Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-15472-0
ISBN E-Book 978-3-688-10372-0
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10372-0
Zwei Stunden stand er schon neben dem niederbrennenden Feuer. Die Scheune schwelte nur noch, der Leiterwagen auf der anderen Straßenseite qualmte überhaupt nicht mehr. Aber das Feuer auf dem Acker. Der Sergeant hatte befohlen, ein Feuer auf dem schneebedeckten Acker anzuzünden. Ein paar Ballen nasses Stroh, morsche Dachlatten, Wagenräder, dazu ein Kanister stinkendes kaukasisches Dieselöl. Damit hatten die Männer das Feuer angefacht, an dem Pawel mit umgehängter Maschinenpistole stand, eine Papyrossi nach der anderen rauchend, die Männer beobachtend, die sich jenseits des Feuers formierten.
Gab es in seinem Dorf auch so viele alte Männer wie auf dem Acker? Er zählte in Gedanken die Männer seines Dorfes, dann die auf dem Acker. Hier waren mehr. Vielleicht hatte er auch den einen oder anderen in seinem Dorf vergessen, denn drei Jahre war er nicht zu Hause gewesen. Da verblaßte die Erinnerung. Abzuziehen galt es auch jene, die inzwischen gestorben waren. Jedenfalls waren auf dem Acker mehr, viel mehr.
Es ging auf den Abend zu, als der Sergeant aus dem Gebäude trat und Pawel heranwinkte.
»Du nimmst den Trupp mit dreißig Fritzen und bringst ihn in die Stadt«, sagte er und zeigte auf die Männer jenseits des Feuers. »Es sind genau dreißig.«
Er reichte Pawel einen Zettel, auf dem die Zahl dreißig stand, außerdem seine Unterschrift. Der Zettel war wichtig, war eine Art Rechtfertigungspapier an Straßensperren und vor höheren Offizieren, erlaubte es Pawel, ausnahmsweise nach Osten zu marschieren, sich vom Kanonendonner des Krieges zu entfernen.
Pawel fragte nach dem Namen der Stadt. Der Sergeant warf einen Blick auf seine Karte.
»Allenstein«, sagte er. »Die Stadt ist in zwei Stunden zu erreichen, aber du mußt dich beeilen und vor der Dunkelheit da sein, sonst laufen dir die Fritzen weg.«
Pawel warf die halbe Zigarette in den Schneematsch und ging zu dem Haufen hinter dem Feuer. Er zählte noch einmal. Von denen läuft keiner weg, dachte er, während er zählte. Sie sahen alt und gebrechlich aus, einige gingen sogar an Krücken. Pawel hatte schon häufiger gefangene Fritzen in die hinteren Linien gebracht, aber niemals alte Männer. Er wußte auch nicht, was diese Menschen verbrochen hatten und was mit ihnen geschehen sollte. Aber als Soldat stellte er keine Fragen. Zwei Stunden Fußmarsch in die Stadt, der Befehl ist ausgeführt, und du hast Ruhe. Also los!
Von der Front her hörte Pawel die Abschüsse der Artillerie.
Einen Steinwurf vom Feuer unter den Bäumen der Chaussee standen die übrigen, die Frauen und Kinder, die die Soldaten von den Männern getrennt hielten. Es war wichtig, die Männer abzusondern. Es erleichterte die Übersicht. Auch kannst du mit Männern anders umgehen als mit Frauen und schreienden Kleinkindern.
Als der Trupp auf die Chaussee einbog, erinnerte sich Pawel eines ähnlichen Menschenauflaufs in seinem Dorf. Er war sieben Jahre alt oder acht gewesen. Damals kamen die Weißen ins Dorf und trieben die Männer zusammen. Frauen und Kinder versammelten sich vor der Kirche, begleiteten den Abzug der Männer mit biblischem Geschrei. Glocken läuteten. Vier Wochen später war die Hälfte der Männer zurückgekehrt. Danach zogen die Roten ein, und wieder gab es einen Menschenauflauf, die Weiber schrien um ihre Männer, die Glocken läuteten, bis die Kirche brannte, der Turm einstürzte und die Glocken zum Schweigen brachte. Seit jener Zeit hatte Pawel nie mehr Glocken läuten hören.
Er wunderte sich, wie ruhig es bei den Fritzen zuging. Die Männer husteten oder schneuzten sich, Frauen und Kinder standen schweigend unter den kahlen Bäumen der Allee wie eine verirrte Herde.
»Laß dich nicht auf Gespräche mit ihnen ein!« rief der Sergeant. »Wenn einer abhauen will, nimmst du die da!« Er zeigte auf die Maschinenpistole, die Pawel umgehängt trug, den Lauf nach unten. Pawel vermied es, die Männer anzublicken. Ein alter Soldat, der längst gefallen war, hatte ihm den guten Rat gegeben, niemals Gefangenen in die Augen zu sehen. Sonst fängst du an, Unterschiede zu machen, hatte er gesagt. Du findest den einen sympathisch, den anderen nicht. Es kann sein, daß du Ähnlichkeiten mit einem guten Bekannten entdeckst, oder es kommt das Schlimmste: Du hast Mitleid. Zähle die Gefangenen, wie ein Bauer Zaunpfähle zählt, aber meide ihre Augen!
Vor dem Chausseegraben hielt die Kolonne. Pawel sprang über den zugeschneiten Graben und winkte den Männern, ihm zu folgen. Es sah spaßig aus, wie die Fritzen sich mühten, durch den Graben zu kommen, wie sie ihre Krücken verloren, im Schnee steckenblieben, einer den anderen herauszog.
»Dawei! Dawei!« schrie der Sergeant und schoß in die Luft, so wie ein Pferdekutscher mit der Peitsche knallt.
Pawel war froh, daß die Soldaten auf der Chaussee eine Kette gebildet hatten. Sie trennten die Frauen und Kinder von dem abmarschierenden Trupp. Als die Kolonne nach Osten einschwenkte, entstand Bewegung hinter der Postenkette. Eine hohe Stimme kreischte. Ein Kind begann zu weinen, andere stimmten ein. Namen wurden gerufen.
»Gustel! Gustel, wo gehst du hin?«
»Lieber Himmel, ihr könnt uns doch nicht die Männer wegnehmen! Sie sind alt und krank, sie haben nichts verbrochen!«
Pawel blickte sich scheu um. Nun also doch noch das Geschrei wie damals vor der Kirche in seinem Dorf in Südrußland. Nur Glocken läuteten keine.
Frauen und Kinder drängten gegen die Postenkette. Pawel sah, wie sie winkten. Er hörte ihre immer lauter werdenden Stimmen. Plötzlich schwärmten sie aus, umgingen die Soldaten, rannten auf dem Acker hinter der Kolonne her. Es wurde immer lauter, und obwohl Pawel seine Männer antrieb, konnte er nicht verhindern, daß die Menge sie einholte. Zu beiden Seiten der Straße liefen Frauen und Kinder im pappigen, matschigen Schnee, riefen, weinten, schrien und winkten. Und der Soldat Pawel dachte: Das ist schlimmer als Krieg.
Um zu zeigen, daß ihm der Lärm nichts ausmachte, steckte er sich eine Papyrossi an. Aber sie schrien noch lauter, und Pawel fing an sich zu ärgern und nahm die Maschinenpistole und gab einen kurzen Feuerstoß in die Baumkronen. Da herrschte Ruhe. Für kurze Zeit jedenfalls. Aber gleich fing es wieder an, und Pawel mußte darauf achten, daß niemand durch den Graben auf die Straße kam. Die Weinenden vom Acker durften sich nicht mit der Kolonne vermischen. Er hatte dreißig Männer auf der Kommandantur abzuliefern, nicht mehr und nicht weniger. Keine heulenden Weiber und keine rotznasigen Kinder, dreißig Männer und weiter nichts.
Die Frauen schickten die Kinder vor. Die Kleinen sprangen in den schneegefüllten Graben und versuchten an der Böschung emporzuklettern. Pawel machte ein furchtbar böses Gesicht, um sie einzuschüchtern. Ach, es tat ihm leid, aber er mußte sogar den Lauf seiner Maschinenpistole auf die Kinder richten. Natürlich wollte er nicht schießen, aber Respekt mußte sein. Nun macht es dem Soldaten Pawel doch nicht so schwer! Der hat nur einen Befehl auszuführen. Er kann nichts dafür, er kann es nicht ändern. So ist der Krieg. Und Pawel ist nur ein einfacher Soldat aus einem Dorf in Südrußland. Und es läuteten nicht einmal die Glocken.
Er hoffte auf die Erschöpfung. Lange konnten die auf dem Acker nicht mithalten. Je schneller die Kolonne marschierte, desto eher ging den Frauen und Kindern die Puste aus. Deshalb trieb Pawel seine Männer an, drückte den Langsamen, den Hinterherhumpelnden die Maschinenpistole in die Kniekehlen und schimpfte: »Dawei! Dawei! Es wird bald dunkel.«
Es dauerte dann doch einen guten Kilometer, bis das Geschrei schwächer wurde. Erschöpft blieben die Frauen stehen, einige setzten sich in den Schnee, verbargen das Gesicht in den Händen. Die Kinder liefen noch ein Stück mit, bis auch sie nicht mehr konnten. Ein Junge allerdings gab nicht auf. Ausdauernd wie ein Milchwagenpferd trabte er neben der Straße her, ohne Mütze, die Joppe aufgeknöpft, über der Schulter einen roten Schal. Der Bengel überholte sogar die Kolonne, blieb stehen, wartete, bis die Männer näherkamen. Dann schrie er: »Ich will meinen Vater haben!« Pawel verstand den Satz nicht, aber er konnte sich denken, was er bedeutete. Er beobachtete den Jungen und war fest entschlossen, den verdammten kleinen Faschisten nicht über den Graben zu lassen.
In weitem Abstand folgte eine Frau, rief immer wieder einen Namen. Es wird seine Mutter sein, dachte Pawel. Hör mal zu, Fritze! Du sollst zu deiner Mutter gehen. Sie macht sich Sorgen um dich. Du hast hier nichts zu suchen. Das ist Krieg und Männersache und nichts für Kinder!
Solche Gedanken hatte Pawel, als er sich den Jungen anschaute. Er bewunderte die Ausdauer, mit der er seinem Vater folgte. Das war ein zäher Bursche, der nicht aufgab. Verstohlen blickte er hinüber, versuchte das Alter zu schätzen. Na ja, er wird so alt sein, wie Pawel damals war, als sie die Männer aus dem Dorf abholten. In diesem Augenblick fiel ihm ein, daß sein Großvater zu den Männern gehört hatte, doch wußte er nicht mehr, ob die Weißen oder Roten ihn mitgenommen hatten. Hast du damals auch geweint? fragte er sich. Die Antwort wollte ihm nicht einfallen. Er erinnerte sich nur, seinem Großvater nachgelaufen zu sein. Es war Sommer gewesen, weit und breit hatte es keinen Schneematsch gegeben, der Klee hatte rötliche Blüten, und als er müde war, hatte er sich in ein Kleefeld gelegt und den Wolken nachgesehen … Nein, er wußte nicht mehr, ob er damals geweint hatte.
Pawel hielt Ausschau nach dem Vater des Jungen, wartete auf ein Zeichen der Verständigung zwischen Straßenrand und Chaussee. Einer der Männer wird sich umdrehen, dem Jungen zuwinken oder einen Gruß hinüberrufen. Aber sie gingen alle dreißig schweigend ihren Weg, die Blicke auf die Straße geheftet, als hätten sie mit dem Jungen nichts zu schaffen. Auch die Frau war nicht mehr zu hören. Pawel war allein mit seinen dreißig Männern und dem Jungen und der Maschinenpistole, die er entsichert unter dem Arm trug. Eine seltsame Stille. Der Junge rief nicht mehr, keuchte nur hörbar neben der Kolonne. Krähen überflogen die Straße, ließen sich vor ihnen in den Baumkronen nieder. Es begann zu dunkeln. Auf einmal sah Pawel, wie ein Mann in der letzten Reihe ein Taschentuch zog und sich schneuzte. Es war ein hochgeschossener Mann, der einen braunen Mantel trug, etwas gebrechlich von Statur, das rechte Bein zog er nach. Als der Mann das Taschentuch einsteckte, drehte er sich zur Seite. Da sah Pawel sein gerötetes Gesicht. Vielleicht ist er der Vater, dachte Pawel und ging ein wenig schneller, um dem Mann ins Gesicht zu schauen. Nun ja, es war kein besonderes Gesicht. Der Mensch schien wirklich Schnupfen zu haben, jedenfalls waren Nase und Augen stark gerötet. Als er aufblickte, glaubte Pawel, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Jungen zu erkennen.
In der nächsten Ortschaft kam ihnen ein Lastauto mit Soldaten entgegen. Pawel ließ seinen Trupp halten, stellte sich auf die Straße und schwenkte die Maschinenpistole. Das Auto stoppte, ein Offizier sprang aus dem Führerhaus, fragte, was zum Teufel los sei. »Seht ihr den kleinen Faschisten dort auf dem Feld!« rief Pawel. »Er läuft schon eine halbe Stunde hinter mir her, weil sein Vater unter den Gefangenen ist. Nehmt ihn mit. Zwei Dörfer zurück ist seine Mutter.«
Der Offizier stellte sich breitbeinig auf die Chaussee und winkte, aber der Junge rannte über den Acker auf ein Gehöft zu. Die Soldaten lachten, als sie den kleinen Faschisten laufen sahen, aber der Offizier fluchte. Er schoß einmal … zweimal in den trüben Winterhimmel. Als der Junge sich in den Schnee fallen ließ, lachten die Soldaten noch mehr.
Pawel beobachtete den Mann im braunen Mantel. Wie er aus der Kolonne trat. Wie er hastig auf den Offizier zueilte, als wolle er ihn zur Rede stellen, durch ein Gespräch aufhalten.
Also doch der Vater, dachte Pawel. Er stellte sich ihm in den Weg, drängte ihn zurück in die Kolonne.
Der Offizier schickte zwei Mann auf das Feld, um den Jungen zu holen. Sie brachten ihn tatsächlich, und kurz vor dem Graben ließen sie ihn los. Er suchte sich eine flache Stelle, nahm Anlauf und sprang. Pawel sah ihn zum erstenmal aus der Nähe, ein Bursche mit Sommersprossen und rötlichen Haaren. Strümpfe und Schuhwerk waren durchweicht, die Hände steckten in dicken Fäustlingen. Pawel wollte ihn auf den Lastwagen heben, aber der Bengel sprang zur Seite, stand plötzlich in der Kolonne der dreißig Männer. Der im braunen Mantel breitete die Arme aus.
»Mein Gott, Junge«, sagte er nur, weiter nichts.
Die Soldaten packten ihn, warfen ihn auf das Lastauto, wie man ein Bund Stroh hinaufwirft. Die anderen oben fingen ihn auf, und einer schob dem zappelnden Jungen ein Stück Würfelzucker in den Mund.
»Noch ist Krieg, wir können uns nicht mit Kinderspielchen aufhalten«, schimpfte der Offizier.
Pawel wartete, bis das Auto abgefahren war. Dann ging er zu dem Mann im braunen Mantel, um ihm etwas Gutes zu sagen.
»Sie bringen deinen Jungen zurück zur Mutter.«
Pawel wußte nicht, ob der Mann den Satz verstanden hatte. Deshalb wiederholte er ihn, lachte und klopfte dem Mann auf die Schulter. Als der Autolärm verstummt war, befahl Pawel den Weitermarsch. Er spazierte, die Maschinenpistole im Arm, neben der Kolonne und blickte fortwährend den braunen Mantel an. Plötzlich drängte er sich unter die Marschierenden und hielt dem Mann seine Zigarettenschachtel hin.
»Du hast einen guten Sohn«, sagte er und hielt die Hand einen Meter vierzig über den Boden und lachte und zeigte zu dem abfahrenden Lastauto und lachte wieder und schlug ihm auf die Schulter.
Der Mann zog umständlich den Handschuh von der linken Hand, griff nach der angebotenen Zigarette. An der Art, wie er sie in den Mund steckte, erkannte Pawel, daß er kein Raucher war, nur so mitrauchte, weil er das Geschenk nicht auszuschlagen wagte. Die Kolonne mußte halten, nur weil Pawel dem Mann Feuer geben wollte. »Ich sage dir, du hast einen guten Sohn. Aus dem wird ein anständiger Kerl.«
Der Mann im braunen Mantel antwortete nicht, schneuzte nur seine Nase, denn er war wirklich erkältet, was vorkommen kann, wenn Krieg ist und bei diesem Schneematsch auf der zugigen Chaussee. Sie standen herum, bis Pawel und der Mann im braunen Mantel mit der Zigarette fertig waren. Nun ist genug, dachte Pawel. Es wurde Zeit, in die Stadt zu kommen. Nichts konnte den Soldaten Pawel mehr aufhalten, weder tapfere kleine Jungen noch weinende Mütter oder traurige Väter. Er wollte seinen Auftrag hinter sich bringen, die dreißig Mann vor Einbruch der Dunkelheit abliefern, um endlich Ruhe zu haben.
Er ließ sich zurückfallen, marschierte da, wo er hingehörte, am Ende des Zuges. Die Männer vor ihm verschwammen zu leblosen Gegenständen, die mechanisch einen Fuß vor den anderen setzten. Er dachte wieder an seinen Großvater, den die Weißen oder die Roten geholt hatten. Aber das war lange, lange her. Und damals gab es noch Glocken, und roter Klee blühte in Fülle.
Nach einer halben Stunde brachte ihn der Mann im braunen Mantel in die düstere Schneelandschaft zurück. Er humpelte stärker, schaffte kaum noch den Anschluß. Pawel stieß ihn an, bedeutete ihm, schneller zu marschieren. Der Mann zeigte auf sein rechtes Bein.
»Wir sind bald in der Stadt!« schimpfte Pawel. »Da hast du Zeit genug für das Bein.«
Er sah, wie der Mann sich beeilte, die Kolonne einzuholen. Er schaffte es tatsächlich, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht. In diesem Augenblick kam Pawel die Frage in den Sinn, warum der Junge wohl so hartnäckig seinen Vater verfolgt hatte. Was hat ihn dazu getrieben? Ihm fielen mehrere Antworten ein. Vielleicht hat der Junge Geburtstag. Oder der Vater hatte ihm etwas versprochen und das Versprechen nicht eingehalten. Was versprechen Väter ihren kleinen Söhnen, wenn sie nicht gerade mit Krieg zu tun haben? Einen Flitzbogen zu basteln, ein Katapult zu schnitzen, eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte mit gutem Ausgang, in der Sommer ist und Glocken läuten und der Klee rot und üppig blüht. Pawel versuchte eine Geschichte mit gutem Ausgang zu erfinden. Wie wäre es, wenn er den Mann im Straßengraben sitzen ließe. Eine halbe Stunde später kämen die Frauen und Kinder. Sie würden ihn umringen, ihn anfassen, um zu sehen, ob er noch lebe. Ein Wunder, werden sie sagen, ein richtiges Wunder. Der Mann im braunen Mantel wird aufstehen und seinem Sohn über das Haar streichen. Ihm allein habe ich es zu verdanken, wird er sagen, und ein bißchen auch dem Soldaten Pawel, der aus einem Dorf in Südrußland in die Gegend von Allenstein gekommen ist, um dort einen Befehl auszuführen. So ungefähr stellte Pawel sich eine Geschichte mit gutem Ausgang vor. Sie gefiel ihm, diese Geschichte. Und als der Mann im braunen Mantel wieder zurückblieb, weil sein Bein schmerzte, packte Pawel ihn am Arm und deutete auf den Straßengraben. Entsetzt blickte ihn der Mann an. Pawel stieß ihn hinab, richtete den Lauf der Maschinenpistole auf den zitternden Menschen. So stand er, bis der Mann die Hände hob. Da lachte Pawel.
»Du hast einen guten Sohn«, sagte er, drehte sich ruckartig um und folgte seiner Kolonne. Der Mann im braunen Mantel blieb im Graben sitzen, so wie es in Pawels guter Geschichte ausgemacht war.
Im nächsten Dorf fiel Pawel der Zettel ein, auf dem die Zahl dreißig stand. Sie werden dich fragen, warum du nur neunundzwanzig Männer nach Allenstein bringst, dachte er. Was hast du mit dem dreißigsten gemacht, Soldat Pawel? Ist er dir abgehauen? Hast du geschlafen und dich von ihm übertölpeln lassen? Hast du ihn auf der Flucht erschossen? Sie werden dich verhören, dachte Pawel. Sie werden herausbekommen, wie es wirklich gewesen ist. Sie werden sagen, du bist ein Schwächling, Soldat Pawel. Du hast ein zu weiches Herz für diesen Krieg. Du mußt an die Front, um dich zu bewähren. Ein ganzer Mensch fehlte ihm. Einer von dreißig. Weißt du noch, was mit den Kolchosbauern geschah, wenn sie einen halben Sack Kartoffeln unterschlugen? Du hast einen ganzen Menschen unterschlagen, Pawel! Ein Dummkopf bist du, Soldat Pawel! Ein Dummkopf, der Strafe verdient hat.
Als sie an einem Gehöft vorbeikamen, sah Pawel einen alten Mann, der sich an einer vereisten Pumpe zu schaffen machte. Pawel ließ halten, trat ein paar Schritte vor und feuerte das halbe Magazin in die Luft. Der alte Mann ließ den Wassereimer fallen und hob entsetzt die Hände. Pawel winkte ihn heran. Zögernd, noch immer die Hände erhoben, kam er.
»Was wollt ihr von mir?« fragte er ängstlich.
Pawel zeigte auf den freien Platz in der letzten Reihe, schob ihm die Maschinenpistole in den Rücken, drängte ihn zu dem Platz hin. »Mein Gott, ich habe doch nichts getan!« jammerte der Mann.
»Wir haben alle nichts getan«, sagte der, der ihm am nächsten stand. »Krieg ist Krieg!« fluchte Pawel.
Er wollte den Befehl zum Abmarsch geben, als eine Frau aus dem Haus gelaufen kam mit einem Pelzmantel über dem Arm. Sie jammerte nicht, weinte nicht, bettelte nicht. Sie breitete nur den Mantel aus und hängte ihn dem Mann über die Schulter. Und sie schlug den Kragen hoch, und sie knöpfte den Mantel vorne zu; dabei berührten ihre Hände seine Hände.
Nun war es genug. Pawel hatte keine Zeit mehr. In einer halben Stunde mußte er in der Stadt sein und die dreißig Männer abliefern. Es wird keine Verhöre geben und keine Protokolle. Auf der Kommandantur wird er sich den Bauch vollschlagen und anschließend lange, lange schlafen.
Zufrieden steckte er sich eine Zigarette an, rauchte allein. Die Männer im Gleichschritt vor ihm. Nie wieder wird Pawel einem von ihnen ins Gesicht blicken. Die hereinbrechende Dunkelheit kam ihm zu Hilfe. Sie legte sich auf die Baumkronen und den schmutzigen Schnee. Vor sich sah er die Umrisse der müden Gestalten, hörte ihre Schritte, ihr Husten und Schneuzen. Aber noch deutlicher hörte er hinter sich das Grummeln der Front.
Tagelang diese Windstille. Keine Bewegung in den Wolken und den blätterlosen Bäumen. Nebligtrübe Dämmerung über dem Land, dessen frisches Weiß längst in schmutziges Grau übergegangen war. So ist es immer, wenn alter Schnee lange liegt. Dann sind die Wege ausgefahren, der Dreck kommt von unten hoch, oder er fällt von oben. Es wird Zeit, daß ein Windstoß den Spuk auseinanderfegt, diese ganze dumpfe, tiefhängende Düsternis, die das Land unbewohnt erscheinen läßt. Und danach muß frischer Schnee fallen oder Regen, der den Dreck wegspült, so daß die Erde wieder sauber wird und frisch und vielleicht auch noch einmal grün.
Im Vorraum häuften sich die Kornsäcke, bildeten einen Wall an der Holzwand hinauf bis zum weißgepuderten Gebälk. Seit zehn Tagen ruhte die Arbeit wegen der endlosen Windstille. Und als am elften Tag der Abend dämmerte, kam der Bürgermeister im Einspännerschlitten, fuhr einmal um die Mühle wie die Fuhrwerke, die Korn bringen, hielt vor der Rampe, auf der die Säcke abgeladen werden.
»Nun wird es auch für dich Zeit«, sagte der Mann im Einspännerschlitten zu Müller Naujak. »Morgen bei Tagesanbruch fahren wir los.«
Naujak war vor die Tür getreten und hielt den nassen Finger in die Luft.
»Es wird Wind geben«, brummte er.
»Ob Wind oder nicht, du kannst nicht weiterarbeiten, wenn der Krieg kommt. Bisher war es immer so, daß Windmühlen zuerst in Brand geschossen wurden. In allen Kriegen hat es die Mühlen getroffen; es wird diesmal nicht anders sein.«
Naujak schüttelte den Kopf. Er wollte doch lieber noch ein bißchen bleiben und auf Wind warten. Ostwind wäre ihm am liebsten. Der wehte stetig und ausdauernd, der fegte nicht mit unberechenbaren Böen über das Land. Ostwind tat den Mühlen gut.
Der nächste Tag begann mit einem frostklaren Morgen. Die aufgehende Sonne fraß den Dunst, übergoß die Mühle mit hellem Rot. Plötzlich glitzerte wieder der schmutzige Schnee.
Da kamen die ersten Wagen aus dem Dorf.
»Komm mit!« riefen die Leute, als sie an der Mühle vorbeifuhren. »Komm mit, es wird doch keinen Wind geben.«
Naujak sah ihnen nach, wußte genau, daß sie sich irrten. Ein langes Leben hatte er darauf verwendet, Wind vorauszusagen. Er sah es an den Wolken, am Vogelflug, an der Art, wie die Sonne den Morgendunst fraß. Wartet nur ab, es wird genug Wind geben.
Der alte Naujak kann die Mühle nicht lassen, sagten die Leute. Er ist alt und ein bißchen wunderlich, aber er ist ein guter Müller. Wenn wir zurückkommen, wird er alles gemahlen haben.
Als die Sonne die Baumwipfel der Chaussee erreichte, kam tatsächlich Wind auf, Ostwind, der den Mühlen zusagt. Er trieb Schneekrümel vor sich her, ließ sie wie Sandkörner gegen das Holz prasseln. Ja, das war Musik, das war der Wind, den Naujak brauchte, um die Berge von Korn zu mahlen, die sich in der Mühle aufgetürmt hatten. Er löste die Mühlenflügel, drehte sie in den Wind, schob sie an, bis der Wind in die Seiten griff und ihm die Arbeit abnahm. Das Gebälk begann zu knarren und zu zittern. Die Erde dröhnte wie immer, wenn die Flügel mit voller Wucht rotierten, ihr Windzug riß eine tiefe Spur in den Schnee.
»Endlich lebst du!« rief Naujak und schüttete die ersten Säcke in den Trichter. Sogleich erfüllte der gute Geruch frischen Mehls den Raum, ein Geruch, der hungrig macht und zugleich satt.
Als er vor die Tür trat, um nach dem Wind zu sehen, hörte er Gewehrfeuer. Vereinzelte Schüsse, weit entfernt, aber vom Ostwind zugetragen, als wäre drüben auf der anderen Seite der Chaussee eine Treibjagd auf Hasen.
Es wird der Krieg sein, dachte Naujak und fröstelte. Da war es besser hineinzugehen und zuzuschauen, wie die Steine die Körner zerrieben und das Mehl aus der Holzrinne in den Sack lief. Er hörte nicht mehr, wie eine Granate jenseits der Chaussee explodierte. Eine zweite Granate schlug auf dem Eis des Dorfteichs ein. Naujak nahm es nicht wahr, weil er mit den Säcken zu tun hatte und die Arme bis zu den Ellenbogen in das frische Mehl tauchte. Da war es warm. Als er aus dem Fenster blickte, sah er die Rauchsäule. Sie hing wie ein schwarzer Trichter über dem Waldrand etwa da, wo das Vorwerk der Domäne liegen mußte.
Einem fleißigen Menschen, der Mehl für das tägliche Brot mahlt, kann nichts geschehen, dachte er. Brot brauchen alle. Wer soll das viele Korn mahlen, wenn nicht Müller Naujak?
Kleinmittag hielt er oben in der Kuppel. Bei geöffneter Dachluke. Das Land vor sich ausgebreitet. Über dem Torfbruch hingen weiße Wölkchen, die sich rasch verflüchtigten. Ja, es mußte das Vorwerk der Domäne sein. Ruhig und ohne Lärm brannte es nieder. Keine Feuersirene war zu vernehmen, kein vierspänniger Spritzenwagen jagte über die Feldwege der Rauchsäule entgegen.
In früheren Kriegen sind Windmühlen Aussichtsplätze für Späher und Artilleriebeobachter gewesen. Vielleicht hat man sie deshalb so gern in Brand geschossen. Aber wer klettert heute noch in Mühlen, um nach dem Feind zu sehen? Gab es etwas Friedlicheres als Windmühlen? Aber sie stehen so auffällig herum, bieten sich an als Zielscheibe. Vielleicht sind brennende Windmühlen ein faszinierendes Schauspiel, eine Abwechslung im Einerlei des Krieges.
Um die Mittagszeit wurde es draußen ruhiger. Gewöhnlich kam um diese Zeit ein Junge aus dem Dorf und brachte warmes Essen in die Mühle. Aber sie waren alle fort, die Essenkocher und die Essenbringer. Selbst der Himmel war leergefegt von allen Lebewesen und Wolken, nicht einmal Krähen saßen auf dem Schneeacker hinter der Mühle. Wann hat es jemals einen so heftigen Ostwind gegeben? Und das bei klarem Himmel und Sonnenschein! Naujak saß auf der Schwelle und aß sein Mittagbrot, aß es mit der Bedächtigkeit, die einem alten Menschen zukommt, der über dreißig Jahre in der Mühle gearbeitet hat, der auch im Schlaf noch mahlte und dem nichts wichtiger erschien als guter Wind. Nach der Mahlzeit rauchte er, wie es seine Gewohnheit war, ein Pfeifchen und war noch nicht damit zu Ende, als er das dumpfe Dröhnen vernahm. Es stieg aus der Talsenke, kam die Chaussee entlanggekrochen, ein Lärm ohne Ursache. Er wartete, bis das Dröhnen sichtbar wurde. Auf der Chaussee kamen Panzer. Hinter den grauen Ungetümen sah er weiße Punkte, eine lange Kette der Treiber.
Er hätte nun die Mühle anhalten müssen. Eine Mühle mit drehenden Flügeln ist eine Herausforderung für jeden Soldaten. Wie ein fliehendes Wild, ein kreisender Raubvogel den Jäger herausfordert, so stehst du mit deiner Windmühle vor dem Feind, Müller Naujak. Aber davon wußte er nichts, denn er war schon sehr alt und ein bißchen wunderlich, wie die Leute sagten. Außerdem hatte er viel zu tun. Er brachte es nicht über sich, die Arbeit zu beenden, nur weil draußen Krieg war. Arbeit ist immer gut. Wer arbeitet, dem kann nichts geschehen.
Die Panzer erreichten den Dorfeingang. Dort hielten sie, richteten die Kanonen auf die leeren Häuser, schossen aber nicht. Ein Trupp Soldaten versammelte sich vor der Abzweigung zur Mühle.
»Habt ihr so etwas schon gesehen!« rief einer und zeigte auf die Mühle. »Die Rote Armee kämpft gegen Windmühlenflügel.«
Er hob sein Gewehr und feuerte in Richtung Mühle.
»Was ist los, Wassil? Kannst du nicht einmal eine Windmühle treffen?« schrie ein anderer.
Die Soldaten lachten.
»He, Aljoscha, wie hält man deutsche Windmühlen an?«
»Du mußt ihr die Flügel stutzen.«
»Wo hast du schießen gelernt, Wassil? Auf zweihundert Meter triffst du nicht einmal einen Windmühlenflügel.«
»Treffen ist keine Kunst, aber die verdammten Flügel halten nicht an.«
»He, Spaßvogel, bring endlich die Mühle zum Stehen!«
»Das wäre doch gelacht, wenn wir nicht mit einer deutschen Windmühle fertig würden.«
Die Kugeln zerfetzten die Bespannung, schlugen ins Runddach, zertrümmerten die kleinen quadratischen Fenster. Aber die Mühle arbeitete weiter.
Einer der Soldaten ging zu dem Panzer, der ihnen am nächsten stand. »He, Pjotr«, sagte er zu dem Mann, der aus der Luke schaute. »Wäre das nicht eine gute Zielübung für einen Panzerkanonier?«
Die Panzerkanone schwenkte um 90 Grad. Die Soldaten versammelten sich neben dem Koloß, wollten sehen, wie er mit der Mühle fertig wird. Sie wetteten, ob die Mühle mit einem Geschoß zu schaffen sei.
»Du hast schon verloren, Aljoscha!«
Die erste Granate sauste über das Ziel hinweg, schlug auf flachem Acker ein und verteilte schwarze Erde. Das zweite Geschoß streifte einen Mühlenflügel. Holzstücke wirbelten durch die Luft, prasselten aufs Dach, blieben als dunkle Punkte im Schnee liegen. Aber die Flügel drehten sich, mit halber Kraft nur, aber sie drehten sich.
»Was sagst du dazu, Aljoscha? Die Mühle ist nicht kleinzukriegen!«
Die dritte Granate riß der Mühle das Dach ab. Es flog in einem Stück wie ein aufgeschreckter Vogel zur Seite, senkte sich auf die dreckige Erde. Aber noch immer drehten sich schwerfällig die Flügel. Es bedurfte einer vierten Granate, da gab die Mühle auf. Die Flügel zerbarsten, knickten ab zur Erde. Eine Wolke Mehlstaub breitete sich aus, umhüllte gnädig die Trümmer.
»Aljoscha, nimm dir zwei Mann und geh zur Mühle!« sagte der Offizier. »Aber sei vorsichtig, es könnte jemand drin sein.«
In Rufweite blieben sie stehen, die Maschinenpistolen im Anschlag. Aljoscha brüllte die zerstörte Mühle an. Als er keine Antwort erhielt, jagte er ihr das volle Magazin ins Holz. Danach umkreisten sie den Trümmerhaufen. Ein Soldat stieß die schiefhängende Tür auf und warf eine Handgranate. Die Detonation schleuderte ein Stück der Rampe fort und riß ein Loch in die untere Steinwand, knapp über dem Erdboden. Aus dem Loch rieselte trockenes Getreide, vermischte sich mit dem schmutzigen Schnee.
Kein Mensch in der Mühle. Kein Verletzter stöhnte. Keine Leiche auf dem Fußboden. Der blaue, klare Himmel blickte von oben herein. Die Stiege zum Dach schwebte ohne Halt zwischen den Balken.
»Kann eine Windmühle arbeiten, ohne daß ein Mensch da ist?« fragte Aljoscha.
»Das ist schon möglich«, antwortete ein älterer Soldat. »Eine Mühle kann sich im heftigen Wind losreißen. Als ich Kind war, habe ich das in der Nähe von Astrachan erlebt. Da fing eine Mühle nachts an, ihre Flügel zu bewegen. Die Leute dachten, der Teufel sei in die Mühle gefahren, und ließen die Kirchenglocken läuten. Aber ich sage dir, die Mühle hatte sich nur losgerissen, weiter nichts.«
Aljoscha nahm Platz auf einem Balken und steckte sich eine Zigarette an. Er hielt das brennende Streichholz unter einen leeren Mehlsack, bis bläuliche Flammen aus dem Leinen züngelten. Dann warf er den Sack auf einen Bretterhaufen und sah zu, wie das Holz das Feuer annahm, ohne sich zu wehren, wie der Rauch sich seinen Weg in den offenen Himmel bahnte. Als es nicht mehr auszuhalten war vor Hitze, gingen sie zu den anderen zurück.
Nun brennst du also doch, du alte Mühle von Waltersdorf, brennst wie unzählige Mühlen in unzähligen Kriegen. Immer noch sind die Zeiten schlecht für Mühlen wie für Menschen.
Nur Müller Naujak konnte das Feuer nichts anhaben. Der lag verschüttet unter Bergen von gutem Getreide. Und um ihn der Geruch von Ernte und Brot. Es war immer noch Ostwind, und es blieb noch viel zu tun.
Es gab wenig zu lachen nach zwölf Jahren Trockenheit. Deutschland, Deutschland über alles, die Fahne hoch und für Beerdigungen den guten Kameraden. Den Kohlenklau am Schwarzen Brett und den Schwarzen Mann zur schwarzen Zeit. Planmäßiger Rückzug, Vermißtenmeldungen, Kleiderkarten und Weitermarschieren. Wenn das vorüber ist, sehnst du dich nach Bildern, auf denen die Kinder Ringel-Rangel-Rosen spielen, Kamine rauchen, alte Leute mit Pfeifchen im Mund vor der Haustür sitzen und die Sonne wieder so scheint wie früher. Gefragt sind unverfängliche Lieder, Heideröslein, gesungen von einem gemischten Chor, ein Schäfer, der sich zum Tanz putzt, juchhei!
Als die Engländer die Sperrstunde aufhoben, kam der Mann ins Dorf. Vorher ging es nicht, weil er nicht sicher war, vor Sonnenuntergang in Lübeck oder Hamburg zu sein oder da, wo er herkam. Er sah zum Lachen aus, aber es lachte niemand, weil viele so herumliefen. Er trug diesen grauen Mantel, den der Krieg übriggelassen hatte, eine seiner besten Hinterlassenschaften. Aber er paßte nicht. Der Mann sah so alt aus, er konnte den Mantel unmöglich rechtmäßig erworben haben. Geliehen oder gestohlen, das wäre wahrscheinlicher. An dem Rucksack trug er schwer. Bücher sind eine furchtbare Last, sie kommen gleich nach Eisen. Ein Bändchen Schumannscher Lieder mochte noch gehen, aber mittelalterliche Madrigale in Leder und zweieinhalb Kilo Johann Sebastian Bach. Das bot er an und wollte weiter nichts als Kartoffeln.
Die im Dorf sahen ihm den gebildeten Menschen nicht an, aber sie vermuteten es, als er ihnen den Inhalt seines Rucksacks zeigte. Nee, nee, mein Lieber, das ist nichts für uns. Hast du kein Buch mit plattdeutschen Liedchen? Lütt Matten de Hoos oder die endlose Geschichte von Herrn Pastor sien Koo wären wohl eine Kiepe Kartoffeln wert. Sie schickten ihn zur Baronesse. Die spielte doch Abend für Abend. Sie hat keinen Mann, sie hat ein Klavier, sagten die Leute im Dorf. Sogar in der Sperrstunde hatte sie gespielt, meistens bei geöffnetem Fenster. Da war die Musik über die leeren Straßen gezogen wie ein endloses, klagendes Echo. Eine Abordnung des Dorfes hatte sie nach Kriegsende besucht und um heitere Lieder gebeten. Also spielte sie die ungarischen Tänze von Brahms, an jedem Werktag einen, aber am Sonntag »Die Himmel rühmen«.
Also geh mal zur Baronesse! Wenn es einen Menschen im Dorf gibt, der mit zweieinhalb Kilo Johann Sebastian Bach etwas anzufangen weiß, ist sie es.