Title Page
Der Autor
Widmung
Editorial
Protagonisten
PROLOG
Am Meer, 31.03.2009
Ende – Finito – Fin
ADOLESZENZ
44 Jahre zuvor
An Bord
Internat, 5. Klasse
Locarno
Pubertät ohne Puber-Tiere
Sardinien auf Backbord
Schwimmen & Training
Unterricht
Martin Emanuel Carl Theodor Wilhelm, Graf von Claronne
An Bord 2
Rückwärtiges Training
Schulwoche
Die nächsten Schuljahre
Die 11. Klasse
12. Klasse
Sommerferien bei Martin
Sommerfest, das Erste von vielen
MATURITÄT
Das Matura-Jahr
Der 18. Geburtstag
Noël à Nice
Ritorno in Svizzera
Schulzeit, der letzte Rest
Maturaprüfungen
Abschlussfahrt
Notenverkündigung
Maturafeier
Rückflug
Post-Matura
Adi Mira Michaels
F. – FRANCOIS
Psychogramm eines Genies
Band 01: Adoleszenz
Verlag im Institut Drachenhaus
© 2016 Babenhausen, Süd-Hessen
Autor
Adi Mira Michaels
Titel
F. – Francois, Psychogramm eines Genies
Band 01: Adoleszenz
Verlagsort
Babenhausen, Süd-Hessen
Verlag
Verlag im Institut Drachenhaus © 2015
Volumen
Als Papierausgabe circa 159 Seiten
Grafik
7 Strichzeichnungen, 26 Fotos
Rechte
© 2015 Alle Rechte beim Verlag, 1. Auflage
© 2016 Alle Rechte beim Verlag, 2. Auflage
Texte
Adi Mira Michaels
Lektorat
Petra Schirmer, Michael Hoffmann
Fotos, Grafiken und Titelgestaltung
Vom Verlag * Lizenzfreie Fotos sind beim Bild gekennzeichnet
Fotos Thailand: Michael Hoffmann
Umsetzung zum eBook; Druck & Bindung
Im Verlag
ISBN
978-3-932207- Print -815 Gesamtausgabe aller 4 Bände
ePub -778 (Band 01), -785 (Band 02), -792 (Band 03), -808 (Band 04)
Hörbuch noch unklar
Der größte Vorteil eines eBooks ist neben dem bei uns erheblich günstigeren Preis das Gewicht. Wiegt ein einzelnes Buch durchaus 1.5kg, passen auf einen E-Reader 2000 und mehr Bücher bei gleichbleibenden 200-400g. Im Flug- und Reise-gepäck kein zu unterschätzender Vorteil. Zudem kann niemand Drittes erkennen, WAS man gerade liest. Und weiterhin ist ein eBook-Reader, gerade bei erotischen Büchern wie von Adi Mira Michaels, sehr viel leichter von verdächtigen Spritzern zu reinigen …
Sollte der geneigte Leser sich in dem Text womöglich unglücklich wiedererkennen und dem Buch nicht mehr so geneigt sein, so beachte er bitte, dass der Reader als elektronisches Gerät sehr viel empfindlicher auf ein „in die Ecke feuern“ reagiert, als ein normales Buch.
In diesem Sinne wünscht Ihnen der Verlag des Instituts Drachenhaus vergnügliches Lesen, egal, in welchem Format.
nobody is perfect – das trifft nicht nur auf Daphne in „Manche mögen´s heiß“ zu, sondern auf jeden anderen Menschen oder jedes Ding. Es gibt nichts, was man nicht noch verbessern kann.
Und so unterliegen auch die Bücher unseres kleinen Verlages einer ständigen Verbesserung. SIE als KUNDE profitieren bei unseren eBooks davon! Sie erhalten die ersten beiden Updates nach Ihrem Kauf gratis!
Die einzige Voraussetzung ist, dass Sie sich mit Ihrer Kaufrechnung bei uns re-gistrieren lassen und uns Ihre E-Mail-Adresse angeben. Dann informieren wir Sie automatisch über ein Update und bieten es Ihnen zum kostenfreien Upload an. Wichtig: das funktioniert NUR direkt über den Verlag. Wir liefern ePub und mobi (für Kindle) aus.
Schicken Sie uns einfach Ihre Kaufrechnung per Mail an mh@verindrach.de.
Mit lieben Grüßen
Euer Adi Mira Michaels
Adi Mira Michaels ist, wie sie sicherlich schon vermutet haben, ein Pseudonym. Hinter ihm steht ein bekannter Sachbuchautor, der erst spät auch seine literarische Ader entdeckt hat und unter diesem Künstlernamen nicht nur dieses Buch, sondern auch andere gay-erotische Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht.
Dass der Autor gebürtiger Franke ist, hört man aus einigen Ausdrücken heraus.
Treten sie mit dem Autor in Verbindung! Unter adimira@dragoderm.de oder auf Facebook unter Adi Mira Michaels. Wir freuen uns über jedes „Gefällt mir!“ und mehr!
Alle Charaktere und Geschichten in diesem Roman sind frei erfunden. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig (und gern gesehen).
Die Rechte an Songtexten liegen natürlich bei den Autoren und/oder Interpreten. Diese werden im Fließtext in unmittelbarer Nähe des Zitats direkt angegeben.
Dieses Buch widme ich meinem verstorbenen Mann Lothar. Er würde bei diesem Buch weise nicken und Parallelen zu unserer Beziehung sehen.
Ich auch.
Lothar 1940-2003
Editorial
Zu allererst muss und möchte ich Maurice danken, aber auch Arabella in Spanien, die mir diese Geschichte zukommen ließ.
Maurice ist kein Mensch. Er ist ein Kater auf einem Frachtschiff, dem Frachtschiff, am dem Francois Urs Elio Quack seine letzte uns bekannte Reise angetreten hat.
Nein, Francois, genannt F., ist nicht tot, das Frachtschiff hat weder seinen Sarg, noch seine Urne transportiert, sondern ihn als lebendigen Menschen.
Es war eine sehr, sehr lange Reise. Sie dauerte über viele Wochen, diente dazu, seinen Zielort zu verschleiern – das war der offizielle Grund. Was sich F. erst ganz langsam auf dieser Reise bewusst wurde ist, dass sie auch helfen würde, sich selbst zu reflektieren, mit sich klarer zu kommen, sein Leben aufzuarbeiten.
Geholfen hat ihm dabei dieser besagte Maurice. Maurice ist keine echte Wunderkatze, er kann weder sprechen, noch konnte er F. subvokal Informationen geben oder gar Fragen stellen. Aber er konnte, wie alle Katzen, zuhören. Unendlich geduldig, ruhig, beruhigend – DAS war es, was F.s wunder Seele gut tat. Einer Seele, die kaum einer von außen her verletzt hatte, was ihn schmerzte, das hatte er sich selbst angetan. Doch auch das musste er erst einmal erkennen. Der Erkennungsprozess dauerte sehr lange, wir, das heißt, Maurice und ich, Adi Mira Michaels, wissen nicht, ob er nun beendet ist. Maurice hat ihn nie wieder gesehen und ich – ich habe nur die Kratzenschrift-Aufzeichnungen von Maurice als Vorlage.
Francois Urs Elio Quack – ein Name wie viele andere auch und doch einzigartig. Einzigartig in seiner Zusammensetzung verschiedener Sprachen, der Intention seiner Eltern, ihn genau so zu nennen. Er ist kein Held, auch kein Antiheld. Er ist eher ein Mensch wie Du und ich, nur mit einer besonderen Begabung: Geld.
Das Bild zeigt F. mit ca. 16 Jahren.
Francois Urs Elio Quack wird einfach F. genannt.
Als mir Arabella, die dralle Spanierin den Kontakt zum Schiffskater Maurice herstellte, ich das erste Manuskript in Kratzenschrift mühevoll entziffert hatte, da wusste ich nicht, wohin sich dieser Francois entwickeln würde. Ich habe es wie Maurice gemacht, einfach die Geschichte vor mir entwickeln lassen. Lediglich die ersten beiden Teile, die des „Endes“, habe ich nachträglich eingefügt.
Es ist der erste Roman, für den ich so lange gebraucht habe. Begonnen mit der ersten Datei am 19. März 2014, habe ich die Rohfassung erst fast genau ein Jahr später beendet, am 23. März 2015. Geschrieben an 63 Tagen. Für mich eine sehr lange Zeit.
Es hat ja auch sehr lange gedauert, bis ich die schwer lesbare Katzenklaue von Maurice wirklich lesen konnte. Okay, meine eigene Handschrift erfordert auch Spezialkenntnisse im Hieroglyphen-lesen.
Auch dieser Roman ist wieder eine schwule Geschichte und doch: F. hatte sich Zeit seines uns bekannten Lebens strikt dagegen verwehrt, als schwul bezeichnet zu werden. Bi, ja, das war okay gewesen, doch nur Männer sind ihm zu langweilig. Ebenso wie nur Frauen. Bei denen kommt meist dazu, dass sie anstrengend und bald nervig fordernd werden. Die subtileren Wünsche und Forderungen der Männer zu erkennen, brauchte er sehr, sehr lange. Zu lange.
F. war, mit allen seinen Ecken und Kanten nicht unbeliebt, manche sagen sogar, ein netter Mensch. Kein fein geschliffener Diamant, eher ein geformter Kieselstein.
Und so versucht diese Geschichte, diesen Francois Urs Elio Quack möglichst umfassend zu beleuchten. Sie beginnt in seiner frühesten Kindheit und gleitet über Schule und Studium in sein Leben.
In vier Bänden als eBook erschienen, in einem als Print, ist es ein sehr vollständiges Psychogramm. So vollständig, wie es eine Katze nun mal erfassen kann. Und dass ist schon sehr viel.
Euer Adi Mira Michaels
P.S.: ich hätte F. gerne selbst einmal kennengelernt.
Protagonisten
Es ist in meinen Büchern bereits so eine Art Pflichtübung geworden, am Anfang zumindest die Hauptprotagonisten vorzustellen beziehungsweise aufzulisten. Dies soll auch hier geschehen. Es gibt dem Leser die Möglichkeit, einfach mal nachzusehen, von wem gerade geschrieben wird.
Name
Rolle, gebürtig, Größe, Geburtstag
Francois Urs Elio Quack
Hauptperson, Frankreich, aber Staatsbürgerschaft Italien, 180cm, 23.11.1965
Maurice
der Schiffskater, Frankreich Marseille, 50cm
Arona Gabriela Beberli
Eherfrau von F., Schweiz, 178cm, 06.10.1970
Eugene Quack
Vater, Zirkusdirektor, Frankreich 170cm, 24.05.1945
Amalia Josephina Quack
Mutter, Zirkus, gestorben 2003, Italien, 168cm, 08.08.1938
Ava Maria Quack
Schwester von F., Italien, 183cm, 03.12.1963
Rubinio Erasmus Quack
Bruder von F., Italien, gestorben 2008, 170cm, 01.08.1962
Antonio Nicolo
Mitschüler, Italien San Remo, 180cm, 23.10.1964
Max
Mitschüler, Schweiz Bern, 168cm, 22.06.1965
André
Mitschüler, Schweiz Genf, 172cm
Mario
Mitschüler, Schweiz in einem Bergdorf im Tessin, 170cm, 01.01.1967
Martin von Claronne, Emanuel Carl Theodor Wilhelm
Neuer Schüler 1981, Deutschland bei Bonn, 190cm, 02.04.1964
Thomas Kampe
Gärtner im Schloss, Deutschland bei Bonn, 178cm, 01.05.1965
Graf Eduard von Claronne
Vater von Martin, bei Bonn, 20.07.1930
Ivette
1. Freundin von F., 170cm
Lucienne / Lucien
2. Freundin von F., Frankreich Marseille, 07.07.1948
Frank
Darkroom London, England London, 170cm
Henry
Schüler, Sport Fußballidol, Frankreich Marseille, 180cm
Michael
Schüler, Sport Schwimmen, Deutschland Würzburg, 180cm
Ralph
Stricher Darkroom London, England London, 190cm
Svenja
Ehefrau Max
Priscilla
1. offizielle Freundin F., England
Terence
F.s Lover in London während Priscillas Zeit
Wittaya
Thai Boy
Alan D.
Finanzjongleur, Neuseeland, 195cm im Würfelformat
Victor
Brunder von Martin
Imelda
Frau von Victor, französische Prinzessin, 1 Tochter ´84, 1 Tochter ´87, Zwillinge männlich ´93
Olivier TrèsChic
Deko-Promi, Frankreich Chelles bei Paris, 180cm, 19.02.1964
Madeleine
Nachbarin in Paris, jung
Julia von…
Martins Frau, Spanien Madrid, 177cm, 03.06.1966
Arabella
Lebensgefährtin von Julia, Spanien Katalonien
Juan
Mann v Arabellas Schwester Rosa, 167cm
Sir Baldwin
Eigner Schlosshotel Draigons Cleuch, Schottland, Ayr, 185cm, 13.01.1977
Lucien
Ex-Lover Baldwins
Eddington Wellfare = Ed
Neuer Lover Lucien Paris, Metzger, England Leicester, 186cm, 07.07.1975
Alena
Dekorateurin, Mitarbeiterin, 165cm in Kugelform
Eleonore
Mutter v Olivier
Juan Hildefonso Unai Cuatero
Dekorateur, Olot Spanien, 190cm, 02.04.1972
Liz / Elizabeth Haggins
1. Dauerfrau von F., London, 168cm, 02.11.1964
Günther
Chauffeur Schloss, 180cm, 08.09.1979
Draco Pete Haggins
Sohn F. und Liz, 14.08.1999
Acaimo Francisco Carlo Jesus
Sohn Julia, Spanien Girona, 30.03.2000
Bastiano Francisco Carlo Jesus
Sohn Julia, Spanien Girona, 30.03.2000
Barbara Oliviera
Tochter Arabella, Spanien Girona, 01.05.2000
Gilbert
Liftboy Marseille, 01.08.1988
Isolde Erika
Gärtnerin
Maria Eleonore
Tochter mit Arona, 02.01.2008
Ercole
Fregattenkapitän, Italien
Prolog
Am Meer, 31.03.2009
„Ich bin ein Genie!“ schrie F. in die tosende Brandung an den Klippen irgendwo auf dem Weg von Manarolo nach Cinque Terre. Gut, die tosende Brandung konnte ihn kaum hören, so, wie er sich kaum hören konnte, SO steil waren die Steilkünsten von Ligurien auch nicht. Aber steil genug um jedem, der nicht ganz schwindelfrei war, den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben.
„Ich bin ein Genie! Mir gelingt alles! Mir gelingt es problemlos, meine beiden Ehefrauen miteinander bekannt zu machen, mir gelingt es, meinen Job zu ruinieren, mir gelingt es, mein Vermögen auf null zu fahren, mein Lover sieht mich nicht mal mehr mit dem Arsch an. Ich bin GENIAL!“
Ach, Ercole! Seine letzte Eroberung und der aktuell letzte Verlust. Als eine wutentbrannte, nein, es war nicht frisch entbrannt, es war ein Dauerfeuer … Also: als eine wutbrennende Arona sich und ihre Tochter zu Weihnachten 2008 ins Auto geworfen hatte und die dank Internet leicht herauszufindende Anschrift das „Seniorenstift Schloss Claronne“ ansteuerte, war F. noch genauso vollkommen ahnungslos wie das Schloss und deren Betreiber auch.
Doch das Jahr 2008 war überhaupt ein Jahr gewesen, in dem F. glaubte, die ganze Gülle der Welt würde über ihn einbrechen. Ausschließlich über ihn. Na, zumindest fast ausschließlich.
Ende – Finito – Fin
Langsam packte er seinen Koffer. Viel war es nicht, was er mitnehmen würde, auch nicht, was er dabei hatte.
Er sah sich ein letztes Mal in dem Zimmer um, das ihm im Laufe der Jahre immer wieder Heimat gewesen war. Er dachte an die Concierge, die von einem anfänglichen Drachen zu einer freundlichen Vertrauten geworden war. An den alten, verschwiegenen Portier, der vor einem Monat in seine wohlverdiente Pension entglitt. An all die schönen Tage, die er hier in den Jahren verbracht hatte.
F. straffte sich, richtete seine Wirbelsäule auf, wie er es immer machte, wenn er etwas Neues begann, packte den Koffer, prüfte noch einmal, dass das großzügige Trinkgeld gut sichtbar auf der Anrichte lag und verließ das Zimmer. Das rote „non disturbare“-Schild würde für die nächsten beiden Tage zuverlässig verhindern, dass man das Zimmer betrat und erkennen konnte, wann es verlassen worden war.
Den Schlüssel behielt er als Erinnerung, das war zwar nicht gerne gesehen, aber das 5-Sterne-Haus würde es dem Stammgast wohl verzeihen. Er wusste, dass die Diskretion des Hauses es in seinem Falle verbat, einem Suchenden das Türschloss auszulesen, selbst der Polizei gegenüber würde man es als „bedauerlicherweise defekt“ deklarieren.
Über den rückwärtigen Ausgang der Tiefgarage verließ er das Haus, es sah ihn niemand, er hatte eigens einen Umweg gewählt.
Durch die frische Frühlingsluft schritt er zum Containerhafen, atmete ein letztes Mal tief die eigenartige Mischung aus herangewehtem Blütenduft der Riviera und dem dumpfen Geruch des Hafenbetriebes ein. Als er das Frachtschiff betrat, tat er das als Signore Parluzzi, Emilio Parluzzi. Der neue Pass hatte zwar ein kleines Vermögen gekostet, war aber absolut perfekt geworden. Er winkte der alten Welt ade und ließ sich in seine neue Zukunft schippern.
Adoleszenz
44 Jahre zuvor
„WÄÄHH, wäähh“
„Mein Gott, es ist ein Junge. Ein Junge! Amalia Josephina es ist ein Junge! Ich DANKE DIR!“
F.s Vater schrie so laut, dass das Geschrei des frisch geborenen Kindes quer über den ganzen Zeltplatz, bis zu den Tieren übertönt wurde. Die Tiger hörten einen Moment auf zu fauchen, der Elefant zu trompeten, ja, selbst die Musik, die im Zelt ihre Instrumente quälte, schien einen Moment verstummt zu sein.
Amalia Josephina lächelte glücklich und erschöpft, bevor sie wieder einschlief. Die Geburt war langwierig gewesen. Obwohl sie keine Primapara1 mehr war, waren ihr diese Schwangerschaft und diese Menschwerdung sehr schwergefallen. Sie hatte schwerer getragen, als bei den ersten beiden Malen, musste häufiger liegen und konnte sehr viel eher schon nicht mehr in der Manege arbeiten. Es würde einige Zeit dauern, bis sie wieder ihre alte Form erreichen und die alte Figur zurückerhalten würde, doch sie war sich sicher, dass ihr dies gelingen würde. Es MUSSTE sein, es ging gar nicht anders.
So viele Leute hatte der kleine Zirkus nicht, als dass man langfristig auf sie hätte verzichten können. Es war so schon schwer genug, über die Runden zu kommen und Amalia Josephina war froh, das Kind im November geboren zu haben; jetzt, wo der Zirkus in ein paar Tagen ins Winterlager nach Imperia gebracht werden würde, ein Winterlager, in dem die kalte Jahreszeit schneller vorbei sein würde als hier an der Grenze von Frankreich nach Italien, in Lanslebourg-Mont-Cenis. In wo? Ja, genau da. Sie hatte auch erst mal eine halbe Stunde im großen „Weltatlas Süd-Schweiz-Süd-Frankreich-Norditalien“ suchen müssen, um dieses Kaff in den Bergen zu finden.
So wie dieser Ort geklungen, die Gegend ausgesehen hatte, so waren auch die Einspielergebnisse gewesen. Ob es da wirklich noch darauf ankam, ob sie auf dem Hochseil balancierte oder nur eine Clownnummer, unten am Boden und sicherer für sie beide, vorführte?
Sie schlief wieder ein. Der Zirkus würde jetzt die nächsten Wochen ohne sie auskommen müssen. Nicht, dass sie nicht an Bord sein würde, nein, es wäre ihr nicht mal in den Sinn gekommen, zu ihren Eltern nach Sesto Fiorentino im Norden von Florenz zu fahren, um dort niederzukommen. Sie hatte vor fünf Jahren den Zirkus gewählt und mittlerweile war sie mit ihm mehr verheiratet als mit ihrem Ehemann, Direktor Eugene Quack.
Ein ungleiches Paar und doch so ähnlich.
Sie, die grazile, feengleiche Italienerin mit dem Herzen mitten in der Toskana beheimatet; er der kleine, kompakte Franzose aus dem spanischen San Sebastian, dort aufgewachsen in generationenalter Zirkustradition. Eugene meinte immer, er habe statt im Sandkasten im Holzstreu gespielt.
Amalia Josephina schwebte im Normalfall am Vertikalseil, lief auf dem Hochseil, ganz oben unter der Zeltkuppel oder ließ sich von starken Männern auf dem Trapez werfen und auffangen. Sie liebte den Zirkus oder eher Eugene? Was eher war, konnte man heute nicht mehr wirklich feststellen, in ihren Erinnerungen verschwamm beides miteinander zu der Einheit, die sie auch wirklich bildeten.
Eugene war bodenständiger als sie. Er war der Direktor, jonglierte und zauberte. In besseren Zeiten hatte er auch mal mehrere Tiger dressiert, heute waren gerade mal noch zwei übrig. Wenn er nicht die anderen Künste übte oder bei seiner Frau war, fand man ihn garantiert bei den Großkatzen.
In diese Welt wurde F. geboren. F. wie Francois, als weitere Vornamen gaben ihm seine Eltern ganz international noch Urs (Schweiz) und Elio (Italien), den Nachnamen Quack konnte man überall verwenden. Sie dachten bereits bei seiner Namensgebung und Taufe an seine Karriere im Zirkus – doch sie sollten sich irren.
Während seine beiden älteren Geschwister, Ava Maria Quack, zwei Jahre älter als F. und Rubinio Erasmus Quack, noch ein Jahr davor geboren, wenigstens grundlegende Fähigkeiten entwickelten, um einmal im Zirkus aufzutreten, erlernte F. nur mit Mühe das Einrad-Fahren und das so mäßig, dass es keinen Sinn gehabt hatte, ihn zum Zirkus zu zwingen.
Im Laufe der Jahre stieg Rubinio zum Nachfolger des Vaters auf, führte den Zirkus noch viele Jahre, bis er mit 46 Jahren einen Schlaganfall hatte und der Zirkus verkauft werden musste. Eugene hatte es zu der Zeit schon lange im Rücken, seine Zaubertricks waren nur noch mit sehr viel Wohlwollen als „akzeptabel“ zu bezeichnen, er konnte die in den Ärmeln versteckten Teile entweder nicht mehr behalten oder erst gar nicht mehr greifen.
F.s Mutter, Amalia Josephina war zu dieser Zeit schon lange nicht mehr das gewesen, was die Leute auf dem Trapez hätten sehen wollen, ganz abgesehen davon, dass sich bereits mit 35 ihre Gelenke schmerzhaft verdickten, sie noch zwei Jahre mit Schmerz- und Rheumatabletten ihr immer kleiner werdendes Programm absolvierte und schließlich aufgab. Eine arthritische Oma, zerfressen von Schmerz und der vielen billigen Schminke der letzten zwanzig Jahre – Eugenes Mutter sah fast noch jünger aus als die Schwiegertochter. Trotz später Hilfe durch die Naturheilkunde, fanden beide nicht mehr zu nennenswerter Stärke zurück.
Ava Maria hatte trotz ihre geistreich gewählten Namens weder Ambitionen, Nonne zu werden, noch im Zirkus, im Theater oder im Film aufzutreten. Sie gebar Ihrem Mann vier gesunde Kinder, alle zusammen leben in guten Verhältnissen ein paar Kilometer nördlich von Mailand.
So also wuchs F. im Zirkus zwischen Sägemehl und Tigerpisse, frischem Popcorn und zwei ihn liebenden Eltern auf, applaudierte seiner Schwester auf dem niedrigen Seil und seinem Bruder bei dessen äquilibristischen Übungen, erst alleine, dann mit einem Partner.
Es war eine schöne, eine unbeschwerte Jugend, trotz seines Mangels an Talent, doch dieses war ebenso schnell sichtbar geworden wie seine Affinität zu Zahlen, Rechenaufgaben und Geld. Schon als Vierjähriger half er seiner Mutter in der Kasse aus; als Sechsjähriger rechnete er selbständig die Einnahmen und Ausgaben gegeneinander; mit zehn Jahren begann er, sich für Buchhaltung zu interessieren. Der Familienrat, zu dem damals auch noch Oma und Opa, sowie die altgedienten Mitglieder der kleinen Zirkus-„Familie“ gehörten, beschloss, dass es ihnen wieder gut genug ginge, der kleine Betrieb ausreichend Geld abwerfe, um F. auf ein gutes Internat in der Schweiz zu schicken. Eine Schulbildung mit Abitur wäre bei dem ständigen Herumreisen kaum möglich gewesen, eine passende Lehrkraft eigens für ihn einzustellen noch teurer als der edle Laden in der Schweiz.
1 Erstgebärende
An Bord
Signore Parluzzi ist zu uns an Bord gekommen. An Bord eines Frachtschiffes, auf dem ich die Ehre habe, der Schiffskater zu sein. Wir haben zwar nur Container dicht an dicht geladen, wie heute leider üblich, so dass selbst für Mäuse kaum die Option besteht, einmal in so einem Stahlkäfig gefangen, etwas frische Luft zu schnuppern und sich von mir jagen oder gar fangen zu lassen, doch die Tradition einer Schiffskatze hat unser Capitano aufrecht erhalten.
Ich lasse mich Maurice rufen, französisch bitte-serr, denn isch kam in Marseille erstmals an Bord, das ischt auch schon wiederr fünf Jahre herr.
Schluss jetzt mit dem blöden Dialekt.
Es ist kaum jemandem, eher niemandem, bekannt, dass ich die menschliche Sprache verstehe, wenn es mir auch anatomisch nicht möglich ist, sie nachzuahmen. Aber Signore Parluzzi hatte auf seiner langen Fahrt viel Zeit, viel Einsamkeit und ich leistete ihm Gesellschaft.
„Ich weiß ja nicht, ob Du mich verstehst, ich glaube eher nicht – obwohl, wenn ich mir so Deine Mimik ansehe...“ meinte er am dritten Tag der Fahrt zu mir. Wir waren noch nicht mal aus dem Mittelmeer rausgekommen. Ja, ich verstand ihn. Ich schnurrte um seine Beine, „gab Bäckchen“, ließ mich kraulen und hörte dabei Stück für Stück seine ganze Lebensgeschichte.
Oh, Cat, das war schon ein besonderes Leben.
Ich habe mir dann erlaubt, es mal in Kratzenschrift zu notieren und die Notizen später einem Buchautor zu geben.
Internat, 5. Klasse
So begab es sich zum Ende August anno 1976, dass ein kleiner, elfjähriger Junge buchstäblich mit Pauken und Trompeten aus dem Zirkuszelt zu dem großen, alten Auto gebracht wurde, unter Aufbietung der gesamten Mannschaft, diese geschminkt und passend angezogen, lustig, mit Luftballons und Luftschlangen, und dem kleinen Jungen Francois Elio Urs trotzdem die Tränen in die Augen stiegen, als er sich verabschieden musste.
Es war nicht das letzte Mal, dass er seine Großeltern sah, aber es kam ihm so vor. Ebenso wie es im vorkam, als müsse er sich von der Welt verabschieden, würde auf ein Kloster in den höchsten Himalaya geschickt – ohne zu wissen, wo der Himalaya tatsächlich liegt. Den heulenden Jungen fuhr ein Onkel vom aktuellen Spielort bei Nizza auf dem direkten Weg in die Schweiz, bei Locarno am Lago Maggiore. Es war eine hervorragende Knabenschule. Seine Eltern hatten im laufenden Jahr in allen Schulen der Orte, in denen sie ihr Zirkuszelt aufbauten und in denen F. und seine Geschwister für ein paar kurze Wochen am Unterricht teilnahmen, Erkundigung eingezogen, sich beraten lassen – dieses Internat wurde von allen Seiten wärmstens empfohlen. Es herrsche eine strenges, aber gutes Reglement, die Schule sei christlich geführt, aber kein Kloster; die Jungen daraus wären so gut wie alle was geworden.
Es bedurfte einiger Rechenkünste, sich die Schulkosten schönzurechnen, doch am Ende funktionierte es dank leicht aufsteigender wirtschaftlicher Tendenz für alle Schuljahre, das Schul- und Internatsgeld Monat für Monat pünktlich zu schicken. Meist per Postanweisung, ein Konto hatte man damals noch nicht unbedingt, schon gar nicht als Wanderzirkus.
Der Zirkus „florierte“, wenn man das für einen solchen Zirkus überhaupt sagen konnte. Eugene konnte es sich jedoch leisten, zum einen noch zwei Tiger hinzuzukaufen und zum anderen auch dem einen oder anderen hoffnungsvollem Jung-Artisten eine Anfangschance zu geben. Wohlwissend, dass ein Zirkus Quack nicht in der Lage sein würde, echte, große Talente wirklich zu halten oder ihnen auch nur eine passende Umgebung für den Ausbau der Kunst bieten zu können.
Und so konnte sich der kleine Familienbetrieb mit einer großen Wand voller Fotos im Entre rühmen, mit in Funk und dem neuen Fernsehen bekannt gewordenen Trapez-, Jonglage- oder Dressurkünstlern, die bei ihnen die ersten Schritte auf dem Späneboden gemacht hatten.
Die Spezialität vom Zirkus Quack wurden und blieben bis zum Schluss die ausgefeilten und jeden Zuschauer begeisternden Verrenkungen Rubinio Erasmus´, modern „Äquilibristik“ genannt, ein Wort, dessen Erscheinen auf den Plakaten bereits die neugierigen Zuschauer von nah und fern in das Zelt stürmen ließ.
Eugene blieb trotz allem auf dem Späneboden der Tatsachen. Er wurde nicht größenwahnsinnig, kaufte kein größeres Zelt und versuchte erst gar nicht, in Städten wie Turin, Mailand oder Florenz aufzutreten. Lieber tingelten sie durch die Dörfer Liguriens, ein wenig auch nach Frankreich in Richtung Nizza oder Schweiz. Dank immer teurer werdender Transporte wurden auch die Radien immer kleiner. Zuletzt schlug man seine Zelte überwiegend an der Rivieraküste von San Remo bis La Spezia auf. Für einen kleinen Zirkus immer noch ein weiter Weg.
Locarno
Im Internat in Locarno hingegen hatte die Zeit einen anderen Takt. Statt vom hungrig trompetenden Elefanten geweckt und mit den letzten Klängen der Zirkusmusiker ins Bett gebracht zu werden, teilte hier eine unerbittliche Glocke die Tage ein. Aufstehen um halb sieben, waschen, Frühstück, Schule von acht bis ein Uhr, danach Mittagessen, Sport, Hausaufgaben, ein wenig Freizeit, Schlafengehen um neun, später dann um zehn Uhr. Die Schüler waren gehalten, auch ihre Freizeit sinnvoll zu nutzen, mit dem Erlernen eines Instrumentes zum Beispiel. Hier zeigte sich F. nicht ganz unbegabt am Klavier. Zur Virtuosität würde er es jedoch nie bringen. Als es ihm später freigestellt wurde, weiter zu machen oder nicht, verzichtete er zur eigenen und zur Freude der gequälten Musiklehrer darauf. Er war einfach nicht weitergekommen.
F.s Welt waren die Zahlen. Mit ihnen jonglierte er wie sein Vater mit Bällen oder Holzklötzen, balancierte auf Bilanzdaten großer Unternehmen wie die Mutter auf dem Hochseil und schon mit dreizehn erhöhte man sein Pensum an Mathematikstunden und ließ dafür andere Fächer in den Hintergrund treten.
F. lernte sich in dieser Welt schnell zurecht zu finden. Was ihm nie behagte, waren die großen Schlafsäle der Jüngeren, die er mit ihnen teilen musste, bis auch er dreizehn geworden war. Dann erst erlaubte man es den Schülern, in Zweier- oder Dreierzimmern unterzukommen; endlich der Standard, den F. schon aus seiner Jugend gewohnt war. In einem Einzelzimmer hätte er sich vermutlich ebenso wenig wohl gefühlt wie in den Großschlafräumen, doch mit ein oder zwei anderen, das erinnerte sehr an einen Zirkuswagen.
Obwohl die ganze Zeit nicht unglücklich gewesen – es hatte nur zwei Wochen gedauert, bis sein quälendes Heimweh abgeklungen war – war es jetzt die Zeit, die er im Nachhinein als die glücklichste seiner Jugend bezeichnete. Er hatte den Zirkus geliebt. Die Zeltatmosphäre, die Tiere, den Geruch nach frischen Sägespänen, das Herumkommen in der „Welt“, natürlich die Nähe seiner Eltern, seiner Geschwister, aber auch die der anderen Mitglieder dieser „Zirkusfamilie“. Das hatte er im Internat nicht mehr. Aber er hatte im Zirkus auch darunter gelitten, dass er nicht so war wie die anderen; dass es ihm an Fähigkeiten mangelte, die einen Auftritt lohnenswert erscheinen ließen – die Zeiten, in denen ein Mathegenie in einem Zirkus auftreten und lange Quadratwurzelsubtraktionen mit hochgestellten Potenzen kombinierte, die waren damals noch nicht angebrochen. Doch selbst dieses Talent hätte er nicht gehabt. Er hatte nur „ein Gespür“ für Zahlen, für Geld, nicht mehr.
Hier, in Locarno, da, wo die Schweiz dank des italienischen Einflusses nicht mehr so beschaulich, so langsam, so träge ist, wo sich Dolce Vita, Korrektheit und Sauberkeit aufs Wunderbarste vereinen, hatte er nicht mal mehr die Sehnsucht nach dem großen Meer verspürt, war doch das „kleine Meer“ des Lago Maggiore direkt vor seiner Haustüre, aus dem Dreibettzimmer sogar vom Fenster aus zu sehen.
Er hatte hier schnell Freunde gefunden. Sie alle, alles Jungs seiner Altersstufe, waren aus irgendwelchen Elternhäusern gerissen worden, die allerwenigsten schon länger hier als er, und so litten sie alle unter den gleichen Beschwerden: Heimweh, eine gewisse Einsamkeit, Sehnsucht nach Eltern, Geschwistern und alten Freunden. Doch bei allen hatten sich diese Symptome der gleichen Krankheit bald gegeben, waren den üblichen Beschwerden über Lehrer, Mitschüler, ja sogar über das über jeden Zweifel erhabene, hochwertige Essen gewichen. Man wuchs zu einer Gemeinschaft zusammen.
Als F. dreizehn war, war dies alles kein Thema mehr. Die Zeit seiner Kindheit, die zehn Jahre im Zirkus erschienen ihm so weit weg wie Amerika oder der Mond. Ja, er erinnerte sich natürlich, ja, er ging – mit vielen anderen – in den Zirkus, wenn in Locarno mal wieder einer gastierte. Seiner war es nicht, aber die Kids des Internats bekamen sehr günstige Eintrittskarten, oft sogar ganz geschenkt, sie sorgten für Jubel, Heiterkeit, eine gute Stimmung im Zelt und das Gefühl für die Artisten wie auch für die Gäste, dass der Zirkus gut besucht sei.
F. entwickelte Ambitionen zum Sport. Er schwamm sehr gerne, im Sommer auch mit Lehrern und Mitschülern im großen See, im Winter und zum Unterricht im komfortablen Hallenbad der Schule. Ballspiele waren weniger seins, er hatte keine Affinität zu den runden Lederteilen und als ihn zum ersten Mal ein Medizinball (unabsichtlich) in die empfindlichen Weichteile traf, hatten selbst die strengen Sportlehrer Gnade vor Recht walten lassen und ihn nicht mehr gezwungen, an derartigem Sport teilzunehmen.
Dagegen wurde er bejubelter Athlet am Hoch- und Spannreck, bejubelt in der Schule, für die Öffentlichkeit reichte auch dies nicht. Es störte ihn nicht, sein Ehrgeiz auf diesem Gebiet war sehr beschränkt.
F. wurde vom kleinen Knaben zum stattlichen jungen Mann. Bereits mit dreizehn, vierzehn, hatte er mit 170 Zentimeter schon fast seine spätere Endgröße erreicht, war schlank, ohne hager zu wirken, selbst die Proportionen liefen in seinem Wachstum nicht so aus dem Ruder wie bei einigen seiner Schulkollegen, von denen man witzelte, hier hätte der liebe Gott wohl ein paar falsche Arme und/oder Beine angebracht.
Der liebe Gott war auch so ein Thema. Wie schon gesagt, war es kein kirchlich geführtes Internat, doch den Schweizern kann niemand eine gewisse Religiosität absprechen. Im Bereich des italienischen Locarno war es nicht unüblich, römisch-katholisch zu sein wie auch F. es war und die entsprechenden Schüler hatten das große Glück, einen jungen, dynamischen und für diese Zeit sehr aufgeschlossenen Pfarrer als Religionslehrer zu bekommen.
Er zwang sie weder moralisch noch sonst wie, am Sonntag in die Kirche zu gehen oder regelmäßig irgendwelche Gebete aufzusagen, sondern zeigte ihnen die Schönheit der Gebete, die Heilwirkung der Mantren, die, in der christlichen Kirche obwohl vorhanden, natürlich nicht so genannt wurden. Darunter konnte man durchaus den Rosenkranz oder auch das Vater Unser zählen. Seine Denk- und Arbeitsweise hatte Erfolg. Statt mit Sünde, Hölle und Fegefeuer zu drohen und verängstigte Jugendliche zu bekommen, kamen sie in Scharen freiwillig zu ihm, um Ministrant in der nahegelegen Kirche zu werden oder seine verständlichen Predigten zu besuchen.
Pfarrer Jakob Großmann war sich auch nicht zu schade, seine jungen Gemeindemitglieder vor der einen oder anderen Predigt zu warnen, hatte er mal wieder „von oben“ einen besonders zähen Predigttext verordnet bekommen. Er hatte keine Probleme damit, wenn die Jungs an diesem Wochenende nicht in die Kirche kamen. Sie kamen meist trotzdem und lächelnd freute er sich zusammen mit dem Direktor, dass es ihnen ohne jeden Zwang sehr viel besser gelang, den Kindern einen natürlichen Glauben zu vermitteln, als den Kollegen in der Umgebung.
Pfarrer Jakob, wie ihn alle nennen durften, hatte auch außerhalb von Unterricht und Kirche ein offene Ohr für „seine“ Jungs, er spielte mit ihnen Ball, saß diskutierend im weitläufigen Park des Internats, hörte sich ihre Sorgen und Probleme an, gab Rat und nicht zu selten sprang er vermittelnd in einen Konflikt ein.
Die Konflikte kamen. Je älter die Jungs wurden, je mehr sie in der Pubertät waren, desto mehr war Pfarrer Jakobs Rat und Hilfe gefragt. Kein Biologieunterricht konnte ersetzen, was er in dieser Altersstufe an Aufklärungsunterricht gab, unaufgeregt, sachlich und garantiert nicht im Sinne seiner erzkonservativen Vorgesetzten. Nur dem massiven Einspruch des Direktors, des Lehrerkollegs und des sich in den Anfängen befindlichen Elternbeirats war es zu verdanken, dass er vom Bischof nicht weit weg in ein einsames Tal strafversetzt wurde.
Es scherte ihn daher nicht, er machte weiter.
Dabei kam es, wie die erstaunten Eltern immer wieder in intensiven Frage-Foltern aus den Jungs herauspressten, nicht in einem einzigen Mal zu einem Übergriff, für den andere Internate bekannt oder berüchtigt waren oder, leider, erst viel später worden sind. Pfarrer Jakob war ein Engel auf Erden.
So kam auch F. eines Tages mal wieder zu ihm. Sie setzten sich auf eine Bank im weitläufigen Park und F. beklagte sich erstmals darüber, dass er sich in dem Internat wie eingeschlossen fühle. Ja, es waren weitläufige, ja sogar großzügige Räume, auch sein Dreibettzimmer maß nicht unter vierzig Quadratmeter. Sie hatten sogar ein eigenes kleines Bad mit Dusche – das gab es hier schon zu einer Zeit, in der dies noch nicht mal in normalen Wohnungen üblich war.
Doch das Haus wurde um 20 Uhr abgesperrt, die Tore vom Park zur Außenwelt schon um 19 Uhr. Wer zu spät kam, musste eine peinliche Befragung durch den Pförtner über sich ergehen lassen, einem übellaunigen alten Kauz, der in einem Roman sicherlich als das Gegenstück zu Pfarrer Jakob gezeichnet worden wäre.
Zwar hatte weder das zu späte Kommen noch die Befragung reale Konsequenzen, doch alleine die Angst vor dem Alten reichte aus, um einen gewissen, unangenehmen Druck auszuüben.
F. spürte an diesem Tag diesen Druck. Er hatte den Alten gestern zum ersten Mal live und persönlich erlebt, weil der Film im Kino Überlänge hatte und er sich nicht entschließen konnte, vorzeitig den Kinosaal zu verlassen, nur, um rechtzeitig da zu sein.
„Und jetzt fragst Du mich, was Du in Zukunft tun sollst, mein lieber Francois?“, fragte ihn Pfarrer Jakob freundlich. F. nickte betrübt.
„Da kann ich Dir auch nicht sehr viel weiterhelfen. Zumindest nicht, wenn Du erwartest, dass ich eine Entscheidung für Dich treffe. Ich kann Dir nur die Optionen darlegen. Was Du daraus machst, ist Deine Sache, in Deiner Verantwortung. Du bist alt genug, um diese Verantwortung tragen zu können.“ F. nickte erneut, immer noch betrübt.
„Du hast ja selbst schon gesagt, dass Du auch eher hättest gehen können. Eine Möglichkeit, sicher, aber ebenso sicher keine sehr schöne. Wenn der Film spannend war, der Eintritt Geld gekostet hat – da gibt man nicht so leicht auf.
Die andere Möglichkeit ist, Dir ein dickes Fell wachsen zu lassen. Der alte Neurotiker ist zwar froh um jeden Jungen, den er runtermachen kann, doch das ist offenbar die einzige Unterbrechung in seinem faden, trostlosen, alten Leben. Er hat aus seinem Leben nicht viel gemacht, war immer nur irgendwo Hilfskraft, Hilfsarbeiter, Aushilfe, Küchenhilfe, Geschirrspüler, jetzt eben Pförtner – alles Berufe, die einen halbwegs selbstbewussten Menschen nicht erfüllen können. Ihm hat es offenbar auch nicht gereicht, sonst wäre er heute ein zufriedener, ruhiger Opa, der seine Zigarre rauchend in der Pforte seinen Dienst tut. Selbst seiner Frau war er nicht genug. Sie ist schon vor über zwanzig Jahren mit einem jüngeren, aktiveren Mann auf und davon. So zumindest habe ich es gehört. Er ist also alt und verbittert.
Nimm ihn wie er ist. Wenn Du zu spät kommst, lass ihn poltern. Hunde, die bellen, beißen nicht. Ein alter Satz mit einer großen Portion Wahrheit. Du hast zwei Ohren. Ins eine geht´s rein, aus dem anderen raus.“
F. grinste derweil schon recht breit.
„Eine dritte Option wäre natürlich noch, heimlich auf der Rückseite des Geländes über die Mauer zu klettern. Davon würde ich aber abraten, wenn Du halbwegs gute Sachen anhast. Die Mauer ist hoch, nicht gut erkletterbar und ich habe mir schon mehr als eine Soutane dabei so kaputt gemacht, dass sie nicht mehr zu nähen war.“ F. schaute Jakob groß an. Seine schlechte, schuld- und kummerbeladene Laune war dahingeschmolzen, wie Butter in der Sonne. Er hatte den Worten des guten Hirten aufmerksam gelauscht und nun musste er lachen bei der Vorstellung wie bei hereinbrechender Nacht Pfarrer Jakob mitsamt seiner Soutane und dem Skapulier versuchte, die Mauer zu erklimmen und dabei mehrfach runterrutschte. Ganz abgesehen davon, dass man nie so ganz wusste, was einen auf der anderen Seite erwarten würde. Himbeerdornen, ein Komposthaufen oder auch nur ein sorglos hingestellter Rechen.
F. bedankte sich ausführlich und mit Verbeugung bei dem Pfarrer und schritt breit grinsend von dannen. Pfarrer Jakob sah ihm ebenso grinsend nach.
F. nahm sich die Informationen zu Herzen und bastelte sich daraus etwas, was ihm den ganzen Rest seines Lebens behilflich sein würde. Ab sofort würde er versuchen, hinter die Geheimnisse, vor allem auch hinter die Schwächen der anderen zu kommen, bevor er sich entschied, bei ihren Strafpredigten auf Durchzug zu schalten oder doch besser weniger gute Klamotten anzuziehen, wenn er über eine Mauer musste und schmutzig werden würde. Er lernte, beides zur Perfektion zu machen.
Die Aussage von Pfarrer Jakob hingegen, dass bellende Hunde nicht beißen, war eine Regel, deren Ausnahme der Pförtner ein Jahr später war. Er ohrfeigte einen der Jungen und war damit bereits am nächsten Tag fristlos entlassen, ihn stellte auch niemals wieder jemand ein. An seine Stelle traten eine gelockerte Zugangsregelung und die Verteilung eines Schlüssels an alle Schüler über vierzehn.
Pubertät ohne Puber-Tiere
Ohne es bewusst zu wollen oder verhindern zu können, wurde auch F. langsam älter und kam in die Phase, die die meisten Eltern fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Eigentlich hätten F. und seine Mitschüler die Pubertät ebenso fürchten müssen, war sie doch die Zeit, vor der alle konservativen Religions- und auch sonstigen Lehrer nur warnten, von der sie mit erhobenem Zeigefinger sprachen und bei denen man sich kaum vorstellen konnte, dass sie selbst mal in diesem Alter gewesen wären.
Die Schulleitung hatte durch die passende Auswahl der fachgebenden Kräfte versucht soweit vorzusorgen, dass die Jungs in diesem Alter zumindest biologisch-technisch wussten, was auf sie zukam. So war es zwar immer wieder heißer Diskussionsstoff in den Klassen (bei Lehrerabwesenheit), auf den Zimmern oder in den Gemeinschaftsräumen, wenn sich bei dem einen oder anderen die ersten Barthaare früher oder später entwickelten.