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Robert Kardinal Sarah

im Gespräch mit Nicolas Diat

Kraft der Stille

Gegen eine Diktatur des Lärms

Für Benedikt XVI.,

einen großen Freund Gottes,

Meister der Stille und des Gebetes

Für Msgr. Raymond-Marie Tchidimbo,

den früheren Erzbischof von Conakry,

Gefangener und Opfer einer blutigen Diktatur

Für alle unbekannten Kartäuser,

die seit fast tausend Jahren Gott suchen

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort von Papst em. Benedikt XVI.

Vorwort von Nicolas Diat

I Die Stille gegen den Lärm der Zeit

»Ohne die Stille verschwindet Gott im Lärm. Und dieser Lärm wird umso aufdringlicher, als Gott abwesend ist. Wenn die Welt die Stille nicht wiederfindet, ist sie verloren, denn dann stürzt sie ins Nichts« (Gedanke 142).

II Gott spricht nicht, aber Seine Stimme ist deutlich vernehmbar

»Das Schweigen Gottes ist unfassbar und unerreichbar. Aber ein Mensch, der betet, weiß, dass Gott ihn auf dieselbe Weise erhört, wie Er die letzten Worte Christi am Kreuz angenommen hat. Die Menschheit spricht und Gott antwortet durch Sein Schweigen« (Gedanke 167).

III Die Stille, das Mysterium und das Heilige

»Es gibt eine ernste Warnung für unsere Zivilisation: Wenn unsere intelligenten Menschen nicht mehr die Augen schließen können, wenn wir nicht mehr schweigen können, werden wir keinen Zugang zum Mysterium haben, zu seinem Licht, das alle Finsternis überwältigt, zur reinen Schönheit, die alle Schönheiten übertrifft. Ohne das Geheimnis sind wir auf die Banalität der irdischen Dinge beschränkt« (Gedanke 240).

IV Gottes Schweigen angesichts der Entfesselung des Bösen

»Die Krankheit ist eine Teilnahme an der ewigen Stille« (Gedanke 349).

V Wie ein Rufen in der Wüste – Die Begegnung mit der Großen Kartause

»Einige Seelen trachten nach Einsamkeit, um sich selbst zu finden. Andere suchen sie, um sich Gott und den Nächsten hinzugeben« (Gedanke 117).

Nachwort von Robert Kardinal Sarah

Quellenangaben

»Was predigt uns denn dieses heiße Verlangen und dieses Unvermögen, was anderes, als dass es einstmals im Menschen ein wahres Glück gab, von dem ihm jetzt nichts übrig ist als die Erinnerung und die ganz leere Spur, die er vergebens mit allem, was ihn umgibt, auszufüllen unternimmt, indem er in den Dingen, die nicht da sind, die Hilfe sucht, die er von den gegenwärtigen nicht erhält und die weder die Einen noch die Anderen imstande sind, ihm zu geben, weil dieser unendliche Abgrund nur ausgefüllt werden kann durch einen unendlichen und unveränderlichen Gegenstand [also durch Gott]?«1

Blaise Pascal, Pensées

»Du Mundart meines inneren Dorfes,

Süßes Sprechen meiner imaginären Landschaft,

Flüsterndes Rauschen meines unsichtbaren Flusses,

Sprache meines Landes, meiner geistigen Heimat,

Du Wort, das mir lieber ist als selbst meine Muttersprache,

Du meine Stille!

Dich spreche ich, dich gebe ich wieder,

Dich singe ich tausendmal zum Genuss meiner Seele

Und dich höre ich erklingen wie jubelnde Orgeln.«

Jean Mogin, Pâtures du silence

Geleitwort

von Papst em. Benedikt XVI.

Seit ich in den Fünfzigerjahren erstmals die Briefe des heiligen Ignatius von Antiochien gelesen habe, ist mir in besonderer Weise ein Wort aus seinem Epheserbrief nachgegangen: »Besser ist schweigen und sein als reden und nicht sein. Gut ist das Lehren, wenn man tut, was man sagt. So ist nun einer Lehrer, der da sprach, und es geschah, und was er schweigend getan hat, ist des Vaters würdig. Wer Jesu Wort wirklich besitzt, kann auch seine Stille vernehmen, auf dass er vollkommen sei, auf dass er durch sein Wort wirke und durch sein Schweigen erkannt werde« (15,1f.). Was bedeutet das – die Stille Jesu vernehmen und ihn durch sein Schweigen erkennen? Wir wissen aus den Evangelien, dass Jesus immer wieder die Nächte einsam »auf dem Berg« im Gebet, im Gespräch mit dem Vater gelebt hat. Wir wissen, dass sein Reden, sein Wort aus dem Schweigen kommt und nur dort reifen konnte. So ist es einleuchtend, dass sein Wort nur recht verstanden werden kann, wenn man auch in sein Schweigen mit eintritt; wenn man lernt, es von seinem Schweigen her zu hören.

Gewiss, um die Worte Jesu auszulegen, ist historische Kenntnis nötig, die uns die Zeit und die Sprache von damals zu verstehen lehrt. Aber dies allein reicht doch nicht aus, um die Botschaft des Herrn wirklich in ihrer Tiefe zu begreifen. Wer heute die immer dicker werdenden Kommentare zu den Evangelien liest, bleibt doch am Ende enttäuscht. Er erfährt vieles von damals, was nützlich ist, und vieles an Hypothesen, die am Ende doch nichts zum Verstehen des Textes beitragen. Am Ende fühlt man, dass bei dem Übermaß an Worten etwas Wesentliches fehlt: das Eintreten in Jesu Schweigen, aus dem sein Wort geboren ist. Wenn wir nicht in dieses Schweigen einzutreten vermögen, werden wir auch das Wort immer nur von seiner Oberfläche her hören und so nicht wirklich verstehen.

All diese Gedanken sind mir beim Lesen des neuen Buches von Robert Kardinal Sarah wieder durch die Seele gegangen. Sarah lehrt uns das Schweigen – das Mit-Schweigen mit Jesus, die wahre innere Stille, und gerade so hilft er uns, auch das Wort des Herrn neu zu begreifen. Selbstverständlich spricht er kaum von sich selbst, aber ab und zu lässt er uns doch einen Blick in sein inneres Leben hineintun. Auf die Frage von Nicolas Diat »Haben Sie in Ihrem Leben manchmal gedacht, dass die Worte zu lästig, zu schwer, zu laut werden?«, antwortet er: »… Beim Beten und in meinem inneren Leben habe ich oft das Bedürfnis nach einer tieferen und vollständigeren Stille verspürt … Die Tage in Stille, Einsamkeit und absolutem Fasten waren eine große Hilfe. Sie waren eine unglaubliche Gnade, eine langsame Reinigung, eine persönliche Begegnung mit Gott … Die Tage in Stille, Einsamkeit und Fasten, mit dem Wort Gottes als einzige Nahrung, erlauben dem Menschen, sein Leben auf das Wesentliche auszurichten« (Antwort 134, S. 99ff). In diesen Zeilen wird die Quelle sichtbar, von welcher der Kardinal lebt und die seinem Wort die innere Tiefe gibt. Von da aus kann er dann auch immer wieder die Gefährdungen sehen, die das geistliche Leben gerade auch von Priestern und Bischöfen bedrohen und damit auch die Kirche selbst gefährden, in der anstelle des Wortes gar nicht selten eine Geschwätzigkeit tritt, in der sich die Größe des Wortes auflöst. Ich möchte nur einen Satz zitieren, der jedem Bischof zur Gewissenserforschung werden kann: »Es kann vorkommen, dass ein guter und frommer Priester, wenn er einmal zur Bischofswürde erhoben wurde, schnell in Mittelmäßigkeit und in Sorgen über die weltlichen Angelegenheiten fällt. So belastet durch das Gewicht seiner ihm anvertrauten Ämter, getrieben von der Sorge zu gefallen, besorgt um seine Macht, seine Autorität und die materiellen Bedürfnisse seines Amtes, gerät er allmählich außer Atem« (Antwort Nr. 15, S. 39).

Kardinal Sarah ist ein geistlicher Lehrer, der aus der Tiefe des Schweigens mit dem Herrn, aus der inneren Einheit mit ihm spricht und so einem jeden von uns wirklich etwas zu sagen hat.

Papst Franziskus müssen wir dankbar sein, dass er einen solchen geistlichen Lehrer an die Spitze der Kongregation gesetzt hat, die für die Feier der Liturgie in der Kirche zuständig ist. Auch bei der Liturgie gilt wie für die Auslegung der Heiligen Schrift, dass Fachkenntnis notwendig ist. Aber auch bei ihr gilt, dass die Fachlichkeit am Ende am Wesentlichen vorbeireden kann, wenn sie nicht in einem tiefen inneren Einssein mit der betenden Kirche gründet, die vom Herrn selbst her immer wieder neu lernt, was Anbetung ist. Bei Kardinal Sarah, einem Meister der Stille und des inneren Betens, ist die Liturgie in guten Händen.

Vatikanstadt, in der Osterwoche 2017

Benedikt XVI., Papa emeritus

Vorwort

von Nicolas Diat

Warum wollte Kardinal Sarah der Stille ein Buch widmen? Im April 2015 haben wir zum ersten Mal über dieses schöne Thema gesprochen. Wir kamen nach Rom zurück, nachdem wir einige Tage in der Abtei von Lagrasse verbracht hatten.

In diesem wunderbaren Kloster zwischen Carcassonne und Narbonne besuchte der Kardinal seinen Freund, Bruder Vincent. Von Multipler Sklerose heimgesucht, wusste der junge Ordensmann, dass er ans Ende seines Lebens gelangt war. Die besten Jahren verbrachte er gelähmt, ans Krankenbett genagelt, zu gnadenlosen Untersuchungen verurteilt. Für ihn war der kleinste Windhauch eine Erleichterung. Bruder Vincent-Marie von der Auferstehung lebte schon auf dieser Welt in der großen Stille des Himmels.

Die erste Begegnung fand am 25. Oktober 2014 statt. Dieser Tag prägte Kardinal Sarah tief. Sofort hatte er in dem Kranken eine brennende Seele, einen verborgenen Heiligen, einen großen Freund Gottes erkannt. Wie könnte ich die geistige Stärke von Bruder Vincent, seine Stille, die Schönheit seines Lächelns, die Rührung des Kardinals, die Tränen, die Scham, die aufeinander prallenden Gefühle vergessen? Bruder Vincent konnte nicht einmal einen einfachen Satz sagen, die Krankheit hinderte ihn am Sprechen. Er konnte allein seinen Blick zum Kardinal erheben. Er konnte ihn nur unverwandt, zärtlich und liebevoll anschauen. Die geröteten Augen von Bruder Vincent hatten schon die Farbe der Ewigkeit.

Als wir an diesem sonnigen Herbsttag das kleine Zimmer verließen, in dem sich Kanoniker und Krankenschwestern mit außergewöhnlicher Hochachtung ununterbrochen ablösten, führte uns der Vater Abt von Lagrasse, Emmanuel-Marie, in die Klostergärten in der Nähe der Kirche. Wir mussten etwas frische Luft schnappen, um den stillen Willen Gottes anzunehmen, diesen verborgenen Plan, der einen jungen, guten Ordensmann mit gequältem Leib unerbittlich zu unbekannten Ufern zog.

Mehrere Male kam der Kardinal zurück, um mit seinem Freund Bruder Vincent zu beten. Der Zustand des Kranken wurde immer schlimmer, doch die Qualität der Stille, welche die Unterhaltung eines großen Prälaten und eines kleinen Kanonikers umgab, wuchs ins immer Übernatürlichere. Wenn er sich in Rom befand, rief der Kardinal oft den Bruder an. Der eine sprach ganz leise, der andere schwieg. Einige Tage vor Bruder Vincents Tod hat Kardinal Sarah noch einmal mit ihm gesprochen. Er konnte seinen rauen und misstönenden Atem, die Schmerzattacken und die letzten Anstrengungen seines Herzens hören und er konnte ihm den Segen geben.

Am Sonntag, den 10. April 2016, während Kardinal Sarah für den Abschluss der Ausstellung der heiligen Tunika Christi nach Argenteuil gekommen war, gab Bruder Vincent im Kreis von Vater Emmanuel-Marie und seiner Familie Gott seine Seele zurück. Wie können wir das Geheimnis von Bruder Vincent verstehen? Nach so vielen Prüfungen war das Ende des Weges friedlich. Die Strahlen des Paradieses schienen lautlos durch die Fenster seines Zimmers.

In den letzten Monaten seines Lebens hat der kleine Kranke sehr viel für den Kardinal gebetet. Die Kanoniker, die sich in jedem Augenblick um den Bruder kümmerten, sind sich sicher, dass er noch einige Monate länger am Leben geblieben ist, um Robert Sarah besser zu beschützen. Bruder Vincent wusste, dass die Wölfe lauerten, dass sein Freund ihn brauchte, dass er auf ihn zählte.

Diese Freundschaft ist aus der Stille geboren, sie ist in der Stille gewachsen und sie geht in Stille weiter.

Die Begegnungen mit Bruder Vincent waren ein kleines Stück der Ewigkeit. Wir haben nie an der Wichtigkeit jeder einzelnen Minute gezweifelt, die wir mit ihm verbrachten. Die Stille erlaubte, jedes Gefühl zu seiner Vollkommenheit zu erheben. Wenn wir die Abtei verlassen mussten, wussten wir, dass uns die Stille von Vincent die Kraft geben würde, dem Lärm der Welt entgegenzutreten.

An diesem Sonntag im Frühling, da Bruder Vincent sich von den Engeln geleitet in den Himmel begab, wollte der Kardinal nach Lagrasse kommen. Eine große Ruhe lag über dem ganzen Kloster. Die Stille des Bruders war auf die Räume he­rabgekommen, in denen er gelebt hatte. Natürlich war es nicht einfach, am leeren Krankenbett vorbeizugehen.

Das Gebet der Kanoniker im Chorraum der Kirche, wo Bruder Vincent einige Tage ruhte, war schön.

Ein afrikanischer Kardinal kam, um einen jungen Ordensmann, mit dem er sich nie hatte unterhalten können, in die Erde hinabzulassen. Das Kind aus dem guineischen Busch hat in Stille mit einem kleinen französischen Heiligen gesprochen; diese Freundschaft ist einmalig und unvergänglich.

Ohne Bruder Vincent wäre Kraft der Stille niemals entstanden. Er hat uns gezeigt, wie sehr die Stille, in die ihn die Krankheit eingetaucht hatte, half, immer tiefer in die Wahrheit der Dinge einzugehen. Die Wege Gottes sind oft geheimnisvoll. Weshalb wollte Er einen fröhlichen Jungen, der nichts verlangte, so hart prüfen? Warum eine so grausame, so heftige, so leidvolle Krankheit? Warum diese erhabene Begegnung zwischen einem Kardinal, der den Gipfel der Kirche erreicht hatte, und einem in seinem Zimmer eingesperrten Kranken? Das Salz dieser Geschichte war die Stille. Die Stille hatte das letzte Wort. Die Stille war der Aufzug zum Himmel.

Wer suchte Bruder Vincent? Wer kam, um ihn ohne ein Wort mitzunehmen? Gott.

Für Bruder Vincent-Marie von der Auferstehung war das Programm einfach. Es bestand aus drei Worten: Gott oder nichts.

Ein weiterer Umstand ist dieser geistigen Freundschaft zu verdanken. Ohne Bruder Vincent, ohne Vater Emmanuel-Marie wären wir niemals in die Große Kartause gegangen.

Als die Idee gereift war, den Generaloberen des Kartäuserordens zu bitten, an diesem Buch mitzuwirken, hätten wir ein solches Projekt niemals für möglich gehalten. Der Kardinal wollte die Stille der Großen Kartause nicht stören und ein Wort des Generaloberen ist äußerst selten.

Dennoch hielt unser Zug am frühen Nachmittag des 3. Februar 2016 im Bahnhof von Chambéry an …

Ein grauer Himmel hing über den Bergen, welche die Stadt umgeben. Die Trostlosigkeit des Winters schien die Gegend und die Menschen mit schmierigem Klebstoff zu überziehen. Als wir uns dem Massiv der Kartause näherten, erhob sich ein Schneesturm und bedeckte das ganze Tal mit strahlendem Weiß. Nach der Porte du Pont, auf dem berühmten Weg des heiligen Bruno, war die Straße nur noch schwer befahrbar.

Als wir an den hohen Klostermauern entlangfuhren, begegneten wir Pater Seraphico, dem Novizenmeister, und einigen jungen Mönchen, die von ihrem spatiamentum (Spaziergang) zurückkehrten. Sie drehten sich beim Vorüberfahren des Autos des Kardinals um und grüßten ihn unauffällig. Dann hielt das Auto vor einem langen, würdevollen und nüchternen Gebäude an: Wir waren in der Großen Kartause angekommen. Schneeflocken fielen in rauen Mengen herab, der Wind pfiff durch die Tannen, doch die Stille umhüllte schon unsere Herzen. Langsam überquerten wir den Ehrenhof, um dann zum großen Pavillon der Prioren geführt zu werden, der im 17. Jahrhundert von Dom Innocent le Masson errichtet worden war und der den Zugang zum imponierenden Kreuzgang der Chormönche eröffnet.

Dom Dysmas de Lassus, der 74. Generalobere des Kartäuserordens, empfing den Kardinal mit berührender Einfachheit.

Inmitten dieser geheimnisvollen Landschaft verwirklicht sich seit dem Jahr 1084 der Traum des heiligen Bruno nach Einsamkeit und Stille. In La Grande Chartreuse. Au-delà du silence spricht Nathalie Nabert von einer unvergleichlichen Verschmelzung: »Die Spiritualität der Kartäuser entsprang der Begegnung einer Seele mit einem Ort – aus dem Zusammentreffen einer Sehnsucht nach einem in Gott zurückgezogenen Leben mit einer Gegend, der Cartusiae solitudo, wie sie die alten Texte beschreiben. Die Abgeschiedenheit und die wilde Schönheit dieser Gegend zogen, fernab von den ›flüchtigen Schatten des Jahrhunderts‹, die Einsamkeit noch mehr an und erlaubten, ›vom Sturm dieser Welt zur stillen und sicheren Ruhe im Hafen‹ zu gelangen: Mit diesen Worten verwies der betagte Bruno von Köln seinen Freund Raoul le Verd auf die Notwendigkeit, in die Wüste zu ziehen.«2

Nach einem Gespräch, das nicht länger als fünf Minuten dauerte, begaben wir uns schnell auf unsere Zellen. Vom Fenster meines Zimmers aus konnte ich das Kloster betrachten, das in seinen weißen Mantel gehüllt war und sich gegen den gewaltigen Abhang des Grand Som schmiegte, schöner als alle Bilder, die den unveränderlichen Mythos um die Große Kartause gebildet hatten. Die ehrwürdige Folge von Pavillons war schnurgerade aneinandergereiht, weiter unten lagen die Häuser der Dienstboten.

Es ist äußerst selten, dass jemand die Tore der Zitadelle durchschreiten darf. An diesem inspirierten Ort begegnen sich die lange Tradition der Einsiedlerorden, die Tragödien der Geschichte und die Schönheit der Schöpfung. Doch dies ist nichts im Vergleich zur Tiefe der geistigen Wirklichkeit; die Große Kartause ist eine Welt, in der die Seelen sich für Gott hingeben und sich Ihm ganz schenken.

Um halb sechs Uhr abends vereint die Vesper die Kartäuser in der kleinen, dunklen Konventkirche. Um dorthin zu gelangen, musste man nicht endende, kalte und würdevolle Gänge durchlaufen, in denen ich ständig an die Generationen von Kartäusern denken musste, die ihren Schritt beschleunigt hatten, um dem Stundengebet beizuwohnen. Die Große Kartause ist ein Haus der Jahrhunderte, ein lautloses Haus, ein heiliges Haus.

Ich dachte auch an die hasserfüllte und verwirrende Verdrängung der Ordensmänner am 29. April 1903 infolge des Gesetzes von Émile Combes über die Auflösung der religiösen Kongregationen, die an die dunklen Stunden der Französischen Revolution und die Deportation der Kartäuser im Jahr 1792 erinnert. Wir müssen diese Schändung in den Blick nehmen und die Ankunft eines Infanteriebataillons, zweier Dragoner-Schwadronen und Hunderten von Pionieren im altehrwürdigen Kloster, nachdem die schweren Eingangstore zertrümmert worden waren. Verwaltungsbeamte und Soldaten marschierten bis in die Kirche und die Priester wurden einer nach dem anderen aus ihrem Chorgestühl fortgerissen und vor die Mauern geführt. Die Feinde der Stille Gottes triumphierten. Auf der einen Seite waren die fanatischen Anhänger einer von ihrem Schöpfer losgelösten Welt – auf der anderen Seite die treuen, armen Kartäuser, deren einziger Reichtum die schöne Stille des Himmels gewesen war.

An diesem Februarabend 2016 sah ich von der ersten Empore aus die weißen Schemen in ihren Kapuzen, wie sie im Chorgestühl ihren Platz einnahmen. Sogleich öffneten die Mönche ihre großen Antiphonalien, mit deren Hilfe sie den Texten der Vesper samt ihren Partituren folgen konnten. Das Licht wurde immer schwächer, Psalmengesänge reihten sich anei­nander; der Kardinal, der neben Dom Dysmas Platz genommen hatte, blätterte behutsam die Seiten der alten Bücher um, um dem Gebet zu folgen. Der Lettner hinter ihm, der das Chorgestühl der Priestermönche von dem der Laienbrüder trennte, zeichnete im Halbdunkel ein großes Kreuz, das dieser durchdringenden Dunkelheit noch mehr Würde zu verleihen schien.

Der gregorianische Choral der Kartäuser drückt eine Langsamkeit, eine Tiefe, eine sanfte und zugleich raue Frömmigkeit aus. Am Ende der Vesper stimmten die Mönche das große Salve Regina an. Seit dem 12. Jahrhundert stimmen die Kartäuser täglich diese Antiphon zur Jungfrau Maria an. Heute gibt es kaum noch Klöster, in denen alle Tage diese alte Melodie erklingt.

Draußen war die Nacht hereingebrochen und die schwachen Lichter des Klosters hielten nicht länger die Zeit an. Allein das Poltern der Schneeladungen, die von den Dächern fielen, unterbrach die Stille. Nebelschwaden erhoben sich vom Talgrund zu den schwarzen Abhängen, der überwältigenden und wehmütigen Zierde der Berge.

Die Mönche kehrten auf ihre Zellen zurück. Nachdem sie durch den unermesslich langen Kreuzgang rings um den Friedhof geeilt waren, ging ein jeder in sein cubiculum (Gemach) zurück, wo er einen so wichtigen Teil seines Erdenlebens verbrachte. Die Stille der Großen Kartause nahm ihre unantastbaren Rechte wieder ein. Als ich an der Kartengalerie vorbeiging, in der Abbildungen der Kartausen ganz Europas die Wände schmückten, war es leicht zu verstehen, wie viele Niederlassungen der Orden des heiligen Bruno gründen musste, um den Durst so vieler Mönche zu stillen, die den weit vom Lärm der Welt abgeschiedenen Himmel finden wollten.

Während die Welt schläft oder nach Ablenkung sucht, ist das nächtliche Stundengebet das klopfende Herz des Lebens der Kartäuser. Auf der ersten Seite des Antiphonales, das Dom Dysmas vor meiner Ankunft vorbereitet hatte, konnte ich diesen kurzen Text lesen: »Antiphonarium nocturnum, ad usum sacri ordinis cartusiensis« (Nächtliches Antiphonale für den Gebrauch im heiligen Orden der Kartäuser). Es war eine Viertelstunde nach Mitternacht und die Mönche löschten die wenigen Nachtlampen, die noch in der Kirche leuchteten. Eine vollkommene Dunkelheit bedeckte das ganze Heiligtum, als die Kartäuser die ersten Gebete anstimmten. Die Nacht erlaubte, die rote Lampe neben dem Allerheiligsten Sakrament deutlicher denn je wahrzunehmen. Das Knarren des alten Chorgestühls aus Walnussholz schien sich mit den Stimmen der Mönche zu vermischen. Die Psalmen reihten sich im langsamen Rhythmus des gregorianischen Gesangs aneinander, dessen mangelnde Reinheit jemand, der an die benediktinischen Abteien gewöhnt ist, hätte bedauern können. Doch dieses Nachtgebet verbietet ein rein ästhetisches Urteil. Die Liturgie entfaltet sich in einem Halbdunkel, das Gott sucht. Man hört die Stimmen der Kartäuser, ansonsten herrscht vollkommene Stille.

Gegen halb drei Uhr morgens läuteten die Glocken zum Angelus. Die Mönche verließen nacheinander die Kirche. Ist das nächtliche Stundengebet Wahnsinn oder Wunder? In allen Kartausen der Welt bereitet die Nacht den Tag vor und der Tag die Nacht. Nie dürfen wir diesen milden und kraftvollen Satz des heiligen Bruno in seinem Brief an Raoul le Verd vergessen: »Dort gibt Gott seinen Kämpfern den ersehnten Lohn für den harten Kampf: einen Frieden, den die Welt nicht kennt, und die Freude im Heiligen Geist.«

Der Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung wurde tief von den zwei nächtlichen Stundengebeten bewegt, die seinen Aufenthalt prägten. Er teilt mit Isaak dem Syrer diesen schönen Gedanken aus den Abhandlungen über die Askese: »Das nächtliche Gebet ist sehr mächtig, mächtiger als das Gebet, das wir am Tage verrichten. Alle Gerechten haben in der Nacht gebetet und so gegen die Trägheit ihres Leibes und gegen den süßen Schlaf gekämpft. Aus diesem Grund hasst der Satan die Mühen der Nachtwache und bedient sich aller Mittel, um die Asketen von ihrem Werk abzuhalten. Dies sehen wir am Beispiel des heiligen Antonius des Großen, des seligen Paulus, des heiligen Arsenius und auch anderer Wüstenväter. In allen Fällen hielten die Heiligen die Nachtwache durch und triumphierten über die Macht des Teufels. Welcher Einsiedler – selbst wenn er alle anderen Tugenden besessen hätte – sollte nicht als Lump bezeichnet werden, wenn er diese Mühe aufgäbe? Denn die Nachtwache ist das Licht des Gewissens, sie beflügelt den Geist, sie sammelt die Gedanken und durch sie erhebt sich der Verstand und richtet seinen Blick auf das Geistliche. Im Gebet verjüngt sich der Verstand und strahlt mit leuchtendem Glanze auf.«

In der Gedankenführung des Kardinals erwärmt die Nacht das Herz des Menschen. Der Nachtwächter tritt aus sich selbst heraus, um Gott besser zu finden. Die Stille der Nacht ist das beste Mittel, um jede Diktatur des Lärms zu brechen. Wenn Dunkelheit sich auf die Erde herabsenkt, kann die Askese der Stille leuchtende Umrisse annehmen. Das Wort des Psalmisten ist deutlich: »Denke ich [nachts] an Gott, muss ich seufzen; sinne ich nach, dann will mein Geist verzagen. Du lässt mich nicht mehr schlafen; ich bin voll Unruhe und kann nicht reden. Ich sinne nach über die Tage von einst, ich will denken an längst vergangene Jahre. Mein Herz grübelt bei Nacht, ich sinne nach, es forscht mein Geist« (Ps 77,3–7).3

Vor unserer Abreise wollte der Kardinal sich auf den Friedhof zurückziehen. Wir durchquerten den Kreuzgang, diese langen und großartigen Galerien, durch das Gebet geformte Labyrinthe. Der große Kreuzgang misst 216 Meter von Norden nach Süden, 23 Meter von Osten nach Westen, also ein Rechteck von 478 Metern. Die Gründung dieses gotischen Komplexes reicht ins 12. Jahrhundert zurück; seitdem herrscht dort eine ewige Stille. In den Wüsten der Kartäuser befindet sich der Friedhof in der Mitte des Kreuzgangs.

Die Grabsteine tragen weder Name noch Datum noch Erinnerung. Auf der einen Seite stehen die Steinkreuze für die Generaloberen, auf der anderen die Holzkreuze für die Priestermönche und die Laienbrüder. Die Kartäuser werden ohne Sarg und ohne Grabstein beerdigt; kein Kennzeichen erinnert mehr an ihre Existenz. Ich habe Dom Dysmas gefragt, wo sich die Kreuze der Mönche befänden, die er gekannt hatte und sterben sah. Dom Dysmas wusste es nicht mehr. »Wind und Moos haben schon ihre Arbeit geleistet«, erklärte er. Er konnte nur das Grab von Dom André Poisson wiederfinden, der drei Generationen vor ihm sein Amt bekleidete und im April 2005 gestorben war. Der ehemalige General verschied mitten in der Nacht einsam in seiner Zelle; er ging, um sich zu allen Söhnen des heiligen Bruno und der riesigen Schar der Einsiedler in den Himmel zu begeben.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1084 wollen die Kartäuser keine Spuren hinterlassen. Nur Gott zählt. Stat Crux dum volvitur orbis – Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht.

Vor der Abfahrt segnete der Kardinal die Gräber, während die Sonne am klaren, blauen Himmel schien.

Einige Augenblicke später verließen wir die Große Kartause. Der Benediktinermönch, der uns abholte, erklärte: »Sie verlassen das Paradies …«

In dem Buch Die begnadete Angst schreibt Georges Ber­nanos: »Wenn die Weisen am Ende ihrer Weisheit sind, muss man die Kinder anhören.«4 Die Kartäuser sind Weise und Kinder zugleich.

Während dieses Arbeitsjahres war ein Satz aus dem Tagebuch eines Landpfarrers von Bernanos der sichere Kompass unserer Überlegungen: »Die innere Stille – die Gott gesegnet hat – hat mich nie von den anderen entfernt. Mir scheint, dass sie dann zu mir in die Stille kommen. Ich empfange sie, als wäre es auf der Schwelle meines Hauses. […] Schade, ich kann ihnen nicht mehr als einen unsicheren Zufluchtsort bieten. Aber ich stelle mir die Stille, die in manchen Seelen herrscht, wie weit ausgedehnte Ruheplätze vor. Die armen Sünder am Ende ihrer Kräfte treten hier tastend ein und finden Schlaf. Getröstet brechen sie dann wieder auf, ohne dass sie auch nur eine Erinnerung an das große, unsichtbare Gotteshaus bewahren, in dem sie für einen Augenblick ihre Lasten ablegen konnten.«5

Ebenso beteuerte der Philosoph Joseph Rassam in seiner Schrift Le Silence comme introduction à la métaphysique: »Die Stille ist diese wortlose Sprache des endlichen Wesens in uns, die uns durch ihr eigenes Gewicht umtreibt und unser Sehnen zum Unendlichen hin drängt. Das heißt, dass das Denken nicht aus eigener Kraft zur Annahme Gottes gelangt. Vielmehr müssen wir uns nach dem Licht richten, das Gott uns in seiner zuvorkommenden Liebe schenkt. Das Schweigen, das dieser Aufnahme zugrunde liegt, trägt in sich das Gebet, diese wesentliche Bewegung, in der sich die Seele zu Gott erhebt.«6 Für Joseph Rassam wie für Robert Sarah gilt: »Wenn das Wort den Menschen charakterisiert, dann ist es die Stille, die ihn definiert, denn das Wort erhält seinen Sinn erst in Bezug auf diese Stille.«7 Dies ist die schöne und wichtige Botschaft von Kraft der Stille.

Am 16. April 2013, nur wenige Wochen nach seiner Wahl, erinnerte Papst Franziskus daran: »Die Propheten wurden getötet […] und dann wurden sie verehrt und Denkmäler wurden für sie errichtet – aber erst, nachdem man sie getötet hatte. So zeigt sich der Widerstand gegen den Heiligen Geist.« In dieser Welt kann ein Mensch, der von der Stille spricht, denselben Kreislauf erfahren: Bewunderung, Ablehnung und Verurteilung reihen sich aneinander und lösen sich wieder auf.

Robert Kardinal Sarah hatte in diesem Buch nur einen einzigen Plan, der in diesem Gedanken zusammengefasst wird: »Die Stille ist schwierig, aber sie befähigt den Menschen, sich von Gott führen zu lassen. Aus der Stille wächst die Stille. Durch den stillen Gott können wir zur Stille gelangen. Und der Mensch ist immer wieder überrascht von dem Licht, das daraus hervorgeht. Die Stille ist wichtiger als jedes andere menschliche Werk. Denn in ihr drückt sich Gott aus. Die wahre Revolution kommt aus der Stille; sie führt uns zu Gott und den anderen, um uns in deren demütigen und großzügigen Dienst zu stellen« (Gedanke 68).

Welche Tugend erhofft sich Kardinal Sarah aus der Lektüre dieses Buches? Die Demut. Aus dieser Sichtweise kann er sich den Weg von Kardinal Rafael Merry del Val zu eigen machen. Nach dessen Rückzug von den öffentlichen Angelegenheiten der Kirche hatte der ehemalige Staatssekretär des heiligen Pius X. eine schöne Litanei der Demut komponiert, die er täglich nach der Zelebration der heiligen Messe betete:

»O Jesus! Sanft und demütig von Herzen,

Bilde mein Herz nach Deinem Herzen.

Von meinem eigenen Willen, befreie mich, o Jesus.

Von dem Wunsch, geschätzt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, geliebt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, erhoben zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, geehrt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, gelobt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, bevorzugt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Von dem Wunsch, um Rat gefragt zu werden, befreie mich, o Jesus.

Von dem Wunsch, Zustimmung zu finden, befreie mich, o Jesus.

Von dem Wunsch, verstanden zu werden, befreie mich, o Jesus.

Von dem Wunsch, aufgesucht zu werden, befreie mich, o Jesus.

Vor der Furcht, erniedrigt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, verachtet zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, getadelt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, verleumdet zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, vergessen zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, ausgelacht zu werden, befreie mich, o Jesus.

Vor der Furcht, verdächtigt zu werden, befreie mich, o Jesus.
Vor der Furcht, Unrecht zu erfahren, befreie mich, o Jesus.

Vor der Furcht, alleingelassen zu werden, befreie mich, o Jesus.

Vor der Furcht, abgewiesen zu werden, befreie mich, o Jesus.

Dass andere mehr geliebt werden als ich –
Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass andere höher geschätzt werden als ich –
Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass andere Lob erhalten und ich übersehen werde –
Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass andere auserwählt werden und ich leer ausgehe –

Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass andere mir in allem vorgezogen werden –
Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass andere heiliger werden als ich,
vorausgesetzt, dass ich so heilig werde, wie ich soll –
Jesus, gewähre mir die Gnade, das zu wünschen.

Dass ich arm und unbekannt bin –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass ich körperlich und geistig unvollkommen bin –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass niemand an mich denkt,

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass ich die niedrigsten Arbeiten erfüllen soll –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass sich niemand von mir helfen lässt –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass niemand um meinen Rat fragt –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass ich auf dem letzten Platz bleibe –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass mir nie jemand ein Kompliment macht –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Dass ich immer wieder getadelt werde –

Herr, hilf mir, mich darüber zu freuen.

Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden,

denn ihnen gehört das Himmelreich.«

Rom, 2. September 2016