Jenes Abendland sei nicht nur fromm und romantisch, sondern auch antidemokratisch, antijüdisch, antiliberal und antiaufklärerisch gewesen. Hinter dem Motto des 91. Katholikentages 1992 in Karlsruhe: „Eine neue Stadt ersteht – Europa bauen in der Einen Welt“ witterte die Zeitung am 19. Juni 1992 unter der Überschrift: „Verwirrend. Wie katholisch ist Europa?“ den Versuch, „der Europäischen Bischofssynode, dem Papst und dem Kardinal Ratzinger bei ihrer Großoffensive ‚Neuevangelisierung Europas‘ Schützenhilfe zu leisten“ […] Sollen hier Positionen abgesteckt und Ansprüche angemeldet werden?“ Sogar über den harmlosen Untertitel der Katholikentagsillustrierten: „Christen auf dem Weg nach Europa“ ereiferte sich Norbert Sommer: „Also auf dem Weg sind wir alle schon lange. Aber dass die Katholiken wieder einmal für alle Christen sprechen wollen, das geht doch zu weit.“ Hämisch fügte er hinzu, die Dänen hätten mit ihrem Nein zu den EG-Beschlüssen von Maastricht „die zentralkomitee-katholische Europaeuphorie ins Wanken gebracht“. Von offen bekundeter „Angst vor einem katholischen Europa“ war in Berichten über die EKD-Synode 1991 in Bad Wildungen zu lesen: In der zur Union strebenden Zwölfergemeinschaft stellten die Katholiken 62 Prozent der Bevölkerung. In dieser Lage, sagte EKD-Ratspräsident Martin Kruse, sei „die Zersplitterung der Kräfte und Stimmen im evangelischen Lager auf keinen Fall hilfreich“21. Dass ihm „das protestantische Hemd in Europa näher ist als der ökumenische Rock“, demonstrierte Präses Peter Beier im Januar 1992 auf der Synode seiner rheinischen Landeskirche: Es sei „höchste Zeit“, sich schützend vor die vielen evangelischen Minderheitenkirchen zu stellen, „die schlichtweg Angst haben, dass sie im vereinigten Europa noch mehr an den Rand gedrängt werden“; die „zeitweilige Unkenntlichkeit des Protestantismus“ müsse durch Formulierung eines „Propriums des Protestantismus“ überwunden werden – auch wenn „in Rom oder anderswo irgendwer die Stirn runzelt“22.
In der „Süddeutschen Zeitung“ vom 12.1.1993 nahm sich Eric Hoesli unter dem Titel: „Das protestantische gegen das katholische Europa. Die EG ist von katholischen Werten geprägt“ der evangelischen Sorgen an, in einem Westeuropa mit 320 Millionen Einwohnern als etwa 40 Millionen Protestanten von 200 Millionen Katholiken dominiert zu werden. Laut Hermann Goltz, Religionshistoriker und Mitarbeiter beim Ökumenischen Kirchenrat in Genf, sähen „manche Protestanten vielleicht, ohne es zu wissen, in Brüssel ein neues Rom“23.
Selbst die BILD-Zeitung begann mit konfessionellen Rechenspielen, allerdings auf die Zusammensetzung der Bundesregierung bezogen: In der Rubrik „Bonn vertraulich“ zählte Mainhardt Graf Nayhauß am 15.10.1992 im Kabinett Kohl zehn Katholiken, acht Protestanten und einen Konfessionslosen und resümierte: „Also geringe Übermacht der Katholiken. Im Kanzleramt sind sogar von sechs Abteilungsleitern fünf katholisch.“ Allerdings seien Kohls „Kronprinzen“ Schäuble und Rühe, seine einzige Stellvertreterin im Parteivorsitz Angela Merkel und Kanzleramtschef Bohl evangelisch „und – wichtiger – CDU-Generalsekretär Hintze ist ehemaliger evangelischer Pastor! Dabei sind zwei Drittel der Kanzlerpartei katholisch. Aber: In der CDU gibt es einen ‚Evangelischen Arbeitskreis‘, dafür keinen katholischen! […] Von den bisher sechs Bundespräsidenten war nur einer (!) katholisch: Lübke. Von den sechs Kanzlern drei evangelisch: Erhard, Brandt, Schmidt. Im heutigen Bundestag gibt es mehr Protestanten (259) als Katholiken (221). Aber 191 Abgeordnete nannten keine Konfessionszugehörigkeit. Will heißen: Bonn ist nicht katholisch, sondern wird immer heidnischer.“