Gernod war von seinem Ross gestiegen, um für einen Moment die Einsamkeit zu suchen. Mit gesenktem Haupt lehnte er an einem Baum abseits seiner Männer und betete leise. Ein Knacken ließ ihn hochschrecken, woraufhin er sich umdrehte. Arfalla stand vor ihm und musterte den Mann mit der Augenklappe. Ihr entging nicht, dass Tränen über seine Wange liefen. Beschämt wandte Gernod sich von der Hexe ab und wischte mit dem Handrücken sein Gesicht trocken. Dabei murmelte er:
»Seid Ihr nun zufrieden? War das der Grund, weshalb Ihr mir den raschen Weg zum Schloss gewiesen habt?«
Die Hexe des Zorns setzte sich auf den Boden und bemerkte leise:
»Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht, Ritter. Es war Euer Wunsch, so schnell wie möglich zurückzukehren, und dabei habe ich Euch geholfen.«
»Das meine ich nicht!«
Arfalla atmete tief durch.
»Ihr wollt wissen, ob Ortwins Vorhersehung stimmt? Jeder Kampf birgt Gefahren in sich. Wenn Euch jemand im Vorhinein gesagt hätte, dass es Euer Schicksal ist, in diesem Kampf umzukommen, hättet Ihr dann Euren König im Stich gelassen?«
Gernod schüttelte stumm den Kopf.
»Was also ist jetzt anders? Niemand kann seinem Schicksal entrinnen, jeder kann nur versuchen, das Beste für sich daraus zu machen. Und niemand kann mit Gewissheit sagen, welche Entscheidungen ein Mensch an den unterschiedlichen Kreuzungen seines Lebensweges treffen wird. Ihr aber habt Euch entschieden, dem König zu helfen. Ich habe Euch nur geholfen, diesen Weg zu gehen. Ihr hattet die Wahl. Es liegt nun an Euch, wie Ihr das Schicksal dieses Weges meistert. Die Chancen stehen, für Euch jedenfalls, schlecht, aber Ihr hättet ja auch einfach in den Bergen bleiben können. Ich habe Euch geführt – verführt habt Ihr Euch selbst.«
Ritter von Demian fühlte sich von diesem Gefasel gestört.
»Was wollt Ihr eigentlich von mir? Warum seid Ihr wieder da?«, bemerkte er harsch.
Die Hexe erhob sich und näherte sich ihm mit den Worten:
»Wir beide wollen jemanden beschützen. So wie es aussieht, ist jeder von uns allein dafür zu schwach, diese Aufgabe zu erfüllen.«
»Wen sollten wir beide beschützen wollen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in irgendeiner Weise das gleiche Ansinnen haben könnten.«
Arfallas Augen funkelten gereizt. Sie zog ihn an sich heran und fauchte:
»Ihr wisst überhaupt nicht, mit wem Ihr Euch angelegt habt.«
»Doch, das weiß ich. Ich weiß, wer Ihr seid, und ich weiß, wer dieser verdammte Sebastian von Geradville ist. Ihr seid alle Teu…«
»Vorsicht! Niemand hat Euch gebeten, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen, aber Ihr konntet ja nicht anders. Euer Herz verrät Eure wahren Gefühle. Nicht die Furcht um den König hat Euch zur Rückkehr bewegt, sondern die junge Frau. Nicht nur ich weiß das. Ihr habt eine besondere Verbindung zu ihr. Mit dem Erscheinen ihrer Person sind sowohl alte, schmerzliche Erinnerungen als auch Hoffnungen verbunden …«
Gernod schubste die Hexe von sich weg und schrie:
»Schweigt!«
Aufgeregt ging er ein paar Schritte hin und her. Plötzlich spürte er Arfallas Atem an seiner Schläfe und ihre Worte drangen tief in sein Gewissen ein.
»Ihr könnt nicht weglaufen. Ihr seid nicht nur gut. In diesem Fall ist Euer Handeln von dem eigensinnigen Wunsch bestimmt, Madeleine als, wie Ihr findet, rechtmäßige Erbin der Krone auf dem Thron zu sehen.«
Sie pausierte und fuhr dann fort:
»Ein wahnsinniger Ortwin und ein entarteter erstgeborener Königssohn kommen doch da gerade gelegen. Mit viel Glück wird Euer König das Duell gewinnen und Rupert töten – oder sein barmherziges Wesen wird abermals einen großen Fehler begehen und den Bösewicht lediglich in den Kerker werfen lassen. Der Weg zum Thron wäre für Madeleine erst einmal frei, doch wer weiß schon, was dann noch kommt. Tötet der König seinen Sohn, würde er am Tod seines ältesten Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit zugrunde gehen. Sollte aber Rupert gewinnen, werdet Ihr gewiss nicht tatenlos zusehen, wie dieses Königreich in die Hände eines Despoten fallen würde. Das könntet Ihr gar nicht ertragen, habe ich recht? Deshalb wollt Ihr jetzt schon eingreifen und den Erstgeborenen niederstrecken, um die Menschen und Madeleine vor Schlimmerem zu bewahren. Ob der König Euch dies je verzeihen würde?«
Die aufgezeigte Ausweglosigkeit senkte sich wie eine zusätzliche Bürde auf den Schultern des schwarzen Ritters nieder.
»Oder glaubt Ihr an Wunder? Oh, ich vergaß. Ihr habt ja Gottvertrauen«, fügte sie zynisch hinzu.
»Ihr seid genauso falsch und grausam wie Rupert und dieser mysteriöse Fremde, der hier aufgetaucht war. Niemand von Euch meint es wirklich gut mit den Menschen. Ihr legt überall Eure Finger in die Wunden und reißt alte Narben auf, nur um uns zu schwächen und für Eure Verlockungen empfänglich zu machen. Ihr führt nichts Gutes im Schilde. Was wäre der Preis, den wir zahlen müssten, damit Ihr Madeleine und den König mit Euren Bösartigkeiten verschont? Gibt es nichts, was Euch erfreuen würde? Keinen persönlichen Vorteil, den Ihr erlangen könntet, wenn Ihr mir helft? Ihr krümmt doch keinen Finger, ohne etwas davon zu haben. So sagt, was ist Euer Beweggrund, mich sterben zu lassen? Ist dies der Wunsch des Höllenreiches oder nur Eurer?«, forderte er, fast flehend, sie zu einer Antwort auf.
Arfalla lachte.
»Weshalb sollte ich Euch das erzählen? Ihr scheint an einem Geschäft ja nicht interessiert zu sein. Oder vielleicht doch? Und was meine persönlichen Absichten anbelangt, haben die Euch überhaupt nicht zu kümmern.«
Ritter von Demian stieg wieder auf sein Pferd und versuchte, seine Aufregung in den Griff zu bekommen.
»Je eher Rupert niedergestreckt wird, desto weniger Schaden wird er anrichten. Der König sollte die Bürde, seinen eigenen Sohn ermordet zu haben, nicht tragen müssen. Der Einzige, der wirklich gegen diesen Feind antreten kann, seid Ihr, und das wisst Ihr auch. Rupert will gegen Euch kämpfen und er wird nicht ruhen, bis dieser Kampf stattfindet«, ertönte die Frauenstimme wieder.
»Der Preis?«, wiederholte Gernod seine Frage erneut.
»Was wäre der Preis, wenn ich Eure persönlichen Absichten unterstütze und Ihr dafür meine?«
Die Oberhexe zierte sich.
»Dies ist eine Sache der Abwägung – wie viel Tod, Leid und Trauer Ihr wem zumuten wollt. Das eine bedingt das andere. Je schneller gehandelt wird, desto kürzer sind die Phasen des Krieges, der Trauer und des Leides. Versteht Ihr, was ich meine? Ihr solltet Euren König jetzt nicht im Stich lassen.«
»Was habt Ihr davon? Sagt mir jetzt, was Ihr davon habt, wenn ich anstelle des Königs kämpfen werde. Was nützt Euch mein Tod?«
Die Oberhexe sah ihn voller Mitleid an.
»Warum stellt Ihr immer mir diese Frage? Was ich möchte, ist vielleicht etwas völlig anderes, als das, was …«
»Wer möchte? Was wollt Ihr wirklich von mir? Wen wollt Ihr beschützen?«, hakte Gernod erbost nach.
Arfalla atmete tief durch, um sich nicht zu etwas hinreißen zu lassen, denn ihr Zorn hatte sie in einem falschen Moment ereilt. Schnell erlangte sie die Fassung wieder und lenkte vom Thema ab.
»Was sagt denn Euer Gott dazu? Ich sehe nicht, dass er irgendetwas unternimmt, um Euch zu schützen. Was hat er also davon, wenn er Euch in den Tod schickt? Ich kenne die Gründe des Höllenreiches, aber die Wege des Herrn … sind manchmal unergründbar. Fragt ihn!«
Tief in seinem Inneren rebellierte er gegen diese Prophezeiung. Er wusste, dass es nur eine Lösung gab, die Hochbergen eine friedliche Zukunft versprach, und das war das Niederstrecken von Rupert.
»Vielleicht sind die Wege meines Herrn unergründbar – für Euch. Gott ist an meiner Seite und wird dort auch zukünftig stehen – da bin ich mir sicher. Mag sein, dass es Euer Wunsch ist, dass die Prophezeiung eintritt, aber ich glaube daran erst, wenn es so weit ist. Ich werde Rupert besiegen, und zwar mit Gottes Hilfe.«
Gernod hielt Ausschau nach der Frau, doch die Hexe schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Er war also wieder allein. Sein Zorn verflog und die Gedanken kreisten erneut umher. Er begann zu beten und flehte seinen Gott an, ihm den richtigen Weg zu weisen. Einsam fühlte er sich, fern von allen, die er liebte, und verloren in seinen Entscheidungsmöglichkeiten.
Arfalla beobachtete ihn heimlich und flüsterte:
»Ich bin Euch vielleicht mehr Freund, als Ihr es zu glauben vermögt.«