WEIL WIR MENSCHEN SIND
Mit einem Geleitwort
von P. Emmanuel Jungclaussen OSB,
Abt von Niederaltaich
Besuchen Sie Theseus im Internet: www.Theseus-Verlag.de.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutschen Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN Print 978-3-89901-240-8
ISBN E-Book 978-3-95883-261-9
© 1997 by Theseus
in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld
3. Auflage 2009
Herausgegeben von Barbara Lang und Christoph Hahn
Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne
Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die
Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld
unter Verwendung eines Fotos © Foto Haberland
Gestaltung und Satz: Grafikstudio Scheffler, Berlin
E-Book Gesamtherstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt a. M.
www.weltinnenraum.de.
Geleitwort von P. Emmanuel Jungclaussen OSB, Abt von Niederaltaich
Danksagung
Gelöbnis des Großen Meisters Daichi
I.Die Wurzeln
Buddha Shakyamuni
Buddhas Lehre trifft auf ältere Religionen
Buddhistische Schulen – ist neuer gleich besser?
Töte den Buddha! – Frauen und die Lehre
Zen als Mahayana-Schule
II. Lehre und Praxis
Zazen – das Sitzen in dhyana
Kann man dem Druck der Zeit entfliehen?
Schmerzen beim Zazen
Shila und Huinengs Reform des Zen
Samadhi und Prajna
Nirvana
Globalisierung – anders betrachtet
Reue – sange
Zuflucht
Bodhisattva-Gelöbnis
Weisheit und Mitgefühl
Karma
Leben und Tod
III. Kyoto – München: Persönliche Anmerkungen
Ist Zen japanisch? – Ein Gespräch
Durch das Auge im Totenschädel
Sakai Roshi – ein großer Dharma-Lehrer
Herzsutra
Anhang
Zitierte Literatur
Editorische Notiz
Adressen
Viele Leser werden fragen: »Noch ein Buch über Zen?« – Sicher gibt es brillantere und umfassendere Darstellungen des Zen, aber kaum konkretere und ehrlichere und darum gerade für den Abendländer hilfreichere! Ein Japaner erzählt aus japanischer Sicht, das heißt mit dem typisch japanischen Kolorit beziehungsweise Sound über seinen Weg zum Za-Zen, und zwar innerhalb der Soto-Schule. Heute ist er Zen-Lehrer im Zen-Zentrum Eisenbuch in der Gemeinde Reischach nördlich von Altötting.
Ich schreibe dieses Geleitwort gern, und zwar als kleines Zeichen des Dankes für das, was ich selbst durch die strenge Übung des Za-Zen in Japan bei meinem verehrten Lehrer Yamada Koun Roshi und später in Deutschland bei Koun-An Roshi an innerer Bereicherung erfahren durfte. Beide sind schon in die Verwandlung eingegangen, aber unvergeßlich sind mir die Worte von Yamada Koun Roshi: »Ich möchte, daß Sie durch Za-Zen ein besserer Priester werden!« Dieses Zitat soll an dieser Stelle aber nicht als generelle Empfehlung des Zen-Weges gelten. Jeder Suchende muß nach strenger Selbstprüfung und eingehender Beratung durch Erfahrene sich für seinen Weg selbst entscheiden.
Im vorliegenden Buch begegnet der Leser authentischem, unverfälschtem Zen, dazu in gut verständlicher Form. In unserem Zeitalter der Beliebigkeiten sind strenge und verbindliche Übungsformen von besonderer Wichtigkeit. Nur in Strenge und Verbindlichkeit ist eine wirkliche Begegnung der verschiedenen Wege – den christlichen Weg mit eingeschlossen – möglich.
Niederaltaich, am 11. Juli 1997,
dem Hochfest des Heiligen Benedikt von Nursia
Emmanuel Jungclaussen OSB
Abt von Niederaltaich
Die Veröffentlichung dieses Buches möchte ich zum Anlaß nehmen, mich bei allen Mitübenden herzlich zu bedanken dafür, daß sie mich begleitet haben, und zugleich, daß ich sie begleiten durfte.
Meinen tiefen Dank verdienen Barbara Lang und Christoph Hahn. Durch ihre Dharma-Arbeit ist dieses Buch realisiert worden.
Möge diese bescheidene Gabe den Weg-Suchenden nützen!
Eisenbuch, am 4. April 1997
Fumon S. Nakagawa
Möge ich es erfüllen,
mit diesem von Eltern gegebenen Körper
mich dem Gelöbnis-Meer der Drei Juwelen zu widmen,
vom wahren Weg beim Tun und beim Nicht-Tun
niemals abzuweichen;
auf dem Weg
von diesem Körper zum Buddha-Körper,
von einem Leben zu einem anderen Leben,
von einer Welt zu einer anderen Welt,
beim Geborenwerden und beim Sterben,
nie getrennt vom Buddha-Dharma,
an jedem Ort, wo ich bin,
ohne Widerstreben, unermüdlich
Lebewesen zu retten;
sei es unterm Schwerterbaum oder auf dem Messerberg,
sei es im kochenden Wasser über dem Feuer,
unbeirrt nur diese Shobogenzo-Wahrheit tragend,
wo es auch sei, stets inmitten der Dinge tätig zu sein!
Mögen die Drei Juwelen mich bestärken!
Mögen die Buddhas und Dharma-Vorfahren mich schützen!
Für euch rational denkende Europäer sind Lehre und Persönlichkeit Buddhas gut verständlich. In Indien dagegen, wo der Buddha herkommt, gehörten Vergötterung und Magie, aus europäischer Sicht das »Irrationale«, zum Alltag. Aber Buddha war anders; in gewissem Sinn könnte man sagen, er war kein typischer indischer Yogi: er hat ganz normal gelebt und ist an einer Nahrungsmittelvergiftung gestorben. Das war vor 2500 Jahren.
In Indien, in Buddhas Heimat, ist noch heute eine besondere, sehr stark geistig geprägte Atmosphäre spürbar; damals war das sicher noch stärker. Auch Buddha übte sich in der traditionellen, hinduistischen Yoga-Lehre, im vollständigen Yoga-Weg. Das ist nicht bloß diese Art Gymnastik, das, was man hierzulande sehr oft unter Yoga versteht.
In der Mahayana-Tradition sagt man, Shakyamuni habe am 8. Dezember einen Stern gesehen und dabei Erleuchtung erlebt. Das war aber nichts Einmaliges. Auch danach übte Shakyamuni weiter als Yogi und wurde so immer vollkommener. Shakyamuni Buddha lehrte dann Dinge, die in Indien vor 2500 Jahren ungewöhnlich waren. Für uns moderne Menschen aber klingen sie völlig vernünftig und einleuchtend.
Noch heute ist es in Indien fast selbstverständlich, daß ein Yogi in der Luft fliegt, wahrsagt oder gleichzeitig an verschiedenen Orten erscheint. Vor 30 Jahren habe ich im Fernsehen gesehen, wie ein indischer Yogi nach Japan kam. Der wurde in eine Art Kapsel gepackt; dann haben sie den Sauerstoff herausgepumpt, aber er ist auch ohne Luft nicht gestorben. Man kennt viele solcher Geschichten von indischen Yogis aus Vergangenheit und Gegenwart. Nur über den Buddha ist nichts dergleichen überliefert, obwohl auch er ein indischer Yogi war.
In Indien ist es ja zum Beispiel nach alter Tradition auch so: Wenn jemand krank ist und vielleicht Schmerzen hat, dann wird ein göttlicher Mensch, ein Yogi gerufen, der verströmt Kraft oder Energie, und dadurch werden die Menschen geheilt. Fertig. Genau wie bei Jesus. Solchen Erscheinungen, solchen Menschen kann man glauben und vertrauen – aber man kann nicht einfach selber solche Fähigkeiten entwickeln. Glaube und Vertrauen sind grundlegend für unser Leben: Wenn wir zum Arzt kommen, dann strecken wir voller Vertrauen den Arm aus – was er spritzt, wissen wir nicht. Heutzutage kann es ja auch vorkommen, daß die Spritze AIDS-verseucht ist. Aber wir vertrauen ihm. Genauso ist es im seelischen Bereich.
Allerdings gibt es einige Sutren, in denen steht, Buddha habe typische Yogi-Wunder vollbracht: fliegen, an zwei Orten gleichzeitig sein, sich selber aus dem Sumpf befreien, Kranke heilen und so weiter. Aber diese Sutren sind alle viel jünger, das ist alles typisch indische, literarische Dekoration. – In Wirklichkeit führte Buddha eben doch ein ganz normales menschliches Leben. Und genau das ist eine große Hilfe für uns, weil wir solche gottähnlichen Großartigkeiten niemals erreichen können. Wenn wir hören, daß jemand nach dem Tod wieder aufersteht – wie können wir selber jemals so weit kommen? Solchen Geschichten können wir höchstens glauben, vertrauen, aber mehr nicht.
Buddha hat Wunder und Wunderheilungen abgelehnt. Er lehrte das Gegenteil. Man soll zu sich selbst Zuflucht nehmen; nicht zu ihm, zum Buddha, sondern zum Dharma, zu sich selbst. Den Weg, den er gezeigt hat, kann man mit der Vernunft verstehen, die Lehre genauso wie die Praxis. Er redet von Ursache-Wirkung, er erklärt, wie wir selber Leiden produzieren.
Er lehrt die Vier Edlen Wahrheiten: das Leiden, die Ursache des Leidens, die Aufhebung des Leidens, und den Weg zur Aufhebung des Leidens. Das ist eine Diagnose – was ist unsere Krankheit? Dann kommt ein Rezept, ein Medikament, der Heilungsweg. Der Heilungsweg ist die Praxis, jeder kann anfangen. Er sagte: Nicht ich bin euer Wegweiser, das Dharma ist der Wegweiser, die Lehre. Ihr müßt mit euren eigenen Füßen gehen.
Buddha selber hat viel Leiden erfahren. Er war Sohn des Fürsten des Shakya-Volkes und verlor früh seine Mutter. Eigentlich hieß er Gautama. Weil er das einzige Kind war, gingen alle davon aus, daß er der Nachfolger seines Vater würde. Später wurde Gautama Shakyamuni Buddha genannt. Shakyamuni heißt: der Erhabene aus dem Shakya-Volk, und Buddha heißt: der Erwachte, der Erleuchtete.
Das Shakya-Land war klein, und es hatte zwei mächtige Nachbarstaaten, Magadha und Kosala. Kosala war das mächtigste Land und versuchte immer wieder, die umliegenden kleinen Fürstentümer zu erobern. Dem Fürstentum Shakya drohte die Eroberung praktisch jeden Tag. Erobertwerden: das bedeutete Grausamkeit, die ständige Drohung von Massakern. Ich habe es nie gelesen, aber ich vermute, daß Gautama sehr unter dieser Situation gelitten hat, er sah keinen Weg zur Rettung. Es war vorauszusehen, daß das Land, das Volk vernichtet würde – und er sollte Nachfolger seines Vaters werden? Was konnte er tun? Krieg führen? Einen, den er sowieso verlieren würde?
Die allgemeine Überlieferung spricht immer nur von »Lebensleid«. Aber wenn ich in meinem Herzen dem jungen Prinzen Gautama näherkomme, dann spüre ich: das muß konkreter gewesen sein, und es könnte eine wichtige Motivation für ihn gewesen sein, Mönch zu werden. Er hatte gar keine Möglichkeit, oder? So denke ich, so spüre ich, das kann ich aber quasi nur als Dichter sagen. Er war jung verheiratet und hatte einen kleinen Sohn. Dann ist er Mönch geworden. Das Leiden muß konkreter gewesen sein als in Bertoluccis Little-Buddha-Film dargestellt. Deswegen machte er sich auf den Weg und suchte viele Yogis auf, die Meister seiner Zeit. In der indischen, hinduistischen Tradition wird der Buddha deswegen einfach als großer Yogi betrachtet, genauso wie Jesus.
Wenn ich so im Zazen sitze, vor allem im Sesshin, dann taucht immer ein Bild von Buddha Shakyamuni auf, eine Geschichte aus dem Pali-Kanon, die ich aus der japanischen Übersetzung kenne. König Bimbisara von Kosala wurde von seinem Sohn Ajatashatru abgesetzt und zusammen mit der Königin, seiner Mutter, ins Gefängnis gesteckt. Dort hat der Sohn seine Eltern verhungern lassen, hat sie ermordet. Danach wurde er selber König. Sofort wollte er das Shakya-Land erobern und zog mit Elefanten und Soldaten dorthin. Da stand der Buddha auf dem Weg. Und Buddha strahlte etwas aus, was Ajatashatru daran hinderte weiterzugehen. Ein anderes Mal stand Buddha unter einem großen Baum im Schatten. Da fragte Ajatashatru: »Warum steht der Ehrwürdige hier?« Da antwortete Buddha: »Es ist schön kühl im Schatten des großen Baumes.« – Später wurde dieser Ajatashatru übrigens ein ernsthafter Laien-Schüler Buddhas.
Aber vorher kam Ajatashatru mit seinen Soldaten ein drittes Mal. Diesmal konnte ihn der Buddha nicht stoppen, und in jener Nacht mußte der Buddha zusehen, wie sein eigenes Land brannte. Neben ihm stand sein Schüler. Sie haben über Verteidigungsmaßnahmen diskutiert. Und Buddha sagte: »Das führt nur wieder zu Rache.« Wenn ich das höre, spüre ich heiße Tränen auf dem Gesicht Buddhas. So etwas konnte er nicht neutral und ohne Emotionen sagen. Aber er hat dieses Schicksal tief verarbeitet, dieses grausame Schicksal, dieses karma. Das war nicht das karma einer Person, sondern das karma eines Landes. Oder das karma der ganzen Menschheit. Diese Geschichte, dieses karma-Rad konnte der Buddha nicht anhalten.
Vielleicht hatte er schon geahnt, daß so ein Massaker kommen könnte, und womöglich ordinierte er viele besonders junge Shakya-Leute. Als Mönche und Nonnen konnten sie dem Morden entfliehen. Er hatte auch seinen eigenen kleinen Sohn Rahula ordiniert, der war vielleicht zehn, und da gibt es auch eine Geschichte. Jeden Tag begann um zwei Uhr morgens das Zazen. Vormittags gingen alle Mönche und Nonnen ins Dorf zum Betteln, bis Mittag mußten sie etwas Nahrung bekommen und essen. Nachmittags wurde nur meditiert, bis abends zehn Uhr. Sie saßen auf der Wiese, sie hatten keine festen Zeiten und übten auch nicht gemeinsam Gehmeditation. Sie saßen in der Nähe des Buddha, unter den Bäumen oder im Wald, wo die Toten begraben wurden.
Und da war Buddhas Sohn. Er war noch klein und ein bißchen müde; weil es keinen Platz gab, wo er sich am Tage hinlegen konnte, schlief er in der Toilette. Da kam der Buddha und sagte zu ihm: »Was tust du hier? Bist du nicht Mönch geworden? Wieso vergeudest du hier das Leben? Gib dir Mühe und übe ordentlich!« Das ist eine berührende Szene. Da sind Vater und Sohn. Kurz vorher waren sie noch Fürsten. Der Vater sollte Nachfolger des alten Fürsten werden. Jetzt hatte Buddha seinen Sohn gerettet. Der war müde, ein kleiner Bub, so müde. Ihr seid auch müde, aber ihr habt immerhin Betten. Der Kleine aber fand nur in der Toilette einen Platz zum Schlafen.
Es gibt noch eine bittere Erfahrung des Buddha. Wir rezitieren im Herzsutra: »Höre, Shariputra.« Shariputra und Maudgalyayana waren schon selbständige Lehrer und hatten selber ein paar Hundert Schüler, bevor sie den Buddha trafen. Einmal war zufällig einer von Buddhas Mönchen zu ihnen gekommen, und da hatten sie von Buddhas Lehre gehört. Beide hatten sofort verstanden: das ist großartig, das ist es, was wir suchen. Da sind sie mit all ihren Schülern zu Buddha gekommen. Buddha hat sich sehr gefreut, daß Shariputra und Maudgalyayana zu ihm kamen, sie waren scharfsinnig, und sie waren großartige Menschen. Beide durften bald stellvertretend für Buddha reden und lehren.
Aber beide starben vor dem Buddha. Deshalb wurde dann Mahakashyapa sein Nachfolger. Buddha hat den Mahakashyapa nicht unbedingt als den ersten gesehen, er hat ihn nur sehr respektiert. Von der Fähigkeit zu reden und ihrem Verständnis der Lehre her waren die beiden anderen unerreichbar gewesen. Wenn man das so betrachtet, sieht auch die Zen-Geschichte plötzlich anders aus. Bekanntlich führen sich die Zen-Schulen alle über Mahakashyapa auf Buddha zurück, weil Mahakashypa als einziger bei der berühmten, wortlosen »Blumenpredigt« des Buddha gelächelt haben soll. Beim Tod von Shariputra und Maudgalyayana war Buddha selber nicht mehr so jung. Er wußte, daß er auch bald sterben würde, und plötzlich verlor er hintereinander zwei große Schüler. Buddhas Worte stehen geschrieben: »Es ist so einsam, wenn ich sehe, daß Shariputra und Maudgalyayana nicht mehr da sind. Ich fühle mich so einsam, seit ich die Gesichter der beiden nicht mehr sehen kann.« Da ist eine herzzerreißende Einsamkeit, die man spüren kann, wenn man diese Geschichte hört.
Bei so konkreten Dingen können wir dem Buddha als einem Menschen näherkommen. Er schwebt nicht über den Wolken, wir können ihn auch heute gut verstehen. Ganz lebendig fordert er uns auf: »Geh mit eigener Kraft auf deinem eigenen Weg; was ich dir zeige, sind nur Methode und Zielrichtung.« Ob er wie andere indische Heilige gottartig auf dem Wasser gehen konnte? Wir wissen es nicht, er hat es jedenfalls nicht gezeigt. Er zeigte keine Wunder.
Buddha sprach auch überhaupt nicht über die Entstehung der Welt oder über Gott oder ähnliches. Er lehnte das einfach ab. Das war eine große geistige Revolution in Indien damals: eine bewußte Beschränkung in der Lehre zugunsten eines klaren, einfachen Weges. Das ist rational verständlich und für jeden nachvollziehbar, von Vernunft zu Vernunft.
In der lebendigen Blütezeit des Buddhismus in China entwickelte sich daraus später der typische Zen-Geist der Chinesen. Der ist völlig rational, konkret und bodenständig. Die Chinesen wollten bewußt mit Wundern nichts zu tun haben. Wenn eins kam, »vernichteten« sie es sofort, sie betrachteten es nicht als etwas Besonderes oder gar Bewundernswertes. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt Wunder vollbracht haben. Ihnen selber war es völlig egal.
Diese Einstellung ist eine große Unterstützung für uns. Einfach Zazen üben. Wenn man aber sagt, durch Zazen kann man Buddha Shakyamuni lebendig begegnen, und Bodhidharma und Dogen auch noch, und wir denken: Bei mir passiert das alles nicht!, dann verlieren wir doch die Lust und die Motivation, oder? »Da mache ich ein intensives Sesshin, wie schmerzhaft – und ich kann immer noch nicht in der Luft fliegen?« Oder wir hören von einer Yogini, die 56 Jahre ohne Nahrung gelebt hat. Wenn sich dann jemand wünscht: »Ich sitze auf dem Kissen, damit ich endlich ohne Essen leben kann« – und es funktioniert nicht. Was dann?
Buddha ist ganz anders. Er zeigt uns machbare Wege. Und genau das hat sich in China weiterentwickelt, nicht einfach bloß durch rationales Verstehen, sondern entsprechend dem Charakter der chinesischen Kultur intuitiv. Intuitiv wird bei den Chinesen genau diese Wunder-Neigung vernichtet. Das Zen sagt sogar: Den Buddha töten und dann an hungrige Hunde verteilen. Huangpo beschimpfte jemand, der auf dem Wasser gehen konnte: »Wenn ich das vorher gewußt hätte, hätte ich dich längst umgebracht.« Bewunderung? Nein, umgekehrt. Huangpo schimpft nur: »Dummer Kerl.«
Diese Zen-Art ist zu uns nach Japan gekommen. Aber ich sehe diese geistige Überlieferung nicht nur aus dem Zen, wie es aus China kam. Diese absolut rationale Einstellung geht auf Buddha selber zurück. Trotzdem wurde Buddhas Lehre in Indien immer wieder mit der hinduistischen Kultur vermischt, und er selber wurde vergöttlicht. Das gehört, wie gesagt, zur indischen Kultur. Er war aber nicht göttlich, und was er gelehrt hat, war auch nicht göttlich. Seine Lehre zeigt einen ganz menschlichen Weg, gangbar für alle Menschen. Eine Periode Zazen ist machbar. Durch das Sitzen und die geistige Konzentration das Alltagsleben ordnen ist auch machbar. Dadurch kann man konkretes Leid und konkreten Schmerz des Alltags Stück um Stück lösen. Klar argumentieren, klar verstehen, klar sehen – das ist die höchste Praxis. Klar sehen und aufwachen: das findet statt hier auf dem Boden, dort, wo wir alle sind. Ihr braucht euch nicht anstrengen zu fliegen. Nein: hier sitzen, aus eigener Kraft und Mühe, das ist der Weg Buddhas.
Ich bin in Japan geboren und aufgewachsen. Das war in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, und deshalb habe ich eine westliche Ausbildung genossen und in erster Linie die westliche Denkweise gelernt. So habe ich in meiner Jugend zu vielen alten Überlieferungen meiner Heimat keinen wirklichen Zugang bekommen.
Trotz aller Modernisierungen gab es in Japan immer auch alte religiöse Überlieferungen, darunter auch schamanistische. Selbst heute noch gibt es Schamanen in Japan, meistens Frauen. Sie haben eine eigene religiöse Tradition mit schintoistischen und buddhistischen Elementen. Sie leben an bestimmten Orten im Gebirge, auf heiligen Bergen. Viele haben die Fähigkeit, in Trance zu gehen. In der Trance verwandeln sie sich zum Beispiel in die verstorbenen Vorfahren der Familie, die sie gerade besuchen; sie sagen »ich« und sprechen dann als die verstorbene Mutter oder Großmutter oder der verstorbene Großvater. Das ist authentische Praxis bei ihnen bis heute.
Manche von ihnen können Krankheiten heilen; sie haben dafür eine eigene Überlieferung. Zur Zeit meiner Kindheit hat noch niemand ihre Aktivitäten als negativ betrachtet. Damals kamen auch noch schintoistische Nonnen und Mönche aus den Bergen in die Stadt Kyoto; manchmal auch buddhistische. Sie trugen weiße Kleider wie vor tausend Jahren, ein sakrales Stirnband und eine Holzstange mit einer Klinge. Damit vertrieben sie die Dämonen. In Kyoto und den anderen Städten verkauften sie getrocknete Bärenleber und Heilkräuter aus den Bergen als Medizin. Meine Eltern haben diese Medizin immer gekauft, und ich kann mich erinnern, daß wir Kinder diese Medikamente bekommen haben, wenn wir Magenschmerzen, Darmschwierigkeiten oder Erkältung hatten.
Kurz nach dem Krieg war diese Tradition noch nicht ausgestorben. Aber später wurden diese Leute in der Öffentlichkeit immer weniger akzeptiert. Jetzt gibt es nur noch die westliche Schulmedizin. Heute lachen die japanischen Ärzte nur, wenn jemand die Akupunktur bzw. die traditionelle japanische Medizin schätzt. Aber vor kurzem habe ich in der Zeitung gelesen: Das japanische Parlament hat eine eigene Klinik nur für die Abgeordneten. In dieser Klinik gibt es sowohl westliche Medizin als auch Akupunktur. Der Bevölkerung gegenüber wird die traditionelle chinesische Medizin lächerlich gemacht, die Krankenkasse zahlt nur schulmedizinische Behandlung. Aber die Abgeordneten wissen schon, warum sie selber auch zur Akupunktur gehen wollen.
Aber es geht weniger um Medizin als um den geistig-religiösen Bereich. Vor kurzem habe ich einen Artikel eines japanischen Gelehrten über Schamanismus gelesen. Dabei ist mir plötzlich eine Menge klar geworden. Wie klingt eigentlich das Wort »Schamanismus« bei euch – positiv oder negativ? Denkt mal nach. Das ist nämlich gewissermaßen die Basis, um die Lehre Buddhas überhaupt zu verstehen.
Innerhalb der schamanistischen Traditionen sind die Menschen sehr abhängig von einer ganz bestimmten Person. Auch heute noch ist es zum Beispiel in Indien so: Ein Meister oder Guru wirkt nicht als eine bestimmte Person mit einem bestimmten Namen, Hans oder Renate oder Thomas. In ihm oder ihr ist eigentlich ein Gott gegenwärtig. Bei euch, in eurer christlichen Tradition, ist diese Idee nur bei Jesus erlaubt, wenn ich das richtig verstanden habe. Aber in der indischen Tradition wird von vielen solchen »Christus« berichtet, Jesus ist nur einer von ihnen. Warum? Sie alle haben die gleichen Wunder gewirkt: Krankheiten heilen, gleichzeitig an mehreren Orten sein, nach dem Tod wiederauferstehen. Das ist indische Tradition. Diese Tradition muß euch klar sein, weil auf diesem Boden Buddhas Lehre und Praxis gewachsen sind. Man kann sogar noch weiter gehen: Wenn einem diese Art der Tradition, dieses schamanistische Element, nicht zugänglich ist, dann kann man die eigene seelische Erfahrung letztlich auch nur schwer verstehen.
Yoganandas Autobiographie zum Beispiel hat mir gute Hinweise gegeben, wie ich meine eigenen Erfahrungen einordnen kann. Was habe ich in Japan in der Schule gelernt? Englisch, Physik, Chemie – alles auf westliche Weise, sogar Geschichte. Unsere eigene japanische religiöse Tradition hatte keinen Platz. Eigentlich gab es nicht einmal Platz für das, was ich selber erfahren habe. 1979 bin ich nach Deutschland gekommen. Im Dezember 1980 habe ich hier genau gespürt, daß mein Vater in Japan gestorben ist – bevor ich die Nachricht erhalten hatte. Genauso war es, als hier in München ein Freund gestorben ist. Er starb im Norden der Stadt, ich war im Süden, aber ich habe es gespürt. Zuerst konnte ich beides nicht zugeben. Warum? Weil es nicht hineinpaßt in das heutige »normale« Denken in Japan. In Indien ist das anders, da ist so etwas wie den Tod eines anderen über räumliche Distanz hinweg erleben eine ganz normale Sache. Yogananda und alle seine Vorfahren konnten viel mehr. Mir als westlich erzogenem Japaner dagegen hat sogar diese kleine Sache innere Schwierigkeiten gemacht.
Jetzt, nach Yoganandas Buch, sehe ich auch den tibetischen Buddhismus anders. Das ist Buddhismus, aber nicht ausschließlich. Es ist ein »einheimischer« Buddhismus, da sind verschiedene Elemente verbunden, buddhistische und schamanistische Elemente, solche der ursprünglichen Religion Tibets. Alles zusammen wird »Tibetischer Buddhismus« genannt. Als der Dalai Lama aus seiner Heimat nach Indien fliehen mußte, suchte er seinen Schamanen auf. Der war eine Art »Schutzgott« für ihn. Dieser ging in Trance und hat dem Dalai Lama in diesem Zustand den Fluchtweg gezeigt. Genau diesen Weg ist er dann gegangen. Für den Dalai Lama war das selbstverständlich.
Im ursprünglichen Buddhismus jedoch ist so etwas ganz und gar nicht selbstverständlich. Auf der anderen Seite gibt es gar keinen Zweifel: ohne diesen ursprünglichen, den schamanistischen Boden, gibt es keine Kultur, in keinem Land. Deswegen hat der Buddhismus immer die einheimische Religion aufgenommen, einschließlich des jeweiligen Schamanismus. Das können wir in Thailand sehen, in Tibet, in China und in Japan. Überall bildeten diese ursprünglichen Elemente den Boden, und der Buddhismus hat das dann integriert. Er entwickelte sich immer mit diesen Elementen, nie gegen sie.
So gesehen gibt es viel Schamanistisches in der tibetischen Variante des Buddhismus. Wenn man diese Religion einfach nur »Buddhismus« nennt, dann übersieht man ziemlich viel. Die großen Rinpoches oder großen Lehrer des tibetischen Buddhismus sind nicht nur buddhistische Meister, sie sind auch Schamanen. Man respektiert sie, weil sie auch in dieser Hinsicht authentisch sind.
Warum betone ich das? Ich denke so: Man sollte zuerst eine Person oder eine Kultur so akzeptieren, wie sie eben ist, um sie zu verstehen. Mit einem solchen Verständnis schafft man eine positive Grundeinstellung. Erst dann sollte man anfangen zu analysieren, zum Beispiel zu untersuchen und festzustellen: Dies ist buddhistisch, jenes ist nicht buddhistisch und so weiter. Auf diesem Weg können wir Klarheit darüber bekommen, was denn nun das Wesentliche am Buddhismus selber ist.
Der Buddha hat die eigene Selbständigkeit betont, er war sich der indischen Religiosität – ihr sagt heute im Westen oft: Spiritualität – genau bewußt und hat sie verarbeitet. Buddha wirkte niemals diese Wunder, er heilte niemals Kranke, er starb ganz normal und ist nicht wiederauferstanden. Wir wissen nicht, ob er das alles nicht konnte oder ob er es nur nicht zeigte. Wir wissen es nicht, und es ist auch nicht wichtig. Das ist überhaupt kein Thema in Buddhas Lehre, es ist nicht ihr Charakter. Weil aber Buddha nichts davon zeigte, brauchen wir auch nicht davon abhängig zu werden. Er war völlig rational, hat einen Lebensweg aus der Vernunft heraus gezeigt. Diese Klarheit paßte dann auch überall hin. Sie war kein Widerspruch zur einheimischen Religion und dem Schamanismus, nicht in Tibet, nicht in Japan, nicht in Süd-Asien, nicht in China.
Wir sind nicht gegen Schamanismus, und großartige Persönlichkeiten respektieren wir immer. Aber ich will nicht von so jemandem abhängig sein. Das ist die buddhistische Tradition. Zu einem großartigen Menschen hingehen, ihm zuhören, mich verbeugen, ihm absolut vertrauen: das ist nicht der Weg Buddhas. Das muß klar sein. Ob der Dalai Lama wirklich die Inkarnation des letzten Dalai Lama ist, das wissen wir nicht. Aber diese Frage ist gerade nicht das buddhistische Element der tibetischen Religion. Für die Tibeter ist das alles eine Einheit, es ist der schamanistische Boden, und das ist gut. Aber für uns, für euch ist es nicht wichtig. Wir müssen das Wesentliche am Buddhismus aus unserer eigenen, heutigen Kultur und Lebensweise heraus verstehen.
Wie steht es mit eurer eigenen schamanistischen Tradition? Ich darf eigentlich gar nicht weitersprechen, weil ich da nicht genug weiß: aber ihr habt die Hexenverfolgungen gehabt und die Heiler ausgerottet. Das kann nicht gut sein, weil damit Wurzeln eurer eigenen Religiosität, des Schamanismus im positiven Sinne, unterdrückt und vernichtet wurden. Hexen und Heiler wurden verpönt und galten als verdächtig. Aber wir brauchen diese einfachen, natürlichen geistigen Fähigkeiten. Wenn sie verdächtig sind, werden sie immer schwächer, und in der Folge davon werden die Menschen dann abergläubisch und letztlich vom Aberglauben abhängig.
Warum konnte ich in Deutschland spüren, daß mein Vater starb? Ich spürte es, und deshalb rief ich meine Schwester in Japan an, und sie sagte mir, daß er eben gestorben sei. Aber ist das wichtig, diese Fähigkeit, diese Empfindlichkeit? Nein. Auf dem Buddha-Weg gehen ist wichtiger. Andererseits jedoch darf ich das auch nicht ignorieren; es gibt diese Realität, es gibt diese Ebene.
Zufällig habe ich kürzlich im Bayerischen Fernsehen eine Sendung gesehen über einen Heiler in Hindelang in den Allgäuer Alpen. Dort gibt es heute noch solche Leute. Ich habe das Gefühl gehabt, daß die Ausstrahlung der Berge diese Menschen ausbildet. In der Sendung wurde dieser Heiler gezeigt. Er wollte seinen Namen nicht sagen, damit nicht zu viele Leute zu ihm kämen. Eines Tages hatte er plötzlich diese Fähigkeit zu heilen in sich bemerkt. Zum Beispiel spürt er, wie bei Kopfschmerzen die magnetische Ordnung gestört ist; dann legt er seine Hände auf den Kopf des Patienten, und alles wird geordnet. Dann verschwinden die Kopfschmerzen. So wurde es berichtet.