Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-23405-7
ISBN E-Book 978-3-688-10376-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10376-8
westfälisch für: Gesicht
In dem Judith sich vorstellt, ihre Wohnung kurzzeitig für einen Tatort hält, einen Liebhaber fast vergessen hat, über ihren Job lästert und zusammen mit ihrem Lieblingsmoderator bei einem Beach-Boys-Stück mitsingt
Au Backe. Bei mir wurde eingebrochen. Als ich heute Nachmittag nach Hause kam, war die Wohnung leer geraubt: Anstatt der Schneisen, die man normalerweise zwischen die Papier- und Textilberge, die Gläser, Keksdosen und den Plastiknippes schlagen muss, um zum Beispiel zum Bett oder zum Schreibtisch zu gelangen, ist der Teppich freigeräumt. Er ist blau, der Teppich, das hatte ich schon ganz vergessen. Doch wo sind meine Sachen? Keine Berge, keine Endmoränen, keine Schneisen, nur Schränke, Bilder, leere Stühle. Ich überlege kurz, gucke in die Büroecke, wo der fiepende Computer hockt, registriere die ordentlich auf Regalen abgelegten Papierstapel, schaue in die Schränke, die mit von Zauberhand zusammengefalteten Pullovern, Pullundern, T-Shirts und Röcken gefüllt sind, und entscheide: doch kein Einbruch.
Da fällt es mir wieder ein. Ich habe die Wohnung am Morgen mit einem Mann drin verlassen. Einem netten, am Abend vorher aufgelesenen, um die Mitte herum behaarten Mann in meinem Alter. Ich hatte ihm erlaubt, nach meinem Aufbruch noch etwas zu bleiben, normalerweise vertraue ich Menschen, mit denen ich eine leidlich heiße Nacht verbracht habe. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet ich den einzigen Damenhöschendieb meiner Generation kennen lerne. Aber wer kann schon ahnen, dass so einer einen amtlichen Putzfimmel hat? Und einfach bei mir aufräumt, ohne dass ich ihn dafür bezahle?!
Ich gucke schnell in der Küche nach – der Mann hat auch abgespült. Er hat sogar diese Wundertücher gefunden, die mir lieber Besuch aus Hamburg neulich geschickt hat, nachdem er wieder zu Hause war: Mit dem Wundertuch in der ausgestreckten Hand stellt man sich laut Gebrauchsanweisung einfach in die Mitte eines staubigen Zimmers, und dann kommt der Staub von selbst angeflogen und setzt sich auf den Lappen. Man nennt das «antistatische Staubanziehung» oder so ähnlich. Ich hab’s nie ausprobiert, bei dem Mann von letzter Nacht schien es aber funktioniert zu haben – die Wohnung ist staubfrei. Gleichsam asthmatikergeeignet.
Wie soll man auf so etwas reagieren? Soll man beleidigt sein oder erfreut? Ich entscheide mich (auch wegen der nicht unangenehmen körperlichen Vorfälle der Nacht) für eine positive Rezeption und freue mich darüber, mal wieder eine Wohnung mit so vielen Sitzmöglichkeiten zu haben. Dass meine Wohnungen immer so unaufgeräumt sind, liegt vor allem an meinem Sammeltrieb. Den habe ich von meiner verstorbenen Oma geerbt, einem gutmütigen und rüstigen pommerschen Kriegsflüchtling. Meine Oma pflegte alles, was nach dem Mittagessen auf der Tischdecke übrig blieb, Krümel, Flusen, abgeschnittene Fingernägel und so weiter, in einer Blechdose mit der Aufschrift «Paniermehl» zu sammeln. Eine Angewohnheit, deren subtile Sparsamkeit, gepaart mit anarchistischer Geschmacksverachtung, mir erst in späteren Jahren bewusst wurde und dazu führte, dass ich mich weigerte, bei ihr irgendetwas anderes als Hefeklöße zu essen. Die Dinge, die ich heute sammle, unterscheiden sich natürlich von dem Paniermehl meiner Oma: Bücher, Schallplatten, CDs, Videofilme (ich archiviere alle Spielfilme, in denen Kontaktlinsen oder Brillen eine Rolle spielen), ganz bestimmten Nippes und Atomiumbilder und -modelle. Das größte ist 45 Zentimeter hoch und aus Aluminium, ein Prachtexemplar. Ich hatte es schon länger nicht mehr gesehen, aber nun steht es wieder in der Ecke neben dem Plattenregal und glänzt. Und während ich mich darüber freue, überlege ich, ob der Putzmann und ich eigentlich Telefonnummern ausgetauscht haben. Man könnte ihn ja noch mal anrufen, wenn es wieder dreckig ist … Ich kann mich aber nicht mehr erinnern.
Wir hatten uns am Abend vorher bei einer Privatparty in Friedrichshain kennen gelernt, ich gehe manchmal einfach hinter angetrunkenen Menschengruppen her, die nach Fete aussehen, und bin auf diese Art schon in den lustigsten Hinterhauswohnungen gelandet. Man muss sich nur im richtigen Augenblick in das Gespräch einschalten. Meistens glaubt dann jeder, man kenne einen der Beteiligten. Auf dem Fest selbst begegnet man eventuellen fragenden Blicken mit einem «Christian/Markus/Klaus/Stefan hat mich eingeladen!», und normalerweise sind alle zu lieb, um einen wieder rauszuschmeißen. Als ich neu in Berlin war, habe ich mich hin und wieder sogar in WGs zum Zimmerangucken einladen lassen, nur weil es dort meistens Kuchen oder Kekse gab. Man schaute kurz in irgend so ein 16-qm-Zimmer mit Kohleofen und durfte sich dann an den großen Küchentisch setzen und Danish Buttercookies oder Christstollen stopfen, während die WG versuchte, einen «besser kennen zu lernen». Nie hätte ich wirklich daran gedacht, dort einzuziehen. Ich mag das Zusammenwohnen mit anderen Menschen überhaupt nicht.
Die Party gestern, auf der ich den Putzmann traf, war eindeutig eine WG-Party, allerdings eine nette, mit Lichterketten im Flur, Bierflaschen in der Badewanne und einem echten, schon sehr zerrupften Käseigel in der Küche. Der Putzmann und ich hatten uns um die beiden letzten Spießchen mit dunklen Weintrauben gestritten und waren nach kurzem Vorgeflirte schnurstracks erst in den Schmuseraum und dann zu mir nach Hause marschiert. Ich bin 45, ich habe nicht die ganze Nacht Zeit, das sind meine Argumente in solchen Fällen. Eigentlich bin ich zwar erst 35, aber so kommt man meistens billig an ein paar Komplimente: «45? Du siehst aber wirklich jung aus!» Viel einfacher, als es anders herum und sich jünger zu machen und dann wie eine weise, greisenhafte 25-Jährige zu wirken. In Sexdingen lange fackeln kann man sich jedenfalls bei einer jeden Augenblick ans Aufhören denkenden Libido nicht mehr leisten. Wer weiß, wie lange man überhaupt noch ready, willing and able ist. Heutzutage gucke ich schließlich manchmal morgens in den Spiegel und sehe aus wie eine drogenabhängige Japanerin. Quasi Yoko Ono.
Eigentlich sehe ich überhaupt nicht japanisch aus, sondern recht nordeuropäisch: Die Augen muss ich nachstricheln, damit man weiß, wohin man im Gesicht gucken soll. Den Mund glücklicherweise nicht, der ist groß genug und sieht mit etwas Phantasie ungefähr aus wie der Mund auf dem Wrigley’s-Piktogramm-Papierchen, das man früher immer nach Amerika schicken musste, damit ein armes Kind einen Rollstuhl bekommt. Meine Haare sind das Gegenteil von amerikanischem «big hair»: papierdünn und kinnkurz und braun mit Rotstich. Sozusagen «very small hair». Nur um meine Hautfarbe beneiden mich bestimmt die Yoko Onos dieser Welt: Die entsprechende Make-up-Nuance heißt «Sheep». Schafsweiß. Aber auch das hat sein Gutes. Man kann immer behaupten, einem sei schlecht und man müsse nach Hause.
Dem Putzmann aus der Nacht gefiel’s. Wir waren natürlich recht angetrunken, als das Taxi vor meinem hässlichen Haus mit dem schönen Ausblick hielt. Nachdem ich ihn nach oben dirigiert hatte, schüttete ich ein paar Wodkareste zusammen und nahm seine semilustigen Bemerkungen über meine voll gestellte Fan-Man-Wohnung (Bist du gerade eingezogen, hat deine Putzfrau Urlaub?) nicht weiter ernst. Und jetzt steh ich hier, und alles glänzt. Na ja, hätte schlimmer kommen können.
Eigentlich passt es mir sogar ganz gut, mit einer sauberen Wohnung im Rücken in die neue Arbeits-Fortnight zu starten. Ich arbeite zwei Wochen im Monat am Stück für eine Fernseh-Frühstückssendung. Sie ist der Hit für Hausfrauen, läuft in einem Privatsender und in direkter Konkurrenz zu richtigen Sendungen mit richtigen Inhalten. Die Show heißt «Morgenstund», und ich bin die Textredakteurin. Das klingt, wenn ich es in einer Clique medieninteressierter Heißsporn-Studis sage, immer ganz imposant, ist aber leider in Wahrheit ein Schweinejob. Ich bin dafür verantwortlich, dass alles, was in der Sendung gesagt, vor- und abgelesen oder auswendig dahergeleiert wird, in Ordnung geht. So eine Art Wort-Instanz. Da unsere beiden Moderatorinnen Gina und Ina weder sprachlich noch sonst besonders gewandt sind, habe ich eine Menge zu tun. Immerhin habe ich bei der Arbeit meinen besten Freund kennen gelernt: Franz ist bei der «Morgenstund» der Chief Technical Engineer Boss Hoss oder wie man das heutzutage nennt, er muss sich um alles kümmern, was an technischem Schnickschnack falsch laufen kann. Abgesehen davon ist er ein leidenschaftlicher Fußballfan. Er setzt sich ab und an sogar trotz seiner 40 Jahre mit einem blau-weißen Schalke-Fähnchen und seinem Schalke-Schal um den dünnen Hals vor das Radio, wenn seine Mannschaft mal wieder verliert, und feuert sie mit Einmannskandierungen an: «Wir sind die schönsten Jungs aus dem Ruhrgebiet!» oder «Wir sind Schalker! Und ihr ni-hicht!». Abgesehen davon ist er schwul und steht auf heterosexuelle Fußballer. Und abgesehen davon ist er eben mein engster Freund und vor einiger Zeit ins Hochparterre meines hässlichen 60er-Jahre-Neubaus gezogen, und nun machen wir manchmal «Battle of the Hifi-Anlagen» über die geöffneten Fenster. Wir haben einen ähnlichen Musikgeschmack. Auch darüber, wie eine Wohnung als solche auszusehen hat, stimmen wir überein. Wir mögen es schmuck- und vor allem stucklos. So wie unser Haus: Das hat so gar keinen Gründerzeitcharme wie viele Häuser in Berlin-Kreuzberg, sondern ist purer Frühe-60er-Billig-Neubau. Wenn ich Stuck will, dann gehe ich in eine der zahllosen Kneipen der Gegend, die das Zeug täglich mit einer weichen Babyzahnbürste kosen. Ich brauche so etwas nicht und schüttele stets den Kopf über meine Freunde, die Umzugsberichte mit «Eine soo tolle Wohnung! Altbau, Stuck, Parkett!» beginnen. Auch mit Parkett kann man mich jagen, ich hab’s gerne fußwarm.
Und jetzt kann ich wieder über meinen blauen, fußwarmen Teppich schlurfen, den der ordentliche Eine-Nacht-Steher so schön gesaugt hat. Es ist der Samstag vor den nächsten 14 Arbeitstagen. Das heißt, heute Abend muss ich mich zusammenreißen und ein paar Brillenfilme sortieren oder endlich meine Mao-Biographie zu Ende lesen. Sie ist von Tilemann Grimm, und mit einem solchen Namen kann man eigentlich nichts falsch machen, dachte ich. Allerdings vermisse ich bis jetzt den Hinweis darauf, dass Mao sich nie die Zähne putzte, sondern stattdessen irgendwelche ekligen Wurzeln gekaut haben soll, sodass sein Gebiss stets von einer unappetitlichen grünen Schmiere bedeckt war. Ich gebe zu, dass das bei weitem nicht die wichtigste Information über einen großen Kommunistenführer ist. Aber immerhin bin ich schon auf Seite 149, und nun wird es langsam Zeit. Ich beschließe, morgen aus der Redaktion eine Mail an den Verlag zu schreiben und mich über Tilemann zu beschweren. Leider fängt mein Job nämlich immer schon sonntags morgens an, wenn alle anderen ihren Wochenendkater auskurieren, wenn Pärchen verliebt auf den Flohmarkt schlendern, langjährige Beziehungen sich mal wieder ein Klassikkonzert auf dem Gendarmenmarkt anhören und junge Familien mit dem plärrenden Nachwuchs zu ihren Eltern fahren. Um 10 Uhr muss ich in das Redaktionsbüro, um die Texte für die nächsten beiden Wochen vorzubereiten. Danach habe ich eine 14-Tage-Schicht von 23 Uhr bis 6 Uhr morgens, außer am Wochenende.
Ich schmeiße mich also in meinen Sessel, lege die Füße auf die blitzblanke rechte Außenkugel des Aluminium-Atomiums und lese zehn Seiten Mao-Bio. Dann rufe ich meine Freundin Reintraut an, um mit ihr die letzten veröffentlichten Gedichte Maos über die Schmeißfliegen als Gewürm des modernen Revisionismus zu diskutieren und um ihr von dem Putzmann zu erzählen.
Reintraut hat für beide Themen immer ein offenes Ohr. Sie ist erst 31, kann mit auf dem Rücken festgebundenen Armen und sieben Promille im Blut immer noch jedes Computerproblem lösen, ist lustig wie eine Tex-Avery-Figur, doch hin und wieder auch verzweifelt wie eine texanische Todeskandidatin. Sie findet nämlich keinen Mann, jedenfalls keinen, den sie behalten will, hätte aber gern einen, und manchmal fängt sie aus heiterem Himmel an, darüber zu lamentieren. Worauf ich normalerweise mit dummen Sprüchen über ihren Namen antworte. Reintraut. Wer sich da rein traut. Ha. Jetzt höre ich am Telefon, wie sie sich die Haare rauft (sie hat wilde Locken): Wie machst du das?, fragt sie. Das ist doch wie sechs Richtige: ein netter Mann, der aufräumt! Na ja, sage ich, nett sind sie alle. Und das mit dem Aufräumen ist mir irgendwie doch ein bisschen peinlich. Du Pute, sagt Reintraut, ich wäre so froh, wenn ich überhaupt mal wieder jemanden nach oben locken könnte! Reintraut ist eigentlich eine extrem scharfe Person; wenn man neben ihr geht (sie ist 1,86 Meter), sieht man immer aus wie eine angemietete Schleppenträgerin. Aber sie will nichts lieber als jemanden, der ihr jeden Abend das Bett anwärmt. Und ich vermute, dass die Männer, denen sie mit ihren Locken den Kopf verdrehen möchte, einfach zufällig die falschen sind, die, die das Bett lieber nicht anwärmen, sondern nach dem Akt verlassen. Um sie abzulenken, erzähle ich von den Mao-Gedichten und den Schmeißfliegen. Ich habe gerade ein Computerspiel programmiert, sagt Reintraut aufgeregt, nur mit Insekten! Eine ganze virtuelle Welt voller Kakerlaken, Ameisen und Käfern! Und man muss mit ihnen Armeen bilden, die gegeneinander kämpfen! Die Ameisen sind natürlich am schlauesten. Reintraut ist ganz begeistert und will gar nicht auf meine Anmerkungen zur Kulturrevolution, für die die Ameisen bei Mao stehen, reagieren. Auf der letzten Ebene, erklärt Reintraut, kann man mit den Käfern Familien bilden, die dann kleine Käferkinder kriegen, und damit Punkte sammeln … ach, seufzt sie. Und will wieder über die Einsamkeit einer schönen Käfercomputerspielprogrammiererin reden. Ich aber nicht mehr, ich täusche darum Blasendruck vor und lege auf. Außerdem ist es schon 22 Uhr, da fängt meine Lieblings-Musiksendung im Radio an: «Musik für Nörgler», mit Doktor Bob. Doktor Bob ist der Moderator, ich höre seine Nachtsendung schon seit ein paar Jahren (immer wenn ich meine Arbeitswochen habe) und bin Fan von ihm. Er hat eine tiefe Stimme, legt nur Hits auf, ist bestimmt sehr groß und sieht toll aus. Kein anderer würde zum Beispiel die nur als Maxisingle veröffentlichte Extended Version von «What I Like Most About You Is Your Girlfriend» von The Special A.K.A. spielen. Nur der aufregende Doktor Bob. Er kommt aus Niedersachsen oder Schleswig-Holstein, hundertprozentig kann ich das nicht sagen, aber ich höre in seiner Tonlage etwas sehr Norddeutsch-Bodenständiges, einen Schalk, aber auch viel gezügelten Sexappeal. Der Mann ist ein Vulkan, das weiß ich genau. Man muss ihn nur wecken. Irgendwann tu ich das auch mal. Klemme mir ein paar Lieblingsplatten unter den Arm, um ein Gesprächsthema zu haben, fahre einfach ins Radiostudio und werde vorstellig. Aber heute Nacht noch nicht, heute spielt er, während ich mich bettfertig mache, die gesamte B-Seite der Beach-Boys-Platte «Pet Sounds». Okay, natürlich habe ich die, aber es ist trotzdem nett, wie Doktor Bob und ich zusammen «I Know There’s an Answer» mitsingen. Das heißt, ich bin mir sicher, dass er auch mitsingt.
In dem Judith nachts wach bleiben und dummes Zeug schreiben muss, Halluzinationen hat, sich über Schalke 04 ärgert, mit ihrem besten Freund zu einer Vernissage geht und Adelige veräppelt, die es verdient haben
Natürlich bin ich am nächsten Morgen die Erste in der Redaktion. Das macht die katholische Erziehung mit der Angst vor der Hölle, in der Zuspätkommer ewig brodeln müssen. Um nicht so früh mit schwierigem Nachdenken anzufangen, vertreibe ich mir die Zeit bis zum Mittag damit, mir Reime auszudenken und sie auf einem «Crawl» durchs Bild zu schicken. So ein «Crawl» (Franz’ Kollege André, der aus Leipzig kommt, sagt immer «Kraul») kann als voll getextetes Band über die untere Hälfte des Bildschirms laufen, ähnlich dem Börsenticker bei Informationssendern. In der «Morgenstund» stehen auf dem Crawl allerdings eher Dinge wie «Rufen Sie jetzt an, wenn Sie ein Wochenende in den Center Parks gewinnen wollen: 0180/99 66 33» oder «Nach der Werbung bekommen Sie tolle Tipps fürs Marmeladeeinmachen». Es ist wirklich zum Heulen. Auch junge Frauen wollen heutzutage wieder Marmelade einmachen. Natürlich schmeckt so eine selbst gekochte Erdbeer-Stachelbeer-Marmelade ganz hervorragend, aber ich bin einfach zu altmodisch für die neue, freiwillig konservative Weiblichkeit. Nur weil man auch zum Bund gehen und die Lizenz zum Leute ermorden erwerben darf, muss man doch noch lange nicht aufhören, gegen lästige 50er-Jahre-Angewohnheiten anzugehen.
Also schicke ich Sätze wie «Wer das liest ist doof» oder «Die schönsten Jungens auf der Welt/gibt’s in Berlin und Bielefeld» durch das Fernsehbild vom leeren Studio, bis der Rest der Redaktion eintrudelt. Dann speichere ich alles in meine «Judith Herzberg – Privat! Auf keinen Fall angucken!»-Datei und ärgere mich zum hundertsten Mal darüber, dass ich hier sitze und das System stabilisiere, anstatt irgendwo anders anständig umstürzlerisch tätig zu werden.
Und in meiner Freizeit kann ich mich nicht mal richtig ablenken. In den beiden Arbeitswochen saaage iiiich Gut Nacht, um mit Tony Marshall zu sprechen, wenn die anderen zur Arbeit gehen. Um 6 Uhr kommt die Sendecrew, die Redakteure und Redakteurinnen, die bei der Sendung selbst dabei sein müssen, und ich wanke nach Haus. Die ganze Nacht über wach zu bleiben, ohne dabei durch Drogen oder streichelnde Hände unterstützt zu werden, ist eine echte Herausforderung. Als ich morgens noch mit der U-Bahn heimfuhr, hatte ich manchmal Übermüdungshalluzinationen: Einmal habe ich ein klitzekleines, noch sprachunfähiges Mädchenbaby neben mir ganz deutlich «Verkehrsknotenpunkt» sagen hören. Und das Beste: Wir befanden uns auch gerade an einem Verkehrsknotenpunkt, am Alexanderplatz nämlich.
Nach sechs Tagen habe ich meinen Rhythmus so weit umgestellt, dass ich an dem Wochenende zwischen den beiden Arbeitsschichten besonders gut ausgehen kann, ich stehe abends auf und werde nicht vor 6 Uhr müde. Ich treffe mich also am Freitagabend mit meinem Freund Franz, der ebenfalls die ganze Woche nachts gearbeitet hat, und wir frühstücken zwei Maishähnchen, mehrere Kristallweizen und ein paar Cognacs aus extraheiß ausgespülten Gläsern, Franz’ Spezialität. Wenn man allein wohnt, und das schon eine Weile, stellen sich nach und nach immer mehr Ticks ein. Es ist schließlich keiner da, der einem verbietet, etwa gebrauchtes Geschenkpapier aufzuheben, nach Größen zu ordnen und zu bügeln, seine Kleidung in verschiedenen, bunten Haufen auf dem Schlafzimmerboden aufzubewahren oder seine Platten nach einem komplizierten System, ausgenommen Sampler, Ska, Jazz, Hörspiele, Klassik und Filmmusik (die haben alle wieder eigene Systeme), ins Regal zu stellen. Ich wohne seit 17 Jahren allein und habe schon eine Menge Ticks gesammelt: zum Beispiel den Geschenkpapier-Tick, und ich kann nur rechts von Leuten gehen. Als ich Franz in der «Morgenstund»-Redaktion kennen lernte, lud er mich ziemlich schnell zum Essen ein, und dabei entdeckte ich, dass er ebenfalls Ticks hortete. Wir tranken eine Menge Wein, stopften einen schweren Nudelauflauf in uns hinein, redeten über die Todesart «plötzliches Löffelabgeben durch Diabetes», und zur Feier des Tages gab es nach der Pasta einen Brandy. Ich spül schon mal die Cognacschwenker heiß aus, sagte ich, stolz darauf, dass ich wußte, wie man angemessen Brandy schwenkt. Als ich aber aus der Küche kam, nahm Franz mir die Gläser aus der Hand und spülte sie nochmal heiß aus. Beziehungsweise, er spülte sie heißer aus, weil sie ihm nicht heiß genug ausgespült waren. Das ist das Unnötigste an Ticks, was ich seit Jahren erlebt habe!, rief ich und war begeistert. Bei einem so hübschen Tick geht einem richtig das Herz auf.
Nach dem abendlichen Hähnchen-Frühstück rechne ich mit Franz zusammen aus, wie viele Punkte Schalke machen muss, um den Anschluss an die Tabellenspitze nicht zu verpassen, es sind so viele, dass er schnell noch mal die Cognacgläser ausspült. Dann fahren wir zu einer Vernissage. Hin und wieder bekomme ich Einladungen geschickt, denn wenn Künstler hören, dass man beim Fernsehen arbeitet, denken sie, man könne «ja mal ein wichtiger Kontakt sein». Dabei ist schöne oder weniger schöne oder extravagante oder spießige Kunst das Letzte, was Gina und Ina in ihrer Sendung haben wollten. Nicht zielgruppig, sagen sie dann meistens. Lieber noch ein Keksrezept herausrecherchiert. Aber ich gehe ganz gerne zu unverständlichen Performances oder Ausstellungen mit ganz vielen Nacktfotos der Mutter der Künstlerin oder so, obwohl ich aus dem Alter, in dem ich wegen des kostenlosen Proseccos ging, heraus bin. Die Vernissage heute ist von einem Maler namens Johannes von Festenstein. Schon darum würde ich sie angucken: Ich mag Adelige. Man kann immer prima Spaß mit ihnen haben. Ich wedele also mit meinem Presseausweis und frage nach einem Interview mit Herrn von Festenstein. Der ist ein dünner 30-Jähriger mit zurückgehendem Haaransatz und einem steifen Lächeln. Erinnert mich ein bisschen an den Klassenstreber, Deutsch 1, Sport 5. Ach, heute ist ja eine Menge Presse da, schleimt er. Vom Radio kommt auch einer, dieser Doktor Bob hat sich angemeldet. Das macht mich ganz wuschig: Doktor Bob? Das ist vielleicht die Chance! Aber zuerst die Pflicht. Herr von Festenstein und ich schauen uns zusammen die Bilder an, die eine Art Stilllebenzyklus zu sein scheinen, allerdings recht abstrakt: Liegt da neben den Blumen und dem Federkiel euer Familienwappen?, frage ich ihn. Er ist erstaunt und behauptet, sein Familienwappen gar nicht zu kennen. Und da draußen vor dem Fenster erkennt man die schnaften Stallungen, stimmt’s?, frage ich. Da ist er endgültig eingeschnappt und sagt, er wisse nicht, was ich mir für Vorstellungen machen würde, ich hätte anscheinend etwas gegen seinen Namen (gegen das Geschlecht!, will ich frotzeln, halte mich aber zurück), er sei ganz normal aufgewachsen, nicht besonders privilegiert. Und Pferde habe seine Familie noch nie besessen. Dann gibt er mir ein paar Zettel, und noch bevor ich einschieben kann: Sind das die Ergebnisse deines Blutertests?, schnaubt er: Wenn es dich wirklich interessiert, hier ist meine Biographie und Infos zu meinen Bildern. Ich halte die Zettel gegen die trübe Deckenfunzel und sage, oh, echtes Büttenpapier mit Wasserzeichen! Johannes von Festenstein ist sauer und rauscht ab wie ein blaublütiger Araberhengst ohne Mähne. Ich rufe hinterher: Wenn du doch mal ein paar Pferde kaufen würdest, sähe ich für die Häuser Herzberg und von Festenstein eine wunderbare Zukunft!
Unglaublich, wie einem so ein paar wenige Kristallweizen und Cognacs die Zunge lösen können. Ich renne schnell zu Franz und erzähle ihm von Doktor Bob. Aber wer soll das sein? Außer uns sind noch etwa 25 Menschen in der kleinen Galerie, von den Männern ist keiner über 1,80. Und keiner sieht nach Norddeutschland aus. Im Gegenteil, berichtet Franz, neben ihm habe gerade einer ganz deutlich «Tschüsle!» zu einer Frau gesagt. Vielleicht kommt Doktor Bob erst spät, ist ja auch viel cooler, versucht Franz mich zu trösten. Aber ich will nicht die ganze Nacht dableiben. Vor allem nicht, nachdem der Künstler angefangen hat, seinen Freunden von der komischen Journalistin zu erzählen, und die schon ganz deutlich ihre Nasen rümpfen, während sie Franz und mich mustern. Naserümpfen ist überhaupt ganz wichtig im Mienenspiel und nah verwandt mit Schmollen und Flunschziehen. Franz und ich fangen sofort an zu üben, um angemessen zurückzuschlagen. Franz’ Mund eignet sich nicht besonders gut zum Flunschziehen, er hat nicht gerade die größten und flunschfreudigsten Lippen, muss man sagen, aber die Nase kriegt er schon ganz gut hingerümpft. Ich kann dafür herausragend gut schmollen, und nachdem wir ein paar Minuten dem untadeligen Adeligen und seinen eingebildeten Süddeutschen zugeschmollt haben, gehen wir unseres Weges, Doktor Bob hin oder her. «Rar machen», sage ich mir immer wieder. Obwohl das, zugegeben, nicht wirklich viel nützt, wenn Doktor Bob einen noch gar nicht kennt und darum noch gar nicht bemerken kann, dass man ihm fehlt.
In dem Judith ihre Filmszenensammlung abstaubt, über Fehlsichtigkeit nachdenkt, mit ihrer Freundin Tine telefoniert und sich dabei noch ein paar dufte Spartipps abholt
In der zweiten Arbeitswoche pfeife ich aus dem letzten Loch. Das tagelange Nachts-wach-Bleiben geht an die Nieren: Nach dem vorletzten Arbeitstag fahre ich mühsam nach Hause, stelle mein kleines, altes Auto in eine Feuerwehrzufahrt und versuche, die Tür mit einem Tampon aufzuschließen. Dann schmeiße ich aus Versehen einen leer gekratzten Joghurtbecher in den Schmutzige-Wäsche-Eimer und meinen Schlüpfer in den Müll, und fast hätte ich auch noch den Film gelöscht, den ich in der Nacht aufgenommen habe, um ihn, wenn ich wieder normal bin, auf innovative Brillen- oder Kontaktlinsenszenen hin zu prüfen. Die finden sich in allen möglichen Filmen. Eine der wichtigsten Szenen meiner Fehlsichtigkeit-im-Film-Sammlung ist natürlich die mit Marilyn Monroe in «Wie angelt man sich einen Millionär?», in der sie blind wie ein alter Maulwurf ist, aber aus Eitelkeit ihre Brille nicht aufgesetzt hat. Darum steigt sie anstatt in ein Flugzeug nach Atlantic City in eines nach Kansas City. Glücklicherweise trifft sie in dem Flugzeug den vor dem Finanzamt flüchtenden Brillenträger, in dessen Wohnung sie schon eine Weile haust, die beiden freunden sich an, und irgendwann überredet der Mann Marilyn, ebenfalls ihre Brille aufzusetzen. Und ist dann natürlich ganz begeistert davon, wie hervorragend sie ihr steht. Eine nette Geschichte. Sie ist in meiner Sammlung neben der anderen Monroe-Brillen-Szene eingeordnet: Tony Curtis, dem in «Some Like it Hot» die Brille total beschlägt, weil Monroe ihn küsst. Obwohl er ja später frech gesagt hat, Monroe küssen sei wie Hitler küssen. Eine der obskursten Fehlsichtigkeit-im-Film-Szenen stammt aus dem ersten David-Cronenberg-Werk, selbstverständlich ein Splatter-Film: während man hört, wie langsam die phallusförmigen Monster durch die Wasserrohre des alten Hotels näher kommen, um die Protagonistin schmatzend aufzufuttern, fährt die Kamera durch das Bad. Und da, neben den üblichen Utensilien, steht ein kleines Kontaktlinsennäpfchen. Ganz schlicht und beiläufig. So habe ich inszenierte Fehlsichtigkeit gern. Die «Mona Lisa», oder noch besser das Fabergé-Ei, oder noch viel besser das Auge des Drachen unter meinen Ausschnitten wäre allerdings der Film «Top Job – Diamantenraub in Rio» von 1966, mit Klaus Kinski, Robert Hoffmann, Edward G. Robinson und Janet Leigh. Darin gibt es nämlich eine Szene, in der Robert Hoffmann Janet Leigh das dicke, schwarze Kassengestell absetzt, um sie daraufhin nach Strich und Faden zu verführen (was man zwar, typisch für die 60er, nicht wirklich sieht, aber ich habe es mir eine Zeit lang sehr angenehm vorgestellt, von Robert Hoffmann verführt zu werden), allerdings nur, weil er an ihren Schlüssel rankommen möchte, um damit später den großen Coup auszuführen. Leigh spielt zwar mit, doch am Ende kommt heraus, dass sie in Wirklichkeit die reinste Connaisseurin ist und den ganzen Coup läääängst durchschaut hat. Zum Schluss fährt sie mit ihrem Liebhaber und den Diamanten davon, und Hoffmann ist der Gelackmeierte. Da ist dieser Herr Ladieslove Hoffmann ganz schlicht auf den Bebrillte-Frauen-haben’s-nötig-Trick reingefallen. Leider wird dieser Film nie wiederholt. Ich habe schon sämtliche Fernsehsender und -archive angeschrieben, wo jetzt vermutlich meine komischen Briefe an Pinnwänden verstauben.
In dem Film von gestern Abend («Roulette der Liebe» von 1964) trägt der Protagonist Brille, und zwar ein schönes, schweres, schwarzes Kassengestell, außerdem hat seine Tochter einen Augenfehler und schielt so stark, dass sie eine Spezialanfertigung mit einem «blinden» Glas aufsetzen muss. Der Film endet damit, dass das Mädchen kurz vor der Operation steht. Bingo! Wenn man mal drauf achtet, kommen einem viel mehr Augenfehler unter, als man erwartet. Das ist vermutlich DIE Zivilisationskrankheit der letzten 100 Jahre! Oft stelle ich mir vor, was aus mir geworden wäre, wenn ich kurzsichtig im Wilden Westen, im Mittelalter oder der Steinzeit hätte leben müssen – keine Chance. Ich wäre längst Grizzlyfutter oder ein Skalp an einer schlanken Indianerhüfte, wäre in irgendwelchen schlammigen Schlossgräben ertrunken oder von einer Herde Büffel totgetrampelt worden. Ich bin nämlich ziemlich stark kurzsichtig, so etwa 800 Dioptrien. Ich bräuchte ohne Brille nicht mal das Licht anzumachen. Natürlich trage ich Kontaktlinsen, dieses Wunder der Optik, diese kleinen, feinen, zarten, leichten, durchsichtigen Superpaletten, denen ich so viel zu verdanken habe. Mein Traum ist es seit jeher, ein Kontaktlinsenmuseum aufzumachen, wenn ich endlich mal die Nase voll vom Fernsehen habe. Man bräuchte nur einen ganz kleinen Raum, mit winzigen Vitrinen, in denen die Linsen in mit Samt ausgeschlagenen Schächtelchen lägen, darunter handgeschriebene Zettel: «Kontaktlinsen von Leonardo da Vinci, Holz, spätes 15. Jahrhundert». Oder: «Harte Linsen von Mia Farrow, 1964–1967». Dazu ein paar aquarienartige Wasserbehälter, in denen die weichen Linsen wie exotische, kleine Wimperntierchen in wogenden Wellenbewegungen hin und her paddeln könnten. «Weiche Kontaktlinsen von Judith Herzberg, 1983–1990». Normalerweise trägt man dieselben Kontaktlinsen natürlich nicht über einen so langen Zeitraum, momentan trage ich sogar Monatslinsen, aber damals war ich jung und arm. Ehrlich gesagt stammt die Kontaktlinsenmuseumsidee von meinem Arzt, der um 1990 in meine rot geränderten Augen guckte und sagte: «Die sind so alt, die Linsen, die gehören ins Museum!» Oh ja, eine fabelhafte Erfindung, ohne Kontaktlinsen wäre ich immer noch Jungfrau.
Nach fast zwei Wochen Nachtarbeit mit Linsen hat man allerdings das Gefühl, klebrige Lavasteine im Auge zu haben. Ich sauge mir die kleinen Scheibchen also mit einem Minipümpel von der Pupille, sortiere den «Roulette der Liebe»-Film unter «Schielen/Kinder» ein und beschließe, vor dem Schlafengehen (es ist mittlerweile immerhin schon 8 Uhr morgens) noch kurz meine andere gute Freundin anzurufen: Tine. Sie ist genauso alt wie ich und führt eine Kneipe, das «Round Up». Eigentlich ein blöder Name, aber es heißt schon seit den 70ern so, als ein Round Up noch dieses Jahrmarktskarussell in Zylinderform war, in dem man sitzend so lange gedreht wird, bis man brechen muss, und Tine mag den Anachronismus. Tine würde sich auch die ganzen Oh-wie-lustig-waren-die-80er-Bücher kaufen, wenn ich es ihr nicht verböte. Früher hat sie im «Round Up» hinter der Theke gearbeitet, durch ihre Geschäftstüchtigkeit konnte sie es jedoch vor fünf Jahren übernehmen. Und natürlich ist es darum eine noch viel erfolgreichere und gemütlichere Kneipe geworden.
Seit sie Kneipen-Geschäftsführerin und -Besitzerin ist, trinkt Tine nicht mehr ganz so viel und steht mit den Hühnern auf, ist aber trotzdem genauso albern und amüsierfreudig geblieben wie früher. Ein Phänomen. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Tine seit neun Jahren denselben Freund hat und mit ihm zusammenwohnt, demzufolge dieses ganze anstrengende Hüftenschwenken-am-Abend ein wenig wegfällt: Richtig Männer aufreißen kann sie schließlich nicht, wo sollte sie so einen denn auch hinbringen? Tine ist schon quietschfidel, als ich ihr ein schläfriges «Uuaahhhh» durchs Telefon entgegengähne. Wieder die verschissene Nachtschicht?, folgert sie. Und erzählt mir so lange von einem «unglaublich interessanten» Vortrag über Laserbehandlung von Augenfehlern, bis mir vor Übermüdung und dem verzweifelten, kraftlosen Versuch, mich auf meine zellularen Kenntnisse aus dem Biounterricht (Stäbchen, Zäpfchen, Iris, Veilchen) zu besinnen, die Tränen kommen und ich den Hörer nur noch mühsam am Ohr halten kann. Man müsste ohnehin endlich mal Headset-Festnetz-Telefone für jeden Haushalt einführen. Tine ist jedoch mitfühlsam genug, um nicht böse zu werden, und verabredet sich für den übernächsten, für mich arbeitsfreien Abend mit mir im «Round Up.» Da war gestern jede Menge junges Gemüse, sagt sie aufmunternd, bleibt alles für dich. Ich darf ja nicht.
Dieses Gespräch will ich aber gar nicht erst anfangen, ich weiß, wie das weitergeht: Einerseits ist Tine nach eigenen Angaben sehr glücklich mit ihrem Freund Randy Andy, der mir zwar in letzter Zeit nicht mehr so richtig randy vorkommt, aber sehr sympathisch ist, und andererseits vermisst sie das Ludertum vergangener Zeiten. Sie gibt es nicht richtig zu, aber ich kann zwischen ihren Zeilen lesen. Wenn man Tine besucht, kriegt man die volle Packung Pärchenseligkeit. Der wilde Sex ist, über die Jahre, immer mehr zu nettem Geschubber «in einer neuen Qualität» mutiert, wie es Langzeitpärchen nie müde werden zu betonen. Und es hat sich eine gemütliche Zufriedenheit breit gemacht, die in Ritualen gipfelt: Jeden Freitag gehen Tine und Randy Andy in das gleiche spanische Restaurant, das so gut sein soll, weil «da schließlich auch viele Spanier hingehen», als ob Spanier nicht auch verbrannte Zungen haben können und das Etablissement nur auswählen, weil die Nachbarin des Schwagers der Klavierlehrerin dort kellnert. Jeden Mittwoch gehen Tine und Randy Andy zusammen schwimmen. Jeden Sommer fahren sie zusammen in ein «besonders nettes Hotel» an der Ostsee.
Nicht dass Rituale mir fremd wären. Schließlich haben sie viel mit Ticks gemeinsam, und auch ich brauche in meinem Leben Routinen, sonst werde ich verrückt. Zum Beispiel die Doktor-Bob-Routine. Die Mit-Franz-ausgeh-Routine. Es gibt sogar eine Kater-Routine. Bei Tine scheint das Leben aber fast nur noch aus Routinen zu bestehen. «Reiner Neid» sagt sie, wenn ich stichele. Und lädt mich regelmäßig ein, doch mal in das «besonders nette Hotel» an der Ostsee mitzukommen, um zu sehen, wie aufregend es dort ist, mit all den Muscheln und Spielotheken.