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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-12605-5

ISBN E-Book 978-3-688-10370-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10370-6

Der Ort jener Handlung,
die in Schleswig-Holstein spielt,
sowie die vorkommenden Personen
sind frei erfunden.

Wie jeden Morgen lief er entgegen dem Uhrzeigersinn die lange Gerade zum Wasserturm hinauf, wo eine breite Schneise den Blick freigab über die Spielwiese. Den See sah er nicht, der lag in der Senke; außerdem war da Nebel. Hans Tabel lief gern im Nebel, wenn es aus dem Laub tropfte, sich das Wasser im Haar sammelte und über das Gesicht rann. Nein, Marathonläufer weinen nicht. Morgens zwischen sechs und sieben, bevor die Büroarbeit begann, liefen viele; sie liefen mit und entgegen dem Uhrzeigersinn, im Nebel hörte er ihren keuchenden Atem. Bäume tauchten aus dem weißen Brei auf, huschten vorüber und versanken.

Du siehst die frühen Spaziergänger nicht. Plötzlich stehen sie vor dir, zerren den Hund an der Leine. Eins-zwei, einszwei, eins-zwei! rufen sie dir nach.

Vom Wasserturm ging es abwärts, an verblühten Rhododendronbüschen vorbei zum Südring. Links der See, die Badeanstalt ohne Gäste, dafür bevölkert mit Enten und Möwen. Wenn du im Nebel läufst, wirst du nicht abgelenkt. Du bist allein mit den Gedanken und den Pulsschlägen, die feuchte Luft tut der Lunge gut und den Bronchien. Eigentlich sollte man nur am Meer laufen, von Timmendorf nach Neustadt und zurück, von Cuxhaven nach Bremerhaven oder von San Francisco nach Los Angeles.

Gewöhnlich tauchten am Ende der Saarlandstraße die Hochhäuser der Bürostadt auf, an diesem Morgen verhüllte sie die milchige Brühe. Dreimal um den Stadtpark machte fünfzehn Kilometer. Unter einer Stunde mußte er sie laufen, was im Nebel nicht schwerfiel. Woche für Woche mindestens sechzig Kilometer laufen, vor größeren Rennen verdoppelte Rundenzahl; wer einmal zu laufen begonnen hat, kann nicht mehr aufhören.

Als er zum zweitenmal die lange Gerade hinauflief, kam ihm die Kolonne auf gelben Fahrrädern entgegen. Sein Vater war auch Briefträger gewesen, aber Hans Tabel hatte ihn nie als Briefträger gesehen. Er wußte gar nicht, ob sie damals mit gelben Rädern fuhren oder zu Fuß gingen oder zu Pferde die Post zustellten.

Er sah den Wasserturm nicht, ahnte nur, daß die roten Ziegel am Ende der Schneise standen. Während er Ausschau hielt nach dem Turm, fiel ihm seine Mutter ein. Das geschah um halb sieben, als auf dem zweiten Ring schon die Autos lärmten und in Fuhlsbüttel die ersten Maschinen warmliefen. An Mutter dachte er sonst nie, jedenfalls nicht während des Laufens. Meistens löste er schwierige Fälle, überlegte Texte, die er ab neun Uhr diktieren wollte, entwarf Aktennotizen für Heinemann, aber Mutter war ihm noch nie begegnet. Er sah sie ziemlich deutlich bei ihren alltäglichen Verrichtungen in der kleinen Wohnung auf dem Dorf. Sie lüftete die Stube, putzte das Fenster, wischte Staub auf dem Radio aus den fünfziger Jahren und dem Fernsehgerät aus den Sechzigern. In der Kochnische hantierte sie mit Geschirr, setzte Kaffee auf und stellte die Eieruhr, eine Sanduhr übrigens. Er sah den feinen Sand durchs Glas rieseln; schon als Kind mochte er das endlose Spiel mit dem Sand. War sie abgelaufen, drehte er die Uhr um, und der Sand lief und lief und lief.

Ein Polizeiwagen heulte. Oder war es ein Unfallwagen auf dem Weg ins Barmbeker Krankenhaus? Um zwanzig vor sieben wurde jemand mit Blaulicht in die Klinik gebracht, weil er nicht aufwachen wollte …

Bei der dritten Runde lichtete sich der Nebel, deutlich sah er das dunkle Rot des Wasserturms. Plötzlich blieb er stehen. Er konnte nicht mehr laufen. Wie ein Schleier hing es ihm vor den Augen, er sah die Mutter in ihrer kleinen Küche, Vater auf dem gelben Dienstrad, die Sanduhr, die zu laufen aufgehört hatte.

In dem Bassin unterhalb des Turmes wusch er Gesicht und Hände, glaubte, nun dringend zu seinem Auto zurückkehren zu müssen, lief nicht den großen Bogen des Südrings, sondern diagonal durch den Park. Als er im Auto saß, wurde er ruhiger. Er hörte Musik, die Sieben-Uhr-Nachrichten und den Wetterbericht. In Norddeutschland Regen. Ach, es wurde Zeit, in die Wärme des Südens zu reisen.

In der Wohnung empfing ihn Kaffeeduft. Jeden Morgen, bevor er zum Laufen in den Stadtpark fuhr, stellte er die Kaffeemaschine an. Kehrte er heim, empfing ihn dieser wohltuende Geruch. Er ging unter die Dusche, ließ warmes Wasser in sein Gesicht sprühen, schäumte das Haar ein, stand mit geschlossenen Augen unter dem Wasser und dachte an gar nichts mehr. In diesem Augenblick schrillte das Telefon. Er warf ein Handtuch über die Schulter, tapste mit nassen Füßen über den Teppich, nahm den Hörer ab, mußte stehen bleiben, weil er sich so nicht in den Sessel setzen konnte. Er hörte eine fremde Stimme, die von weither kam.

«Hier spricht Frau Peters aus Travenwalde. Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen sagen soll, Herr Tabel: Heute nacht ist Ihre Mutter entschlafen.»

Er ließ das Handtuch fallen, stand nackt vor dem Telefon. Am anderen Ende stand die Peters, und draußen hing der Nebel, kam langsam an den Fassaden der alten Häuser emporgekrochen. Entschlafen, welch ein feierliches Wort. Einschlafen … ausschlafen … verschlafen …, nein, die Peters mit ihrem Hang zum Erhabenen mußte entschlafen wählen.

«Hören Sie mich!?» rief sie in die Leitung.

Jaja, er hörte sie. Leise legte er den Hörer auf, nahm das Handtuch und rubbelte sich trocken. So einfach ging das: Ein Anruf am Morgen, während er duschte. Allein gestorben in der Einzimmerwohnung auf dem Dorf, in der sie bald zwanzig Jahre gelebt hatte, auch allein. Über Nacht gestorben, ohne Arzt und Krankenhaus, ohne Blaulicht, vielleicht um halb zwölf, als er aus dem Kino kam. Oder am frühen Morgen, als er durch den Nebel lief und den Wasserturm nicht finden konnte. Später würde die Peters erklären, ihr sei nur aufgefallen, daß Mutter morgens keine Milch holte.

Er stellte die Dusche ab. Die Kaffeemaschine tropfte und blubberte. Den Trainingsanzug hängte er zum Trocknen auf, die Laufschuhe brachte er auf den Balkon, gab Hemd und Hose in die Waschmaschine. Was war zu tun? Nun fällt Amerika ins Wasser, dachte er, als er am gedeckten Tisch saß, vor sich Haferflocken, Milch, Honig und dampfenden Kaffee.

Solange er denken konnte, kränkelte Mutter, ohne richtig krank zu sein. Er erinnerte sich nicht, sie jemals in einem Krankenhaus besucht zu haben. Selbst ihre beiden Kinder brachte sie nicht im Krankenhaus, sondern in der Schlafstube zur Welt.

Gegen acht Uhr rief er die Finke im Sekretariat an, sie möge ihn bei Heinemann entschuldigen, seine Mutter sei gestorben. Mitten in den Reisevorbereitungen gestorben. Seine Reise! Mutter war von Anfang an dagegen, nun hatte sie die Reise auf ihre Art verhindert. Die haben doch deinen Vater umgebracht, sagte sie, als er von Amerika anfing. Das war Ostern, in Mutters Dorf, Marianne war dabei mit ihrem Mann und den beiden Kindern. Seit Ostern plante er, stellte Routen zusammen, studierte Landkarten und Stadtpläne, maß Entfernungen aus, verfolgte das Auf und Ab des Dollarkurses, und nun dieses.

Marianne wird es erledigen, dachte er. Marianne hat die praktische Art, mit unangenehmen Dingen fertig zu werden. Außerdem war sie die Ältere. Noch am Vormittag fuhr er mit ihr zu der toten Mutter aufs Land.

«Wir hätten uns mehr um sie kümmern sollen», sagte er auf der Autobahn. «Einmal wöchentlich ein Telefongespräch und Besuche zu den großen Feiertagen genügten nicht.»

«Du mußt deine Reise verschieben», erklärte Marianne.

Er schüttelte heftig den Kopf, sprach von dem längst bezahlten Flugticket und den zweitausend Mark, die er verliere, wenn er nicht fliege.

«Soll ich Mutter allein begraben?» fragte sie vorwurfsvoll.

Natürlich nicht. In zehn Tagen begann seine Reise, bis dahin wäre Mutter längst beerdigt.

Marianne blickte ärgerlich an ihm vorbei. Das war die alte Geschichte von der großen, vernünftigen Schwester und dem kleinen, verwöhnten Hänschen, das immer machte, was es wollte, das seinen Neigungen lebte, jeden Morgen zum Spaß drei Runden um den Stadtpark lief und natürlich keine Reise absagte, nur weil Mutter gestorben war.

«Jeder hat nur eine Mutter, aber viele Reisen.»

Nach diesem Satz schwieg Marianne beharrlich, während das Auto durch Ostholsteins Buchenwälder rollte, an den sich gelb verfärbenden Getreidefeldern vorbei und den Seen. Er schaltete das Radio ein, Marianne schaltete es wieder aus. Sie fand es unpassend, auf der Fahrt zu der toten Mutter den Spaßmachern von NDR II zuzuhören.

Gerda Tabel geborene Rassat lebte – das heißt, nun lebte sie nicht mehr – in einem Wohnblock, den sie Altenhaus nannten. Acht kleine Parterrewohnungen für die alleingebliebenen Alten des Dorfes. Gelegentlich sprachen sie auch vom Travenwalder Frauenhaus, denn die Männer des Dorfes zogen es vor, zeitig zu sterben, oder sie fanden eine Frau, mit der sie in einer richtigen Wohnung zusammenlebten. So blieb das Altenhaus den Frauen.

Die Peters empfing sie vor der Tür. Sie teilte erst einmal mit, daß sie Mutter nicht im Bett gefunden habe, sondern auf dem Fußboden neben der Couch. Bei flimmerndem Fernseher habe sie dagelegen, als erstes habe sie, die Peters, den Kasten ausgeschaltet.

So also sah Mutter nach dem Sterben aus. Sehr weiß, die Hände welk auf einer Wolldecke, die Augen geschlossen, der Mund halb geöffnet. Vielleicht hätte sie überlebt, wäre sie nicht so allein gewesen. Niemand da, um den Notarzt zu rufen, die Medizin aus dem Schrank zu holen und den Fernseher abzuschalten. Alleinsein beschleunigt das Sterben ungemein.

Marianne berührte Mutters Hand. Er dachte, das gehöre sich so, und tat es ihr nach, erschrak aber über die Kälte. Sie war sonderbar klein, die Mutter. Wie ein Kind lag sie auf der alten Couch, die sie schon 1967 besessen hatte, als er fortgezogen war. Seitdem lebte Mutter allein.

Wir hätten sie zu uns in die Stadt holen sollen, wollte er sagen, aber im Beisein der Toten redete nur die Peters. Sie schrieb Adresse und Telefonnummer des Beerdigungsunternehmers auf einen Zettel, erwähnte Pastor Klinkhammer, der zu besuchen sei, am besten gleich. Pastor und Beerdigungsunternehmer würden sich auf Tag und Stunde einigen. In drei Tagen könne Beerdigung sein. Ja, auf den Dörfern gehe das schnell. In der Stadt, so hatte sie gehört, müsse man einen halben Monat warten, um unter die Erde zu kommen.

«In Travenwalde gibt es nur Erdbestattung, das ist gut so, denn eure Mutter wollte nicht ins Feuer.»

Mutter wäre niemals zu ihnen in die Stadt gezogen. Umzug in die Stadt wäre ihr wie der Anfang vom Ende vorgekommen, wie entwurzeln und nicht mehr anwachsen. Marianne, die mit vier Personen in der Dreieinhalbzimmerwohnung in Eilbek lebte, hatte keinen Platz für sie. Und was sollte Mutter, die niemals höher gestiegen war als zu den Glocken des Travenwalder Kirchturms, im 5. Stock seiner Eppendorfer Junggesellenwohnung?

Sie wisse jemand, der an der Wohnung interessiert sei, redete die Peters. Ein Mann sogar, endlich komme ins Frauenhaus ein Mann. Den brauchten sie dringend, wenn mal eine Glühbirne auszuwechseln sei, die Tür klemme oder der Ausguß nicht ablaufe. Der interessierte Herr wolle auch Mutters Mobiliar übernehmen und eine gewisse Abstandssumme zahlen. Das Fernsehgerät sei ja noch gut, Kühlschrank, Elektroherd und Waschmaschine fast neuwertig.

«Bis zur Beerdigung bleibt alles, wie es ist!» entschied Marianne.

«Aber die Wertsachen sollten Sie mitnehmen», schlug die Peters vor. «Sparbücher, Schmuck und Urkunden darf man nicht allein in der Wohnung lassen.»

Die Peters glaubte zu wissen, wo Mutters Wertgegenstände versteckt lagen, im Wäscheschrank, im dritten Fach oben links. «Bis zur Beerdigung bleibt alles an seinem Platz», sagte Marianne wieder.

Lieber Himmel, sie konnten doch nicht Mutters Schränke öffnen, ihre Schubladen durchwühlen, nur um den Kontostand des Sparbuches zu erfahren.

Marianne telefonierte mit dem Beerdigungsunternehmen. «Das Telefon muß auch abgestellt werden», mischte sich die Peters ein.

«Dem Zeitungsjungen hab ich schon Bescheid gegeben, er bringt das Blatt noch diesen Monat, dann ist Schluß; für Juli war ja schon bezahlt.»

Plötzlich kam die Peters mit einer Zigarettenschachtel an. Die hatte Mutter in einer Obstschale auf der Anrichte aufbewahrt für ihren Sohn, wenn der zu Besuch kommt. Seitdem Hans Tabel lief, rauchte er nicht mehr. Mutter hielt das viele Laufen für gesundheitsschädlicher als das bißchen Rauchen. Sie konnte nie verstehen, warum einer es auf sich nimmt, drei Stunden durch Berlin, Hamburg oder New York zu laufen, nicht einmal um zu gewinnen, sondern nur um anzukommen.

Er öffnete die Schachtel, die Mutter für ihn aufbewahrt hatte, steckte eine Zigarette in den Mund, suchte Feuer und traf Mariannes strafenden Blick. Mutter mochte nicht, wenn in ihrer Wohnung geraucht wurde. Also drückte er die Zigarette am Rand des Blumentopfes aus, ließ die Kippe, weil er keinen Aschenbecher sah und nicht in Mutters Schränken wühlen wollte, auf der Blumentopf erde liegen.

Der Beerdigungsunternehmer kam nach einer halben Stunde. Seine Leute brachten einen Sarg mit, den sie im Flur abstellten. Während er mit ihnen ins Kirchenbüro fuhr, um die Formalitäten eines ordentlichen Begräbnisses zu besprechen, sargten die Arbeiter Mutter ein. Als sie wiederkehrten, war sie schon fort. Hans Tabel wagte nicht zu fragen, wohin sie Mutter gebracht hatten. Daraufhin sagte die Peters unaufgefordert: «Sie schläft schon in der Kapelle.»

Da lag sie also und wartete auf ihre Erde. Er durfte rauchen in der nun fremden Wohnung, tat es aber nicht, denn er war ein Läufer und kein Raucher. Er legte die Zigarettenschachtel auf die Anrichte, wo Mutter sie für ihn zurückgelassen hatte. Unter der Obstschale fand er den ausgefüllten Lottoschein: Gerda Tabel, Travenwalde, Hauptweg 27. Und wieder nichts gewonnen.

Sie besaßen keine Verwandten. Einer von Vaters Brüdern hatte den Krieg überlebt und wohnte in der DDR. Marianne schickte ihm ein Telegramm, aber er wird wohl nicht kommen. Die Travenwalder werden antreten, vor allem das Altenhaus. Wenn einer vierzig Jahre im Dorf gelebt hat, müssen sie kommen. Beisetzung nannte es die Peters, sich wieder ins Feierliche versteigend. Beerdigung klang so grob, so polternd, klang wie bedeckt werden mit schwarzer, nasser Erde. Aber Beisetzung duftete nach Blumen, besaß die Melodie feierlicher Reden und Gesänge. Marianne arrangierte die Feier, das anschließende Kaffeetrinken im Gasthof Eggers, sie lief zu den Ämtern, sie erzählte Pastor Klinkhammer aus dem Leben der Verstorbenen, damit er seine Abschiedsrede halten konnte.

Hans Tabel aber wollte reisen. Als sei er unbeteiligt an dem, was in Travenwalde vorbereitet wurde, packte er seine Koffer. Laufschuhe mit hochgezogenem Halbschalenrand, ein weiteres Paar mit weniger weicher Sohle für unebenes Gelände, Netzhemden und Trainingsanzüge, Socken im Dutzend – wenn sie Löcher haben, fliegen sie in den Mülleimer –, Leukoplast, Energiepräparate, Vaseline, Salztabletten. Es war keine gewöhnliche Urlaubsreise, denn er wollte laufen, möglichst jeden Tag laufen, am Ozean, in der Wüste, in den Bergen … immerzu laufen. Vor einem Jahr lief er New York und brach kläglich ein. Zwanzig Minuten über der gewohnten Zeit, der Hitze wegen und der Feuchtigkeit, die unter den fünf Brücken hervorgekrochen kam, sich lähmend auf Füße und Schädel legte. Gänzlich unvorbereitet war er nach New York geflogen, hatte Ende Oktober nicht mehr mit dieser schwülen Wärme gerechnet, fand sich in Manhattan auf der Bordsteinkante sitzend, eine dickleibige schwarze Frau tröstete ihn. Mit Mühe erreichte er den Central Park, lag eine Viertelstunde in Folie gewickelt wie tot auf dem Rasen, um die bronzene Teilnehmermedaille am blau-weiß-roten Band entgegenzunehmen, die in seiner Wohnung hing und ihn täglich an seine Niederlage erinnerte. Er hatte sich in die Startgruppe einordnen lassen, die die 42195 Meter in drei Stunden laufen wollte. Angekommen war er in drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten mit den Frauen und den Alten. Sich vorn einordnen, aber hinten ankommen, das ist wie auf den Zehn-Meter-Turm steigen, um zu springen, aber dann doch die Treppe hinabzugehen. Physiologisch ließ sich der Einbruch durchaus erklären. Bei Hitzeläufen kommen dir pro Stunde zwei Liter Wasser abhanden, du brauchst mehr Wasser und Salz als sonst. Darauf läßt sich der Körper einstellen, Hitzeläufe kann man trainieren. Also wird Hans Tabel im Hochsommer in den Süden reisen, um gegen die Hitze zu laufen.

Am letzten Arbeitstag ließ er sich bei Heinemann anmelden. «Na, wollen Sie wieder laufen?» fragte die Finke im Vorzimmer.

«Durchs Tal des Todes», antwortete Hans Tabel. Er liebte es, die Finke zu erschrecken, und erfand einen Marathonlauf im Death Valley mit schaurig gebleichten Knochen an der Rennstrecke.

Seit achtzehn Jahren arbeitete er in der Reiseabteilung der Arkona-Versicherung. Marianne durfte studieren, Hans Tabel ging in die Lehre, denn eine Kriegerwitwe mit zwei studierenden Kindern, das ging wohl nicht. Täglich fuhr er von Travenwalde mit dem Bus nach Lübeck in die Filialdirektion der Arkona. 1967 ließ er sich in die Hamburger Hauptverwaltung versetzen. Seitdem lebte Mutter allein. Weil er die englische Sprache beherrschte, nahmen sie ihn in die Abteilung Reiseversicherung, die gerade aufgebaut wurde. Dort lernte er die Welt kennen, die Welt der Arzt- und Krankenhausrechnungen. Er wußte, was ein Zahnarzt in Buenos Aires für die Extraktion eines Weisheitszahnes liquidierte, was Blutdruckmessen in Manila kostete und wieviel für eine Blinddarmoperation in Adelaide zu zahlen war. Zu Tausenden waren ihm exotische Rechnungen durch die Finger geglitten, aber bereist hatte er nur die Länder Europas. Als er zum erstenmal die europäische Halbinselwelt für kurze Zeit verließ, um New York zu laufen, wurde es gleich eine Katastrophe.

Seit fünf Jahren war er Handlungsbevollmächtigter, Heinemanns rechte Hand. Die linke Hand gehörte der Finke im Vorzimmer. Seit fünf Jahren lief er auch. Sein Arzt hatte ihm Laufen verordnet, pro Tag fünfzehn Minuten, um ins Schwitzen zu kommen. Jeder Mensch muß wenigstens einmal am Tag schwitzen! Da das in der Reiseabteilung der Arkona nicht zu schaffen war, mußte er laufen: Berlin war er zweimal gelaufen, Stockholm mit seiner besten Zeit von drei Stunden und vier Minuten, dann der Einbruch in New York. Rom wollte er noch laufen. Aber es sollte nicht dazu kommen, daß er auf den Trümmern des Römischen Reiches ausruhen mußte wie auf der Bordsteinkante in Manhattan. Deshalb wollte er lernen, in der Hitze zu laufen.

«Schade, daß Sie nicht in den Fernen Osten fliegen», meinte Heinemann. «Wir hätten da eine kleine Aufgabe für Sie.» Heinemann meinte die Betrugsfälle in Bangkok, Singapur und Manila, die die Arkona hunderttausend Mark gekostet hatten. Aber in Amerika kam dergleichen nicht vor, da wurden ordentliche Rechnungen mit ordentlichen Diagnosen geschrieben. Vor einer Weltkarte stehend – die Arkona-Reiseabteilung besaß natürlich eine Weltkarte –, studierte er die Reiseroute. Heinemann fragte, ob es einen Marathonlauf auf Hawaii gebe. Da würde selbst er mit seinen zweihundert Pfund zum Läufer werden und mitkommen.

«Und laufen Sie nicht zu schnell, lieber Tabel. Wir kommen alle früh genug an.»

***

Nun doch noch die Wohnung plündern, die Schränke aufreißen, die Wäsche durchwühlen, fremdes Eigentum nach nützlich und unnütz sortieren. Das verbrennen wir! Das geben wir zur Altkleidersammlung! Das ist noch zu gebrauchen! Ein geschäftsmäßiges Auflisten praktischer Gegenstände, die für Mutter mit Gefühlen beladen waren. Aber du kannst nicht über einen Besen weinen, nur weil Mutter ihn zehn Jahre lang jeden Morgen in der Hand gehabt hat. Also weg damit in den Sperrmüll. Marianne erledigte diese Arbeit in ihrer praktischen Art, während Hans Tabel und Manfred in der Küche saßen und das letzte Bier tranken, das Mutter ihnen hinterlassen hatte. Für Sohn und Schwiegersohn standen immer ein paar Flaschen im Kühlschrank bereit, wie die Zigaretten, über die Manfred sich her machte. Sie waren so trocken, daß sie beim Ziehen in Flammen aufgingen.

Es gibt Ehepartner, die schaffen Bettzeug und Bettgestell des Verstorbenen sofort beiseite; die Erinnerung so nahe dem eigenen Lager wäre nicht zu ertragen. Andere hören nicht auf, das leere Bett neben dem eigenen herzurichten. Sie geben regelmäßig Laken und Bezüge in die Wäsche, strecken nachts die Hand aus wie in vielen Jahren, reden zur Seite hin, wo der andere schläft, wecken ihn, wenn er schnarcht, fragen nach der Zeit und dem dämmernden Morgen. Warum nicht Verstorbene behandeln wie Reisende, die lange unterwegs sind? Denen räumt auch keiner die Schränke aus und verteilt die Wäsche ans Rote Kreuz.

«Aber wer zahlt die Miete?» fragte Marianne.

Sie hängte Mutters Kleider und Mäntel auf den Flur, helle Kleider, die vor fünfundzwanzig Jahren modern gewesen sein mochten. Hans Tabel konnte sich nicht erinnern, Mutter jemals in diesen bunten Kleidern gesehen zu haben.

«In den fünfziger Jahren ist Mutter damit ins Kino gegangen, einmal auch zum Pfingstball in Eggers Gasthof», behauptete Marianne.

Mutter und Pfingstball! Der Saal mit Birkengrün ausgesteckt, sogar die Kapelle saß im Birkenwald, Schwaden von Rauch und Bierdunst, mittendrin Mutter in einem dieser bunten Kleider.

Einige Stücke ließen sich für die Kinder verändern. Das wäre gewiß in Mutters Sinn. Auch könnten sie die Peters fragen, ob sie Mutters Kleider haben will.

Marianne brachte den Schmuck in die Küche. Ohrringe, die Mutter schon lange nicht mehr getragen hatte. Eine Bernsteinkette, die sie auf die Flucht mitgenommen und auch in der schlechten Zeit nicht verkauft hatte, denn sie kam ihr vor wie das letzte Bindeglied an zu Hause. Wenn die Kette reißt, hört die Erinnerung auf.

Und da lag Mutters Ehering.

«Den hätten wir ihr ins Grab geben sollen», sagte Hans Tabel. Er konnte sich nicht vorstellen, Mutters Ehering zu versetzen, ihn in Zahngold zu verwandeln, in neu zu prägende Münzen oder Goldbarren fürs spekulative Geschäft an den Edelmetallmärkten. Johannes 10.5.1939. Diesen Johannes mußte er, als er noch Hänschenklein war, in Feldgrau gesehen haben.

«Nimm du den Ring», entschied Marianne und legte ihn neben die Bierflasche.

Vor 46 Jahren angefertigt, als gerade noch Frieden und Gold zwar teuer, aber immerhin erhältlich war. Den dazugehörenden zweiten Ring mit der Inschrift: Gerda 10.5.1939, riß eine Fliegerbombe in Stücke. In einem Straßengraben der Ardennen müßte heute noch Goldstaub zu finden sein.

Da wäre auch Mutters Fotoalbum. Die Bilder ihrer Jugend fehlten, hatten die Flucht nicht überstanden. Kein Einsegnungsbild vor der Kirche, weder ein Hochzeitsbild noch Vater in der Uniform eines Briefträgers, nicht einmal in Feldgrau. Dieser Teil ihres abfotografierten Lebens war ’45 untergegangen. Zwischen ’45 und ’48 gab es keine Bilder, weil Deutschland damals eine einzige Dunkelkammer war. Das neue Album begann 1948 mit einem Bild von Marianne und Hans, beide schmuck angezogen, gekämmt und gescheitelt.

«Die hübsche Kleidung hatte sie geliehen», erinnert sich Marianne. «Damals hielten sich die Fotografen noch einen Fundus, um arme Leute für schöne Bilder auszustaffieren.»

«Hatte Mutter einen Grund, uns 1948 so herauszuputzen?» fragte er.

«Vielleicht wollte sie nur ein schönes Bild von uns haben, bevor wir groß sind.»

Nur wenige Bilder von Mutter. Immer nur die Kinder. Mariannes Konfirmation, Hänschens Konfirmation, die große Konfirmandenschar vor der Ziegelmauer der Travenwalder Kirche. Mariannes Hochzeit, Hänschen in Bundeswehruniform. Zum Ende hin beherrschten Mariannes kleine Kinder Mutters Fotoalbum.

«Mutter sah eigentlich ganz hübsch aus», sagte er. Marianne blickte ihn an, als sei es ungehörig, Mutter, die unter der Erde lag, mit solchen Maßstäben zu messen. Hübsch, verführerisch, anziehend sind immer nur Frauen, niemals Mütter.

Im Wäschefach fand sie Briefe, zwei Bündel, jedes mit Paketbindfaden dreimal über Kreuz geschnürt. Eine Gummistrippe hielt die beiden Päckchen zusammen.

«Du sammelst doch Briefmarken», meinte Marianne. Das waren Vaters Feldpostbriefe, zeitlich geordnet nach den Jahren 1940 … 1941 … 1942 … 1943 … 1944 … Frankreich … Rußland … Rußland … Rußland … Frankreich. Der letzte datierte vom 6. Dezember 1944, Nikolaustag. Im Stiefel steckte eine Rute, auf der Fensterbank lag ein Brikett für die unartigen Kinder, für die artigen aber gab es Äpfel und Nüsse.

Das zweite Bündel enthielt bunte Luftpostumschläge. «Das sind die Leute, die uns in der schlechten Zeit CARE-Pakete geschickt haben», erklärte Marianne. «Mutter hat sich mit denen geschrieben.»

«Sie konnte doch gar kein Englisch.»

«Lehrer Thomsen hat ihr die Briefe aus Amerika übersetzt und die Antwortbriefe, die sie ihm vorschrieb, auch.» Marianne erinnerte sich der braunen Pappe mit der Aufschrift: C.A.R.E./U.S.A. Viel Kakao war drin, ein Beutel mit so komischen Nüssen. Powdered Milk. Eine Dose Maxwell Coffee (mit der leeren Dose spielte Hänschen später auf dem Travenwalder Schulhof Fußball), California Apricots, Zucker und Mehl. Prunes … Kein Mensch wußte, was Prunes sind. Einmal kam ein CARE-Paket am 23. Dezember an. Lieber Gott, war das eine Bescherung!

Hans Tabel hatte nur schwache Erinnerungen an jene Zeit, als Deutschland eine Dunkelkammer war und die Seligkeit von so etwas wie Prunes abhing. 1942 geboren, entging das Kriegsende seinem Bewußtsein. Auch Vaters Tod meldeten sie dem kleinen Hänschen nicht. Daß die Nachkriegszeit elend war, erfuhr er später aus den Gesprächen mit Mutter und Marianne. Doch in einer langen Menschenschlange sah er sich stehen. Ging es um Brot oder um Fisch? Mutter stellte ihren Sohn, kaum daß er sechs Jahre alt war, in die Schlange, um Zeit zu sparen für Wäschewaschen, Strümpfestopfen und Holzsammeln. Er durchlebte die größte Angst seiner Kindheit. Mutter könnte ihn in der Schlange vergessen. Er stünde vor dem Ladentisch und wüßte weiter nichts zu sagen, als nach seiner Mutter zu rufen. Mutter kam immer in letzter Minute, um ihn von der Schlange zu erlösen.

Marianne knüpfte den Bindfaden auf, der die Luftpostbriefe zusammenhielt.

«Arizona», sagte sie, «alle kommen aus Arizona.» Sie versuchte, die Adresse zu entziffern, fand eine Main Street 39, Name und Ort blieben unleserlich. «Du kommst doch in die Gegend», sagte sie lachend. «Kannst die Leute mal besuchen.»

Sie schob ihm die Luftpostumschläge über den Tisch, auch Vaters Feldpostbriefe. Zögernd nahm er sie an sich. Durfte er solche Briefe überhaupt lesen? Glichen sie nicht Tagebüchern, die nach dem Tod des Urhebers zu vernichten sind? Vater und Mutter waren jung verheiratet, als diese Feldpostbriefe ankamen. Wenn das nun Liebesbriefe wären!

Das also war sein Erbe: Briefe mit schönen Briefmarken aus Arizona und Vaters Feldpost, fast ein halbes Jahrhundert alt. Dazu Mutters Ehering. Das Sparguthaben wird geteilt, vorher werden die Unkosten abgezogen. Marianne wird einen Grabstein bestellen. Die Kleidung geht ans Rote Kreuz.

***

Als die Maschine nördlich Schottland über den Wolken verschwand, es nichts mehr zu sehen gab von dem kleinen Europa außer den Tiefausläufern, die von Island her ostwärts trieben, nahm er die Briefe und löste den Bindfaden. Zum ersten Mal, daß er Vaters Handschrift sah. Die Buchstaben lagen rechtslastig schräg auf dem Papier, einige in Sütterlin, so das scharfe s, manchmal auch das weiche e. Adressat war immer Gerda Tabel. Kein Brief war an Hänschen oder Marianne gerichtet, immer nur an die Frau. Den Umschlägen fehlte der Absender, Vaters Feldpostnummer lautete 58282 C. Ihr sind diese Briefe wichtig gewesen, sonst hätte sie sie nicht mitgenommen aus dem brennenden Domnau, aus dem sie fast nichts mitnahm, nur ihr Leben und das ihrer beiden Kinder. Über Anschrift und Feldpostnummer kam er nicht hinaus. Er wagte sich nicht an den Inhalt. Wie ein Voyeur käme er sich vor, der seine Eltern im Schlafzimmer beobachtet. Wenn da nun der Satz stünde: Ich freue mich auf den nächsten Urlaub, um endlich wieder mit Dir zu schlafen.

Solche Sätze müssen vorgekommen, gedacht und geschrieben worden sein, millionenfach in jener Zeit, in der die Gewalt die Menschen trennte und eine unvorstellbare Enthaltsamkeit erzwang. Sie werden die Zensur anstandslos passiert haben.

Statt Vaters Feldpostbriefe las er in «Spiridon», dem Magazin der Langstreckenläufer, einen Bericht über den Hawaii-Marathon. Nach Hawaii wäre sogar Heinemann mitgekommen, aber bestimmt nicht, um zu laufen. Marianne hatte ihm am Flughafen ein kleines Taschenbuch zugesteckt. Ein bißchen Reiselektüre, falls dich die Melancholie befällt, hatte sie gesagt. Zwischen Island und Grönland wickelte er das Buch aus. Sieh mal an, Marianne, die Lehrerin im Mutterstand mit ihrem höheren Sinn fürs Pädagogische hatte ihm Jürnjakob Swehn, den Amerikafahrer, mitgegeben.

Lieber Herr Lehrer, ich muß dir etwas mitteilen, da ist etwas, was ich nicht verstanden habe. Auf der Fahrt von England nach Amerika ist die Sonne sieben Wochen und zwei Tage lang morgens richtig aufgegangen und abends richtig unter. Das hat alles seinen Schick wie bei uns zu Hause. Aber als wir hier ankamen; da wurden die Uhren ungefähr sechs Stunden nachgestellt. Lieber Freund, du mußt mir das mal ganz richtig erklären, warum das sein mußte. Ich weiß nicht, wo die sechs Stunden geblieben sind. Vielleicht liegen sie auch da, wo unsere Matratzen liegen.

In zehn Kilometer Tiefe lag Grönland. Auch davor hatte Mutter Angst gehabt. Stell dir vor, ihr müßt im ewigen Eis landen, da findet euch kein Mensch. Daß er zehn Stunden fliegen würde, hatte sie beunruhigt. Seit diese Geschichte mit der Fliegerbombe in den Ardennen geschehen war, hatte sie etwas gegen das Fliegen.

Arizona konnte er auf allen Luftpostbriefen deutlich lesen, aber nicht den Absender. In einem Brief fand er einen Zettel: Sam O’Keefe Jerome, 39 Main Street. Woher kam der Zettel? Die CARE-Organisation versandte ihre Pakete doch anonym. Durch den Zettel hatte Mutter Gelegenheit erhalten, einen Dankesbrief nach Amerika zu schreiben. Die deutsche Vorlage für Lehrer Thomsen fand sich in einem der Umschläge:

Sehr geehrter Herr! (Also ein Mann, mit dem Mutter korrespondierte) Gestern kam Ihr wundervolles Paket bei uns an, und heute muß ich schon schreiben, um mich zu bedanken. Die Kinder – ich habe ein Mädchen von acht und einen Jungen von sechs Jahren – aßen zum ersten Mal in ihrem Leben Schokolade. Es ist wundervoll zu wissen, daß es auf der anderen Seite der Welt Menschen gibt, die wir nicht kennen, die uns nicht kennen, die uns aber trotzdem helfen. In Dankbarkeit Ihre Gerda Tabel.

Er sah sie am Tisch sitzen, vor sich einen grauen Bogen, daneben Tintenfaß und Federhalter. Während sie sich mit der Tinte abmühte, ging das elektrische Licht aus, was oft vorkam in der düsteren Zeit. Mutter holte eine Kerze und schrieb weiter.

Warum schreibst du soviel, Mama? fragte Marianne vom Bett aus. Ich schreibe nach Amerika, damit wir Pakete bekommen.

Wenn man bedenkt, Mutter war damals jünger als Marianne heute ist. Mit einunddreißig Jahren wurde sie Witwe, um dann allein zu bleiben mit ihren Kindern.

Der Bordlautsprecher meldete die Küste Labradors. Die Maschine neigte sich nach links, dann nach rechts, damit die Passagiere einen Blick auf den unwirtlichen Anfang Amerikas werfen konnten. Dazu gab es Kaffee, Gebäck und einen stahlblauen Himmel. Die Kamera kam mit zweihundertfünfzig Hundertstel Belichtung und Blende 16 nicht mehr aus, so hell war es über Labrador.

Am letzten Sonntag im September lief er Berlin. Verbreitet Nieselregen. Hans Tabel vor dem Reichstagsgebäude, aber auf dem Startfoto, das nachher in allen Zeitungen stand, war er nicht zu erkennen. Vorn starten die Bleistifte, hinten die Radiergummis, Hans Tabel in der Mitte. Er hatte sich für dreidreißig gemeldet, wollte nur ankommen, irgendwann ankommen. An der Siegessäule war er noch siegesgewiß. Ein Stück ging es neben der Mauer her, zehntausend Marathonläufer stampften neben dem Steinwall. Wenn die nun links einschwenkten, liefen sie die Mauer um.

Home lies miles across the ocean

But Berlin is in my blood

Which is smeared on this wall.

Hier grunzte das Dichterschwein! stand neben der Poesie.

Bunte Kleckse huschten vorüber, eine gemalte Tür, ein gemaltes Fenster.

Ireland for the Irish!

Ein besonderer Gruß an die Berliner Marathonläufer:

Die Intelligenz rannte hinter mir her – doch ich war schneller.

British Government deprived many war widows of their pensions. Many commit suicide or freeze to death in severe winters.

Mutter bekam Kriegerwitwenrente vom deutschen Staat, Marianne und Hans Kriegswaisenrente. Beides zusammen reichte natürlich nicht, darum hat Mutter viel genäht für sich und die Kinder und für andere.

Am Erfrischungsstand in Kreuzberg blieb er zum ersten Mal stehen, aß Bananenstücke und Apfelsinenscheiben. Der Nieselregen tat gut, er kühlte die Haut, seit Berlin lief er gern im Nieselregen. Dieser Rausch, als er dem Schöneberger Rathaus zulief. Unter bunten Regenschirmen winkten Menschen, er spürte die Füße nicht mehr, lief wie auf Wolken. Schülerinnen der Berliner Massageschulen boten ihre Dienste an, aber nicht für Hänschen Tabel, der lief und lief und lief seinen ersten großen Lauf.

Am Kurfürstendamm in die Zielgerade. Dich überkommt ein Gefühl haushoher Überlegenheit. Du läufst wie im Rampenlicht. Das Publikum jubelt. Du ballst die Faust wie Boris. Keiner von denen an der Straße bringt es fertig, zweiundvierzig Kilometer in einem Stück zu laufen. Als am Ende des Ku’-damms die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auftaucht, hebst du die Hand zum V-Zeichen. Bei drei Stunden und zwölf Minuten bleibt deine Uhr stehen, weitaus besser als erwartet.

Warum läufst du überhaupt? fragten so viele. Warum vergeudest du kostbare Stunden deines Lebens mit diesem stumpfsinnigen Laufen? Das ist kein Argument. Andere verbringen endlose Stunden mit Biertrinken, Spazierengehen oder vor dem Fernsehgerät. Warum also nicht laufen? Und stumpfsinnig ist es gewiß nicht. Er dachte sich, während er lief, durch die Welt, er dachte Gedanken, die ihm sonst nie einfielen, jedenfalls bis Kilometer dreißig. Danach kam der Mann mit dem Hammer, und jedes Denken hörte auf. Die letzten zehn Kilometer lief er in Trance, während sein Geist aus ihm heraustrat und über dem Wasser schwebte.

Dieses großartige Gefühl des Ankommens, des Durchhaltens und Dich-selbst-Besiegens, dieser Rausch, wenn du abhebst, wenn du die Glieder nicht mehr spürst und es dir vorkommt, als läutete am Schöneberger Rathaus die Freiheitsglocke.

Die Stewardess brachte Tomatensaft. Über Kanada riß der Himmel auf. Unten Wälder, nein, ein riesiger Wald von der Hudsonbay bis zum Pazifik. Dazwischen die Mäander der Ströme, gleißend wie die Lichterketten der Autostraßen nachts in den Städten. Linker Hand eine Rauchsäule.