von Konrad Kölbl
1. Ein harmloser Junge
2. Kentucky
3. „Blitz-Sunny“
4. Trixi
5. Die „Nummer Drei“
Die Kneipe „Zum buckligen Jim“ in Wako im Staate Texas war eine Sehenswürdigkeit ganz besonderer Art. Nicht ihrer Gäste wegen, die nicht lauter, nicht durstiger, nicht rüpelhafter als in anderen Lokalitäten waren. In Jim Marlocks Etablissement schmeckte der Whisky nicht besser und auch nicht schlechter als andernorts, und auch auf seiner Speisekarte stand nichts Außergewöhnliches. Trotzdem hatte sein Lokal etwas, was für Wako einmalig war, nämlich einen großen, stilechten Spieltisch mit grünem Samtbezug und aalglatten Messingkanten. Dieses verlockende Möbelstück war der Anziehungspunkt der gesamten Gegend. Von weit und breit strömten die Wagemutigen herbei, die ihr Geld riskieren, die Abenteurer, die ihre Lage verbessern, und die Berufsspieler, die die zahlreich vorhandenen Schafe scheren wollten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen.
Verwegene Gestalten hockten vor der lang gestreckten Theke. Auch das war eine Absonderlichkeit der Kneipe „Zum buckligen Jim“. Man brauchte vor der Theke nicht zu stehen, man konnte bequem sitzen, konnte in Ruhe ein Glas Whisky nach dem andern in den durstigen Schlund kippen, ohne dass sich dabei die Beine in den Leib schraubten. Barmädchen und Amüsierdamen sorgten für ausgelassene Stimmung, doch ihr heiseres Geschrei, ihr unechtes, girrendes Lachen konnte in Jim Marlocks Etablissement nicht einen Augenblick das Interesse von der Attraktion des grünen Tisches der Spieler lenken. Er war ständig besetzt.
Tom Tenessy hieß der Held des heutigen Tages. Er hatte bereits ein Vermögen gewonnen. Bare dreizehntausend Dollar hatte ihm die Glücksgöttin Fortuna innerhalb weniger Stunden in den Schoß geworfen, das heißt in seine unergründliche Tasche, die nicht voll werden wollte. Auch Tom Tenessy war eine Sehenswürdigkeit ganz besonderer Art. Er sah einem berühmten Amerikaner zum Verwechseln ähnlich, nämlich dem großen Präsidenten Abraham Lincoln. Tom Tenessy hatte die gleichen vornehm ergrauten Haare, den gleichen vorn zusammengedrehten Ziegenbart, das gleiche markante Gesicht, und er liebte es auch in jener Kleidung zu gehen, die sein großes Ebenbild zu tragen pflegte.
Tom Tenessy war, wie gesagt, der Held des Tages, denn er gewann mit einer Regelmäßigkeit, die ans Unheimliche grenzte. Nicht einmal die „Zwillinge“, zwei nicht sonderlich angesehene Gelegenheitsspieler, von denen man nicht recht wusste, wovon sie lebten, hatten Lust, gegen Tom Tenessy höhere Einsätze zu wagen. Nur „Whisky-Jack“, ein stadtbekannter Säufer und Radaubruder, war noch nicht ganz ausgeplündert.
„Genug!“, brummte einer der „Zwillinge“; er hatte seinen letzten Cent verloren und besaß nicht einmal mehr ein Streichholz, sich seinen Zigarettenstummel wieder anzuzünden. Seiner „anderen Hälfte“ schien es ähnlich zu gehen. Auch dessen Miene drückte Niedergeschlagenheit, ja schon Resignation aus. Indessen brannte wenigstens noch seine Zigarette.
„Schon längst genug“, echote er mit müdem Spielerblick.
„Dann spiele ich mit meinem Freund Tom allein“, gluckste es sprudelnd aus dem Munde „Whisky-Jacks“. Eine übel riechende Alkoholfahne begleitete seine Worte. „Ich … hupp …, ich habe noch fünfzig Dollar …!“
„Wem hast du sie abgenommen, Jack?“, fragte Tenessy mit schiefem Seitenblick, „ist es ehrliches Geld?“
„Whisky-Jack“ tat beleidigt.
„Grundehrliches, Tom –, hupp!“ Er raffte die Karten auf. „Sunny hat es mir geschenkt. Hab’ ihm … hupp! … einen kleinen Dienst erwiesen …“
„Sunny? Wer ist das?“
Die wässrigen Augen des Säufers schienen Erstaunen auszudrücken.
„Du kennst Sunny nicht? Meinen großen Freund Sunny Neill?“
„,Blitz-Sunny’?“ Tom Tenessy war merklich zusammengezuckt. „Blitz-Sunny“ in der Gegend von Wako? Das hatte er noch gar nicht gewusst.
„Well …, well …“, lachte der Betrunkene, „,Blitz-Sunny’ und mein lieber Freund John …“
„John Sinclar?“
Nun war das Erschrecken auf der Seite „Whisky-Jacks“. Und wie ihn dieser Name erschreckt hatte!
„No Sir –, no … nicht der …, hupp! Mit dem will ich nichts zu tun haben … Ich meine John … meinen lieben Freund John Silver.“
Tom Tenessy ließ sich seine Verblüffung kaum anmerken.
„Wusste gar nicht, dass Silver nicht mehr in Dallas ist. Ist ihm wohl der Boden unter den Füßen zu heiß geworden?“
„Pst …, der Betrunkene führte seinen Zeigefinger zum Mund, „ist nichts für kleine Kinder –, es soll noch …, hupp! … geheim bleiben.“
Tom Tenessy nickte. Dabei fiel sein Blick auf eine Erscheinung, die geräuschlos wie eine Tigerkatze hinter „Whisky-Jack“ getreten war. Und abermals zuckte Tenessy zusammen. Sprachlos vor Verblüffung starrte er auf die Gestalt, die so plötzlich vor seinen Blicken aufgetaucht war. Was für ein Stutzer! Tom Tenessy lebte nun schon über fünfzig Jahre im amerikanischen Westen, hatte viel gesehen und manches erlebt, konnte sich aber nicht erinnern, jemals schon einem solch elegant gekleideten Boy begegnet zu sein. Die Kopfbedeckung dieses blutjungen Mannes bestand aus teuerstem Panamafilz, der hierzulande nur von durchreisenden reichen Fremden getragen wurde. Die Krempe verlief geradlinig, nicht im gewohnten Schwung der Cowboyhüte, sein Anzug musste im vornehmsten Tailorshop der Hauptstadt angefertigt worden sein. Ein blendend-weißes Seidenhemd, das anstelle des landesüblichen Halstuches von zarten Spitzen überdeckt war, vervollständigte das Ganze. Überflüssig zu sagen, dass die Beine in schmiegsamstem Leder steckten, und natürlich fehlten auch die weißen Handschuhe nicht, ohne die sich ein echter Gentleman nicht sicher in der Öffentlichkeit zu bewegen können glaubt. Und dann betrachtete Tom Tenessy das Gesicht. Es war beinahe mädchenhaft hübsch, und wäre das millimeterschmale Bärtchen auf der Oberlippe nicht gewesen, man hätte schwanken können, welcher Kategorie der menschlichen Spezies diese stutzerhafte Gestalt zuzurechnen sei.
In diesem Augenblick jedoch ahnten Tom Tenessy und die ganzen Spielerexistenzen von Wako und Umgebung noch nicht, was dieser höchst vornehm gekleidete junge Mann für sie bedeuten sollte, denn in Wako begann die Laufbahn eines Spielers, wie dort keine je bekannt geworden war. Bescheiden fragte er, ob seine Partnerschaft erwünscht sei.
„Hast du Geld?“, fragte „Whisky-Jack“.
„Fünfzig Dollar“, lächelte der Jüngling, während er ein Taschentuch hervorholte, um jenen Stuhl sauber zu wischen, auf den er sich setzen wollte.
„Er hat seine Sparbüchse aufgebrochen“, lachte der eine „Zwilling“, während der andere vergnügt an seiner erkalteten Zigarette kaute. Der Anblick dieses verwöhnten Millionärssöhnchens, wie er es vor sich zu haben glaubte, hatte ihn wieder fröhlich gemacht.
„Keine Sorge, Gents“, erklärte der also Verkannte, „auch mir hat ein lieber Freund das Scheinchen geschenkt …“
Tom Tenessy kniff die Augen zusammen. Der Boy hatte also das Gespräch mit „Whisky-Jack“ mit angehört. Er konnte feine Hiebe austeilen, das war gefährlicher Humor. Der Säufer schien nicht mehr zu wissen, was er sagte, der Whisky musste sein Hirn schon völlig umnebelt haben.
„Der Boy hat auch fünfzig Dollar…, hupp!“, grölte er, „das kann ein feines Pokerspiel geben. Wer hat zuletzt gewonnen? Tom natürlich. Mein lieber Freund Tom …, hupp …, soll geben …“
Die ersten drei Spiele, in denen mäßig gereizt wurde, gingen an „Whisky-Jack“, die nächsten drei an Tom Tenessy, und von nun an konnte keiner der Teilnehmer mehr eine Pokerpartie gewinnen. Weitere Spieler schalteten sich ein, auch der Keeper hielt so lange mit, bis er um hundert Dollar leichter war, dann blieb nur noch das lebendige Ebenbild Abraham Lincolns übrig. Nach einer Stunde hatte auch er keinen Cent mehr in der Tasche. Über dreizehntausend Dollar hatten den Besitzer gewechselt.
Fassungsloses Staunen breitete sich über die ganze Kneipe. Immer mehr Neugierige drängten ins Lokal. Die Nachricht von der Glückssträhne des weibisch gekleideten Mannes, der kaum älter als sechzehn oder siebzehn Jahre sein konnte, lief durch die ganze Stadt. Alles, was sich einbildete, Glück im Spiel zu haben, strömte herbei. Man hatte den Verdacht, Chris Loone, der Spielerkönig von Nevada, habe sich nach Wako verirrt. Chris Loone musste aber bereits die doppelten Lebensjahre zählen, da ja schon seit über fünfzehn Jahren von ihm die Rede war. Oder vielleicht gab „Spieler-Joe“ in der Kneipe des „Buckligen Jim“ ein kurzes Gastspiel? „Spieler-Joe“, der drunten in Chapel Hill in der Nähe des Brazos River sein endgültiges Domizil aufgebaut hatte. Aber auch er musste viel älter sein als der blutjunge Boy, der soeben dabei war, sämtlichen berufsmäßigen Falschspielern von Wako ihre in mühsamen Kleinpartien ergaunerten Gewinne aus der Tasche zu ziehen.
Wer war der Fremde?
Er sah nicht aus wie ein Texaner, nicht wie einer, der schon jemals harte Arbeit geleistet hatte. Ein Berufsspieler also? Ein Falschspieler?
Sein nächstes Opfer war Ernest Tompson, ein Preiswucherer, der in Wako als Geldverleiher tätig war. Trotz seines sprichwörtlichen Geizes konnte dieser üble Halsabschneider seine Leidenschaft für das Pokerspiel nicht ganz unterdrücken. Als er von den Erfolgen des eleganten Fremden hörte, war er nicht mehr zu halten –, nach einer knappen Stunde war er um zwanzigtausend Dollar ärmer. Die Bevölkerung stand Kopf, die gleiche Bevölkerung, die zum überwiegenden Teil dem Glückstisch fernblieb, es aber nicht lassen konnte, wenigstens aus respektabler Entfernung die „Schlachten am Grünen Tuch“ zu verfolgen. Noch nie hatte Ernest Tompson so hoch gespielt, so viel gewagt. Der Verlust musste ihn, den widerlichen Geizhals, empfindlich treffen. Hatte er nun genug? Augenzeugen berichteten: Als der letzte Dollar den Besitzer gewechselt hatte, saß Ernest Tompson wie eine hässliche Qualle auf seinem Hocker, mit eingezogenem Schädel, in dem die vor Wut blutunterlaufenen Augen rollten. Sein verquollenes Wucherergesicht war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Und dies war umso auffallender, als die jugendlichen Züge seines Gegners etwas von jener überlegenen Ruhe ausstrahlten, die nur sieggewohnten Naturen eigen ist.
„Schade, Mister Tompson“, hörte der Geschlagene, „warum haben Sie nicht mehr Geld mitgenommen? Die Pechsträhne kann wechseln. Nichts ist so wankelmütig wie das Glück im Spiel …“
„Ich habe ein Haus … in der Dallas Street … mit zwei Stockwerken …“, presste der Wucherer mit hochrotem Kopf heraus.
„Das hat er Hart Devon abgegaunert …“, mischte sich eine Stimme aus der Reihe der Kiebitze ins Gespräch.
Ein wütender, finsterer Blick traf den Vorlauten, der sich aber im Schutz der Menge nicht vor Tompson fürchtete. Hart Devon war infolge Krankheit in Zahlungsrückstand gekommen, ein Umstand, den der Wucherer für seine schmutzigen Zwecke missbraucht hatte. Wer länger als acht Tage ins Hintertreffen geriet, verlor das beliehene Objekt, ganz gleich wie viel er darauf schon abbezahlt hatte. Tompson verlieh kein Geld ohne dieses Zugeständnis. Die ganze Stadt wusste davon, obgleich dieser Halsabschneider immer neue Opfer fand, denn die Not seiner Mitmenschen war sein Bundesgenosse.
„Zwanzigtausend Dollar dagegen“, hielt der Fremde.
„Also ,One Poker’?“
„Die nächste Partie gewinnt – ohne Kaufen, ohne Reizen …“
Ernest Tompson nickte, unselige, blind machende Spielerleidenschaft in den aufgeregt zitternden Lidern. Die Spannung wuchs. Unruhe packte die Umstehenden, denn nun hatten sie Gelegenheit, eine jener Partien zu erleben, die wirkliches Aufsehen erregten, und von denen man noch wochenlang sprechen sollte. Die Luft war plötzlich wie mit Elektrizität geladen, deren zündende Funken von Tisch zu Tisch, von Reihe zu Reihe, ja von Haus zu Haus flogen.
„Es gilt!“, sagte der Fremde.
„Gilt!“, wiederholte Ernest Tompson.
Damit war die Gültigkeit des Einsatzes dokumentiert. Ein stattlich gewachsener Mann schob sich aus der Mauer der atemlos gaffenden Zuschauer; der Sheriffstern blinkte an seiner Weste. Der Hüter der Gesetze von Wako war ganz nahe an den Spieltisch herangetreten.
„Boys“, sagte er mit hohl klingender Stimme. Oder klang sie nur so dumpf infolge der eingetretenen Stille? „Ich ermahne zur Ehrlichkeit. Mit Falschspielern machen wir hier kurzen Prozess, das ist überall bekannt. Die Personen interessieren mich nicht, nur die Methode. Ich verstehe etwas vom Pokerspiel und werde unverzüglich meines Amtes walten, wenn ich irgendeinen Kunstgriff entdecke. Es ist nichts so fein gesponnen …“
Sheriff Lee meinte es ernst, aber was wusste er schon von den geradezu unsichtbar gesponnenen Netzen in den Fingern der Lieblingskinder Fortunas? Nicht viel, das ist sicher. Mit Argusaugen verfolgte er das Mischen. Zuerst mischte ein Unbeteiligter, dann – er bestand darauf – Ernest Tompson. Das Kartenpaket wurde in die Mitte gelegt, wer das erste As abheben konnte, hatte Vorhand im Geben. Tompson zeigte die Kreuz-Neun, der Fremde dagegen gleich beim ersten Anhieb das Karo-As.
„Schwindel“, knurrte eine Stimme laut. Sie gehörte Tom Tenessy, der ebenfalls unter den Kiebitzen stand. Harte Püffe ließen ihn verstummen.
„Wir unterhalten uns nachher“, reklamierte der elegante Fremde auf diese unerhörte Herausforderung, ohne vom Spiel aufzusehen. Über fünfzig Augenpaare hingen wie gebannt an den Fingern des Gebers. Wie makellos gleichmäßig, wie wohltuend für Auge und Ohr die Karten durcheinanderrauschten.
Fünf Karten hier …, fünf Karten dort –, der Rest kam in den Pott.
Nun lagen sie noch verdeckt vor den gierigen Augen der Umstehenden. Was waren es für Werte? Das Spiel war ehrlich, hier konnte nicht gemogelt werden. Zu viele „Fachleute“ standen im Rund, sie hatten die kleinsten Bewegungen, die feinsten Regungen der Hände der beiden Spieler kontrolliert. Der Sheriff war zufrieden. Seine Faust, auf dem Knauf seines Coltrevolvers gelegt, um sekundenschnell bereit zu sein, wenn sein Eingriff notwendig werden sollte, löste sich. Die Karten lagen auf dem Tisch.
„Finger weg!“, kommandierte er. Er selber wollte es sein, der sie auf den Rücken drehte, um den Sieger festzustellen.
Ernest Tompson hatte eine wirre Partie, eine völlig wertlose Karte. Der Fremde dagegen ein Full House, drei Buben verschiedener Farben und zwei Damen. Er hatte gewonnen. Applaus brach los, tosender Jubel, denn es war keiner in der Kneipe, der Ernest Tompson nicht diese vernichtende Niederlage gegönnt hätte. Tompson glotzte mit stieren Blicken auf die Tischplatte, die ihn wie ein fürchterliches Schicksal beraubt hatte. Ein unterdrücktes Ächzen entrang sich seinen wulstigen Lippen. Er sprang auf, wollte schreien, besann sich aber und bahnte sich unter dem schadenfrohen Gelächter einer sich ständig vergrößernden Menge eine Lücke in die Reihen der Gaffer, eiligen Schrittes, wie gehetzt den Raum verlassend.
Und der Fremde?
Er saß immer noch am gleichen Platz, ordnete fein säuberlich das Häufchen Banknoten, um es in die Tasche zu stecken.
„Sie sind ein Glückspilz, Fremder“, sagte der Sheriff, „darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Ich bin Neff Cilimm.“
„Neff Cilimm?“ Sheriff Lee kramte in seinem Gedächtnis. Neff Cilimm? Diesen Namen hatte er doch schon einmal gehört. War da nicht erst kürzlich droben in Kentucky ein Überfall bekanntgegeben worden? Richtig, ein dreister Überfall auf ein Fort, bei dem irgendwie der Name Neff Cilimm vorgekommen war. Aber vielleicht täuschte er sich auch. Er nahm sich vor, wachsam zu sein und Nachforschungen anzustellen. Dessen ungeachtet gönnte er dem jungen Mann das Glück. Vielleicht hatte es dieses Spiel zuwege gebracht, dem Treiben eines verbrecherischen Wucherers ein Ende zu setzen. Das wäre Segen genug für viele brave, anständige Menschen.
„Gefällt Ihnen mein Name nicht, Sheriff?“, wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
„Namen kann man wechseln wie schmutzige Hemden“, antwortete der Sheriff, „Namen allein sind nicht so interessant …“
„Warum haben Sie dann danach gefragt?“
„Nun …, hm …“ Der Sheriff kam aus dem Konzept. Die unheimliche Ruhe des Jünglings machte ihn irre, der im Übrigen schon wieder die Karten mischte, als wollte er sich fürs nächste Spiel rüsten. „Verdammt“, fuhr Lee die Umstehenden an, „was steht ihr hier und glotzt wie die Giraffen! Noch nie ’nen Spieler gesehen, wie?“
„Spieler schon“, knurrte Tenessy, „aber so erfolgreich?“ Er wandte sich an seine Freunde. „He, Boys, kann so was noch normal und natürlich sein?“
„Was wollen Sie damit sagen?“, blickte Neff forschend zu ihm auf.
„Dass Sie ein verdammt geschickter Schnellfinger sind!“
„Das stimmt.“ Neff Cilimm erhob sich. „Stimmt genau. Wie schnell meine Finger sind, sollen Sie jetzt gleich erleben …“
Ehe es der Sheriff, ehe es die umstehenden Freunde Tenessys verhindern konnten, hatte Neff Cilimm seinen Beleidiger an der Jacke gefasst. Ein kräftiger Ruck – niemand hätte der eleganten Erscheinung diese erstaunliche Kraftleistung zugetraut – und der Spieler wurde in die Knie gerissen. Die Rechte Cilimms fuhr in die Rocktasche des Überwältigten, brachte ein Team, bestehend aus fünf Blättern zum Vorschein, warf es auf den Tisch. Es war ein fehlerloses Flush. Ein weiterer Griff brachte ein Straight, also wieder eine vorbereitete Kartenfolge beginnend mit der Ziffer drei ans Licht.
„Schwindel!“, kreischte der Überführte, „faule Taschenkunststücke …“
Eine schallende Maulschelle, die den Schädel Tom Tenessys ruckartig zurückschnellen ließ, machte sein Gebrüll verstummen.
„Sheriff!“, rief Cilimm, während er mit schraubstockartiger Umschlingung die Arme des Falschspielers festhielt, „schauen Sie in seiner Hosentasche nach –, da sind noch höhere Werte drin –, hab’ den Burschen schon beim ersten Spiel durchschaut …, ein simpler Anfänger ohne Fantasie …“
In der Tat, Sheriff Lee brachte ein Straight Flush in Karos mit dem As als höchste Karte ans Tageslicht.
Abermals begann der Überführte zu kreischen, zu toben, und versuchte, wild um sich zu schlagen.
„Du bist verhaftet, Tom Tenessy“, fuhr der Sheriff scharf in den allgemein einsetzenden Lärm, „wegen fortgesetzten Falschspiels. Endlich haben wir Beweise. Endlich!“ Lee versicherte sich des Colts des Inhaftierten, dabei fiel ihm ein weiteres Kartenteam in die Hände, ein einfaches Triplet, das in den meisten Fällen ausreichend war, ein hochgereiztes Spiel zu gewinnen. Derbe Fäuste griffen nach Tom Tenessy, zerrten ihn fort, stießen ihn nach draußen. Man machte mit überführten Falschspielern wenig Federlesens; zu viele Bürger von Wako waren von ihm geschädigt worden. Der Sheriff begleitete den Zug der wütenden Menschen zum Gefängnis, um zu verhindern, dass Richter Lynch in Aktion trat. Der Strick war diesen hinterhältigen Verbrechern sicher, doch vorher sollte die Jury ihren Urteilsspruch fällen. –
– – –
Am nächsten Morgen gab es zwei Tote in Wako.
Neff Cilimm, über Nacht in aller Munde, war gerade dabei, im General Store von Mister Miller einige unbedeutende Einkäufe zu machen. Der Chef des Hauses bediente ihn persönlich. Ein goldrot kariertes Halstuch hatte es dem plötzlich so berühmt gewordenen Spieler angetan. Mister Miller wusste, was er diesem Kunden schuldig war. Die Zierde des männlichen Halses kostete eigentlich nur einen Dollar. Aber hatte dieser Neff Cilimm in der vergangenen Nacht am grünen Tisch nicht ein Vermögen gewonnen? Was bedeuteten da schon fünf Dollar für ihn? Nichts. Spielergeld ist leichtes Geld. Warum sollte Mister Miller für das prachtvolle Stück nicht diese Summe verlangen, obwohl es deutlich mit einer „1“ gezeichnet war? Mit einem schnellen Griff entfernte er den Preiszettel und ließ ihn unbemerkt in seiner Rocktasche verschwinden. Der Kunde hatte nichts gemerkt. Immer wieder ließ der junge Mann das bunte Tuch zwischen seinen Fingern hin- und hergleiten, dann warf er wie verlangt einen Fünf-Dollar-Schein auf den Tisch. Mister Miller fasste danach, steckte ihn in seine Tasche. Der Käufer empfahl sich mit einem freundlichen Nicken. Oh, Mister Miller wusste, was er seinen Kunden schuldig war. Er begleitete Mister Cilimm zur Tür. Vor der Schwelle stolperte der also Geehrte, und gerade noch konnte Mister Miller durch kräftiges Zupacken sein Hinfallen verhindern. Mister Cilimm entschuldigte sich, grüßte noch einmal kurz und herzlich, um sich dann schnellen Schrittes zu entfernen. Mister Miller rieb sich froh die Hände. Er freute sich immer, wenn es ihm gelungen war, ein besonders gutes Geschäft zu machen. Die Höhe der Summe spielte dabei keine Rolle, nur die Höhe der erzielten Prozente. Er fasste in die Tasche, holte den Schein hervor, verhielt überrascht in seinen Bewegungen –:
Er hielt einen Dollarschein zwischen den Fingern. Verdammt – er hatte doch eine Fünf-Dollar-Note erhalten! Er kramte in seiner Tasche, drehte sie um und um. Aber es blieb beim lumpigen Ein-Dollar-Schein. Ärgerlich fuhr er ans Kinn, streifte dabei seinen Kragen. Hier fehlte etwas. Richtig, seine Krawatte. Sie war weg. Verdammt, sie war ihm abhanden gekommen. Stattdessen knisterte Papier unter seinen suchenden Fingern, ein Zettel. Er riss ihn aus der Öse, es war der Preiszettel, den er vorhin hatte verschwinden lassen.
Kichern im Hintergrund. Sein blamabler Reinfall war also nicht ohne Zeugen geblieben.
„Elender Taschenspieler“, knurrte er wütend, und dieser Ausbruch seiner gekränkten Kaufmannsseele ließ eine Welle schallenden Gelächters laut werden. Ein Plastron aus Papier war ja weiß Gott kein Schmuckstück unter einem würdigen Kinn.
Neff Cilimm war indessen auf die Straße getreten. Er überquerte sie, erreichte sein Pferd, das auf der gegenüberliegenden Seite angehalftert war. Da geschah es:
Aus einer dunklen Häusernische war plötzlich ein Mann gesprungen, dessen Fäuste zwei Coltrevolver hielten. Der erste Schuss traf glücklicherweise nicht, die Kugel streifte nur den Stetson Neff Cilimms. Zu einer zweiten reichte die Zeit nicht mehr. Kaum war die verräterische Detonation aufgeklungen, als sich der Überfallene blitzschnell zu Boden warf. Noch ehe sein geschmeidiger Körper auf der Erde auffiel, spuckten seine eigenen Colts bereits Tod und Verderben. Der Bandit ließ plötzlich die Waffen fallen, seine Schultern zuckten schmerzvoll zusammen, er machte noch ein paar Schritte, taumelte, krachte aufs harte Pflaster. Er hatte zum letzten Mal in diesem Leben auf einen ahnungslosen Fremden geschossen.
Dutzende Straßenpassanten hatten den Vorgang beobachtet. Beim Krachen der Schüsse hatten sie sich gewohnheitsgemäß platt an die Hauswände gedrückt oder waren bewegungslos stehengeblieben. Nun umringten sie den Geretteten, beglückwünschten ihn. Der Tote wurde auf den Rücken gelegt. Man erkannte in ihm einen weit bekannten Strolch namens Pat Nelson, der von Sheriff Lee schon seit vielen Wochen fieberhaft gesucht wurde. Leider konnte er nun nicht mehr aussagen, in wessen besonderem Auftrag er gehandelt hatte.
Die Kunde vom Attentat auf den neuen Spielerkönig von Wako verbreitete sich mit Windeseile über die Stadt. Man ahnte aber am frühen Morgen noch nicht, dass Pat Nelson nicht der einzige bleiben sollte, der durch die Hand dieses erstaunlich schnellen und treffsicheren Schützen in ein besseres Jenseits befördert werden sollte. Die Ereignisse überstürzten sich. Drei Pokerspieler, von denen man wusste, wie erfolgreich sie in den letzten Monaten am grünen Tisch des „Buckligen Jim“ waren, hatten Neff Cilimm herausgefordert. Innerhalb einer knappen Stunde waren sie so arm wie Kirchenmäuse, sie besaßen nicht einmal mehr die wenigen Cents, um ihren Whisky bezahlen zu können. Dann erlitt der neugebackene Heros von Wako seine erste Niederlage – gegen Hart Devon.
Er war der Mann, dem einmal das Haus in der Dallas Street gehört hatte, ehe der Wucherer Ernest Tompson seine Wege kreuzte. Hart Devon war kein Spieler, aber er forderte sein Schicksal mit lauter, nicht zu überhörender Stimme heraus. Fünfhundert Dollar waren sein ganzer Besitz. Er wollte sie wagen. Mister Cilimm möge ihm die Chance geben, sein ihm auf solch üble Art und Weise abgegaunertes Eigentum wieder zu erringen. Fünfhundert Dollar. Lächerlich. Neff Cilimm würde sie wohl bereits nach wenigen Minuten zu seinem übrigen Vermögen stecken können. Hart Devon war der erste Gast der Spielerkneipe gewesen. Seit Stunden schrie er nun schon seine Herausforderung durch das geöffnete Fenster. Der neue Besitzer des Hauses – seines Hauses – musste sie vernehmen. Und er vernahm sie. Zuerst aber waren die drei Gents mit der erfolgreichen Spielerlaufbahn an der Reihe. Dann erst wollte er gegen den revanchelüsternen Hart Devon antreten.
Nun war es soweit.
„Ich habe nur fünfhundert Dollar –, es ist mein ganzes Vermögen …, alles andere hat …“
„Ich weiß, Mister Devon.“
„Ich setze sie aber nur, wenn Sie das Haus in der Dallas Street dagegen halten.“
„Ein ungleicher Wert –“
„Ich weiß. Ich bitte Sie, Mister Cilimm –, mir sind die fünfhundert Dollar wertvoller als Ihnen der Haufen aus Stein und Ziegeln …“
„Eine eigenartige Logik.“
„Nehmen Sie an, ich bitte Sie!“
Vor Neff saß ein Verrückter. Der Verlust seines Eigentums musste ihn hart getroffen haben. Die Umstehenden warnten, wollten ihn vom grünen Tisch wegzerren, sie schimpften ihn einen verbohrten Narren, der sich und seine Familie noch mehr ins Unglück stürzen würde. Hart Devon aber blieb starrköpfig.
„Meine fünfhundert Dollars gegen das Haus“, schrie er, Verzweiflung in den Augen, „setzen Sie im ,One Poker’ dagegen – wie die Karten fallen, das Schicksal soll entscheiden …“
Neff Cilimm nickte.
„Wie Sie wollen“, sagte er mit undurchsichtigem Gesicht. Man hatte den Eindruck, dieses blutjunge Spielergenie hatte kein Herz, kein Mitgefühl. Wie unheimlich ruhig, wie gleichgültig er die Karten mischte, wie lässig er das Paket vor Hart Devon warf, damit auch er die Blätter durcheinanderwirbeln ließe.
Dann kam die Überraschung. Hart Devon gewann. Zwar nur knapp, aber er hatte die höheren Werte. Ein Jubelruf, ein Schrei der Dankbarkeit an das Schicksal, das sein Flehen erhörte. Nie, nie – schwor er – wollte er wieder Karten anfassen, nie wieder halsbrecherische Geschäfte mit zweifelhaften Geldverleihern machen. Der Himmel hatte alles wieder zum Besten gekehrt. Mit zitternden Fingern raffte er seine fünfhundert Dollars auf, zerknüllte sie zwischen den Fäusten.
„Lebt wohl“, jauchzte er, „ihr seht mich nicht wieder!“
Diesmal waren die Sympathien der Zuschauer bei dem Überglücklichen, man gönnte ihm den Gewinn. Wie erstaunlich –, der Wunderspieler hatte eine bedeutende Partie verloren! Bis jetzt waren es nur nebensächliche Teams, solche ohne nennenswerte Einsätze oder mit Spielern, die nichts wagten, denen das Pokern nur zum Zeitvertreib diente, die von Neff Cilimm aufgegeben oder verloren wurden. Sein Spielerglück war also nicht ohne Grenzen. Das beruhigte die Gemüter und ließ die Leute wieder befreit aufatmen. Ein Mensch, der jedes Pokerspiel gewann, wäre auch eine zu unheimliche Erscheinung gewesen.
Neff Cilimm verlor an diesem Tage noch etliche Male. Einige Farmer, die gegen ihn ein paar Dollar in den Pott legten, konnten bescheidene Gewinne buchen. Fred Karman, seines Zeichens Straßenkehrer von Wako, hatte das unverschämte Glück, gleich tausend Dollar einzustreichen. Er konnte sie dringend brauchen. Genau diese Summe hatte kurze Zeit vorher Line Coling, eine dunkle Existenz, von der man nicht wusste, wie sie sich fortbrachte, an den neuen Spielerkönig abgeben müssen.
Pastor David Evergreen, der Vorstand einer kleinen Kirchengemeinde, konnte an diesem Abend seiner erfreuten Gläubigerschar mitteilen, dass ein Fremder eine stattliche Summe für wohltätige Zwecke gestiftet habe. Sie sollte dazu verwendet werden, nun endlich den längst geplanten Hort für elternlose Kinder ins Leben zu rufen.
Leider aber hatte Pastor David Evergreen an diesem gleichen Abend noch eine weitere Pflicht zu erfüllen, eine weniger glückliche: Er wurde ans Sterbelager eines tödlich Verletzten gerufen. Es war das zweite Mal an diesem ereignisreichen Tage. Das erste Mal, als gegenüber dem General Store von Mister Miller ein weithin berüchtigter Verbrecher sein verpfuschtes Leben aushauchte, und nun …
– – –
Als sich die Gefängnisgitter hinter Tom Tenessy geschlossen hatten, waren im Sheriff-Haus zwei aus tiefster Seele kommende Seufzer zu vernehmen. Der erste kam aus dem Munde von Sheriff Lee: Er war sehr froh, den Inhaftierten in sicherem Gewahr zu wissen. Das Lynchen eines überführten Falschspielers gehörte nämlich zu den Alltäglichkeiten im Goldenen Westen. Und das zweite befreite Aufatmen stammte von Tom Tenessy. Auch er war froh, hinter kräftigen Gittern Schutz gefunden zu haben. Damit war viel gewonnen. Gottlob wusste niemand in Wako Näheres über ihn, über seine Vergangenheit, über seine Freunde. Nur wenigen war bekannt, dass John Silver seine Tätigkeit in diese Gegend verlegt hatte, und niemand ahnte, wer der Mann, der wie Abraham Lincoln aussah, in Wirklichkeit war. John Silver hielt große Stücke auf ihn. Er nannte ihn nur Tom, und manchmal auch Tommy, wenn er besonders zufrieden war.
Tommy war der beste Revolvermann der Bande. Unzählige Male hatte er seine Freunde aus üblen, ja aussichtslosen Lagen durch seine Schießkunst herausgehauen. Der Ruf Tommys übertraf den von „Old Finely“ bei Weitem, wenn er auch nicht an den legendären von „Blitz-Sunny“ heranreichte. Nun saß er in der Patsche. Die Gefängnisgitter von Wako waren stark und mit doppelten Schlössern gesichert. Ohne Hilfe von außen war es nicht möglich, sich zu befreien. Ein Glück, dass José die Verhaftung des Komplizen miterlebt hatte. Nun musste John Silver über das Pech seines treuen Paladins bereits im Bilde sein, wenn er es auch nicht verstehen würde. Tom Tenessy verstand es selber nicht. Zu schnell und unabwendbar war das Unheil über ihn gekommen. Sich mit dem Colt zu wehren, hätte keinen Zweck gehabt, er wäre von der aufgebrachten Menge in Stücke gerissen worden.
Mit Sehnsucht erwartete er nun die Nacht. John Silver würde ihn nicht im Stich lassen, davon war Tom Tenessy fest überzeugt. Und er sollte sich nicht getäuscht haben. –
– – –
Die Nacht war kühl. Dichte Wolken hingen am Himmel und schon begann es leicht zu regnen. Die Straße zwischen den niedrig gebauten Häusern der Stadt war menschenleer. Nur in der Kneipe „Zum buckligen Jim“ brannte noch helles Licht. Die Leidenschaften kamen nicht zur Ruhe, und solange der Dollar rollte, herrschte lebhaftes Treiben um den berühmten grünen Tisch von Wako. Das Geräusch der klatschenden Spielkarten nahm Tag und Nacht kein Ende.
Es waren nur noch harmlose Spiele, die ausgetragen wurden. Neff Cilimm saß schläfrig in der gepolsterten Sitzecke und betrachtete mit müden Blicken das uninteressante Tun seiner Umgebung. Schon längst hatte er sich entfernen wollen, aber seltsamerweise konnte er sich nicht gegen das Gefühl wehren, noch hier bleiben zu müssen. Irgendetwas lag in der Luft, er spürte es deutlich. Mitternacht war schon vorüber, da drang lauter Lärm die Straße herunter. Die Spieler unterbrachen ihre Partien, eilten an die Fenster. Dunkle Schatten huschten die Häuserreihen entlang, es waren die Silhouetten von Reitern, die im Galopp die Central Street der City entlangpreschten. Der Lärm kam aus der Richtung des Sheriff-Hauses. Jetzt krachten Schüsse, Kommandostimmen wurden laut, heisere Rufe, die nach Hilfe schrien. Was war geschehen? Ein Überfall? Aber die City-Bank lag im Süden, ebenso die Büros der Handelsunternehmungen, der Viehzüchter, der Minengesellschaften. In jener Richtung, aus der es lärmte und krachte, lag als wichtigstes Gebäude nur das Sheriff-Office. Sollte vielleicht …?
Einer rief den Namen, aber die andern winkten ungläubig ab: Tom Tenessy –? Gar nicht denkbar …
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Die Reiter jagten wie eine Horde Kentauren durch die Nacht. Gelungen! Der Überfall und die Befreiung Tom Tenessys waren geglückt. John Silver selbst war es gewesen, der sich als erster Zugang zum Office verschafft hatte. Die Wächter waren entwaffnet, noch ehe sie an Gegenwehr denken konnten. Nur der Sheriff hatte Schwierigkeiten gemacht, als die Banditen in seinen Schlafraum drangen, sich der Schlüssel zu bemächtigen. Er wurde brutal zusammengeschlagen. Der Rest der Befreiungsaktion war nur eine Angelegenheit von Minuten.
Die Banditen brachten Tom zu den Pferden, und nun erst entstand Lärm. Ein dritter Wächter war im oberen Stockwerk des Sheriff-Hauses postiert. Er schrie um Hilfe, gab blindlings Schreckschüsse ab –, ein blitzschnell abgefeuerter Coltschuss Tom Tenessys verwundete ihn, warf ihn gegen das knarrende Treppengeländer, ließ ihn zu Boden sinken.
Nun war der Fluchtweg frei. Es durfte keine Sekunde verloren werden, wollte man nicht riskieren, dass die in ihrer Nachtruhe aufgeschreckten Bürger in den Kampf eingriffen.
„Zu den Ausgangsstellungen“, schrie John Silver, „nicht im Trupp! Jeder reitet einzeln … in verschiedenen Richtungen … ohne anzuhalten …!“ Er hatte nicht mit Schüssen und Gegenwehr gerechnet, aber da der Lärm bereits alarmierend gewirkt hatte, wäre ein Verlassen der Stadt im geschlossenen Trupp sicher zum Verhängnis geworden.
Jeder seiner Leute kannte den geheimen Unterschlupf, der Sicherheit bot. Und während die Banditen diesem Ziel zustrebten, hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Auch Tom Tenessy. Er genoss die wiedererlangte Freiheit in vollen Zügen, trotzdem waren seine Gedanken düster, sie schrien nach Rache. Er war ein schlechter Verlierer. Er hatte eine schwere Niederlage einstecken müssen, die nach Revanche lechzte. Nicht nach Revanche am Spieltisch, sondern nach Vergeltung in seinem Sinn. Dieser fingergewandte Boy sollte dafür zu büßen haben, und zwar sofort! Tom Tenessy wusste es: Er würde nicht mehr ruhig atmen können, solange diese Schmach nicht getilgt war. Dieser gewiegte Spieler hätte sich damit begnügen sollen, ihm die soeben ergaunerten Gewinne wieder abzunehmen. Damit hätte sich Tom Tenessy abgefunden. Er hatte eben einmal seinen Meister gefunden. Wozu aber die in Falschspielerkreisen verfemte Methode der Entlarvung eines weniger gewandten Partners? Das war es, was nach Rache, nach blutiger Vergeltung schrie.
Tom Tenessy kannte den Befehl des Chefs. Er hatte sich, ohne auch nur einen Augenblick anzuhalten, aus der Stadt zu entfernen, um in kürzester Zeit den Sammelort der Bande zu erreichen. Die Kneipe des „Buckligen Jim“ aber lag auf seinem Fluchtweg. Was schadete es, wenn er eine kurze Sekunde anhielt? Er würde dann durch einen raschen Galopp den Zeitverlust wieder wettmachen. Er konnte ganz einfach nicht anders, er musste das tun, wonach sein Inneres verlangte. Schon tauchte im düstern Licht der Sterne die schattenhafte Silhouette der Kneipe auf, er zog die Zügel des Hengstes straff, das erschreckte Tier bremste in vollem Galopp, stieg mit den Vorderbeinen in die Luft, drehte sich im Kreise. Der Reiter sprang aus dem Sattel. In langen Sätzen erreichte er die Pendeltür. Licht drang ins Freie, Licht, das ihn leitete. Er schlug derart ungestüm gegen die schwachen Bretter der Tür, dass es knirschte und splitterte – dann stand er im Inneren der Kneipe.
Nur noch wenige Gestalten lungerten zwischen den Tischen. Der Anblick des hochgewachsenen Tom Tenessy, der in unmissverständlicher Haltung, mit grimmiger Gebärde und drohend über seinen Colts geballten Fäusten am Eingang stand, lähmte ihre Bewegungen, ließ ihre Mienen, ihre Gedanken erstarren. Der Hauch des Todes lag in der Luft, gleich dem Odem des Teufels, der aus der Hölle aufgefahren war, sein ihm verpfändetes Opfer zu holen.
Die zusammengekniffenen Augen Tom Tenessys fielen auf die Gestalt Neff Cilimms. Er frohlockte –, der so sehnlichst Gesuchte war noch da. Sein Vergeltungsdrang hatte ihm verdammt den richtigen Weg gewiesen.
„Hier bin ich wieder“, grunzte er, „habe noch ein paar versteckte Teams in der Tasche … He, hörst du, Bursche…, in der Holftertasche! Bin gekommen, sie dir zu zeigen!“
Neff Cilimm hatte seine Haltung noch nicht verändert, er hockte immer noch schläfrig in der Ecke, nur mit den Augen war er aufmerksam geworden.
„Schwätzer“, näselte er gelangweilt, „nichts hast du …“
Das war alles. Der Rest war wildes Schreien, Schreckensgebrüll, Inferno. Wie Kanonendonner hallten die knatternden Schüsse durch die Kneipe, fingen sich an den Wänden, warfen polterndes Echo zurück.
Tom Tenessy hatte zuerst zu den Waffen gegriffen. Er musste sich beeilen, er war auf der Flucht. Seine Fäuste, die auf den Colttaschen lagen, lösten sich, krampften sich blitzschnell um die silberbeschlagenen Griffe. Wie von starker Sehne geschnellt, federten die Läufe aus dem Leder.
Und der blutjunge Spieler saß immer noch bewegungslos. Niemand hatte gesehen, woher seine unheimlich flinken Finger die Waffe brachten, und in der riesigen Überraschung hatte kaum jemand auf die Detonation geachtet. Alle sahen nur noch eins: die schreckliche, vernichtende Wirkung. Entsetzt bemerkten es die Gäste: Die Schüsse Tom Tenessys lagen viel zu hoch, und seine soeben noch wutentflammten Augen waren plötzlich starr und ohne Leben. Noch ehe neue Schüsse die Läufe seiner Colts verlassen konnten, hatte ihn bereits das Schicksal ereilt. Der Angegriffene war schneller, war um vieles flinker gewesen. Denn während Tenessy die Druckbügel seiner Waffen durchgezogen hatte, um die tödlichen Kugeln dem verhassten, stutzerhaften Spieler in den Leib zu bohren, war das Blei seines Gegners schon in seinen wutzitternden Körper gedrungen, und seine Schüsse waren weit über Neff Cilimms Kopf hinweg in die verrußte Decke gefahren. Erstaunen lag im Gesicht des tödlich Getroffenen, ein Ausdruck, als habe er nicht im Geringsten begriffen, was geschehen war. Seine Hände sanken kraftlos herab, und mit den zu Boden stürzenden Revolvern sackte seine hohe Gestalt wie eine Pappfigur zusammen.
Mit kalkweißen Gesichtern standen die Zeugen dieses Vorfalls, der sich in Sekundenschnelle abgespielt hatte. Spieler und Kiebitze sind keine Helden, die unmittelbare Nähe des Todes hat für sie etwas grauenhaft Unheimliches. Nur Neff Cilimm schien es nicht zu kennen. Er gähnte, und dann erhob er sich, etwas umständlich, als bedauerte er, nun doch gehen zu müssen.
„Mir war den ganzen Abend“, näselte er schläfrig, „als würde mich noch jemand sprechen wollen. Hm …, und es war nicht mal ’ne Täuschung …“
Er angelte seinen Stetson vom Haken, setzte ihn aufs sorgsam gescheitelte Haar. „Empfehle mich, Gents“, tippte er sich müde mit dem Zeigefinger an den fleckenlosen Hutrand und verschwand.
Entgeisterte Blicke folgten ihm, das Knirschen der ramponierten Drehtür drang als einziger Laut in die lähmende Stille …
– – –
Südöstlich von Wako liegt auf einem schmalen Inselstreifen am mexikanischen Golf die texanische Hafenstadt Galveston. Ein Heer von Arbeitern war damit beschäftigt, groß angelegte Kaianlagen zu bauen, die schlammigen Uferbänke zu beseitigen, die Schiffsanlegeplätze zu erweitern, zu vertiefen und zu befestigen. Hunderte von Baggern brummten von früh bis spät ihr ächzendes Lied. Houston, die prächtig emporstrebende Stadt, deren Einwohnerzahl sich in den letzten fünf Jahren verdoppelt hatte, wollte eine direkte Wasserverbindung zum Meer. Der Bau eines Kanals aber war zu teuer, ein simpler Wasserweg ohne nennenswerte Tiefe tat es auch, der sogenannte „Buffalo Bayou“, der jedoch ständig durch eine Unzahl von Baggern von Morast und Schlamm gesäubert werden musste. Er verband die große Stadt mit Galveston.
Von der sonnenbeschienenen Dachterrasse des „Bill Jeeger Saloon“ aus hatte man einen herrlichen Rundblick über die gesamte Insel, die einer einzigen Baustelle glich. Der Besitzer dieses Lokals hatte richtig kalkuliert. Wo Tausende und aber Tausende Arbeiter, Menschen aus allen Teilen der Erde, einem schweren, aber einträglichen Job nachgingen, mussten Dollars zu machen sein. Es gab keine Vergnügungsstätten in Galveston, wo die Boys ihre sauer verdiente Löhnung in billige Attraktionen umsetzen konnten. Für Musikhallen, Konzertsäle und Theateraufführungen wäre auch kein Interesse vorhanden gewesen. Bill Jeeger wusste, was die Masse wollte. Scharfen Whisky, ein paar leichtfertige Bardamen und – Pokerkarten. Das Geschäft florierte, das heißt, es florierte für den witterungsbegabten Keeper, der den Spieltisch in seiner Kneipe, ein besonderes Luxusexemplar ähnlich dem in Wako, stundenweise gegen eine saftige Gebühr vermietete. Die übrigen Tische waren für die Ausgabe von Speise und Trank reserviert. Kein Wunder, dass sich in „Bill Jeegers Saloon“ alle Spielertypen der Hafenstadt ein Stelldichein gaben. Auch Galveston hatte einen Pokerkönig: „Spieler-Joe“, der vor etwa zwei Jahren von Dallas kommend auf der Insel gelandet war. Er hatte hier sein Glück gemacht. Fortuna musste ihm besonders zugetan gewesen sein, denn es war ihm in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit geglückt, ein wohlhabender Mann zu werden, der sich bereits drei Häuser, riesige Blocks mit nahezu zweihundert Wohnungen, zwei private Spielclubs und einen gut gehenden Drugstore aus seinen Einnahmen gesichert hatte. Nur Chris Loone, der Pokerkönig des Spielparadieses Nevada, hatte ihm gelegentlich eines kurzen Besuches eine schwere Schlappe zugefügt. Diese empfindliche Niederlage – sie hatte „Spieler-Joe“ über dreißigtausend Dollars, sein gesamtes Bargeld, gekostet –, hatte den Sieggewohnten vorsichtig gemacht. Chris Loone hatte wie die Glücksgöttin in höchsteigener Person gespielt, er schien nicht seinesgleichen zu haben, und die Kenner behaupteten, es würde sich auch nie mehr seinesgleichen finden. Ein Meister des Bluffs, verstand er es mit einer Gerissenheit ohne Beispiel durch ein fein ausgedachtes Mienenspiel mit minderwertigen Karten, Teams zu gewinnen und Partner zur Aufgabe zu zwingen, deren Blätter wesentlich besser waren. Auch „Spieler-Joe“ hatte sich den unübertroffenen Bluffer-Eigenschaften dieses Pokergenies beugen müssen. Der Arme hatte Wochen gebraucht, seine Niederlage, die ihm ordentlich in die Glieder gefahren war, zu überwinden. Nun aber befand er sich schon seit Langem wieder auf der aufsteigenden Linie. Schließlich war Chris Loone weit, und für die simplen Boys von Galveston genügten seine Talente.
Bis eines schönen Sommertages eine nachtschwarze Wolke seinen Glücksstern verdunkelte und sein zwielichtiges, geheimnisumwittertes Dasein aus den gewohnten Bahnen warf …
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Von fern her drang das Kreischen der Bagger, deren stählerne Zähne sich knirschend in den Schlamm des „Buffalo Bayou“ gruben. Etwas abseits war auch Bert Timpson dabei, mit seiner scharfen Hacke ein Loch in den festgetretenen Boden zu treiben. Ein Grab. Er war seines Zeichens Totengräber von Galveston, hatte also dafür zu sorgen, dass kein Leichnam länger als vierundzwanzig Stunden im Hospital oder im Sheriffhaus lag. Im Hospital wurden die namentlich bekannten Toten der Stadt aufgebahrt, die fremden oder unbekannten bei Sheriff Kimlett.