ISBN: 978-3-903092-42-6
1. Auflage 2016, Marchtrenk, Österreich
© 2016 Verlag Federfrei
Umschlagabbildung: © Verlag Federfrei
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Dieser Thriller ist reine Fiktion. Namen und Personen, verschiedene Ereignisse, Orte und Zeiten sind teilweise real, teilweise erfunden. Manche Menschen sind real, andere fiktiv.
Ähnlichkeiten der erfundenen Figuren mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
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Herzlichen Dank allen, die das Manuskript durchgesehen und mir mit wertvollen Tipps weitergeholfen haben.
Sämtliche Personen dieses Romans, ihre Namen und ihre Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen nicht beabsichtigt.
Bilder von den Schauplätzen des Kriminalromans finden Sie im Internet unter
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Jane und Anton Geigensauer standen etwas abseits bei einem alten Baum. Das Publikum drängte sich um das Buffet mit südburgenländischen Spezialitäten und Weinen, die für eine freiwillige Spende angeboten wurden. Es war Pause bei den Nestroyfestspielen in Eberau. Die halblangen, braunen Haare von Jane fielen glatt von ihrem wohlgeformten Kopf auf die Schultern. Ihre Augen waren von einem Dunkelbraun, das sich dem Schwarz näherte. Geigensauer war ein schlanker Mann mit schwarzem Haar. Er hatte einen Vollbart. Sein Kopf war lang und schmal.
»Siehst du die schwarzhaarige Frau dort drüben unter dem Baum?«, fragte Jane und berührte mit ihrem Zeigefinger leicht den Oberarm von Geigensauer.
Tatsächlich hatte Geigensauer die Frau beobachtet. Sie war nicht zu übersehen. Er wollte nicht zugeben, dass sie ihm aufgefallen war. So blickte er suchend in Richtung der hohen Bäume, die das nahe Schloss fast verdeckten. Schwach hoben sich die dunklen Kronen gegen den im Osten schwarzen Abendhimmel ab.
»Die Frau mit dem langen, weinroten Kleid«, ergänzte Jane. »Ist sie nicht schön?«
»Jetzt sehe ich sie. Ja, sie ist ganz hübsch.«
»Ganz hübsch? Sie ist einfach perfekt.«
Geigensauer fand sie schön, aber er wollte es vor Jane nicht zugeben. »Ihr Hals ist zu lang.«
»Und was ist an mir alles nicht perfekt?«, wollte Jane wissen.
»Nichts, sonst hätte ich dich doch nicht geheiratet.«
Jane lachte ungläubig. Neben der Frau stand ein blonder Mann, mit dem sie angeregt plauderte. Ein Glas Wein in der linken Hand ordnete sie mit der rechten immer wieder die schwarze Haarpracht, die gelockt auf ihre Schultern fiel.
»Sie gefällt dir doch«, widersprach Jane, der Geigensauers forschender Blick auffiel. Er drehte sich zu ihr.
»Bist du eifersüchtig?«
»Nein, nein!«, lachte Jane. »Ich muss dringend wohin«, wechselte sie rasch das Thema.
Sie reichte Geigensauer ihr Weinglas und ging. Er blickte ihr nach. Bis auf zwei alte Damen, die miteinander plauderten, waren die Sesselreihen auf der Wiese vor den Nebengebäuden des Schlosses leer. Dahinter erhob sich die liebevoll gestaltete Bühne, auf der eben noch Titus Feuerfuchs gestanden war. Jetzt hatte sich dieser mit den anderen Schauspielern unter das Publikum gemischt, um mit Freunden und Bekannten zu sprechen.
Am westlichen Abendhimmel war noch ein letzter Lichtschein zu sehen. Geigensauer liebte die langen Tage um die Sommersonnenwende. Seine Aufmerksamkeit wandte sich den anderen Theaterbesuchern beim Buffet zu. In seiner Nähe standen zwei Frauen. Jetzt, wo er allein war, konnte er ihr Gespräch verfolgen.
»Andreo Motetto ist hier.«
»Der berühmte südburgenländische Maler?«
»Genau dieser.«
»Wo?«
»Dort drüben an der Hausmauer steht er im Halbdunklen, ganz allein.«
»War da nicht ein Bericht in ›Burgenland Heute‹ über ihn?«
»Doch, doch. Letzte Woche. Sie haben sein Atelier in Oberdorf gezeigt. Dort gibt es eine herrliche Aussicht über das Südburgenland.«
»So reich müsste man einmal sein, dass man sich ein Bild von ihm kaufen kann.«
»Dabei fand er zunächst keine große Anerkennung. Fast niemand kaufte seine Bilder. Ich kenne seine Eltern gut. Einfache Leute aus Kohfidisch. Als er die elterliche Landwirtschaft nicht weiterführen wollte, ist für sie eine Welt zusammengebrochen. Sein wirklicher Familienname ist Blotter, Andreas Blotter.«
»Ist er verwandt mit Peter Blotter vom Autohaus Blotter in Stegersbach?«
»Weiß ich nicht. Aber er lebt seit Jahren mit einer Galeristin aus Wien zusammen.«
»Ist sie auch hier?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Holen wir uns noch ein belegtes Brot?«
Geigensauer hatte den im Dunklen stehenden Maler entdeckt, einen großen Mann mit einem Rossschwanz, unauffällig in Schwarz gekleidet. Er lehnte an dem alten Gemäuer, in dem sich die Künstlergarderobe befand. Trotz der Entfernung hatte Geigensauer das Gefühl, die Blicke des Malers galten der Frau im weinroten Kleid. Plötzlich trat der Künstler wenige Schritte von der Mauer weg, blieb wieder stehen und schlenderte dann langsam an der Menschenmenge vorbei auf die Frau im weinroten Kleid zu. Er wurde von ihr herzlich begrüßt und ihrem Begleiter vorgestellt.
»Du schaust noch immer auf ihren zu langen Hals«, sagte Jane, die zurückgekommen war. »Wie kann man nur einen Rossschwanz tragen? Am liebsten würde ich hingehen und ihn abschneiden«, fuhr sie fort.
»Bitte nicht! Er ist ein berühmter Maler, Andreo Motetto aus Oberdorf.«
»Du kennst ihn?«
»Nein, ich habe zugehört, wie zwei Frauen über ihn sprachen.«
Das Ende der Pause wurde eingeläutet. Jane und Geigensauer nahmen wieder ihre Plätze ein. Im kleinen Häuschen neben der Bühne begann die Pianistin die einleitende Musik zu spielen. Bald erschien der Mond oberhalb der Bäume, die das Schloss umgaben.
Auf der Heimfahrt durch das Pinkatal hatte Geigensauer alle Fenster des Autos geöffnet. Die Nacht war lau und angenehm wehte der Wind durch das Fahrzeug. Auf der linken Seite hoben sich die Weinberge deutlich gegen den Nachthimmel ab, rechts lag die sich nach Ungarn erstreckende Ebene im hellen Mondschein.
»Es hat mir sehr gut gefallen«, meinte er, nachdem sie einige Minuten schweigend gefahren waren.
»Mir auch«, erwiderte Jane. »Es war eben doch eine gute Idee von mir unsere Flitterwochen im Südburgenland zu verbringen. In die Karibik oder auf die Malediven fährt heute schon jeder.«
»Hochzeitsreise ins Südburgenland erscheint mir tatsächlich ziemlich einmalig«, lachte Geigensauer.
»Mach dich nur lustig über mich und das Südburgenland. Aber ich weiß, dass du gerne hier bist, Anton.«
»Natürlich. Kennst du schon den kürzesten Burgenländerwitz?«
»Nein.«
»Ein Ehepaar verbrachte seine Flitterwochen im Südburgenland«, begann Geigensauer und schwieg.
»Und weiter?«, fragte Jane.
»Das war schon der Witz.«
»Sehr lustig. Der ist wohl von dir?« Jane stieß leicht mit der Hand gegen seine Schulter.
Als sie durch Winten fuhren, kehrten Geigensauers Gedanken zur Vorstellung zurück.
»Die Kostüme waren perfekt, das Bühnenbild auch und manche der Schauspieler könnten in jedem Theater in Wien auftreten.«
»Ich bin gespannt, wie es morgen in Güssing auf der Burg sein…Vorsicht!«, rief Jane plötzlich.
Geigensauer bremste erschrocken ab. Zwei Rehe standen am Straßenrand.
»Fahr bitte langsamer!« Die Straße führte durch ein großes Waldgebiet Richtung Kohfidisch.
»Im Winter wird auch in Harmisch Theater gespielt.« Geigensauer deutete auf einen Wegweiser.
»Das hast du mir schon erzählt, als wir hier voriges Jahr mit dem Rad unterwegs waren.«
»Eine Radtour könnten wir auch wieder einmal machen.«
Sie bogen in die Bundesstraße Richtung Güssing ein und fuhren durch Kirchfidisch. Ein vermutlich schon geschlossenes Gasthaus an der rechten Straßenseite erinnerte mit seinen Aufschriften daran, dass hier einst Samstag in der Nacht Jugendliche ihren Treffpunkt hatten. Kaum hatten sie die Ortschaft bergauf verlassen, breitete sich zur rechten Hand die Ebene aus, die bis Güttenbach reichte. Wieder ging es durch dichte Wälder.
Als sie am Flughafen Punitz vorbeifuhren, sagte Jane: »Es kommt mir so vor, als wäre mein Flug mit Hofrat Münster gestern gewesen. Dabei ist schon ein Jahr vergangen.«
»Mir geht es nicht anders.«
Geigensauer sah alles, was damals geschehen war, ganz deutlich vor sich. Fast ein Jahr lang hatte er in Güttenbach verdeckt als Betreuer einer Wetterstation ermittelt, um zwei Morde an Ausländern aufzuklären. Er bog von der Bundesstraße rechts nach Güttenbach ab. Am Ende der langen, geraden Ortszufahrt tauchten die Häuser der Ortschaft auf.
Rasch hatten sie das Haus erreicht, in dem Geigensauer gewohnt hatte. Als Jörg Drubovic, sein Vorgesetzter im Innenministerium, hörte, dass Geigensauer und Jane ihre Flitterwochen im Südburgenland verbringen wollten, hatte er sofort veranlasst, dass Geigensauer das Haus mieten konnte. In und um das Gebäude hatte sich fast nichts verändert. Nur die Wetterstation im Garten war verschwunden.
Kaum im Haus, öffneten sie die Fenster, um die Sommerhitze des Tages gegen die frische Nachtluft zu tauschen. Die Grillen zirpten und die Frösche quakten. Geigensauer blickte hinüber zum Haus, das Hugo Lastenecker bewohnt hatte. Während Jane schon ins Bett geschlüpft war, saß Geigensauer in der Küche vor dem offenen Fenster, ein Glas Rotwein in der Hand, die Füße am Fensterbrett, und erinnerte sich an seinen ersten Abend in Güttenbach.
Nach dem Saunabesuch fühlte sich Hans-Peter Mosel sehr entspannt. Er saß an der kreisrunden Bar in der Empfangshalle des Hotels und genoss ein Bier. Er war etwa dreißig Jahre alt, nicht groß, hatte aber einen bulligen Körperbau. Als Alleinstehender hatte er im letzten Jahrzehnt vom Kellner bis zum Taxifahrer die verschiedensten Berufe ausgeübt.
Den Eingangsbereich hatte er sicher unter Kontrolle. Im harten Arbeitsleben eines Privatdetektivs war der Auftrag, der ihn in die Therme nach Stegersbach geführt hatte, eine willkommene Abwechslung. Die Überwachung von Linda Bäumler und ihrem Freund Thorsten Albrich war nicht schwierig gewesen. Die beiden hatten zwar auch hier im Südburgenland, 700 km entfernt von München, versucht, ihre Beziehung geheim zu halten. Aber schon nach wenigen Tagen hatte er genug Material für seinen Auftraggeber Dipl.-Ing. Übi Bäumler gesammelt. Am Freitag ging der internationale Kongress für Solarenergie, kurz ICSE, zu Ende. Er hatte heuer in Güssing stattgefunden. Firmen aus der ganzen Welt hatten ihre neuesten Entwicklungen vorgestellt. Auch die Firma Solartec aus München, deren Besitzer Übi Bäumler war, hatte am ICSE teilgenommen. Seine Frau Linda Bäumler und der Marketingleiter Thorsten Albrich waren aus München angereist. Da die Kapazität der Hotels in Güssing beschränkt war, wohnten viele der Kongressteilnehmer in der Therme Stegersbach oder in Bad Tatzmannsdorf.
Die automatischen Türen öffneten sich und aus der dunklen Sommernacht kommend betrat Linda Bäumler in einem langen, weinroten Kleid die Eingangshalle. Sie hatte es nicht eilig. Ihr Begleiter, Thorsten Albrich, fehlte. Hans-Peter Mosel fand sie sehr anziehend. Weder dem reichen Übi Bäumler noch dem blonden Marketingleiter Albrich gönnte er diese Frau.
Sie ging nicht auf ihr Zimmer, das zwischen dem von Albrich und Mosel lag, sondern setzte sich gegenüber von Mosel an die Bar, schüttelte ihre Haarpracht zurecht und bestellte sich einen Champagner. Am Glas nippend blickte sie dem Detektiv lange in die Augen. Mosel war angenehm überrascht. Wenn sie mit ihm flirten wollte, hatte er nichts dagegen.
»Sind Sie auf Kur hier?«, fragte sie.
»Ein kleiner Urlaub«, antwortete er und nahm einen Schluck Bier.
»Allein?«
»Leider.«
»Ich habe Sie heute vermisst«, fuhr sie fort. »Sonst habe ich Sie fast jeden Tag gesehen. Ich dachte schon, Sie wären abgereist.«
»Nein, ich bleibe noch ein paar Tage.«
Mosel war verunsichert. Hatte sie bemerkt, dass sie von ihm beobachtet wurde, oder sollte er sich geschmeichelt fühlen, weil er ihr aufgefallen war?
»Gefällt es Ihnen hier?«, fuhr er das Thema wechselnd fort.
»Sehr gut sogar. Ich bin hier geboren und aufgewachsen.« Sie trank und bückte sich, um etwas an ihren Schuhen zu richten. Dabei gewährte sie ihm einen Blick auf ihre beachtliche Oberweite.
»Ihr Mann hat heute frei?«, scherzte Mosel neugierig.
»Sie meinen Herrn Albrich? Er ist Marketingleiter unserer Firma, wir sind hier beim ICSE in Güssing. Mein Mann musste geschäftlich noch in München bleiben. Er wird erst in ein paar Tagen zu uns stoßen.«
»Ist der Kongress interessant?«
»So wie jeder andere. Meistens fahre ich nicht mit. Aber die Gelegenheit, die Heimat zu besuchen, wollte ich mir nicht entgehen lassen.«
»Ehemalige Freunde, Verwandte und Bekannte wieder zu sehen, ist schön«, setzte Mosel fort.
»Genau so ist es.«
Mosel wusste nicht, was er weiterreden sollte. Und auch Linda Bäumler schwieg und genoss ihren Champagner.
»Dann wünsche ich noch einen erfolgreichen Kongress.«
Mosel trank aus, zahlte und ging auf sein Zimmer. Tatsächlich hatte Linda Bäumler weder Verwandte noch Freunde im Südburgenland besucht. Da war sich Mosel ganz sicher.
Thorsten Albrich beleuchtete mit seiner Taschenlampe die Gedenktafel, die sich unter dem Kreuz befand und las folgende Inschrift:
›Zur Erinnerung an Eduard Pomper, der hier am 14.4.1941 auf dem Heimweg überfallen und erschlagen wurde. Er erlag am 15.4.1941 seinen schweren Verletzungen‹
Er stand am richtigen Platz. Hier war der ›Tote Mann‹. Nicht weit von der Stelle, wo die Straßen von Neuberg nach Oberdorf und von Neuhaus nach Olbendorf einander kreuzten, fast an der höchsten Stelle des Geländes lag dieses Denkmal am Rande einer Wiese zwischen Büschen versteckt. Beinahe hätte er es in der Dunkelheit nicht gefunden. Sein Auto hatte er ein Stück entfernt neben der Straße nach Neuberg in einer Waldeinfahrt abgestellt. Er blickte auf seine Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Hier gab es keinen Verkehr mehr.
Vladimir Balic war noch nicht eingetroffen. Albrich hatte ihn auf einer Ausstellung für Solarenergie in Moskau kennengelernt. Balic arbeitete für die russische Firma Solaric. Sie hatten zwei nette Abende in Moskau verbracht. Das Angebot, das ihm Balic vor einigen Wochen gemacht hatte, war überraschend gekommen. Eine Million Euro bot er für die Unterlagen über die neue Solarzellengeneration, die bei Solartec gerade entwickelt worden war. Der Wirkungsgrad dieser Solarzellen war um drei Prozent höher als bei denen der Konkurrenz. Am letzten Tag der ICSE wollte man die ersten Prototypen der Öffentlichkeit vorstellen. Albrich spazierte ein Stück auf die nächtliche Wiese hinaus und betrachtete den Sternenhimmel. Im Freien hatte es nun doch abgekühlt und er fror ein wenig. Aber nach der Hitze des Tages empfand er die Gänsehaut auf seinem Rücken als angenehm.
Am Waldrand beobachtete er die dunklen Konturen mehrerer Rehe. Über den Bergen der Steiermark war das Wetterleuchten aufkommender Gewitter zu sehen. Wenn der Verkauf des Produktionsverfahrens erfolgreich verlief, dann wollte er Linda heiraten. Dann konnte auch er ihr den Luxus bieten, den sie bei Übi Bäumler genoss. Er wollte nicht länger nur der Geliebte neben ihrem Gatten sein.
Langsam ging er zum Denkmal zurück und blieb davor stehen. Warum war Vladimir noch nicht gekommen? Erschrocken trat er einen Schritt zurück, als er bemerkte, dass eine dunkle Gestalt auf der halb zerstörten Bank neben dem Denkmal saß. Er hatte sie gar nicht bemerkt.
»Entschuldige die Verspätung, Thorsten.«
Erleichtert vernahm Albrich die Stimme von Vladimir Balic. Er trat näher und sie reichten einander die Hände.
»Wie geht es dir?«
»Danke. Und dir?«
»Alles im Rahmen. Es wird ernst. Das Geld ist bereits unterwegs. Wann kann die Übergabe stattfinden?«
»Mein Chef kommt am Mittwoch mit den Unterlagen nach Stegersbach. Er will über eine Kooperation mit der amerikanischen Firma Sunfuture verhandeln. Ich werde versuchen, die Unterlagen zu kopieren.«
Balic sprang erregt auf. »Versuchen? Wir sind nicht im Kindergarten. Ich lasse doch nicht eine Million Euro von Russland kommen und dann gibt es keine Unterlagen.«
»Es wird mir schon gelingen. Ich rufe dich an, sobald ich die Unterlagen habe.«
»Anrufen! Sei mir nicht böse, Thorsten, aber anrufen? Das kann auch nur so einem Amateur wie dir einfallen.«
»Gut, dann treffen wir einander wieder hier. Heute ist Samstag. Am Freitag am Abend ist mein Chef bei der Abschlussveranstaltung, bis dahin werde ich alles beisammen haben.«
»Aber nicht hier. Wir treffen einander um 20 Uhr an einem im Wald gelegenen Übergang über den Güttenbach. Hier die genauen Koordinaten für dein GPS.«
Balic drückte ihm einen Zettel in die Hand.
»Und wenn sich doch etwas ändert?«
Balic zögerte einen Augenblick.
»Gut, ich werde am Freitag um 15 Uhr im WC des Einkaufszentrums Oberwart sein. Wenn du nicht dort bist, weiß ich, dass alles in Ordnung geht.«
»Dann bis Freitag.«
Balic verschwand in der Dunkelheit. Albrich blieb zurück. Das Gefühl, dass er diesem Handel nicht gewachsen war, bemächtigte sich seiner. Fast wollte er Balic nachlaufen und alles absagen. Doch der Lärm des abfahrenden Wagens ließ ihm keine Wahl.
»Reiß dich zusammen!«, ermahnte er sich. »Denk an Linda!«
Nachdenklich ging er zu seinem Auto. Kaum war er abgefahren, trat aus dem Gebüsch hinter dem Denkmal eine Gestalt hervor, überquerte die Straße, schob aus dem Wald ein Motorrad heraus und fuhr Richtung Neuhaus in die Dunkelheit hinein.
Mosel lag in seinem Hotelzimmer im Dunklen auf seinem Bett und wartete auf die Rückkehr von Albrich. Fenster und Tür zum kleinen Balkon waren weit geöffnet. Er beobachtete das Aufleuchten der Blitze des herannahenden Gewitters. Mitternacht war weit vorbei. Erstes dumpfes Grollen noch entfernter Blitze war zu vernehmen. Er dachte darüber nach, warum es ihm nie gelungen war, eine Frau wie Linda Bäumler zur Freundin zu haben. Plötzlich hörte er von draußen Stimmen. Er stand auf und ging zur Balkontür. Es waren Linda Bäumler und Thorsten Albrich. Vorsichtig schlich sich Mosel hinaus. Der Nachbarbalkon war leer, die Tür zum Zimmer von Linda aber offen. Er konnte genau hören, was gesprochen wurde.
»Sobald Übi kommt, werden wir die Unterlagen über die neuen Solarzellen kopieren. Freitag am Abend werde ich zur Übergabe fahren.«
»Wohin?«
»Zu einer Stelle im Wald nördlich des Ortes Güttenbach, wo eine Forststraße den Güttenbach quert.«
»Ich werde auch dabei sein.«
»Es ist viel zu auffällig. Du kannst nicht mitkommen.«
»Ich möchte aber dabei sein.«
»Balic will das nicht und ich verlasse mich voll auf ihn. Er ist ein echter Profi. Er hat früher für den russischen Geheimdienst gearbeitet.«
»Eben deshalb möchte ich dich begleiten. Ich habe Angst, dass er uns hintergeht.«
»Was soll passieren?«
»Vielleicht nimmt er dir die Unterlagen ab und gibt dir das Geld nicht – oder das Geld ist gefälscht.«
»Du traust mir gar nichts zu.«
»Ich will dabei sein.«
»Es geht aber nicht.«
»Doch.«
»Traust du mir etwa nicht?«, erwiderte Thorsten verärgert.
»Möglich ist alles.«
»Du spinnst wohl!«, schrie er laut.
»Hör auf zu schreien und mach die Tür zu, sonst weiß bald das ganze Südburgenland, dass du an Solaric verkaufen willst.«
Die Tür wurde geschlossen und Mosel konnte nichts mehr vernehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er morgen von Übi Bäumler einen neuen Auftrag bekommen würde, war ziemlich hoch. Die beiden wollten also Firmengeheimnisse verkaufen. Er musste sich eingestehen, das hätte er ihnen niemals zugetraut.
Nach dem ersten Donner setzte das Prasseln des Regens ein.
Es war eine Idee von Jane gewesen, Inspektor Timischl und Jörg Drubovic am Sonntagnachmittag zur Jause einzuladen. Die Wolken der nächtlichen Gewitter hatten sich verzogen und die Sonne schien wieder. Man saß bei Kaffee und Mehlspeise in der Laube im Garten.
»Hinter diesen Holzstößen sind wir damals gesessen, als du hier eingebrochen hast.«
Jörg Drubovic zeigte zum Waldrand hinunter. Drubovic war wohlbeleibt und der üppige Schnurrbart stand im Gegensatz zu seiner fast vollständigen Glatze. Zwischen seinen dunklen, matten, traurigen Augen beherrschte eine lange Nase sein Gesicht.
Inspektor Timischl lachte und trank genüsslich seinen Kaffee aus. Er war ein sehr großer, hagerer Mann mit extrem schmalen Lippen.
»Ich hoffe, ich muss nie wieder für meinen Schwager in ein Haus eindringen. Diese Mordfälle an Ausländern haben uns nur Probleme bereitet.«
»Nicht nur«, meinte Jane und deutete auf Geigensauer und sich.
»Trotzdem möchte ich meine Heirat nicht als Verdienst dieser Verbrechen verbuchen«, ergänzte Geigensauer.
»Interessant ist auf jeden Fall, dass wir noch immer über den Mörder sprechen«, sagte Drubovic belehrend.
»Er hat seine Rolle eben perfekt gespielt«, meinte Inspektor Timischl entschuldigend.
»Ich bin schon gespannt, wie die Laiendarsteller auf der Burg Güssing spielen werden. Wir schauen uns heute den ›Brandner Kaspar‹ an«, kehrte Jane in die Gegenwart zurück.
»Gestern waren wir in Eberau bei den Nestroyspielen. Ich war ganz begeistert.«
»Eigentlich sollte ich mir auch einmal eine Vorstellung ansehen. Es ist eine Schande, aber ich war noch nie bei den Burgspielen«, meinte Drubovic nachdenklich.
»Geh mit! Eine Karte wird es sicher noch geben.« Geigensauer bot ihm von den Schnitten an.
»Die südburgenländische Mehlspeise ist doch die beste. Ich darf doch?« Jörg Drubovic nahm sich zwei weitere Stücke auf seinen Teller. »Selbst gebacken?«, wandte er sich Jane zu.
»Nein, Anton hat sie aus Badersdorf gebracht.«
»Von der Aloisia?«
»Genau, für meinen Vorgesetzten ist mir kein Weg zu weit.«
»Früher mussten die Frauen der zukünftigen Schwiegermutter vor der Hochzeit zeigen, dass sie einen ausgezogenen Strudel backen konnten.« Man sah es Inspektor Timischl an, dass er dieser Tradition nachtrauerte.
»In den USA müssen die Männer dem zukünftigen Schwiegervater zeigen, dass sie Hemden bügeln können«, scherzte Jane.
»Gehst du auch mit auf die Burg?«, fragte Drubovic Inspektor Timischl.
»Nein, ich kann nicht. Am Abend bin ich schon wieder beim ICSE eingesetzt.«
»ICSE?«
»Internationaler Congress für Solarenergie, passt doch perfekt ins Ökoenergieland. Experten von Kalifornien bis Neuseeland treffen hier in Güssing zusammen und Firmen aus der ganzen Welt zeigen ihre Neuheiten. Bis Freitag am Abend geht das Spektakel noch, dann kehrt hier wieder Friede ein.«
Das Handy von Inspektor Timischl läutete. Er stand auf und ging ein paar Schritte zur Seite.
»Sicher ein Mord«, scherzte Drubovic und genehmigte sich ein weiteres Stück Mehlspeise.
»Wir könnten gemeinsam nach Güssing fahren«, schlug Geigensauer vor.
Drubovic nickte.
»Wir holen dich um 19 Uhr von deiner Tante ab. Dann sind wir sicher rechtzeitig bei der Abendkassa.«
Timischl kehrte zurück.
»Wo liegt die Leiche?«, wollte Drubovic wissen.
»Am Güttenbach«, lachte Timischl. »Die Frau eines brasilianischen Professors vermisst ihre Perlenkette. Gute Unterhaltung beim ›Brandner Kaspar‹.«
Inspektor Timischl verabschiedete sich.
Sie fuhren auf der B50 an Deutsch Tschantschendorf vorbei. Die Burg Güssing hob sich glasklar gegen den wolkenlosen, hellblauen Abendhimmel ab. Der Nordwestwind hatte alle Wolken vertrieben. Die braunen Fluten des Strembaches flossen bedrohlich durch Güssing. Die nächtlichen Gewitter hatten viel Niederschlag gebracht. Gleich neben dem Kloster der Franziskaner fand Geigensauer einen Parkplatz. Über einen kleinen Fußweg vorbei an alten Häusern und dann über Stiegen ging es hinauf zur Zufahrt auf die Burg. Zwei Damen, bepackt mit Decken und Jacken, gingen ebenfalls bergan. Die Nacht würde sicher kalt werden.
Sie traten durch das untere Burgtor. Zur linken Hand ging es fast senkrecht zur Burg hinauf. In der ersten steilen Linkskurve musste Drubovic zum Verschnaufen stehen bleiben.
»War wohl eine Schnitte zu viel heute Nachmittag«, entschuldigte er sich.
Wenige Schritte später eröffnete sich ein weiter Blick auf das Stremtal und die großen Wälder östlich davon. Im Norden bildeten der Wechsel, das Bernsteiner Hügelland und der Geschriebenstein den Horizont. Noch steiler ging es dann durch eine dunkle Durchfahrt in den Burghof hinauf. Zur rechten Hand war die Tribüne für die Zuschauer aufgebaut, geradeaus beherrschte ein hoher Turm den Platz.
Sie waren nicht zu früh gekommen. Drubovic bekam eine der letzten Karten. Es war noch etwas Zeit bis zur Vorstellung und sie beschlossen auf ein Getränk ins Burgrestaurant zu gehen. Seine Terrasse versprach einen schönen Blick auf den Bezirk Güssing.
Sie nahmen am letzten freien Tisch Platz. Am Nachbartisch saß ein Mann mittleren Alters in einem altmodischen Anzug. Das zweite Glas Wein am Tisch zeigte eindeutig, dass er nicht allein hier war. Während sie auf die Bedienung warteten, ging Geigensauer an die Begrenzungsmauer der Terrasse und blickte auf die großen Fischteiche hinunter, in denen sich die Abendsonne golden spiegelte.
Nicht eine Frau in Abendkleidung, sondern ein Mann nahm bei ihrem Tischnachbarn Platz. Er mochte gegen fünfzig Jahre alt sein. Er war nicht groß, aber sehr kräftig gebaut, hatte einen leichten Fettansatz am Bauch und eine ziemliche Glatze. Aber das, was Geigensauer wirklich auffiel, war der herausfordernde Blick, mit dem er immer wieder auf Drubovic starrte. Die beiden redeten in einer Sprache, die Geigensauer nicht kannte. Er hätte schwören mögen, sie sprachen über Drubovic. Doch dieser schien das alles nicht zu bemerken. Kaum hatte er ausgetrunken, bezahlte Drubovic, stand auf und sie verließen mit ihm das Restaurant, obwohl die Vorstellung noch lange nicht begann. Sie spazierten zur Ostseite der Burg hinüber, wo der Aufzug endete, der von Güssing heraufführte.
»Ich bin euch noch eine Erklärung schuldig«, begann Drubovic, »aber der Kerl mit dem unverschämten Blick am Nachbartisch war früher einmal ein Agent des russischen Geheimdienstes. Wir haben gegen ihn ermittelt. Er soll einen seiner Kollegen bei Hainburg in der Donau ertränkt haben. Wir konnten ihm nichts nachweisen. Ich frage mich nur, was der in Güssing auf der Burg macht.«
»Ein widerlicher Kerl. Ich bin froh, dass ich ihn nicht mehr anschauen muss.« Jane schüttelte sich wie ein nasser Hund.
»Russisch haben die beiden nicht gesprochen«, warf Geigensauer ein.
»Es war irgendein asiatischer Dialekt«, glaubte Drubovic zu wissen.
Der Aufzug war angekommen und einige Leute stiegen aus. Ein Mann mit Sommersprossen und rötlichen Haaren kam direkt auf Drubovic zu, grüßte mit Kopfnicken und ging dann schweigend an ihnen vorbei.
»Dass ich nicht lache, ein Kongress für Solarenergie? Es ist ein Treffen ehemaliger Agenten. Der hat einmal für die Engländer gearbeitet. Mir gefällt das nicht.«
Nachdenklich schüttelte Drubovic seinen Kopf.
»Wie viele Jahre ist das her?«, wollte Jane wissen.
»Rund zwanzig Jahre.«
»Das liegt aber weit zurück. Vielleicht sind sie zufällig hier.«
»Bei ehemaligen Agenten gibt es keine Zufälle, schon gar nicht, wenn sie auf der Burg Güssing herumlaufen.«
»Du bist auch nur hier, um eine Komödie zu sehen«, versuchte Jane zu beruhigen, »und du bist auch so eine Art Agent.«
»Aber nur so eine Art.«
»Sollen wir sie beobachten?« Im Gegensatz zu seinem Chef Drubovic fand Geigensauer die Sache nicht beunruhigend, sondern interessant.
»Nein, vergessen wir die Sache einfach. Vielleicht können wir schon auf der Tribüne Platz nehmen«, beendete Drubovic die Angelegenheit.
Einlass war noch nicht, aber bei den Buden vor dem Eingang konnten sie mit einem guten, selbst gebrannten Schnaps auf eine glückliche Zukunft und Gesundheit anstoßen.
Drubovic saß dann links in der letzten Reihe. Geigensauer und Jane hatten rechts ihre Plätze. Während Jane das Programm studierte, sah Geigensauer, dass Drubovic sehr konzentriert auf sein Handy blickte. Geigensauer wiederum beobachtete die eintretenden Zuschauer sehr genau. Weder der ehemalige russische noch der ehemalige englische Agent waren Gäste der Vorstellung.
Nur wenige Minuten konnten Sonnenuntergang und einsetzende Dämmerung mit der Aufführung mithalten. Dann war das Publikum vollständig in den Bann der Komödie gezogen.
In der Pause kam Drubovic zu ihnen.
»Der Tod tut mir richtig leid«, meinte er.
»Ein armer Kerl«, bestätigte Jane.
»Der Tod, der mit den Hohlaugen«, zitierte Geigensauer aus dem Stück, »sollte lieber einmal die Agenten besuchen. Im Publikum habe ich sie nicht bemerkt.«
»Habe ich auch nicht erwartet. Theater ist nicht gerade die Leidenschaft von Vladimir Balic. So nennt sich der Kerl jetzt. Er arbeitet für die russische Firma Solaric. Über das Internet hatte ich gleich Zugriff auf unsere Daten über ihn.«
»Und der andere?«, fragte Geigensauer.
»Er arbeitet für die amerikanische Firma Sunfuture. Nennt sich jetzt Henry Smith. Sehr einfallsreich, nicht?«
»Vielleicht sind sie wirklich nur Mitarbeiter dieser Firmen. Man kann den Beruf wechseln«, warf Jane ein.
»Vladimir Balic hat an Solarenergie genau so viel Interesse, wie ich am Liebesleben der Ameisen. Wollen wir einmal hoffen, dass sie im Sicherheitsbereich der Firmen arbeiten und mit Ende des ICSE wieder abreisen.«
Als das Stück nach der Pause fortgesetzt wurde, war es ganz finster geworden. Die Lichter der Ortschaften, die das Stremtal aufwärts lagen, waren deutlich in der Dunkelheit zu erkennen. Weder nach der Vorstellung im Burghof, noch auf dem Weg hinunter nach Güssing sahen sie Balic oder Smith wieder. Während der gesamten Heimfahrt plauderten sie über die gelungene Aufführung. Kurz vor Mitternacht hatten sie wieder Güttenbach erreicht.