_Eigentlich war Arthur der unscheinbarste der Freunde. Seine Beliebtheit hatte er vor allem dem Umstand zu verdanken, daß er als einziger der Studenten weder in einer der winzigen Parzellen der Wohnheime am Stadtrand noch in einem kleinen Wohngemeinschaftszimmer lebte, sondern in einem recht geräumigen Appartement nicht unweit des Zentrums. Dieses Appartement machte den gesamten 2. Stock eines kleinen Hauses in der Peterstraße aus, etwa 150 Meter südlich der gleichnamigen Kirche. Dieses kleine Haus aus den 30er Jahren gehörte einem Onkel Arthurs, der ein angesehener Professor von internationalem Ruf war. Überhaupt bestand nahezu die gesamte Familie Arthurs aus Doktoren und Professoren, die im universitären Korpus tätig waren. Die hiermit verbundenen Segnungen verschafften der Familie nicht nur einen Wohlstand oberhalb des oberen Mittelstandes, sondern durch die zahlreichen Beziehungen im In- und Ausland ein Netzwerk an Versicherungen und Möglichkeiten, von denen normal Sterbliche nur träumen können. So führte jener gönnerhafte Onkel, der Arthur das kleine Haus in der Domstadt überlassen hatte, diesen auch in einen Akademikerclub ein, der in ganz Europa Einrichtungen unterhielt. Dort fanden nicht nur Seminare statt, sondern Stipendiaten, natürlich fast ausnahmslos handverlesen nach bereits vorhandenen Verbindungen zu Mitgliedern, durften hier einige Monate sorgenfrei verbringen. Je nach Gusto mehr der Forschung oder dem Leben zugewandt.
Obgleich sein Appartement und insbesondere dessen großer Wohnraum während des ganzen Studiums ein idealer Treffpunkt gewesen war, und es auch jetzt in der Phase, in denen alle ihr Examen kürzlich hinter sich gebracht hatten, weiterhin diese Funktion erfüllte, wäre es jedoch unrichtig, Arthurs Rolle allein dadurch zu definieren. In der Tat bildete seine Person den Mittelpunkt der Gruppe, die sich für ihre Gespräche und Diskussionen immer um einen für das Zimmer viel zu großen runden Glastisch im Stil der 70er Jahre versammelte. Genaugenommen handelte es sich um eine dunkel getönte Glasplatte, die auf vier wuchtigen rundlichen orangefarbenen Keramikfüßen lag. Man saß oder flegelte sich entweder auf Hockern oder Sitzkissen um den tiefen Tisch herum, einzig Arthur thronte in einem antiken Holzlehnstuhl, der mit dem Rücken zur Wand stand. Der Stuhl war gepolstert und mit Schnitzereien versehen, sicher das teuerste Möbelstück der Wohnung.
Arthurs Redeanteile waren in der Regel geringer als die seiner Freunde, dafür war er jedoch ein aktiver Zuhörer. So gelang es ihm immer wieder, Diskussionsstände zusammenzufassen oder in den nicht seltenen Fällen erhitzter Kontroversen, die Gespräche wieder in ruhigeres Fahrwasser zu bringen. Er strahlte Ruhe aus, gleichzeitig huschten seine wachsamen Augen von einem zum anderen, so als müsse er fortwährend die aktuellen Gefühlslagen seiner Gäste erfassen. Seine Hände waren meist vor dem Bauch verschränkt, die Finger nach oben gerichtet wie zum Gebet. Einem Tick gleich bewegte er dabei den linken kleinen Finger auf und ab. Dies wirkte insofern merkwürdig, als an der Außenseite des obersten Glieds dieses Fingers ein Muttermal war, das einen wie ein kleines Auge zu verfolgen schien. Trank Arthur Bier, Kaffee, Tee oder sonst was, umfaßte er das entsprechende Trinkgefäß meist mit beiden Händen, wobei er den linken kleinen Finger abspreizte und jener so sein Eigenleben weiterführen konnte.
Obwohl niemals ausgesprochen, betrachteten die Freunde Arthur als Primus inter pares, besonders seit er in den Tagen und Wochen nach dem die Welt für immer verändernden 11. September nicht nur räumliches, sondern mit seiner ruhigen und mäßigenden Art gleichsam menschlich-persönliches Refugium für die völlig verstörte Gruppe geboten hatte. Nur ein einziges Mal – und dies lag erst kurze Zeit zurück – hatte er seinerseits die Runde verunsichert, als er sich nämlich geradezu königlich über die tragikomischen Umstände des Freitods eines Kommilitonen amüsiert hatte. Diesen hatte man vor dem Juridicum in der Betonwanne, durch die das Stadtflüßchen Aa an dieser Stelle fließt, gefunden. Wegen eines nicht völlig ungewöhnlichen, jedoch äußerst geringen Pegelstandes war die Wanne im Grunde trocken gewesen, lediglich eine kanalartige Vertiefung von vielleicht 30 mal 40 Zentimeter hatte Wasser geführt. Und genau hier hinein hatte der unglückliche Student seinen Kopf so lange hineingetaucht, bis er ertrunken war. Der Rest seines Körpers lag in vollkommen trockener Kleidung erhöht auf dem Wannenboden. Die Freunde hatten das Schicksal des armen, offensichtlich im zweiten Examensanlauf erneut gescheiterten Studiosus – dies ging aus dem von der Polizei gefundenen Abschiedsbrief hervor – zutiefst bedauert. Lange Betrachtungen über Prüfungsstreß, Prüfungsangst, Angst vor dem Scheitern, Angst vor Eltern und Freunden, Unfähigkeit, wegen all diesem das Studium zu beenden, Tragik einer falschen und scheinbar unkorrigierbaren Fächerwahl und dergleichen mehr wurden angestellt. Arthur hingegen lachte nicht nur, sondern steigerte sich immer mehr in eine die anderen abstoßende Heiterkeit hinein. Doch dies war, wie gesagt, der einzige Vorfall, bei dem Arthur aus seiner Rolle gefallen war.
Arthurs Wortbeiträge waren stets durchdacht und wurden von ihm druckreif vorgetragen. Auch dies trug ihm einen Respekt vor seiner Person ein, den er durch sein äußeres Erscheinungsbild nicht erreichen konnte. Eher klein und untersetzt mit einem runden Gesicht, das von dunklen Locken umrahmt war, machte er nicht den Eindruck eines Frauentyps. Gleichwohl konnte er sich über einen Mangel an Damenbeziehungen nicht beklagen, allenfalls über einen Mangel an dauerhaften. Es war sogar so, daß er sich Präferenzen leisten konnte, und diese lagen bei attraktiven Mädchen aus Tschechien. Dies war ein merkwürdiger Kontrast zu seinen Studien. Im Hauptfach hatte er Geschichte studiert, daneben Anglistik und Amerikanistik. Sein Forschungsschwerpunkt war dabei der Amerikanische Bürgerkrieg. Die männlichen Kommilitonen konnten seine Erfolge bei den weiblichen nicht ganz nachvollziehen, aber letztendlich werden Männer (gerade solche, die sich besser aussehend wähnen) nie verstehen, welche Gründe Frauen für die Wahl ihrer Partner haben können. Die Geschichte ist voll von Intellektuellen, Schriftstellern, Künstlern, die nicht nur unattraktiv aussahen, sondern darüber hinaus auch noch die Körperpflege vernachlässigten, und nichtsdestotrotz zeitlebens von schönen Frauen umschwärmt und umsorgt wurden.
Die Runde um Arthur war im Kern ein Fünferclub, der gelegentlich um einzelne den Freunden mehr oder weniger nahestehende Gäste ergänzt wurde. Lance Hussel war froh, sich als ‚ehemaliger Wirtschaftsstudent‘ bezeichnen zu können; stets hatte er zu seinem Fach in großer Distanz gestanden. Eigentlich hatte er immer etwas anderes machen wollen, wobei unklar blieb, was denn genau. Die Subjektwahl war eine Notlösung, von der er sich Wohlstand im späteren Berufsleben erhoffte. Der Halbherzigkeit der Entscheidung entsprachen seine Studienleistungen, obwohl er soeben sein Diplom mit einer von ihm selbst völlig unerwartet guten Note abgelegt hatte.
Im Grunde war der Sohn eines schwarzen Piloten der US Air Force und einer für diese tätigen deutschen Zivilangestellten immer noch auf der Suche, oder besser, mit dem Diplom fühlte er, daß diese recht eigentlich nun erst begann. Vor zwei Jahren hatte Lance seine Freundin Jannifer Schiffer-Nagy in den bis dato nur aus Männern bestehenden Bund eingeführt. Die schlanke blonde Frau hatte eigentlich Kunstgeschichte, Geschichte und Anglistik studiert, aber sich einmal in einen zweisemestrigen Grundlagenkurs BWL eingetragen, von dessen Absolvierung sie sich erhöhte Chancen auf dem Arbeitsmarkt versprach. Hier hatte sie Lance, der dem entsprechenden Professor assistierte, kennengelernt, und die beiden hatten sich auf Anhieb unsterblich ineinander verliebt.
Falk von Fürstenberg, genannt ‚der Graf‘, stammte aus einem verarmten Zweig des Adelsgeschlechts, was aber seinem Stolz keinen Abbruch tat. In der Regel schwarz gekleidet – was seine blondgewellten Haare um so stärker hervorhob –, war der sportlich wirkende Germanist mit dem Nebenfach Geschichte stets um stilvolles Auftreten bemüht.
Eric Leifheit-Alvarez hatte in Trondheim das Licht der Welt erblickt, aber dies nur zufällig, da sich seine Eltern wegen einer Abordnung seines Vaters dort aufhielten. Dieser stammte aus Südspanien, Erics Mutter hingegen kam aus Bonn. Er war großgewachsen und kräftig, die schwarzgelockten Haare fielen um die breiten Schultern. Der Student der Jurisprudenz mit dem Schwerpunkt Internationales Recht war sprachenbegeistert, und diese Leidenschaft hatte ihn vor einigen Jahren in einen Ungarisch-Kurs geführt. Und hier war er auf Jannifer und Lance gestoßen. Jannifer erinnerte sich noch an vieles aus den ersten Jahren ihrer Kindheit, die sie in Budapest verbracht hatte, und verfügte auch über rudimentäre Sprachkenntnisse. Diese hatte sie freilich durch Besuche bei Verwandten und Freunden, die sie in unregelmäßigen Abständen zunächst mit ihren Eltern, später allein durchführte, erhalten können. Sie räumte selbst ein, daß Ungarisch eine diebisch schwere Sprache sei, die sie ohne jene Aufenthalte wohl völlig vergessen hätte. Da ihr die grammatikalischen Strukturen dieser Sprache bis dato nicht wirklich klar waren, hatte sie sich für den Kurs entschieden, und es war ihr ein leichtes gewesen, Lance vom Mitmachen zu überzeugen. So nicht aus Spracheifer, so doch aus Liebe zu ihr, und auch um mehr über ihr Wesen zu erfahren, begleitete er sie gern. Nicht viel prägt einen Menschen so sehr wie die Sprache seiner Umwelt, sollte diese wechseln, und sei es auch nur vorübergehend, trifft dies um so stärker zu. Mehreren Sprachen ausgesetzt zu sein, hatte sich Lance gedacht, schule die Fähigkeit, komplexer zu denken und letztendlich auch zu fühlen. Diese Einsicht ebenso wie sein guter Wille halfen indes wenig. Lance mühte sich redlich, hatte aber am Ende der Stunden jeweils eher Kopfschmerzen, als Fortschritte vorzuweisen. Er fragte sich schon, ob dies an seinen amerikanischen Genen lag. Der Amerikaner an und für sich schien ja schuldlos an nur in extrem seltenen Fällen kurierbarer Monolingualität zu leiden. Das Ganze wurde für ihn auch dadurch nicht leichter, daß Jannifer gute Fortschritte machte und sie dazu noch mit einem maurisch wirkenden Hünen wetteiferte, der angeblich wie er Anfänger war. Ihn hatte es zunächst etwas gestört, daß sie gern mit diesem in den Pausen zusammenstand und die neu gelernten Sachen zu vertiefen suchte. Aber als ihm der arabische Wikinger einmal einen Kaffee spendierte, kam man auch über andere Dinge ins Gespräch, und Lance stellte fest, daß ihm der Sprachstreber im Grunde genommen ganz sympathisch war.
Eines Tages jedoch änderte sich alles: Zwei Ungarisch-Studenten, durch sämtliche Tests gefallen, waren von ihrem Professor dazu verdonnert worden, noch einmal in den ja eigentlich für Nicht-Fachstudenten angebotenen Kurs zu gehen. Hier spielten sie nun die großen Zampanos, und das Traurige war, daß sich die Lehrerin, aus welchem Grund auch immer, nun ganz auf diese beiden konzentrierte und ihre eigentlichen Schäfchen vergaß. Selbst Jannifer und Eric wurden immer frustrierter. Man zog es schließlich vor, sich statt zum Ungarisch-Lernen zum Biertrinken zu treffen, und hier war Lance endlich wieder im Vorteil, auch wenn er sich seine Erleichterung nicht anmerken ließ und kräftig mit seiner Freundin und dem Hünen über die unmögliche Lehrerin herzog. Als es das nächste Mal eine Verabredung bei Arthur gab, zu der auch Falk erschien, hatten die beiden Eric einfach mitgebracht, und er wurde schnell herzlich aufgenommen.
Dies war um so leichter, als man nach längerem Gespräch ein Interesse oder besser eine Qualität an ihm entdeckte, die auch die anderen miteinander verband: die mehr oder weniger sportliche Betätigung mit einer Fechtwaffe nämlich. Zum Thema für die alten Freunde war diese antiquierte Leidenschaft schon vor etwa anderthalb Jahren geworden, dies aufgrund der Florettstunden von Jannifer, die den Kreis derentwegen oft vor den anderen hatte verlassen müssen. Als Arthur eines Abends darüber eine lustig gemeinte Bemerkung abließ, hatte sich Falk geräuspert und zugegeben, daß er im Besitz eines echten Wilkinson-Säbels sei, so wie er heute noch auf den Rasierklingen des Herstellerhauses abgebildet sei. Sein Urgroßvater habe diesen von einem befreundeten ehemaligen Offizier der Royal Army zum Geschenk erhalten, als Ehrerbietung, aber wohl auch, weil jener ihn nicht mehr in seinem Hause hatte leiden wollen. Auf die alten Tage zum Pazifisten gewandelt, erinnerte ihn die Waffe an all die unschönen Taten, die mit dieser durch ihn vollbracht worden waren. Falks Urgroßvater sah die Dinge unverkrampfter, als der Brite jedoch Jahre später auf einer Familienfeier beim deutschen Freunde noch einmal auf den Sheffield-Stahl angesprochen wurde, äußerte er, leicht angetrunken, da klebe zuviel Blut dran. Nicht nur stockte dadurch die Unterhaltung für einen peinlich langen Zeitraum, vor allem hatte danach niemand mehr etwas mit dem Säbel zu tun haben wollen.
Viele Jahrzehnte später hatte Falk ihn auf dem Boden seines Elternhauses entdeckt, und gern gab man ihn fort. Falk hatte mit der Waffe über einen längeren Zeitraum so regelmäßig im Garten trainiert, daß sein Vater dem für den Baumschnitt zuständigen Gärtner kündigen mußte. Indes hatte er nie Unterricht genossen, sondern sich sämtliche Grundlagen vor dem praktischen Ausprobieren aus Büchern angelesen.
Nachdem Falk mit seiner Geschichte geendet war, hatte Lance zugegeben, daß er einst aus Begeisterung für die Fechterei mit dem Beitritt in eine schlagende Verbindung geliebäugelt habe. Er habe auch in der Tat Schritte in diese Richtung unternommen, sei aber fast überall aufgrund seines dunklen Teints, wie er sich ausdrückte, und beziehungsweise oder aufgrund seiner liberalen Ansichten bei den Aufnahmeverfahren durchgefallen. Vielleicht waren seine Eltern auch zu unbetucht oder zu schlecht vernetzt, jedenfalls half ihm sein ganzes BWL-Studium nichts. Lediglich die ‚Hermania‘ hatte es mit ihm versuchen wollen und ihn zu einer Kennenlern-Feier mit den Alten Herren der Verbindung eingeladen. Diese fuhren standesgemäß in großen Limousinen vor und trugen ihre Arriviertheit vor sich her wie ihre runden Bäuche. Entgeistert habe er miterlebt, wie die jungen Burschenschafter den prahlerischen Reden der Alten Herren folgten und geradezu anhimmelnd zu diesen aufsahen. Im Verlauf des Abends füllte man sich schrecklich ab, und irgendwann, als das Bier auszugehen schien, drehte sich ein stolzer Direktor eines mittelständischen Unternehmens um, erspähte Lance und grölte: „Hey Schoko-Fuchs, hol’ mal ’ne neue Kiste!“ Das reichte, wut-schnaubend verließ Lance die Unterkunft der ‚Hermania‘ auf immer, ohne überhaupt einen Degen auch nur gesehen zu haben. Die Geschichte ging aber insofern weiter, als er vor der Tür auf einen ebenso stark angeschlagenen wie von den Vorgängen angewiderten Iren namens Patrick gestoßen war, mit dem er spontan die Gründung einer alternativen Burschenschaft beschlossen hatte. Weder bei den sozialistischen Listen noch erst recht bei den Grünen an ihrer Uni hatten sie dafür jedoch Gehör finden können. Eine schlagende alternative Verbindung stünde im krassen Kontrast zu ihrem auch nach dem Ende des Kalten Krieges immer noch geltenden Motto ‚Schwerter zu Pflugscharen‘. So waren sie zunächst die einzigen Mitglieder, zogen aber später gemeinsam in eine Studentenetage, in die sie vorübergehend am Fechtsport Interessierte aufnahmen. Dauerhaft blieb es aber eher bei einem Zweikampf zwischen Patrick und Lance. Die anderen Mitbewohner hätten die Sache nicht wirklich seriös betrachtet und das Fechtinteresse lediglich vorgegeben, um auf dem heiß umkämpften Wohnungsmarkt ein Zimmer zu bekommen. Eric dagegen hatte sich schon vor Jahren einer Gruppe angeschlossen, die in ihrer Freizeit das Leben im Mittelalter nachstellte. Mit einigem Aufwand rekonstruierte man Kleidung und Gewänder sowie Gegenstände des Alltags, daneben frönte eine kleinere Abteilung auch Schaukämpfen. In den Sommerferien zog man durch halb Europa, denn überall gab es Mittelalterfeste und Clubs mit ähnlicher Gesinnung.
Eric besaß ein monströs großes Schwert, und als er es einmal in der Runde demonstrierte, hatten alle, insbesondere Jannifer, bewundernd zu ihm aufgesehen. Es handelte sich um einen kunstvoll geschmiedeten Beidhänder, der aus einem Fantasy-Film hätte stammen können, und der so schwer war, daß man schon die Kraft und Statur des Deutsch-Spaniers brauchte, um es überhaupt annähernd führen zu können. Die Freunde diskutierten ehrfurchtsvoll, wie es überhaupt irgend jemand, Schaukampf hin oder her, wagen könne, Eric entgegenzutreten. Ein solcher Jemand wäre jedenfalls eher blöd denn mutig einzustufen. Hier meldete sich Arthur zu Wort und äußerte, er könne sich sehr gut einen ebenbürtigen Gegner Erics vorstellen. Dieser müsse sich jedoch zwangsläufig in fast allem diametral von ihm unterscheiden. Er denke an einen kleinen, ungeheuer wendigen Mann mit einem viel leichteren Schwert. Nach kurzer Überlegung brummelte die Gruppe Zustimmung, nur Eric schien etwas beleidigt, denn für wendig hielt er sich selbst trotz seiner Erscheinung eben auch. Arthur selbst besaß übrigens keinerlei Hieb- oder Stichwaffen, er meinte einmal, leicht ironisch lächelnd, daß die anderen ihn im Falle eines Falles wohl mit ihrer vereinten Waffenfertigkeit schon schützen würden. Die anderen fanden dies im Stillen ein wenig überheblich, verziehen es aber, da man sich just zu dieser Zeit recht häufig in Arthurs Appartement zusammenfand und seiner Gastfreundschaft teilhaftig wurde. An der Peripherie der Gruppe gab es übrigens auch noch einen Russen, der sich Hans nannte, und eine stille junge Frau namens Sigune Schneider. Beide stießen jeweils nur sehr unregelmäßig zu Treffen des engen Freundeskreises.
Sigune kannte Jannifer aus vorübergehender gemeinsamer Schulzeit in Köln; Hans war durch Falk vorgestellt worden, der ihn in einem fachübergreifenden Seminar zum Thema ‚Dostojewski in Deutschland‘ kennengelernt hatte. Die beiden hatten mit Waffen auch nichts zu schaffen, Sigune allenfalls mit denen einer Frau, Hans jedenfalls nicht mit solchen, bei denen der Körper eingebracht werden mußte.
Es war an einem vergleichsweise warmen Nachmittag in den ersten Frühlingstagen, als sich die Freunde nach vorheriger telefonischer Verabredung aufgemacht hatten, um sich bei Arthur zu treffen. Diesen hatten sie zwar selbst nicht erreichen können, aber das war kein Hinderungsgrund. Denn selbst wenn sie unangemeldet kamen, stand Arthurs Tür den Freunden (allerdings auch nur diesen) jederzeit offen. Dazu ist zu wissen, daß Arthur zum einen häufig in irgendwelchen Angelegenheiten unterwegs war, er zum anderen aber oft auch einfach zu faul war, ans Telefon zu gehen. Er ließ die Leute dann auf seinen Anrufbeantworter aufsprechen und hob je nach Laune irgendwann ab (etwa mit den Worten: „Soeben komme ich zur Tür herein …“ oder „Gerade komme ich aus der Dusche …“ – was natürlich nie jemand glaubte) oder ließ es auch sein. Eric kam mit seinem altgedienten 245er Volvo die Wolbecker entlang und hätte beim Abbiegen in die Peterstraße fast Falk angefahren, der mit wehendem Haar und langem schwarzen Mantel auf einem Puch-Rad diese soeben überqueren wollte, um dann den westlichen Bürgersteig bis zu Arthurs Haus hinunterzurollen. Volvo und Fahrrad hatten sicher annähernd dasselbe Baujahr, waren aber, viel auffälliger, in fast derselben Farbe lackiert, einem hellen Metallic-Blau. Jannifer hatte bereits ihren roten Opel-Kombi, dessen hintere Scheiben von innen mehr oder weniger kunstvoll mit schwarzer Folie beklebt waren, unweit des Hauses geparkt. Sie trug eine schwarze Lederhose und eine schwarze ärmellose Weste. Mit verschränkten Armen cool an ihr Auto gelehnt, war sie in Gedanken schon bei der Probe ihrer Frauenrockband ‚Männer, die zum Frühstück bleiben‘, die für den späteren Abend angesagt war. Kaum, daß Eric einen Parkplatz gefunden hatte –, es dauerte eine ganze Weile, bis er das für deutsche Innenstadt-Parkplätze nicht geschaffene Gefährt in eine eigentlich zu kleine Lücke zwischen zwei anderen Autos hineinrangiert hatte – bog Lance am südlichen Ende in die Peterstraße. Bald schloß er sein mehr nach Mountain-Bike aussehendes denn tatsächlich geländetaugliches Fahrrad an den Zaun hinter das von Falk, der leicht fluchend mit der Verarbeitung seines Beinahe-Unfalls beschäftigt war. „Habt ihr das gesehen? – Unglaublich, der hätte mich fast umgenietet mit seinem alten Schweden!“„Nö, nicht wirklich“, meinte Jannifer. „Ich hab’ gar nichts mitgekriegt, komm’ ja von da unten“, sagte Lance und deutete mit dem Kopf zum Südende der Straße, bevor er sich mit Jannifer einem schmachtenden Begrüßungskuß hingab.
Nach wenigen Minuten stand dann auch Eric vor dem Haus Arthurs und mußte zunächst einen Schwall an Beschimpfungen aus der reichen Sammlung, die die Radler für die Autofahrer im Verlauf der letzten 100 Jahre zusammengetragen hatten, über sich ergehen lassen. Im Gegensatz zu „Rücksichtsloser Blechkistenpilot“ schienen „Fahren von den Trollen gelernt“ und „Führerschein wohl auf Mallorca beim Eimersaufen gewonnen“ bereichernde Neu-Schöpfungen zu sein. Eric beschloß, nicht in den von den frühen Tagen der ersten Automobilisten an ebenfalls über 100 Jahre bis heute ständig fortentwickelten Katalog zur Auseinandersetzung mit gegnerischen Pedaltretern hineinzugreifen, zumal er sich wirklich etwas schuldig fühlte: „Okay, Du hast recht, und ich meine Ruhe.“ „Da gibt er’s auch noch zu – aber ehrlich gemeint ist es wohl nicht“, fauchte Falk. „Jetzt komm’ mal runter“, meinte Jannifer und warf ihm einen leicht genervten Blick zu, „du lebst ja schließlich noch!“ Lance seufzte: „Das strengt mich zu sehr an, ich muß sitzen.“ Die Gruppe gab ihm jedoch keine Gelegenheit dazu, sondern schob sich unter allmählich abklingendem Gemaule von Falk der Haustür zu. Erst dabei fiel den Freunden bewußt ein vielleicht achtjähriges Mädchen in einem roten Röckchen auf, das mit seinem Springseil indes schon die ganze Zeit auf dem Bürgersteig gewesen war und sein Gehüpfe nur wegen der lautstarken Auseinandersetzung unterbrochen hatte. Da es nun wieder anfing, durch sein Seil zu springen – die geflochtenen blonden Zöpfe flogen dabei wie Propeller –, konnte man beruhigt aufatmen in dem Moment, als man sich wegen seines unerwachsenen Verhaltens gerade meinte schämen zu müssen. Wie immer stand Arthurs Tür den Freunden offen, diesmal allerdings wortwörtlich. Und das war ungewöhnlich, denn in der Regel legte Arthur großen Wert darauf, daß die Haustür stets im Schloß war, und bat auch seine Gäste um besondere Beachtung. In den heutigen Zeiten war dies ja auch mehr als nachvollziehbar. Man stutzte also, dies um so mehr, als auf das Klingeln hin er weder den Türöffner bediente noch selbst nach unten kam, was er fast noch häufiger tat.
Die Freunde sahen sich kurz an und traten ein, mit einem forschen „Arthur, wo bist Du!?“ ging es die Treppe zu seinem Appartement hinauf. Auch die Wohnungstür stand offen, es roch nach Kaffee. „Wenn’s Kaffee gibt, ist ja alles okay …“ Eric schob die Tür auf, es war niemand zu sehen. „Vielleicht holt er ja noch Kuchen“, grinste Jannifer, und alle lachten. Denn Arthur war eher für seine Erwartung bekannt, daß Besucher welchen mitbrachten. Aber Ausnahmen bestätigten ja bekanntlich die Regel. „Trotzdem komisch, daß er alle Türen so aufläßt“, bemerkte Falk. „Na, warten wir einen Moment“, sagte Lance und warf sich auf eines der Sitzkissen. „Gieß’ schon mal ‘nen Kaffee ein, Mädel“, meinte Falk zu Jannifer. „Du hast sie wohl nicht mehr alle“, kam es spontan zurück. „Der Herr Graf bequeme sich durchlauchtigst gefälligst selbst und serviere der holden Weiblichkeit!“ Falk feixte und schob der Küche zu. Zu seiner Überraschung war nur ein winziger Rest Kaffee in der Kanne der noch eingeschalteten Maschine. Neben derselben standen indes zwei scheinbar kürzlich benutzte Kaffeebecher, beide nicht ganz geleert. „Hm, komisch … na ja, ich mach‘ dann mal neuen.“
Während Falk in der Küche herumklapperte und sich bald frischer Kaffeeduft mit abgestandenem mischte, hatten es sich die anderen um den Glastisch herum gemütlich gemacht. Unten fiel die Haustür ins Schloß. „Aha, das ist er wohl“, rief Eric. Dem Türgeräusch folgten jedoch keine Schritte auf den Treppenstufen. Die Freunde lauschten einen Moment mit nachdenklichen Mienen. Dann beugte sich Jannifer mit einem Mal vor und nahm mit einem überraschten „Hey!“ ein Briefkuvert von der Mitte des Glastisches, das die ganze Zeit dort gelegen hatte, wegen seiner Unauffälligkeit aber keine Beachtung gefunden hatte. Über der normalen Postanschrift Arthurs stand statt seines Familiennamens ‚Freunde‘, also ‚Arthur Freunde‘. Das Kuvert trug eine abgestempelte Marke, jedoch auf der Vorder- und auch auf der Rückseite keinen Absender. Es war bereits geöffnet worden, Arthur mußte vermutet haben, daß der Brief an ihn gerichtet war, vielleicht hatte er sich die Adresse auch gar nicht genau angesehen, zumal er ja aus In- und Ausland relativ viel Post bekam.
„Kaffee ist fertig!“ – Falk knallte vier Kaffeebecher auf den Tisch, aus mehreren spratzte das braune Gebräu dabei heraus. „Das ist für uns, oder?“ Ungläubig entfaltete Jannifer ein einseitig beschriebenes oder besser bedrucktes Blatt Papier. „Los, lies vor!“, tönte es.
„Okay, okay“ – Jannifer kam dem Wunsch der anderen sofort nach:
An Arthur Freunde.
Arthur sein in unsere Gewalt. Wenn ihr alles richtig machen, Arthur leben und frei. Wenn ihr falsch machen, Arthur tot. Also kein Polizei, z. B. Wenn Arthur sollen leben, ihr ihn müssen finden. Wie das können? Wo er sein in Welt? Viel Spaß bei Suchen!
PS: Nächst Woche, gleich Zeit, neu Briefe, wieder Haus hier, selbe Stell. Vorher nicht kommen, sonst ihr wissen was. Und kein Polizei, kein Bundeswehr.
Trotz des Ernstes der Lage klang es unfreiwillig komisch, wie Jannifer versuchte, das fehlerhafte Deutsch Wort für Wort wiederzugeben. Daneben hatte auch die Warnung am Ende vor der Einschaltung der Armee durchaus etwas Belustigendes. Die Freunde Arthurs fanden sich entsprechend wieder in einer merkwürdigen Gefühlsmischung aus Bestürzung und Erheiterung. Dies ließ sie zumindest halbwegs einen klaren Kopf bewahren.
„Arthur ist entführt worden!“, stellte Eric fest. „Was Du nicht sagst!“ Jannifer, der er das Schreiben aus der Hand genommen hatte, verdrehte die Augen. Eric reichte das Blatt nun an Falk weiter, Lance beugte sich über dessen Schulter. „Also, Germanisten waren das nicht!“ Falk nahm einen tiefen Schluck aus seinem Kaffeebecher. „Mühe gemacht haben die sich jedenfalls keine.“ Während er sprach, bewegte sich Lance vorsichtig zur Wohnungstür und spähte die Treppe hinab. „Früher mußte man die Buchstaben für solche Schreiben aus Zeitungen ausschneiden und schön mit dem Prittstift aufkleben.“ Die Haustür unten stand merkwürdigerweise weit offen, Sonnenlicht schlug den Aufgang hinauf. „Tja, heute bei Millionen baugleicher Drucker ist das den Aufwand nicht wert, im Gegenteil, gefährlicher.“
„Was redet ihr denn da?“ Jannifer war jetzt sichtlich genervt. „Überlegt lieber, was wir jetzt tun sollen!“ „Ich denke, wir sollten zuerst mal nichts mehr anfassen wegen der Spurensicherung“, meinte Eric, nahm noch einen großen Schluck Kaffee und schob seine Tasse dann auf dem Tisch weit von sich weg. „Spurensicherung? Du willst doch nicht etwa die Polizei einschalten?!“ Jannifer baute sich vor dem sitzenden Hünen auf, der verdutzt zurückwich.
Lance hatte sich an der Treppenwand entlang nach unten gedrückt und vorsichtig auf die Straße geschaut. Das Mädchen mit den blonden Zöpfen war verschwunden, und auch sonst war weit und breit niemand zu sehen. Lediglich an einem Fenster im 1. Stock des Hauses schräg gegenüber hatte eine Gardine geschwungen, als sei soeben jemand dahinter zur Seite getreten. Als Lance wieder in Arthurs Wohnung zurückkehrte, standen die anderen still beisammen. „Vielleicht sollte einer mal das Mädchen fragen, ob es etwas bemerkt hat“, meinte er. „Aber es ist jetzt nicht mehr da.“
Da es niemandem mehr behagte, sich ohne den Gastgeber in dessen Wohnung aufzuhalten, die offenbar zum Ausgangspunkt eines an ihm begangenen Verbrechens geworden war, und in der man zudem, für welchen Fall auch immer, keine wichtigen Spuren verwischen wollte, beschloß man, zu gehen und an anderer Stelle die Überlegungen fortzusetzen.
==
_Man war zunächst ins ‚Rote Sofa‘ gegangen. Auf Grund der verständlichen Erregung, die sich nun Luft machte, war es jedoch bereits nach der zweiten Runde Bier so laut geworden, daß man der Vernunft gehorchend weiterzog zu Jannifer. Die vorab getroffene Vereinbarung zum möglichst unauffälligen Auftreten wäre in der Kneipe nicht einzuhalten gewesen. Aufgrund der Umstände, gleichwohl aber schweren Herzens rief Jannifer ihre Bandkollegin Squid an und sagte ihre Teilnahme an der heutigen Probe der Truppe ab. Nach dem Grund gefragt, gab sie dummerweise ‚Regelschmerzen‘ an, was ihr Squid zum einen deshalb nicht abnahm, weil Jannifer damit noch nie gekommen war, zum anderen, weil das nun überhaupt nicht zum coolen Image der ‚Männer, die zum Frühstück bleiben‘ paßte.
Jannifer’s Wohnung war genaugenommen nur ein großes Zimmer einer solchen, mit gemeinsamer Bad- und Küchenbenutzung. Der Raum war relativ schlicht ausgestattet, das Mobiliar erkennbar aus Baumärkten und schwedischen Einrichtungshäusern. Dominierend war die große Stereoanlage in einem wenig vertrauenerweckenden Regal nebst zugehörigen Boxen. An einem Regalpfosten baumelte ein Florett. Blickfang daneben war eine abgenutzte Stratocaster-Kopie auf einem Gitarrenständer in der Zimmermitte. Die Wände schmückten wilde, selbstgeschaffene Werke moderner Kunst, dazwischen Photos von Konzertauftritten. An Sitzgelegenheiten gab es das Bett, zwei Stühle an einem Allzwecktisch und den Boden. Auf diesen setzte sich Eric, nachdem das Bett seinem prüfenden Blick nicht standgehalten hatte. Der Einfachheit halber schlossen sich die beiden anderen Männer dem an. „Bier?“ Jannifers Frage klang rhetorisch, niemand antwortete. Sie klapperte kurz in der Küche, und kam mit vier Flaschen und einem Öffner zurück.
Etwas beruhigt saß man eine Weile still im Halbdunkel, die einzigen Laute waren das brausende Gegurgele, wenn jemand die Flasche hob und einen Schluck daraus nahm.
„Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als eine Woche auf die neuen Nachrichten zu warten“, brach Eric schließlich das Schweigen. „Glaubst Du denn wirklich, es bestünde unmittelbare Gefahr, wenn wir zur Polizei gingen? Man könnte doch ganz unauffällig …“ – weiter kam Falk nicht, denn Jannifer ging wild dazwischen: „Das wär’ viel zu riskant, hinterher bringen sie ihn um. Möchtest Du das sehen?“ Nein, natürlich nicht. Wer wollte das schon. Jeder hatte hier seine eigenen grausigen Bilder vor Augen. „Vielleicht werden wir auch beobachtet“, warf Lance ein. Sie schwiegen kurz. „Was wollen die Entführer nur?“ Jannifer wirkte jetzt nicht nur erschöpft, sondern fast ein wenig verstört. Lance rückte dicht neben sie und legte ihr seinen Arm um die Schultern. „Das wissen wir nicht. Das weiß man oft beim ersten Brief nicht … die wollen einen verunsichern.“ Jannifer gab Lance einen flüchtigen Kuß. Ihr Lidschatten war verschmiert. Eric leerte seine Flasche: „Zappeln lassen. Man soll selbst schon mal überlegen, was einem der Entführte wohl wert ist.“
Als die Freunde auseinandergingen, hatten sie vereinbart, sich möglichst jeden Tag, wichtiger aber noch an einer immer wechselnden Stelle zu treffen, nicht zu telefonieren, und wenn, dann in Andeutungen und Verklausulierungen. Auf jeden Fall aber sollte Jannifer das seilspringende Mädchen so vorsichtig wie nur möglich kontaktieren und befragen, Lance gelobte Rück-endeckung. Für den nächsten Tag wurde als Treffpunkt der Brunnen vor der Ludgerikirche bestimmt, als Zeitpunkt 19.30 Uhr. Die Diskussion darüber, ob dies eine gute Wahl war oder nicht, war erstaunlich kurz, man war müde, und darüber hinaus in konter-konspirativen Angelegenheiten noch völlig ungeübt.
Lance blieb bei Jannifer, auf Grund vor allem ihrer Aufwühlung und Müdigkeit schliefen sie aber diesmal nur nebeneinander. Am nächsten Morgen blieben sie in einem unruhigen Schlummer noch relativ lange im Bett, feste Termine hatten beide nicht an diesem Vormittag. Ein ausgiebiges Frühstück und mehrere Becher schwarzen Kaffees brachten die ersehnte Stärkung. Sie planten, ab etwa drei Uhr nach dem Mädchen mit den blonden Zöpfen Ausschau zu halten. Sicher war es vormittags in der Grundschule, dann gab es Mittagessen, danach mußte vielleicht die ein oder andere Hausaufgabe erledigt werden. Das Mädchen sollte zunächst befragt werden, ob es Arthur kenne, dann, ob ihm etwas Besonderes aufgefallen sei. Dabei kam Jannifer darauf, daß es wohl sinnvoll sei, ein Photo von ihm mitzunehmen, und fand nach kurzem Kramen ein passables. Insgeheim fühlten sie sich schon bei dem Gedanken an eine Befragung schlecht, wurde doch die Annäherung eines unbekannten Erwachsenen an ein Kind nicht mehr neutral gesehen. Wie oft hatte man ja von Entführungen und Schlimmerem gehört. Nun, diesmal ging um die Beendigung einer Entführung und um die Verhinderung von Schlimmerem. So beruhigten sie sich und radelten rechtzeitig los, auf dem letzten Stück näherten sie sich getrennt der Peterstraße.
Jannifer stellte ihr Rad kurz vor der Einmündung der Nordseite ab, Lance stoppte an der Südseite. Glück gehabt! Tatsächlich sprang das Mädchen im roten Rock wieder durch sein Springseil. Jannifer ging den Bürgersteig wie zufällig hin-unter, einen Schritt an dem Kind schon vorbei, um sich dann unvermittelt nach ihm umzudrehen. „Na, Du kannst aber toll mit deinem Seilchen springen!“ Das Kind wich ob der plötzlichen Annäherung erschreckt zurück und musterte Jannifer argwöhnisch. Diese kam sich selbst wie ein weiblicher böser Onkel vor, der jeden Moment eine Schokolade hervorzieht. Doch sie überwand das Gefühl und streckte ihr statt einer Schokolade das Bild Arthurs entgegen.
„Sag’ mal, kennst Du diesen Mann?“ Das Mädchen schaute auf das Photo. „Das ist doch der Arthur!“ „Ach, Du kennst ihn!“ Jannifer war überrascht und erfreut. „Der wohnt da.“ Das Mädchen deutete auf Arthurs Haus. „Und wer bist Du?“ „Tja ich, ich bin die, ich meine ich bin die Jenny“, sagte Jannifer, und ärgerte sich, daß ihr nicht etwas Besseres eingefallen war, wenigstens ‚Gina‘ oder so. „So, und ich heiße Annemarie.“ „Das ist aber ein schöner Name!“
„Ach komm’, der ist blöd. Was willst Du denn von mir?“ „Sag’, Annemarie, ist dir gestern etwas Besonderes aufgefallen, ich meine, hast Du den Arthur gesehen?“ Das Mädchen starrte Jannifer an. „Bist Du von der Polizei?“ „Nein, ich …“ „Schon gut“, unterbrach sie das Kind. „Das war schon komisch. Gestern war der Arthur nämlich mit einem Riesen da.“ „Mit einem Riesen? Du meinst mit einem großen Mann?“ „Nein, mit einem Riesen. Mein Vater ist ein großer Mann, aber der ist kein Riese.“ Jannifer bemühte sich, die Fassung zu bewahren. Offensichtlich fabulierte das Kind. „Ja, was haben Arthur und der Riese denn gemacht?“ „Zuerst ist der Riese in sein Haus hin-eingegangen, und dann später wieder mit dem Arthur heraus. Da stand ich direkt vorm Eingang.“ „Ja, und dann??“ „Ich hatte Angst vor dem Riesen, aber er war sehr freundlich. Er hat sich von hoch oben – das Mädchen machte eine entsprechende ausladende Geste – heruntergebeugt und mir kleine Igel geschenkt.“ Jetzt mußte sich Jannifer schon sehr beherrschen, fuhr aber nett fort: „Wie süß – lebendige kleine Igel!“ „Du Dummerchen, Schokoigel natürlich.“ Sie griff in die Tasche ihrer Strickweste. „Hier – oh, da sind die Stacheln ja weg!“ Das Mädchen streckte Jannifer eine grob angeschmolzene Schokokugel entgegen. „Willst Du?“ „Nein, nein, schon gut. Und der Arthur, war der auch freundlich?“ „Weiß nicht, aber er hat, glaub’ ich, gelächelt.“ „Hm …“ Jannifer stockte. „Ich hab’ dann noch gefragt, was die beiden, na, was die beiden noch vorhaben.“ „Ja und??“ „Der Riese hat gesagt, er nimmt den Arthur mit zum Zauberland Matur.“ „Matur?“ Die Verblüffung übermannte Jannifer. „Das hab’ ich mir genau gemerkt. Im Zauberland Matur soll es die prächtigsten Vögel und die schönsten Frauen geben.“ „Das hat der Riese gesagt?“ „Ja, und dann sind sie gegangen.“ „Wohin?“ „Da rauf und dann um die Ecke. Der Arthur hat sich noch mal umgedreht und gewinkt.“ Jannifer senkte den Kopf. „Bist Du jetzt traurig?“ „Nein, nein, schon okay. Vielen Dank, Annemarie. Das war sehr wichtig.“ „Eigentlich darf ich ja gar nicht mit Erwachsenen reden. Aber es passiert mir einfach immer.“
Jannifer verabschiedete sich von der kleinen Annemarie mit der Andeutung, sie müsse weiter Ausschau halten nach Arthur und käme vielleicht noch mal vorbei. Dann radelte sie mit Lance ins Zentrum zurück, ziellos, man hielt schließlich an einem Café in der Königsstraße. „Das Zauberland Matur“, sagte Lance und sog am Strohhalm seines Eiskaffees, „ich faß’ es nicht. Überhitzte Phantasie, die Kleine!“ Jannifer schwieg und starrte aus dem Fenster auf die vorbeifahrenden Autos und Räder.
Wie vereinbart traf man sich um 19.30 Uhr am Ludgeribrunnen. Die Freunde waren verstört, denn trotz der kreativen Anreicherung wurde die Schilderung des seilchenspringenden Mädchens als weiterer Beweis der eigentlich schon klaren Tatsache einer Entführung Arthurs empfunden. Handlungsfähiger machte sie das nicht. Mit der Selbstverpflichtung, angestrengt über die weitere Vorgehensweise nachzudenken, um alsbald mit intelligenten Vorschlägen aufzuwarten, schieden sie voneinander.
Wirklich Überzeugendes kam indes in den folgenden Tagen nicht zustande, man traf sich noch einmal am Rande des Wochenmarkts auf dem Domplatz, wo Eric statt der Polizei diesmal die Einschaltung des Bundesnachrichtendienstes erwog. Das zur Antwort erschallende Gelächter seiner Freunde war ebenso höhnisch wie herzlich. „Da wär’ die Stasi sicher effektiver gewesen“, meinte Falk, erschreckte sich aber gleich über das Gesagte. „Na, das wollte wohl niemand, daß die noch irgend etwas zu melden hätten“, gab denn Eric auch gleich die moralische Bewertung des Gedankens. „Die Mauer war noch nicht ganz gefallen, da machten sich die Kader schon fit in ‚Wie gründe ich eine GmbH?‘. Die gute Vernetzung diente jetzt neuen Zielen …“ Lance wollte gerade anheben mit einer Darstellung aus wirtschaftshistorischer Perspektive, hatte er doch hierzu mal eine Hausarbeit geschrieben. „Es geht um Arthurs Leben!“, rief Jannifer aufgebracht, „jetzt laßt den Scheiß und kommt mit einer vernünftigen Idee!“
Aber dadurch kam auch keine. Man beschloß, um Arthur in keinem Fall zu gefährden, sich strikt an die Anweisungen der Entführer zu halten. Nach Ablauf der Wochenfrist kam man also wieder vor dem Haus des Opfers zusammen. Die Haustür stand einen Spalt weit auf. Was, wenn einer der Täter noch im Haus wäre? Die Freunde sahen sich beklommen an. „Hallo, ist da jemand?“, rief Falk in den Flur. Der Schall verlor sich im Treppenhaus. Wie zufällig glitten ihre Blicke zur Straße zurück, so als wollten sie ihre Fluchtmöglichkeiten einschätzen. Da schob Eric die Tür auf und stapfte mutig nach oben. Lange Sekunden war es still, dann hörte man einen dumpfen Klatsch. Bevor man diesen jedoch hätte angstvoll interpretieren können, dröhnte es von oben: „Die Luft ist rein, kommt hoch!“
Auf dem Glastisch lag ein großer Umschlag ‚An Arthur Freunde‘, daneben befand sich eine kleine Pappschachtel, wie sie beim Juwelier für Ringe und andere Pretiosen verwendet wird.
„Liest Du bitte vor?!“ – Jannifer seufzte. Hoffentlich entwickelte sich hier keine Regelmäßigkeit. Sie öffnete den Manila-Umschlag, entnahm ihm ein beschriebenes Blatt und vier zugeklebte längliche Briefkuverts.
An Arthur Freunde.
Erste Probe sein bestanden. Gut so! Jetzt Suche kann beginnen … Jeder nimmt ein Umschläg, darin Auftrag und „Mittel“. Arthur leben und gesund. Nur kleine Schmerz, haha, von Trennung. Keine Angst – kein Eil. Arthur gehen gut, aber er warten auf Rettung.
Gleich geht‘s los!
„Das war’s. Hm – Umschläge verteilen …“ Jannifer wollte schon damit beginnen, als Falk mahnte, sie doch erst auf den Tisch zu legen. „Das ist mehr als merkwürdig. Keine Forderung. Was sind ‚Mittel‘? Und wie und wo sollen wir suchen?“ Eric schüttelte nachdenklich den Kopf. Ob sich das vielleicht doch nur um einen – allerdings sehr üblen – Scherz handelte? „Mach’ mal die Box auf!“ Jannifer nahm die Schachtel vom Tisch, hielt sie nah vor das Gesicht und nahm behutsam den Deckel ab. Für einen Moment schien es, als betrachte sie angestrengt die Feinheiten eines Schmuckstücks. Dann entfuhr ihr jedoch ein leiser Schrei, sie verkrampfte sich, fing am ganzen Leibe an zu zittern. Die Lippen bebten, sie begann zu schluchzen, ganz merkwürdig glucksend hörte sich das an. Lance war aufgesprungen, hielt sie fest und wand die Schachtel aus ihrer Hand. Eher ungläubig als entsetzt streckte er sie Falk und Eric entgegen. In der Mitte der Wattierung lag das oberste Glied eines kleinen Fingers, an dessen Außenseite ein Muttermal war, das wie ein kleines Auge schien.
Nun mußten sich die entsetzten Freunde nicht mehr nach der Ernsthaftigkeit der Entführung fragen. Schnell setzte sich der Schock in Wut um. „Diese Schweine“, schrie Eric. „Los, die Umschläge her“, rief Falk, nahm sie vom Tisch, warf Eric den obersten zu, den nächsten zu Lance, der, besorgt um die in Arthurs Stuhl gesunkene Jannifer, jedoch zu spät reagierte. Sein Brief flog gegen ihre Stirn, und bevor ihr ein eher überraschtes ‚Au!‘ entfuhr, fiel er mit dem für sie bestimmten letzten Umschlag in ihrem Schoß zusammen. „Aufmachen!“, befahl Eric, und riß das ihm verbliebene Kuvert auf. Die anderen zögerten, so als wollten sie zunächst seine Reaktion abwarten.
Langsam nahm er ein gefaltetes Blatt heraus, in das zwei Schecks eingelegt waren. „Norwegen, vielleicht“, las er stirnrunzelnd. Dann schaute er auf die Schecks und pfiff leicht durch die Zähne: „Je 5000 Euro!“ Er sank auf eines der Sitzkissen am Glastisch. „Welches war denn deiner?“, meinte Jannifer zu Lance. „Ist doch egal!“ Lance griff einen, kramte ein Taschenmesser aus seiner Hose, mit dem er zuerst säuberlich seinen, dann Jannifers Umschlag öffnete. „America, kann sein, hab’ ich.“ „America, warum nicht?, steht bei mir.“ In Lance’ Umschlag fanden sich vier Schecks über 5000 Euro, in Jannifers drei. „Jetzt bin ich ja gespannt, wo’s für mich hingeht“, meinte Falk und öffnete sein Kuvert mit einem Kugelschreiber. „Deutschland, wer weiß.“ Sein Gesicht wurde lang, auch weil in seinem Umschlag nur ein Scheck über wiederum die gleiche Summe steckte. „Das ist doch nur Zufall, sollen wir losen, wer welchen Umschlag bekommt?“ „Ne, das ist schon richtig so“, meinte Eric und wunderte sich im gleichen Moment, warum er das sagte. Falks Gesicht wurde noch länger. „Mal langsam, Leute. Was ist denn das für ein Humbug?“ Lance richtete sich mit ernster Miene auf. „Arthur ist entführt, und seine Kidnapper wollen nichts anderes, als dass wir ihn suchen?“ „Und geben uns Geld dafür, statt welches zu fordern!“ Eric schüttelte den Kopf. „Es gibt ja auch kein richtiges Ultimatum.“ „Zum Glück!“ Falk fuhr fort: „Man muß sich fragen, ob es sich damit um eine Entführung im eigentlichen Sinne handelt.“ „Du spinnst doch“, meinte Jannifer. „Er ist verschwunden. Jetzt das Fingerstück. Mann, die bringen den um, wenn wir den nicht finden!“ „Und was passiert, wenn wir ihn finden? Und wo überhaupt?“ Es mißlang Eric, einen beruhigenden Unterton in seine Stimme zu legen. „Und wenn es doch nur Zufall ist, wie wir die Kuverts jetzt verteilt haben?“, meinte Jannifer leise. „Sag’ ich doch, sag’ ich doch!“ Falk konnte sich gleichwohl nicht mit seinem Vorschlag durchsetzen, es war erstaunlich, wie niemand außer ihm Geldsumme oder Ort zu tauschen bereit war. Ein wenig begannen sie sich zu schämen, wie rasch sie vom Schock der nun wirklich offensichtlichen Entführung Arthurs in eine andere Richtung abgeleitet worden waren. Falk lenkte schließlich ein. „Okay, vielleicht soll es so sein. Aber wie gehen wir jetzt vor?“
Draußen hatte es zu dämmern begonnen. Jannifer zog unter Verrenkungen ein Feuerzeug aus der Tasche ihrer enganliegenden schwarzen Lederhose, zündete zuerst eine große Kerze in der Mitte des Glastisches an, stand dann auf und brachte weitere verstreut in der Wohnung herumstehende Kerzen zum Brennen. „Ich mach’ mal die Haustür zu“, meinte Eric. Die anderen nickten. Trotz des abgetrennten Fingergliedes waren sie etwas ruhiger als vor einer Woche, niemand befürchtete eine Wiederkehr der Entführer. Diese verfolgten einen Plan, ein Plan, dem zufolge zumindest jetzt keine unmittelbare Bedrohung für sie zu bestehen schien. Falk erhob sich und öffnete den Kühlschrank. „Hey, Fingerabdrücke“, wollte Lance warnen. Unbeeindruckt zog Falk eine Flasche Krombacher aus einem liegenden Stapel heraus, es klirrte und klapperte entsprechend. „Ihr auch? – Wir dürfen ja die Bundeswehr und den BND eh’ nicht einschalten …“ Jannifer kicherte. „Ja, dann gib’ mal her!“ Die Freunde schlugen bald die Flaschen aneinander. „Auf Arthur!“ „Auf Arthur!“ Man trank bedächtig, der ein oder andere mochte an die ‚Sauerländischen Pilswochen’ denken, die der Wohnungsinhaber gelegentlich durchgeführt hatte. Aus Respekt hatte sich Jannifer nach dem Anzünden der Kerzen nicht mehr in seinen Stuhl gesetzt, auf den die Freunde nun nachdenklich schauten. „Wenn es ihm nur wirklich gutgeht, und er nicht um sein Leben fürchten muß!“ „Das ist bestimmt eine grauenhafte Situation!“ „Es geht nicht anders, wir müssen ihm helfen!“ So gingen die Gedanken durcheinander.
„Wie gehen wir nur vor?“, meinte Falk schließlich wieder. „Das ist eine Schnitzeljagd ohne Schnitzel.“ Eric bekam beim letzten Wort seiner Bemerkung Hunger. „Wir müssen den Startpunkt selbst wählen, wissen das Ziel nicht, und nicht einmal, ob es überhaupt eins gibt. Es kann ja nicht in allen drei Ländern gleichzeitig liegen.“ Lance schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. „In den USA gibt’s ja vielleicht sogar zwei“, sagte Jannifer. „Wieso das?“ Na ja, ich hab’ 15.000 Euro, Du 20.000. Könnte Ostküste und Westküste sein.“ Bei der Nennung der Beträge stockte sie leicht, und auch die anderen schauten ehrfürchtig drein. Für sie als Studenten waren das ungeheuer hohe Summen, und selbst Falk hatte noch nie 5000 Euro gesehen oder gar in der Hand gehabt. „Wieso kommt ihr eigentlich auf USA?“, meinte er, gleichwohl immer noch ein wenig enttäuscht über sein Los. „Amerika könnte ja auch Südamerika heißen. Oder Kanada.“ Es entbrannte eine kurze Diskussion, mit dem mehrheitlichen Ergebnis, daß ‚Amerika‘ doch als Synonym für die USA angenommen werden müßte. „Also, wie gehen wir jetzt vor?“ Falk zog sich leicht genervte Blicke zu.