ÜBER DEN AUTOR

Matthias Schrader gehört zu den digitalen Pionieren in Deutschland. Mitte der 1990er-Jahre gründete er SinnerSchrader und entwickelte E-Commerce-Lösungen für Start-ups wie buecher.de, Intershop und Ricardo, deren Produkte in kürzester Zeit börsenreif waren.

1999 ging SinnerSchrader selbst an die Börse und gehörte zu den wenigen Unternehmen, die den Neuen Markt nicht nur überlebten, sondern sogar gestärkt aus dieser Zeit hervorgingen. 2006 gründete Matthias Schrader die NEXT Conference, die sich innerhalb weniger Jahre als führende Konferenz für die  Digitale Transformation in Deutschland etablierte.

Heute unterstützt der Autor bei SinnerSchrader zusammen mit über 500 Beratern, Designern und Software-Entwicklern hauptsächlich DAX-Konzerne bei der Entwicklung digitaler Produkte. Im Februar 2017 gab die weltweite Management- und Technologieberatung Accenture bekannt, SinnerSchrader für einen dreistelligen Millionenbetrag zu übernehmen.

DANKSAGUNGEN

Kein Buch entsteht von allein. Erst recht dieses nicht. Beim Schreiben stand ich auf den Schultern von viel klügeren Autoren, die ich hoffe im Anhang vollständig aufgelistet zu haben. Einzelne Abschnitte haben Martin Gassner (Product Design) und Holger Blank (Product Engineering) beigetragen. Klaus-Peter Frahm, Michael Schieben und Wolfgang Wopperer-Beholz haben mich mit der Product-Field-Methode im Jahr 2016 angesteckt, und ich bin dankbar, dass sie das entsprechende Kapitel selbst beigesteuert haben. Martin Recke kämpfte sich durch die Transkription unserer Interviewreihe aus dem Spätsommer 2016 – bevor wir gemeinsam beschlossen, noch einmal neu zu starten. Ohne ihn gäbe es das Buch nicht! Vor allen Dingen möchte ich mich bei meinem großartigen Team bei SinnerSchrader bedanken, das mir nicht nur den Rücken während des Schreibens freigehalten hat, sondern mich auch immer wieder in vielen Gesprächen unterstützt und inspiriert hat, insbesondere Axel Averdung.

Danke.

Hamburg, im März 2017

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Danksagungen

User Manual

PROLOG

Von null auf 120 Millionen

Kodak-Momente

Umbrüche

Teil I – CASUAL ECONOMY

Der Siegeszug des Personal Computers

· Moore’s Law revisited

· Vier Zyklen des Personal Computing

· · Erster Zyklus: Office und Hobby (1975 bis 1995)

· · Zweiter Zyklus: Web und E-Commerce (1995 bis 2010)

· · Dritter Zyklus: Mobile (2010 bis 2020)

· · Vierter Zyklus: IoT und AI (2020-2025)

Der Siegeszug der GAFA

· Plattform-Ökosysteme

· Die ersten Plattformen

· Das Wintel-Imperium

· Netscape und das Web

· Google

· Amazon

· Facebook

· Apple

· China: Alibaba und WeChat

Teil II – CODE

Transformationale Produkte

· Services are eating the world

· Entdeckung von Nutzwert

EXPERIENCE LOOP

image SERVICE DIFFUSION – Die Transformation der Nutzererwartung

· Casualness

· Radikales Nutzenversprechen

· 10 x Value

· Built-in Marketing

image SERVICE EXPERIENCE – Die Transformation des Nutzerverhaltens

· Lock-ins

· User Interface

· User Experience

image SERVICE CO-CREATION – Die Transformation der Wertschöpfung

· Business Model

· · Enrich & Defend

· · Create & Compose

· · Mix & Milk

· Scale

· APIs

· Data

Teil III – PLAYBOOK

Building Blocks

Product Team

· Product Management

· Product Design

· · Brand und Identity

· · Business und Service

· · Process und Architecture

· · Interaction und Interface

· · Product Engineering

· · User Interface

· · Mobile

· · API Design

· · Cloud Integration

Product Creating

· Product Staging

· · Research

· · Lab

· · Construction

· · Greenhouse

· · Stage Gates

· Product Field

· · Frame

· · Map

· · Check

· · Find

· · Hands-on Product Thinking

· Product Toolbox

· · Design Thinking

· · Service Design

· · Prototyping

· · Design Sprint

· · Agile Development

· · Lean

· · Testing

· · Lean Analytics

Product Factory

Epilog

Glossar

Quellenverzeichnis

User Manual

Das Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten wird die Entstehung der → Casual Economy über die letzten drei Jahrzehnte nachgezeichnet. Wie konnten Google, Apple, Facebook und Amazon so dominierend werden, was ist der Code hinter ihren Transformationalen Produkten? Wenn Sie es eilig haben und das Buch schnell nutzen wollen: Heben Sie sich diesen Teil für die nächste Reise auf – aber lesen Sie ihn bei Gelegenheit.

Im zweiten Teil des Buches erläutern wir die konkreten Eigenschaften – den Code – Transformationaler Produkte und diskutieren, was diese so erfolgreich macht. Im dritten und letzten Teil entwickeln wir ein Playbook, mit dem Sie in Ihrem Umfeld erfolgreiche Produkte entwickeln können. Hier schlagen wir auch die Brücke zwischen Produktentwicklung und der Digitalen Transformation von Unternehmen.

Und schließlich: Dieser Text ist in Denglisch geschrieben. Im digitalen Kontext haben wir es grundsätzlich mit vielenenglischsprachigen Fachbegriffen zu tun. Zusätzlich wollen wir mit diesem Buch ein Modell vorstellen, das auch in größeren Unternehmen Verwendung findet. Hier brauchen internationale Teams die gleiche Begrifflichkeit im Methodeneinsatz. Wir haben uns bemüht, die zentralen Termini in einem Glossar zusammenzustellen. Bei der erstmaligen Verwendung des Begriffes erscheint er → unterstrichen.

Von null auf 120 Millionen

We shall meet in the place where there is no darkness.”

George Orwell, 1984 (1948)

Wir schreiben das Orwell-Jahr 1984. Auf meinem Schreibtisch steht ein Commodore 64, der über einen Akustikkoppler und Muffen aus dem Sanitärfachhandel mit einem Telefonhörer verbunden ist. Am anderen Ende des Kupferdrahtes schüttelt er sich virtuell die Hand mit einem weiteren Heimcomputer, der ebenfalls in Töne modellierte Daten sendet und empfängt. Ich bin das erste Mal online. Was ich vor über drei Jahrzehnten nicht wusste: Wir befanden uns am Anfang der ersten Welle der digitalen Vernetzung. Waren es Mitte der 1980er-Jahre ein paar Tausend Geeks meiner Generation, die ihre Computer für wenige Minuten am Tag vermaschten, so sind wir heute alle jederzeit und überall im Netz. Das Internet dringt immer tiefer in unseren Alltag und nimmt uns immer mehr Dinge ab. Es ist zur größten Bequemlichkeitsmaschine der Geschichte geworden. Das Netz verändert nicht nur unseren Lebensalltag, sondern transformiert auch die Wirtschaft. Doch wie kam es dazu, und warum hat dies so dramatische Auswirkungen für Unternehmen und ihre Produkte?

Die extreme Verdichtung der Vernetzung, die wir heute erleben, kam nicht über Nacht. Sie vollzog sich in den letzten Jahrzehnten in mehreren Wellen und begann mit kleinen Schritten. Den ersten Teil des Weges gingen 1977 Steve Jobs und Steve Wozniak. Mit dem Apple II entwickelten und vermarkteten die beiden den ersten fertig konfigurierten Personal Computer. Es dauerte vier weitere Jahre, bis 1981 IBM den ersten PC, der auch so hieß, auf den Markt brachte. Bill Gates lieferte mit Microsoft das Betriebssystem und behielt die Rechte an MS-DOS. So richtig glaubte bei IBM niemand an den Personal Computer. Doch immer mehr Drittfirmen schrieben die ersten Programme zur Textverarbeitung und Tabellenkalkulation.

Der PC eroberte das Büro. Er wurde nützlich. Am Ende eines 20-jährigen Zyklus gab es allein in Deutschland rund 20 Millionen PCs.

Ähnlich, nur schneller und höher, rollte die zweite Welle: der Siegeszug des Webs. Von den Anfängen Mitte der 1990er-Jahre dauerte es diesmal nur etwa 15 Jahre bis zur Sättigung. Im Jahr 2007, als Steve Jobs das iPhone präsentierte, gab es in Deutschland zum ersten Mal mehr als 40 Millionen Internetnutzer. Und noch einmal schneller verläuft der Mobile-Zyklus, in dem wir uns gerade befinden. Mitte 2016 zählten die drei großen Mobilfunknetzbetreiber in Deutschland mehr als 120 Millionen aktive SIM-Karten in mobilen Endgeräten. Das Smartphone ist zur superbequemen Fernbedienung geworden, mit der immer mehr Bereiche des Alltags organisiert werden.

Willkommen in der Casual Economy!

Kodak-Momente

As one industry after another looks at itself in the mirror and asks about its future in a digital world‚ that future is driven almost 100 percent by the ability of that company’s product or services to be rendered in digital form.”

Nicholas Negroponte, Being Digital (1995)

Dass Bits gegenüber Atomen unglaublich viele Vorteile haben, ist keine neue Erkenntnis. Nicholas Negroponte hat dies schon in „Being Digital“ beschrieben. Bereits damals war der grundlegende Zusammenhang erkannt. Es ist regelmäßig um Größenordnungen günstiger, Bits zu verarbeiten und zu distribuieren als Atome. So entsteht eine Digitalisierungsrendite, ohne dass sich an Geschäftsprozessen, Geschäftsmodellen oder Produkten irgendetwas ändern würde.

Doch dabei bleibt es in der Regel nicht. Das Netz hat die Geschäftsgrundlage drastisch verändert. Die Distributions- und Transaktionskosten digitaler Güter sind praktisch gleich null, was völlig neue Geschäftsmodelle ermöglicht. Die Grenzkosten digitaler Güter sind ebenfalls gleich null, weshalb digitale Güter nicht den Gesetzen der Knappheit unterliegen. Einmal produziert, können sie zu vernachlässigbaren Kosten beliebig oft kopiert werden. Das Internet ist, auch technisch, eine einzige große Kopiermaschine.

Wer versucht, auf Güterknappheit basierende Geschäftsmodelle zu digitalisieren, muss daher gegen fundamentale Kräfte ankämpfen. Dies kann nur für Produkte funktionieren, die nicht leicht substituierbar sind, und wird ansonsten in den meisten Fällen scheitern. Knapp sind heute Nutzer und ihre Aufmerksamkeit, nicht die digitalen Güter. Deshalb verschieben sich die Machtverhältnisse in der digitalen Wirtschaft zugunsten der Nutzer, Konsumenten oder schlicht: der Menschen.

In einer ersten Phase Mitte der 1990er-Jahre begann der E-Commerce dank unschlagbar günstiger Distributions- und Transaktionskosten, den Handel zu revolutionieren. An den Produkten selbst änderte das zunächst nichts. Heute transformiert das Netz hingegen auch die Produkte, indem es zum Kern des Produkterlebnisses wird und häufig Netzwerkeigenschaften den Wert kreieren. Produkte schrumpfen zu einer App für das Smartphone. Die beste  User Experience (UX) setzt sich durch, erreicht mehr Nutzer als konkurrierende Angebote und verdrängt diese über kurz oder lang vom Markt. Die User Experience von Uber schlägt nicht nur das bisherige Taxierlebnis, sondern substituiert tendenziell auch den Besitz eines eigenen Autos. Die Atome eines Taxis sind weniger wichtig für das Produkt „Mobilität“ als die Bits, die das Netz von Uber repräsentieren. Digitale Produkte bereichern für den Nutzer die Produkterfahrung, während traditionelle Produkte zur  Legacy sowie um Interface und Kundenzugang beraubt werden.

Durch die Digitalisierung wird sichtbar und greifbar, was neuere Theorien in den Wirtschaftswissenschaften, wie die  Service-Dominante Logik (S-DL), seit einigen Jahren postulieren: Für den Konsumenten hängt der Wert nicht am physischen Produkt, sondern am Gebrauchswert, der sich erst durch den Nutzer selbst realisiert. Das eigentliche Produkt ist der Service, der sich digital sehr viel günstiger und schneller darstellen lässt als die Welt der Atome: Digitale Services werden viel schneller viel besser als physische Produkte.

Ein digitaler Service besteht im Kern aus Software, und Software folgt kürzeren Entwicklungszyklen als Hardware. Amazon aktualisiert seine Software zu Spitzenzeiten mehr als 1.000-mal – pro Stunde. Software-Updates sind aber nicht nur häufiger als neue Hardware, sie werten auch bereits vorhandene Hardware auf. Tesla ist inzwischen dazu übergegangen, die Hardware für autonomes Fahren serienmäßig in seine Autos einzubauen, obwohl die Software dafür noch nicht fertig ist. Sie kann später per Update und gegen Aufpreis aufgespielt werden.  Functions-on-Demand sind der stärkste Indikator für diesen Paradigmenwechsel von Atomen zu Bits. Ohne Software ist Hardware wertlos. Zur Beschleunigung trägt zudem die Virtualisierung bei. Dabei wird Hardware durch Software nachgebildet, wodurch – von der eigentlichen Hardware abstrahiert – die Physik effizienter genutzt werden kann. Die Hardware selbst wandert zunehmend in die Cloud.

Clayton Christensen wies in seinem 1997 erschienenen Bestseller „The Innovator’s Dilemma“ präzise auf den folgenden Widerspruch hin: Für etablierte Unternehmen ist es rational, sich auf ihre profitabelsten Kundensegmente und Produktkategorien zu konzentrieren. Sie ignorieren neue, disruptive Technologien, die nicht die Bedürfnisse ihrer besten Kunden erfüllen oder nicht in ihr bestehendes Geschäftsmodell passen. Neue Technologien sind nämlich oft den etablierten Produkten nur in Teilaspekten überlegen und in anderen Facetten deutlich schlechter. Ihnen gelingt der Markteintritt zunächst oft nur am unteren Ende oder in teuren Nischen.

Es ist sehr schwer, diese Entwicklung rechtzeitig zu erkennen. In der digitalen Welt entwickeln sich viele Parameter – wie Rechenleistung, Speicher, Bandbreite – exponentiell. Jede Generation verdoppelt ihre Leistung. Da das Ausgangsniveau jeder neuen Technologie bei null liegt, ist der schwerste Schritt der erste – von „Zero to One“, wie es in dem gleichnamigen Buch des PayPal-Mitgründers Peter Thiel heißt. Systeme, die exponentiellen Regeln unterliegen, wachsen zunächst langsam. Erst nach zehn Verdoppelungen ist die Tausendermarke überschritten, doch schon nach weiteren zehn Verdoppelungen die Millionenschwelle und nach noch einmal zehn Verdoppelungen schließlich die Milliardengrenze. Aber das gilt nur im Modell. In der realen Welt wirken auf den exponentiellen Graphen eine dämpfende Sättigungsfunktion und disruptive Abbruchkanten in Form von Wettbewerb. Nur aus dem technologischen Fortschritt allein lassen sich kaum robuste Unternehmen begründen. Andy Grove, der Intel zum erfolgreichsten Chip-Produzenten formte, betitelte seinen Managementbestseller daher zu Recht mit „Only the Paranoid Survive“.

Solange ein Produkt und ein Geschäftsmodell funktionieren, ist der Veränderungsdruck begrenzt. Gerade große Unternehmen sind extrem gut darin, einmal etablierte Produkte und Geschäftsmodelle sehr systematisch zu verfeinern und inkrementell zu verbessern. Kodak ist dafür ein Paradebeispiel. Das Unternehmen hatte immer sehr hohe Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sowie große Labors und investierte viel in Innovation. Trotzdem wurde es schließlich überrollt von der Digitalisierung, die den chemischen Filmprozess obsolet machte. Das alte Geschäft lief einfach zu lange zu gut. Auch weil Kodak es von Jahr zu Jahr immer wieder schaffte, das bestehende Produkt zu verbessern.

Hinter der Ablehnung der Digitalkameras steckte nicht zwingend Arroganz, denn weder das Unternehmen noch die Menschen, die dort arbeiteten, waren dumm. (Im Gegenteil: Es sind in der Regel schlaue Menschen, die sehr genau schauen, was funktioniert und was nicht.) Wenn sie ihre Kunden befragten, dann bekamen sie beispielsweise zur Antwort: Wir möchten einen Film haben, der noch leuchtendere Farben hat, sich noch schneller entwickeln lässt und noch unempfindlicher ist gegen Belichtungsschwankungen, wie man sie bei der Fotografie häufig hat.

Genau diese Produkteigenschaften hat Kodak von Jahr zu Jahr stetig versucht zu verbessern. Schließlich konnte sich kaum ein Konsument vorstellen, wie Fotografie komplett anders funktionieren könnte – nämlich mit einem digitalen Chip. Und verzwickterweise war das digitale Bild am Anfang noch dramatisch schlechter als das chemisch prozessierte Foto, dessen Verfahren über Jahrzehnte hinweg optimiert wurde. Das alte Produkt ist an seinem Höhepunkt fast immer der disruptiven Konkurrenz überlegen, die sich von den Rändern des Marktes heranpirscht.

Die ersten kommerziellen Digitalkameras lösten viel gröber auf als Spiegelreflexkameras in Kombination mit traditionellen Filmen. Elektroautos sind Verbrennern in Aspekten wie Reichweite und Preis unterlegen. YouTube-Videos waren am Anfang viel schlechter als das Fernsehbild – das Bild ruckelte, der Bildschirm war klein und die Bildqualität schlecht. Trotzdem setzen sich die Streamingformate gegen das lineare TV zunehmend durch. Digitale Produkte haben entscheidende Vorteile: Die grundlegende Infrastruktur entwickelt sich exponentiell, wie wir im Folgenden sehen werden. Durch die Vernetzung und die damit einhergehenden Netzwerkeffekte kommt noch eine zusätzliche Nutzendimension hinzu.

Der Intel-Mitgründer Gordon Moore prognostizierte in den 1960er-Jahren, dass sich die Transistorendichte von integrierten Schaltungen jährlich verdoppeln würde. Bis heute hat sich diese Prognose erstaunlich lange bewährt, auch wenn sich die Verdoppelung bereits seit den 1970er-Jahren eher bei rund 18 Monaten einpendelt. In dieser Zeitspanne steigert sich die Leistungsfähigkeit von Chips oder Speichermedien um den Faktor zwei – zum gleichen Preis.

Das exponentielle Anwachsen der Rechenleistung bedeutet gleichzeitig auch den dramatischen Preisverfall von Rechenleistung, Speicherkapazität, Sensorik und Netzwerkbandbreite. Unser Zeitalter der Digitalisierung ist im Kern eigentlich ein Zeitalter der Vernetzung. Durch den Preisverfall diffundierte die Netzwerkfähigkeit von zentralen Groß- und Abteilungsrechnern über Personal Computer zu Smartphones und wird schließlich unter dem Begriff  Internet of Things (IoT) ubiquitär. Schon für wenige Eurocent-Beträge kann heute alles ins Netz eingebunden werden. Der Mix aus immer leistungsfähigeren, vernetzten Devices und globalen Cloud-Infrastrukturen befeuert eine Explosion von neuen Services und Produkten.

Schon vor der Digitalisierung verzweifelten Unternehmen daran, ihr profitables (Alt-)Geschäft durch weniger profitables Neugeschäft und zunächst qualitativ schlechtere Produkte zu kannibalisieren. Seitdem gilt es als gesichertes Wissen, dass disruptive Innovation quasi von außen kommen muss, weil Unternehmen systematisch blind dafür sind und es vielleicht sogar sein müssen. Doch stimmt das eigentlich? Ist es wirklich so, dass Unternehmen im Grunde nur abwarten können, bis jemand von außen kommt und ihr Geschäft ruiniert? Oder können sie disruptive Innovationen auch selbst schaffen?

Umbrüche

“An iPod, a phone, and an Internet communicator. An iPod, a phone… Are you getting it?”

Steve Jobs, iPhone Introduction (2007)

Allerdings: Auch die meisten Start-ups scheitern. Und das, obwohl sie vollkommen digital arbeiten, Digital Natives an ihrer Spitze stehen und sie eine digitale Kultur leben. Würden alle Unternehmen mit der gleichen Erfolgswahrscheinlichkeit wie Start-ups arbeiten, wäre unsere Wirtschaft – rein statistisch – bereits Geschichte.

Wenn es aber nicht Kultur und Methoden sind, was ist dann der Unterschied, der den Unterschied macht? Es sind die Produkte, die das Potenzial besitzen, das Konsumentenverhalten, den Markt und das Unternehmen zu transformieren. Nur Produkte, die im heutigen digitalen Ökosystem Wert für die Nutzer kreieren, erhöhen die Zukunftsfähigkeit von Unternehmen.

Die durchschnittliche Dauer der Zugehörigkeit zum S&P 500, der die 500 größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen abbildet, war bereits 2012 auf nur noch 18 Jahre gefallen. 1980 waren es noch 25 Jahre und 1958 gar 61 Jahre. Bleibt es bei der derzeitigen Rate, werden bis 2027 drei Viertel des S&P 500 ausgetauscht. Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden demnach 75 Prozent aller Großunternehmen im S&P 500 bereits den gesamten Aufstiegs- und Abstiegszyklus eines Börsenindex durchlaufen haben. Dies zeigt schlaglichtartig, wie schwer es geworden ist, über einen längeren Zeitraum relevant zu bleiben. Denn wenn Unternehmen untergehen, dann deshalb, weil ihre Produkte nicht mehr relevant sind. So wie mit der Vorstellung des iPhones im Jahre 2007 durch Steve Jobs die Zukunft von Nokia und Blackberry vorgezeichnet war.

Um ihre Überlebenswahrscheinlichkeit zu erhöhen, müssen etablierte Unternehmen eine Pipeline künftiger Transformationaler Produkte aufbauen. Sie können nicht nur wie Start-ups auf ein Pferd setzen. Es braucht einen Mix aus Eigenentwicklung, Partnern und Zukäufen. Ähnlich arbeiten auch Risikokapitalgeber, die ein Portfolio von Start-ups aufbauen. Google ist mit Alphabet gleich eine ganze Reihe von gigantischen Wetten eingegangen. Sie wissen genau: Ihr heutiges Produktportfolio ist nicht nachhaltig. Larry Page und Sergey Brin gehen mit Alphabet im Wortsinne große Wetten auf die nächsten Blockbuster-Produkte ein. Diese Produkte zu entwickeln und damit die Pipeline zu füllen ist die Aufgabe von Alphabet.

Erfolgreiche digitale Produkte transformieren das Verhalten der Nutzer. Sie sind Habit-Forming Products (Nir Eyal), die Gewohnheiten verändern. Larry Page macht mit jeder neuen Produktidee den Zahnbürstentest: Ist dies etwas, was ich jeden Tag ein- oder zweimal nutzen würde, und macht es mein Leben besser? Es geht um Relevanz im Alltag der Nutzer und darum, das Verhalten nachhaltig zu verändern.

Die Wertschöpfungskette dreht sich in der digitalen Ära um: Die höchste Wertschöpfung entsteht regelmäßig an der Nutzerschnittstelle – darum ist deren Kontrolle so wichtig. Mit dem veränderten Nutzer- und Konsumentenverhalten wandelt sich schließlich auch der Markt und dann – bei hinreichendem Erfolg – das eigene Unternehmen. Das Unternehmen verändert sich in diesem Prozess zuletzt – und eben nicht zuerst. Die Digitale Transformation findet zuerst beim Nutzer statt, dann im Markt und zuletzt im Unternehmen.

Die Entwicklung von Transformationalen Produkten ist nicht trivial. Es geht im Kern um die Entdeckung von Kundennutzen, Findung einer schlüssigen Produktform und Ausgestaltung eines Geschäftsmodells. Dieser Prozess lässt sich nur schwer planen und gleicht eher einer verschlungenen Reise. Es muss viel probiert und getestet werden. Das ist aufwendig, kostet Zeit und kann in Sackgassen enden. Deshalb beschäftigen sich Unternehmen auch oft mit vielen anderen Dingen, die besser planbar sind, wie Marketing, Vertrieb, Einkauf, Controlling und so weiter. Kurz: mit inkrementellen Verbesserungen und Risikovermeidung. Aber schon Peter Drucker, der Pionier der modernen Managementlehre, wies darauf hin, dass erfolgreiche Unternehmen perfekt darin seien, Dinge richtig zu machen. Aber in Zeiten von Veränderungen und Umbrüchen sei es wichtiger, die richtigen Dinge zu tun.

Abb. 1: Digitale Transformation

Davon soll dieses Buch handeln.