Bernd Udo Schwenzfeier
DIE INSEL HINTER DEN WELLEN
Für Brigitte
Prolog
Der Weg nach Castlegregory
Patrick und Francis
Großvater Barry erzählt eine Geschichte
Eine unheimliche Begegnung
Mr. Cummings Buchladen
Huckleberry Finns Höhle
Francis kehrt zurück
Der Aufbruch
Die Landung
Die Insel hinter den Wellen
Grainne
Berg der Versuchung
Ein Traum zerbricht
Die Rettung
Eine bittere Erkenntnis
Das Geschenk
Impressum
Allen Menschen gewidmet,
die sich ihre Phantasie und
ihre Träume bewahrt haben…
Bernd Udo Schwenzfeier
IRLAND
Schönes, wunderbares Land,
Unvergleichlich bist du zu schauen.
Von zarten, duftigen Nebeln
Sind deine Küsten umhüllt.
Vor meinen Blicken taucht das
Silberne Land empor,
Wo wunderbare Edelsteine und
Kristalle auf den Bäumen wachsen.
Die See spült gegen die Küste ihre Wogen,
Von deren Mähnen leuchtender Schaum
herniederfließt …
„Die Inseln der Seligen“
Irischer Dichter (8.Jh. n.Chr.)
Zwischen 600 und 100 v.Chr. eroberten die Kelten von England aus das heutige Irland. Sie galten, besonders bei den Römern, als Barbaren, doch sie hatten eine hoch entwickelte Kultur und sprachen ihre eigene Sprache. An der Spitze der keltischen Gesellschaft standen Könige, unterstützt von ihren Ratgebern, den Druiden, einer Art Priester. Aber auch Barden und Zauberer übten großen Einfluss auf die Mächtigen aus. So waren insbesondere die Barden ein wichtiger Teil der keltischen Gesellschaft, und es stand in ihrer Macht, einen Mann durch ihre Dichtung lächerlich zu machen oder zu einem Helden zu erheben.
Der Barde Eochaidh besang in seinem Lied den grausamen König Fionn und dessen untreue Ehefrau Grainne, die Fionn mit einem Bann belegte und verstieß.
König Fionn McCumhaill lebte um 500 n.Chr. im Südwesten Irlands auf der Halbinsel Dingle. Zu dieser Zeit – es war die Zeit König Arthurs und seiner Tafelrunde auf Tintagel in Cornwall – war Irland in viele kleine Königsreiche aufgeteilt. Fionn gehörte dem Volk der Fionna an, einem alten Stamm der Ureinwohner Irlands. Er war ein Volksheld und schon zu Lebzeiten ein Liebling der Götter und der Barden. Manch schöne und manch schaurige Lieder wurden über ihn gesungen. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er, so erzählt man, auf seinem Königssitz in Almheim gemeinsam mit seinen Jagdhunden.
König Fionn, ein strenger und aufbrausender Mann, stand unter dem Einfluss seines Druiden Couraoi. Fionns Gattin Grainne war eine schöne und anmutig gewachsene junge Frau mit langem dunkelbraunem Haar. Fionn trank viel und führte dann grobe Reden. Mit seinen Getreuen verließ er oft für Tage die Burg um zu jagen und zu fischen. Seine schöne und heißblütige Gemahlin blieb allein zurück. Als Diarmuid während einer längeren Abwesenheit des Königs Grainne und deren Hofstaat beschützen sollte, wurde der junge Mann Grainnes Geliebter. Diarmuid hatte einen Liebesfleck auf seiner Schulter, und jede Frau, die diesen Fleck erblickte, verliebte sich in Diarmuid. Die Liebenden flüchteten aus der Burg, aber König Fionn folgte ihnen. Er forderte Diarmuid zu einem gewaltigen Kampf. Im Verlaufe des Kampfes besiegte Fionn den jungen Diarmuid und schlug ihm ohne Gnade den Kopf ab. Rasend vor Eifersucht wollte er auch Grainne für ihren Treuebruch mit dem Tod bestrafen, verschonte sie aber schließlich auf Anraten seiner Freunde.
Einige Zeit nachdem sich Fionn von Grainne abgewandt hatte, verliebte sie sich in den schottischen Schäfer Seàghan, der von den Hebriden stammte. Sie trafen sich oft heimlich in der beginnenden Morgendämmerung an einem verschwiegenen Ort nahe der Königsburg.
Lange Zeit blieb ihre Liebe unentdeckt. Erst durch die Intrige eines abgewiesenen eifersüchtigen Höflings erfuhr der König von dieser Verbindung. Außer sich vor Wut verbot er Grainne, den unglücklichen Seàghan jemals wiederzusehen, andernfalls, so drohte er, ließe er Seàghan töten und sie für immer auf der Burg einschließen.
Schweren Herzens verzichtete Grainne fortan auf ihren Geliebten. Aber sie musste immer wieder an ihn denken, und als ihre Sehnsucht nicht mehr zu stillen war, traf sie ihn mit Hilfe ihrer treuen Zofe Ethna ein letztes Mal. Sie liebten sich voller Leidenschaft und schworen sich ewige Treue. Aber der König erfuhr durch einen Spitzel von diesem Treffen. Zornentbrannt verbannte er auf Anraten seines Druiden seine treulose Frau auf eine abgelegene, einsame Insel. Dort sollte sie ihr Leben lang für ihre Untreue büßen. Seàghan konnte fliehen und musste sich fortan vor den Schergen des Königs verborgen halten, denn Fionn hatte ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt. Man hörte nie wieder etwas von dem schottischen Schäfer, der das Herz der stolzen Grainne im Sturm erobert hatte. Die Überlieferungen berichten, dass sich der verzweifelte Seàghan von den Klippen ins Meer stürzte und ertrank.
Man brachte die Unglückliche im Morgengrauen auf ein Schiff und setzte sie auf einem geheimnisvollen Eiland aus. Diese Insel, „Insel hinter den Wellen“ genannt, liegt in den unbekannten Ländern des Jenseits, des Tir-nan-Og, irgendwo im westlichen Meer vor Irlands Küste.
Auf Weisung des Königs wurden die beteiligten Männer heimtückisch vergiftet und treue Vasallen ließen die Leichen im nahe gelegenen Moor für immer verschwinden. So beseitigte der König alle Mitwisser.
Mit seiner frevelhaften Tat hatte Fionn aber den Zorn der Götter erregt, unter deren Schutz er stand. So wandte sich Angus, der Gott der Schönheit, der Jugend und der Liebe, von ihm ab. Und Angus war es auch, der im Rat der Götter die Strafe für Fionn festsetzte. So soll Fionns Seele nach seinem Tode nicht in die Ewigkeit aufsteigen, sondern so lange ruhelos auf der Erde umherziehen, bis seine verstoßene Gemahlin aus ihrer Verbannung erlöst wird. Nur durch einen wagemutigen Iren, den Fionn selbst finden muss, kann der Bann, der auf Grainne liegt, gebrochen werden. Aber dazu muss dieser tapfere Mann erst einmal die Insel finden und die Königin aus ihrer verzweifelten Lage befreien.
Seit dieser Zeit fuhren immer wieder junge, tollkühne Iren aufs Meer hinaus, um die unbekannte Insel zu suchen. Viele kehrten unverrichteter Dinge zurück, andere blieben für immer verschollen und bezahlten ihre Sehnsucht nach Grainne mit ihrem Leben.
So hat bis zum heutigen Tage niemand die „Insel hinter den Wellen“ entdeckt …
*
Im Südwesten Irlands, in West Cork und County Kerry, trifft man auf eine wunderbare wild zerklüftete, romantische Landschaft voller warmer Schönheit mit einer dem Mittelmeer ähnlichen Fauna und Flora.
County Kerry, nördlich von Cork gelegen, besitzt viele Berge, steile Klippen aus schwarz glänzendem Schiefergestein und imposante, in den Atlantik hineinragende Landzungen. In der südwestlichsten aller irischen Grafschaften werden auch noch heute die alten Traditionen des Landes gepflegt: Gastfreundschaft, Charakterstärke und das Wissen um die Natur. Westlich der Halbinsel Dingle liegt nur noch der Ozean. Der Seefahrer St. Brendan hat vermutlich von hier aus den Atlantik überquert, lange bevor Kolumbus Amerika entdeckte.
In Kerry wellt sich das Land auf typisch irische Art. Überall gibt es enge Täler, Glens genannt, und niedrige, teilweise bewaldete Bergketten. Tralee ist neben Killarney die größte Stadt in County Kerry. Hinter der Stadt, die an der gleichnamigen Bay liegt, biegt die alte Küstenstraße nach einigen Kilometern scharf rechts ab. Dann führt sie schnurgerade durch die hügelige Landschaft, vorbei an den Slieve Mish Mountains, zur Halbinsel Dingle mit dem gleichnamigen Fischerdorf. Die Hügel leuchten auch bei Regenwetter in sattgrüner Farbe und sind von moosbewachsenen Steinwällen umgeben, die verhindern, dass die wertvolle Bodenkrume durch den ständigen Wind abgetragen und verweht wird. Bei klarem Wetter kann man in einiger Entfernung den Mount Brandon sehen, dessen kahle Spitze eindrucksvoll in den Himmel ragt.
Nach kurzer Fahrt gelangt man an eine schmale Landzunge, die sich weit in den Atlantik erstreckt und die Tralee Bay von der Brandon Bay trennt. An der Straßeneinmündung zum Dorf Castlegregory durchquert man das kleine Örtchen Tullaree, dessen weiß getünchte Häuser sich hell vor dem dunklen Grün der Landschaft abzeichnen.
Unmittelbar hinter einer engen Kurve der Landstraße liegt das reizende Fischerdorf Castlegregory, das durch seine vorzüglichen Hummer weit über die Grenzen von Tralee hinaus bekannt ist. Hohe Sanddünen schützen den Ort von der Meeresseite aus vor den heftigen Frühjahrs- und Herbststürmen. Die Fensterläden und Türen der wenigen Wohnhäuser sind – typisch irisch – mit grellen, bunten Farben bemalt.
Der Landzunge vorgelagert sind die Magharee Islands, eine aus mehreren kleinen, kaum bewachsenen und unbewohnten Eilanden bestehende Inselgruppe. Sie sind umgeben von zahlreichen Sandbänken, und so manches fremde Schiff ist hier schon auf Grund gelaufen. Besonders an der Tralee Bay fällt die Küste steil ab, und der Atlantik ist hier hinter den Inseln unergründlich tief.
Bedingt durch den Golfstrom herrschen hier milde Winter und kurze, mäßig warme Sommer. Die geographische Lage der Insel hat noch eine andere Besonderheit. Es gibt mehr Stunden Tageslicht als an einem anderen Ort in Europa. Die Sonne geht erst kurz vor Mitternacht unter und taucht bei klarem Wetter Himmel und Ozean in ein purpurfarbenes unwirkliches Licht, das sich von Minute zu Minute in unzähligen Farbschattierungen verändert.
*
Der alte Hafen von Castlegregory hat schon bessere Tage gesehen. Er ist baufällig, verwahrlost und dient den Fischern der Umgebung als Ankerplatz für ihre Kutter. Dicht neben dem einzigen windschiefen Lagerschuppen, vor dem einige ausgemusterte und verrottete Boote traurig hin und her dümpeln, steht ein einsames Haus. Es beherbergt den verräucherten Pub „Old Fisherman“. Die irische Kneipe ist der einzige Treffpunkt im Ort, und Anwohner, Fischer und Fremde erzählten sich hier bei regnerischem und stürmischem Wetter bei einem Glas Guinness oder Tullamore Whiskey manch merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte.
Das Leben ist in dieser Ecke des Landes sehr hart und entbehrungsreich und verlangt den Menschen alles ab. Sie leben vom Fisch- und Hummerfang und von einer bescheidenen Landwirtschaft. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich gerade die Iren der Natur so intensiv verbunden fühlen.
Im hügeligen Gelände auf der anderen Seite der Küstenstraße stechen die Bewohner der Ortschaft Torf, der ihnen als Heizmaterial für ihre alten Kanonenöfen dient. Manche von ihnen filtern durch den Torf das Quellwasser für ihren Whiskey, dem das Wasser den unverwechselbaren Geschmack nach der schwarzen heimischen Erde verleiht.
Kurz nach Sonnenaufgang fahren die Fischer mit ihren kleinen Kuttern in die Bay und legen auf den vorgelagerten Sandbänken der Magharee Islands ihre Hummerkästen aus. Tagsüber stellen sie Sportfischern aus der näheren Umgebung oder aus dem fernen Dublin ihre Dienste und ihre Kutter zum Haifischfang zur Verfügung, um ihren kärglichen Tagesverdienst aufzubessern. Hinter dem „Old Fisherman“ verläuft eine mit Feldsteinen gepflasterte Straße. An dieser Straße, inmitten alter, weit ausladender Bäume und meterhoher, rot blühender Fuchsienbüsche, steht halb verdeckt das Haus der Margaret O’Sullivan, die dort mit ihren drei Söhnen Patrick, Shaun, Mark und ihrer einzigen Tochter Maud wohnt. Ihr Ehemann Kevin ertrank vor drei Jahren während eines Sturms, als sein Kutter, ruderlos geworden, in der tosenden See unterging.
Schon Margarets Großvater lebte in diesem Haus, das er mit eigenen Händen erbaute. Seither hat sich das Haus kaum verändert. Lediglich die Öfen sind erneuert, eine Treppe eingebaut und elektrisches Licht verlegt worden. Alle paar Jahre wird die Fassade weiß getüncht und die Fensterläden und Türen erhalten bunte Farbanstriche. Margarets Haus ist ein typisches irisches Landhaus mit jeweils einem Schornstein auf den Giebelwänden. Die Ziegel des Daches waren einmal leuchtend rot gewesen, nun aber hat Moos das Dach völlig mit einer grünen Decke überzogen.
*
Patrick O’Sullivan ist ein kräftiger junger Ire, der seit seiner Kindheit bei jedem Wetter gemeinsam mit seinem Vater und seinen beiden jüngeren Brüdern Mark und Shaun auf dem alten Kutter aufs Meer hinausfuhr, immer auf der Suche nach einem guten Fang. Nach dem Tod seines Vaters hatte er als ältester Sohn den zweiten Kutter übernommen. Der Fischfang hatte zu dieser Zeit rapide abgenommen, weil die Fischgründe vor Irlands Küsten fast erschöpft waren und damit die Wege immer weiter wurden und der Ertrag immer geringer.
Gemeinsam mit seinen Brüdern besserte Patrick, wie viele andere Fischer, mit Hummerfang die knappe Haushaltskasse auf. Den baufälligen Kutter hatten sie in gemeinsamer monatelanger Arbeit wieder in Schuss gebracht. Er war ihr ganzer Stolz. Es ging den O’Sullivans damals nicht gut, aber auch nicht so schlecht, dass sie hätten laut klagen müssen. Patrick hatte von Jugend an Bescheidenheit, die ihm seine Eltern vorgelebt hatten, kennengelernt und wusste sich einzurichten. Mit seiner Familie lebte er in Großvaters Haus. Ihnen gehörten einige Kühe, die für die nötige Milch und Käse sorgten, und die Eier der vielen Hühner, die seine Schwester Maud versorgte, ließen sich gut auf dem Markt von Tralee verkaufen.
Patrick war zu dieser Zeit ein Mann, der mitten im Leben stand und genau wusste, was er wollte. Viel hatte er noch nicht erlebt, sieht man davon ab, dass er schon einige Male in Seenot geraten war. Aber das zählt in dieser Gegend nicht viel. Ab und zu war er in Tralee oder Cork gewesen, aber er träumte davon, einmal nach Dublin fahren zu können. Sein größter Wunsch aber, den er mit den meisten anderen jungen Iren teilte, war eine Reise in die USA, wo einer seiner vielen Cousins und andere junge Männer seines Dorfes lebten und arbeiteten.
Eines Abends saß Patrick missmutig an einem Tisch im „Old Fisherman“ und trank sein Guinness. Der Fang war mager gewesen. Er hatte seit Tagen kein Glück mehr und dachte schon mit Unbehagen an Samson Donovan, den Vorsteher der Fischereigenossenschaft, der sicher wieder seinem Unmut über die geringe Ausbeute Luft machen würde. Und an schadenfrohen Bemerkungen seiner Kollegen würde es auch nicht mangeln, vermutete er.
„Ist ja auch egal …“, murmelte er vor sich hin, trank einen Schluck Bier, steckte sich eine selbst gedrehte Zigarette an und sog tief den Rauch ein. Plötzlich fiel ihm sein alter Jugendfreund Francis McFarland ein, der es tatsächlich zu etwas gebracht hatte. Das war vielleicht ein verrückter Kerl! Manch üblen Streich hatten sie gemeinsam ausgeheckt und sich dabei an Tollkühnheit überboten, sehr zum Leidwesen ihrer Mütter, die mehr als einmal um ihrer beider Gesundheit fürchten mussten. Aber Francis wohnte schon lange nicht mehr in dieser Gegend. Er hatte sich eine große Wohnung in Dublin gekauft. Nur gelegentlich, wenn er für kurze Zeit zum Ausspannen nach Castlegregory zurückkehrte, wohnte er in dem aus Felssteinen erbauten Haus seines Großvaters Barry nahe der Brandon Bay, am Fuße des gleichnamigen Berges. Francis arbeitete als Journalist für eine große Dubliner Tageszeitung. Er hatte die ganze Welt kennengelernt und erzählte Patrick stundenlang von seinen manchmal gefährlichen Erlebnissen in den Krisenregionen der Welt.
Und was ist aus mir geworden, fragte sich Patrick. Ein kleiner, unbedeutender Fischer, der Mühe hat, das Geld für die monatliche Rate seines neuen Kuttermotors aufzubringen. Francis dagegen galt Patricks ganze Bewunderung. Der hatte Erfolg in seinem Beruf und verdiente mit seinen Reportagen viel Geld. Schon in der Schule hatte Francis die besten Aufsätze geschrieben, die vor Phantasie und Ausdruckskraft strotzen, während ihre alte Lehrerin, Mrs. Langlay, oft genug verzweifelt den Kopf geschüttelt hatte, wenn sie Patrick seine mangelhaften Arbeiten zurückgab.
Patrick war immer unerklärlich geblieben, warum Francis niemals geheiratet hatte. Alle hübschen Mädchen des Ortes waren ihm hinterhergelaufen, aber für keine hatte er sich interessiert. Vielleicht lag es an Mary Dawson, die mit ihrer Familie nach Amerika ausgewandert war, kurz nachdem sie die Schule verlassen hatte. Francis hatte das Mädchen sehr geliebt. Hatte er sie nicht vergessen können?
Patrick wusste es nicht, denn Francis hatte in der Vergangenheit niemals auch nur ein Wort darüber verloren, und er hütete sich, ihn danach zu fragen. Sie waren zwar die besten Freunde, aber über Frauen und Liebesdinge hatten sie nie geredet, und so sollte es auch bleiben. So war sichergestellt, dass sie sich nicht stritten. Sie konnten sich uneingeschränkt aufeinander verlassen, obwohl sie mittlerweile aus verschiedenen Welten kamen: hier der intelligente und gebildete Journalist Francis und dort der einfache und etwas ungehobelte Fischer Patrick.
Während sich Patrick bei Nick, dem Barkeeper, ein weiteres Guinness bestellte, wanderten seine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Francis’ Großvater kam ihm in den Sinn. Er war schon lange tot und sein Grab lag auf einem Hügel, von dem man die ganze Bucht bis nach Tralee überblicken konnte. So hatte es sich der alte Barry von seiner Familie zu Lebzeiten gewünscht. Francis hatte sehr an ihm gehangen, und auch Patrick hatte den knorrigen Alten gemocht. Unzählige Male hatten ihn die beiden Jungs in seinem Hause besucht und ihm stundenlang zugehört, wenn er Geschichten und Sagen aus längst vergangener Zeit erzählte. Barry hatte eine erstaunliche Wandlung durchgemacht. Er hatte jahrzehntelang als Fischer gearbeitet, doch als alten Mann zog es ihn plötzlich zur Töpferei, und nach kurzer Zeit gelangen ihm wunderbare Vasen und andere Gegenstände, die er gewinnbringend verkaufte. Er besaß eine enorme Fingerfertigkeit und künstlerische Sensibilität. Auf dem Mount Brandon befanden sich mehrere Töpfereien, und schon als Kinder hatten Francis und Patrick fasziniert zugeschaut, wie aus einem nassen Klumpen Ton eine grazile Vase entstand. Das alles ging Patrick durch den Kopf. Und dann erinnerte er sich an einen ganz bestimmten Abend.
*
An jenem Tag wartete Patricks Mutter schon ungeduldig auf ihn, als er aus der Schule kam. Nach dem Essen bat sie ihn: „Hier mein Junge, nimm die Tasche mit dem Stoff und bring sie zur Schneiderin, Mrs. Rowland, nach Tralee. Du weißt ja, wo sie wohnt.“
Unwillig sah er sie an. Eigentlich wollte er mit Francis spielen, verkniff sich aber eine Bemerkung, als er in das entschlossene Gesicht seiner Mutter blickte. So holte er stattdessen lustlos sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los. Es war kalt und die gelben und roten Blätter wirbelten im Wind herum. Der Herbst hatte Einzug gehalten. Patrick musste gegen den Wind ankämpfen und kräftig in die Pedale treten, um zu der etwa zehn Kilometer entfernten Stadt an der Tralee Bay zu gelangen. Nach knapp zwei Stunden kam er abgekämpft und müde zurück. Der Himmel hatte sich inzwischen mit pechschwarzen Wolken bezogen und es sah nach einem kräftigen Regenguss aus. Auch der Wind hatte deutlich an Stärke zugenommen und toste in den Bäumen.
Patrick wollte unbedingt noch seinen Freund Francis besuchen, der bei seinem Großvater übernachten durfte, und so fragte er seine Mutter: „Mum, Francis wartet doch auf mich, wir haben uns bei seinem Großvater verabredet. Wir wollen gemeinsam Schularbeiten machen und dann zu Abend essen. Und vielleicht erzählt uns Barry noch eine Geschichte. Wenn es zu spät wird, könnte ich doch auch dort schlafen. Bitte, Mum, erlaube es mir“, bettelte er.
Widerwillig gestattete ihm seine Mutter die Übernachtung in Barrys Haus. Sie mochte den Alten nicht besonders, weil sie fand, dass er mit seinen sonderbaren Geschichten und Sagen aus alter Zeit den Jungen den Kopf verdrehte. Im Gegensatz zu ihr verehrte ihr Sohn den alten Barry, der eine Haut wie Leder hatte und der, trotz seiner klobigen Hände, in der Lage war, die kunstvollsten Gegenstände aus Ton herzustellen.
Dankbar umarmte Patrick seine Mutter, zog sich eine warme Jacke an und machte sich eilig auf den Weg. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als er sich mit einem Kuss von ihr verabschiedete. Er wollte noch vor Beginn des Regens Barrys Haus erreichen, das ein ganzes Stück entfernt lag.
Nach kurzer Zeit hatte er den kleinen Ort verlassen und lief über einen steinigen Weg an Pater McBrides Haus vorbei. Hinter den Häusern machte der Weg einen Knick nach links, und Patrick musste über eine schmale Brücke laufen, um in die Berge zu gelangen. Der Steg war alt und das Geländer wacklig und im Frühling konnte man ihn manchmal wegen des Hochwassers nicht passieren. Trotz allem hatte der Steg bisher allen Naturgewalten standgehalten. Es war einer von Patricks Lieblingsplätzen. Zu gerne beobachtete er die Forellen, wie sie den Bach hinaufsprangen. Gelegentlich nahm er auch eine Angel zur Hand und brachte stolz seine Beute mit nach Hause.
Mittlerweile war es dunkel geworden, und der Sturm wirbelte die Wolken am Himmel durcheinander. Die ersten Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht. Vorsichtig lief er weiter, um nicht über eine Wurzel zu stolpern. Seine Mütze zog er tiefer in die Stirn, damit sie ihm der Sturm nicht vom Kopf reißen konnte. Endlich tauchten die erleuchteten Fenster von Großvater Barrys Haus auf. Wenig später klopfte Patrick erleichtert an die Haustür. Barry öffnete.
„Na, mein Junge, du kommst aber reichlich spät. Wir dachten schon, du kämest nicht mehr“, sagte er und lächelte.
„Entschuldige bitte, Großvater Barry, aber ich musste für meine Mutter noch zur Schneiderin nach Tralee fahren. Deshalb habe ich mich verspätet. Ich bin froh, dass ich überhaupt noch kommen konnte. Du weißt ja, wie meine Mutter immer über dich redet.“
„Lass mal, mein Junge, sie ist eine gute Seele.“ Barry schmunzelte und tätschelte ihm den Kopf. „Komm erst mal herein. Das ist ja ein Hundewetter. Francis erwartet dich schon sehnsüchtig.“
Im Wohnzimmer saß Francis am Tisch, der mit Geschirr gedeckt war. Kurz darauf trug Barry das Essen auf. Es gab, wie üblich, Kartoffeln und Hammelfleisch. Nach dem Essen machte es sich Barry am Kamin, in dem die Holzscheite lichterloh brannten, gemütlich. Er stopfte seine Pfeife und zündete sie mit einem glimmenden Holzscheit an. Dann griff er nach seinem Whiskeyglas, nahm einen Schluck und räusperte sich. Die alte Wanduhr tickte leise. Niemand sprach ein Wort. Draußen war es jetzt stockfinster, und der Sturm zog heulend um das Haus. Francis und Patrick hatten es sich auf dem großen Sofa bequem gemacht und kuschelten sich in die bunt bestickten Kissen. Francis durchbrach die Stille und sagte zu Barry: „Großvater, eigentlich wollten wir ja Schularbeiten machen, aber ich habe gar keine Lust mehr und Pat auch nicht.“ Er blickte seinen Freund Zustimmung heischend an.
Patrick ging es genauso und er nickte zustimmend.
„Hm, was machen wir denn da, Jungs? Was sind das denn für Schularbeiten?“, fragte Barry.
„Ach, nichts Besonderes, Großvater“, antwortete Francis hastig. „Wir sollen uns ein Kapitel unseres Schulbuches durchlesen, weil wir morgen einen Aufsatz darüber schreiben. Aber wir kennen den Text schon, nicht wahr Pat?“
„Klar, Francis“, antwortete Patrick ein bisschen zu schnell, sodass Barry erstaunt aufblickte.
Na, da sagt doch einer nicht ganz die Wahrheit, dachte Barry belustigt, zeigte aber den Jungs seine Zweifel nicht. Stattdessen sagte er mit ernster Miene: „Na dann ist es ja gut, ihr beiden. Dann kann ich euch ja noch eine Gutenachtgeschichte erzählen.“
„Ja“, riefen Francis und Patrick gleichzeitig und klatschten vor Begeisterung ihre Hände gegeneinander.
Barry setzte sich auf, räusperte sich noch einmal und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Gerade als er mit seiner Erzählung beginnen wollte, brach der fast durchgebrannte Buchenscheit auseinander und die Funken stoben wie Leuchtkäfer umher. Die beiden Jungs kuschelten sich noch tiefer in die Kissen. Barry lächelte. Das waren ja gute Voraussetzungen für seine Geschichte.
„Hört mir genau zu!“ Er blickte die beiden Buben streng an. „Was ich euch jetzt erzähle, hat sich vor Hunderten von Jahren hier in Irland zugetragen. Mein Vater hat mir die Geschichte erzählt, die ich euch nicht vorenthalten möchte. Und mein Vater hat sie wiederum von seinem Vater gehört.“
Er machte eine kleine Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Und dann erzählte er ihnen die traurige Geschichte von Fionn und Grainne. Die beiden Jungen unterbrachen ihn nicht, und Barry sah mit Genugtuung, dass sich ihre Wangen vor Aufregung gerötet hatten. Nachdem er geendet hatte, beugte er sich vor, sah die Jungen ernst an und machte erneut eine kleine Kunstpause, ehe er abschließend bemerkte: „So kann es durchaus sein, dass ihr plötzlich einem alten, gramgebeugten Mann begegnet, dessen Sprache ihr nicht versteht. Es könnte Fionn sein, der vor euch steht …“
Patrick und Francis sahen sich an und kicherten leise.
„Sag‚ Großvater, warum ist denn die Königin nicht schon längst gestorben?“, fragte Francis, nachdem er sich wieder beruhigt hatte, und blickte seinen Großvater verständnislos an.
„Das ist eine gute Frage, mein Junge. Die Götter hatten Mitleid mit ihr und deshalb steht auf der Insel die Zeit für immer still.“
Barry streckte die Hand aus und tätschelte Francis liebevoll die Wange. Nun meldete sich auch Patrick zu Wort.
„Sag mir doch bitte, wie sieht denn die Königin überhaupt aus?“
Der Alte lachte leise.
„Weißt du Pat, Grainne sieht aus wie eine typische Irin, groß, schlank und von edler Gestalt. Sie hat langes dunkelbraunes Haar und ein kleines Muttermal auf der Schulter.“
Francis brannte noch eine weitere Frage auf der Seele.
„Großvater, sag uns doch bitte, warum war denn der König mit seiner Frau so streng. Hatte er sie nicht lieb?“
„Oh doch, sehr. Aber weißt du, Francis, es war nicht das erste Mal, dass sie ihm untreu war. Vor langer Zeit hatte sie sich schon einmal, während König Fionn nicht auf der Burg war, einem anderen Mann aus Liebe hingegeben. Als sie es ein zweites Mal tat, konnte er ihren Treuebruch nicht tatenlos hinnehmen. Sonst hätte er für immer sein Gesicht verloren. Deshalb schickte er sie in die Verbannung, versteht ihr?“
Francis und Patrick nickten. Barry drehte sich zur Seite, nahm seine kalt gewordene Pfeife und klopfte sie aus. Im Kamin prasselte das Feuer und warf zuckende Schatten an die Zimmerwände. Beide Jungen waren von der Geschichte verzaubert und flüsterten sich zu, dass sie, wenn sie einmal groß wären, alles daransetzen würden, die Insel zu finden und Grainne zu befreien. Jeder wollte der Erste sein. Sie gaben sich verstohlen die Hände und schworen sich, ihr Vorhaben niemals aufzugeben.
Barry sah ihnen lächelnd zu, sagte aber kein Wort. Genauso hatte er es mit seinem Freund Steven gemacht, als sein Vater ihm die Geschichte erzählt hatte. Später war es sogar zu einer fixen Idee geworden. Eine Zeit lang hatte er sich mit der Sache ernsthaft beschäftigt und alle möglichen Seekarten studiert, jedoch nirgends einen Hinweis auf die „Insel hinter den Wellen“ gefunden. Schließlich hatte er seine Suche als bloßes Hirngespinst abgetan und aufgegeben. So war die Sache in Vergessenheit geraten.
Patrick riss Barry aus seinen Erinnerungen.
„Sag‚ Großvater Barry, wenn ich nun die Insel finden würde, könnte ich dann mit Grainne zurückkehren und mit ihr hier leben?“
„Sicher, mein Junge, theoretisch schon, aber dann müsstet ihr euch ja entschließen, die Insel zu verlassen. Denk daran, dass auf der Insel die Zeit stillsteht. Ihr beide seit damit unsterblich und lebt ewig. Glaubst du, dass Grainne das so einfach aufgeben würde, nur um das Festland wieder zu betreten? Und denk daran, aus der wunderschönen Königin würde innerhalb von Sekunden eine uralte Frau werden. Vergiss bei allem nicht, dass auch du für immer jung bleibst. So könntet ihr ewig auf der Insel leben. Ist das nicht ein verlockendes Angebot? Du musst dir also darüber klar sein, dass es eine Reise ohne Wiederkehr ist. Du lässt alles zurück: die Familie, Freunde und alle Erinnerungen an deine Vergangenheit. Das ist der Preis, den du zahlen musst. Wie du weißt, gibt es im Leben nichts umsonst.“
Patrick nickte nachdenklich. Die letzten Worte von Barry hatten ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlt. Der Sturm rüttelte währenddessen an den Fensterläden. Barry legte noch ein letztes Holzscheit ins Feuer.
„So, Kinder, ihr geht jetzt zu Bett, es schon spät. Ich werde noch die Küche aufräumen, anschließend einen kleinen Schlaftrunk nehmen und dann gehe ich auch schlafen.“
Er schlurfte aus dem Raum, während Francis und Patrick nach oben zu ihren Zimmern gingen.
„Du, Francis“, sagte Patrick, „ich habe ein bisschen Angst. Kann ich vielleicht in deinem Zimmer schlafen?“
„Ich habe auch Angst“, flüsterte Francis, und weil beiden nicht ganz wohl war, fassten sie sich an den Händen und legten sich in Francis’ Bett.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört und der Sturm hatte sich urplötzlich gelegt. Der Mond lugte verschämt hinter einer Wolke hervor und überzog die Einrichtung des Zimmers mit seinem silberfarbenen Licht. Patrick konnte lange Zeit nicht einschlafen. Immer wieder sah er eine wunderschöne Insel mit unbekannten Pflanzen, Blumen und Tieren vor sich und die einsame Grainne, wie sie sehnsuchtsvoll aufs Meer schaute. Er musste Grainne finden, das schöne, geheimnisvolle Wesen. Er musste es wagen, es ging nicht anders, und sein Herz klopfte bis zum Halse.
*