Vierzehn Tage nach dieser Unterhaltung, die selbst die Revolution mich nicht vergessen ließ, dachte ich in meiner Einsamkeit über den bescheidenen Heroismus und die Uneigennützigkeit nach, die beide so selten sind.
Ich versuchte das eben vergossene reine Blut zu vergessen und las in der amerikanischen Geschichte wieder nach, wie die überall siegreiche anglo-amerikanische Armee im Jahre Siebzehnhundertdreiundachtzig nach Niederlegung der Waffen und Befreiung des Vaterlandes drauf und dran war sich wider den Kongreß zu empören, der, da er zu arm war, um ihr den Sold zahlen zu können, sie verabschieden wollte. Als Generalissimus und Sieger brauchte Washington nur ein Wort zu sagen oder ein Zeichen mit dem Kopfe zu geben, um Diktator zu werden; er tat, was er allein auszuführen vermochte: er verabschiedete das Heer und reichte seine Entlassung ein.
Ich hatte das Buch hingelegt und verglich diese heitere Größe mit unserer unruhigen Ehrsucht. Ich war traurig und erinnerte mich an alle reinen Kriegerseelen ohne falschen Glanz und ohne Marktschreierei, die Macht und Befehl nur des öffentlichen Wohles wegen geliebt, ohne Stolz bewahrt und sie weder gegen das Vaterland angewandt, noch in Gold verwandelt haben. Ich dachte an alle Männer, die im Bewußtsein seines wahren Wertes Krieg führten, ich dachte an den guten Collingwood, der Verzicht geleistet hatte, und schließlich an den unbekannten Hauptmann Renaud, als ich einen Mann von hohem Wuchs, welcher in einen langen blauen, sehr schäbigen Mantel gekleidet war, bei mir eintreten sah. An seinem weißen Schnauzbarte, den Narben auf seinem kupferbraunen Gesichte erkannte ich in ihm einen von den Grenadieren seiner Kompagnie. Ich fragte ihn, ob Renaud noch am Leben sei, und des braven Mannes Erregung ließ mich erkennen, daß ein Unglück geschehen war. Er setzte sich, wischte sich die Stirne ab und erzählte mir, als er sich nach einiger Mühe und etwelcher Zeit wieder erholt hatte, was vorgegangen war.
Während der beiden Tage des achtundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Juli hatte Hauptmann Renaud nichts anderes getan, als an der Spitze seiner als Kolonne formierten Grenadiere die Straßen auf und ab zu marschieren. Er stellte sich vor den ersten Halbzug seiner Kolonne und zog friedlich inmitten eines Steinhagels und unter Flintenschüssen, die aus den Kaffeehäusern, von Balkons und aus den Fenstern abgegeben wurden, einher. Halt machte er nur, um die durch die Gefallenen gelichteten Reihen zusammenzuziehen, und um nachzusehn, ob die Flügelmänner seines linken Flügels richtigen Abstand beibehielten. Er hatte seinen Säbel nicht gezogen und marschierte mit seinem Spazierstöckchen in der Hand. Befehle waren ihm anfangs pünktlich zugekommen, doch, sei es, daß die Adjutanten auf dem Wege getötet wurden, sei es, daß der Stab sie nicht abgeschickt hatte, er ward in der Nacht vom Achtundzwanzigsten zum Neunundzwanzigsten auf dem Bastilleplatze ohne eine Instruktion gelassen; er hatte nur Weisung sich nach Saint-Cloud zurückzuziehn und die Barrikaden auf seinem Wege zu zerstören. Das tat er, ohne einen Flintenschuß abzugeben.
Als er bei der Jenabrücke angelangt war, machte er Halt, um Appell über seine Kompagnie abzuhalten. Es fehlte ihm weniger Mannschaft als allen ausgeschickten Gardekompagnien; auch waren seine Leute weniger ermüdet. Er war so klug gewesen, sie an diesen glühendheißen Tagen sich rechtzeitig und im Schatten ausruhen zu lassen, und hatte in den verödeten Kasernen die Nahrung welche ihnen die feindlichen Häuser verweigerten, für seine Leute gefunden. Die Haltung seiner Kolonne war dergestalt, daß er jede Barrikade verlassen fand und ihm nur die Mühe des Zerstörens blieb.
Staubbedeckt, seine Füße abputzend, stand er also am Kopf der Jenabrücke, blickte nach dem Eingangstore hin, ob nichts den Abzug seiner Abteilung hindere, und suchte Plänkler zum Vorgehn aus. Niemand befand sich auf dem Marsfelde außer zwei Maurern, die, auf dem Bauche liegend, zu schlafen schienen, und einem etwa vierzehnjährigen kleinen Jungen, der barfüßig einhertrabte und mit zwei Porzellanscherben wie mit Kastagnetten klapperte. Von Zeit zu Zeit kratzte er mit ihnen über die Brustwehr der Brücke und kam so spielend bis an den Prellstein, wo Renaud sich aufhielt. In diesem Augenblicke wies der Hauptmann mit seinem Spazierstöckchen auf die Höhen von Passy hin. Das Kind näherte sich ihm, sah ihn mit großen erstaunten Augen an, zog aus seiner Jacke eine Sattelpistole, nahm sie in beide Hände und richtete sie auf des Hauptmanns Brust.
Der lenkte den Schuß mit seinem Stocke ab, und da das Kind Feuer gegeben hatte, fuhr ihm die Kugel oben in den Schenkel. Ohne ein Wort zu äußern, sank der Hauptmann in sitzende Stellung nieder und betrachtete den seltsamen Feind mitleidig. Er sah den jungen Burschen, der seine Waffe immer noch in beiden Händen hielt und ganz erschrocken über das, was er angestellt hatte, dastand. Die Grenadiere stützten sich in diesem Augenblicke traurig auf ihre Gewehre; sie hielten es unter ihrer Würde gegen den kleinen Schlingel vorzugehen. Die Einen richteten ihren Hauptmann auf, die anderen ließen es dabei bewenden das Kind am Arme festzuhalten und zu dem hinzuführen, den es verwundet hatte. Es brach in Tränen aus und ward, als er des Offiziers Blut in Strömen über die weiße Hose rinnen sah, entsetzt über sein ruchloses Tun, ohnmächtig. Gleichzeitig trug man Mann und Kind in ein nahes kleines Haus in Passy, wo sich noch beide befanden.
Unter der Führung des Leutnants hatte die Kolonne ihren Weg nach Saint-Cloud fortgesetzt und vier Grenadiere waren, nachdem sie ihre Uniform ausgezogen, in dem gastlichen Hause geblieben, um ihren alten Befehlshaber zu pflegen. Der eine (der, welcher mit mir sprach) hatte Schwertfegerarbeit in Paris angenommen, andere gaben Fechtunterricht, brachten ihrem Hauptmann ihren Tagesverdienst und hatten dafür gesorgt, daß ihm bis zu diesem Tage nichts ermangelte. Das Bein ist ihm abgenommen worden; doch er hatte heftiges und übles Fieber, und da er fürchtete, daß es schlimmer würde, ließ er mich rufen.
Es galt keine Zeit zu verlieren. Sofort machte ich mich auf den Weg mit dem würdigen Soldaten, der mir mit feuchten Augen und bebender Stimme all diese Einzelheiten, aber ohne Murren, ohne Verwünschungen, ohne Anklagen berichtet hatte.
Immer nur wiederholte er: »Es ist ein großes Unglück für uns.«
Der Verwundete war zu einer kleinen Handelsfrau gebracht worden, die Witwe war und in einem Lädchen in einer abgelegenen Dorfstraße allein mit Kindern in zartem Alter lebte. Nicht einen Augenblick hatte sie Angst vor Unannehmlichkeiten gehabt, und kein Mensch war auf den Gedanken gekommen sie irgendwie zu beunruhigen. Im Gegenteil, die Nachbarn hatten sich eifrig bemüht, sie in der Pflege, die sie dem Kranken angedeihen ließ, zu unterstützen. Da die herbeigerufenen Sanitätsbeamten ihn nach der Operation für nicht transportfähig erklärt, hatte sie ihn dabehalten und häufig die Nacht an seinem Lager zugebracht.
Als ich eintrat kam sie mir mit dankbarer und ängstlicher Miene, die mir wehe tat, entgegen. Ich fühlte, wieviele Verlegenheiten sie aus natürlicher Güte und Wohltätigkeitssinn verheimlicht hatte. Sie war sehr blaß und ihre Augen sahen rot und müde aus. Sie ging und kam aus einem sehr engen Hinterladen, den ich von der Tür aus bemerkte, und ich sah an ihrer Hast, daß sie das kleine Zimmer des Verwundeten aufräumte und einen gewissen Stolz darein setzte, daß ein Fremder es schicklich finden möchte.
So richtete ich es denn auch ein nicht zu schnell zu gehn, und ließ ihr all die Zeit, deren sie bedurfte. … »Sehen Sie, mein Herr, er hat viel aushalten müssen,« sagte sie, als sie mir die Türe öffnete.
Hauptmann Renaud saß in einem kleinen Bette mit Sergevorhängen, das in der Zimmerecke stand, und mehrere Kopfpfühle stützten seinen Körper. Er war skelettartig abgemagert und seine Backenknochen waren glühend rot. Seine Stirnwunde sah schwarz aus. Ich fühlte, daß er nicht mehr lange leben würde, und sein Lächeln sagte das Gleiche. Er streckte mir die Hand entgegen und winkte mir, Platz zu nehmen. Zu seiner Rechten saß ein junger Bursche, der ein Glas Gummiwasser hielt und es mit dem Löffel umrührte. Er stand auf und brachte mir seinen Stuhl. Renaud faßte ihn von seinem Lager aus beim Ohrläppchen und sagte sanft mit geschwächter Stimme:
»Hier, mein Lieber, stelle ich Ihnen meinen Besieger vor!«
Ich zuckte die Achseln und der arme Junge schlug errötend die Augen nieder … ich sah eine dicke Träne über seine Backe rollen.
»Nicht doch, nicht doch,« sagte der Hauptmann, ihm mit der Hand durch die Haare fahrend. »Es ist nicht seine Schuld. Armer Junge! Zwei Männern ist er begegnet, die haben ihn Branntwein trinken lassen; sie haben ihn bezahlt und abgeschickt; er sollte einen Pistolenschuß auf mich abgeben. Das hat er getan, wie er ein Steinkügelchen in die Prellsteinecke geworfen hätte. … Nicht wahr, Jean?«
Und Jean hub zu zittern an und bekam den Ausdruck eines so herzzerreißenden Schmerzes, daß er mich rührte. Ich sah ihn mir näher an; er war ein sehr schöner Junge.
»Es war ja auch ein Steinkügelchen,« sagte die junge Krämersfrau zu mir. »Sehen Sie doch, mein Herr.« – Und sie zeigte mir eine kleine Achatkugel, so dick wie die stärksten Bleikugeln, und mit der hatte man eine Pistole von gleicher Stärke geladen.
»Mehr war nicht nötig, um ein Hauptmannsbein abzusäbeln,« sagte Renaud.
»Sie dürfen ihn nicht soviel reden lassen,« erklärte mir schüchtern die Krämerin.
Renaud hörte sie nicht.
»Ja, mein Lieber, von meinem Beine bleibt mir nicht soviel übrig, daß man ein Holzbein dran befestigen könnte.«
Stumm drückte ich ihm die Hand. Es stimmte mich wehmütig, daß es, um einen Mann zu töten, der soviel gesehn und soviel erduldet hatte, dessen Brust von zwanzig Feldzügen und zehn Wunden gestählt, in Eis und Feuer erprobt, durch Bajonette und Lanzen hindurchgegangen war, nur des Sprunges eines jener Pariser Gossenfrösche bedurfte, die man Straßenbengel nennt.
Renaud verstand meine Gedanken. Er lehnte seine Wange auf das Pfühl und drückte mir die Hand:
»Wir waren im Kriege,« sagte er zu mir, »er ist nicht mehr Mörder, als ich es in Reims war. Als ich das Russenkind tötete, war ich da etwa auch ein Mörder? … Im großen spanischen Kriege erstachen die Menschen unsere Wachen und hielten sich nicht für Mörder; da der Krieg herrschte, waren sie vielleicht keine. Ermordeten sich Katholiken und Hugenotten oder nicht ? … Aus wie vielen Mordtaten setzt sich eine Schlacht zusammen? … Das ist einer von den Punkten, wo unser Verstand stillsteht und nichts zu sagen weiß. … Der Krieg hat unrecht und nicht wir. Ich versichere Sie, das kleine Bürschchen ist sehr sanft und artig, liest und schreibt schon recht schön. Er ist ein Findelkind. … War Tischlerlehrling. … Seit vierzehn Tagen hat er mein Zimmer nicht verlassen; er liebt mich sehr, der arme Junge. Er zeigt rechnerische Begabung; man kann etwas aus ihm machen. …«
Da er mühsamer sprach und sich meinem Ohre näherte, neigte ich mich zu ihm und er gab mir ein kleines zusammengefaltetes Papier, das er mich durchzulesen bat. Ich erblickte ein kurzes Testament, in dem er etwas wie eine elende Meierei, die er besaß, der armen Krämerin, die ihn aufgenommen hatte, hinterließ; nach ihr sollte sie Jean, den sie erziehen sollte, unter der Bedingung haben, daß er niemals Soldat würde. Er warf eine Summe für seinen Ersatzmann aus, und gab das kleine Stückchen Erde seinen vier alten Grenadieren als Asyl. Mit alledem beauftragte er einen Advokaten aus seiner Heimat. Als ich das Papier in den Händen hatte, schien er ruhiger zu sein und wollte einschlafen. Dann fuhr er zusammen, riß die Augen auf und bat mich sein Spazierstöckchen zu nehmen und aufzubewahren. …
Danach schlummerte er wieder ein.
Sein alter Soldat schüttelte den Kopf und faßte ihn bei der Hand. Ich nahm die andere, die sich eiskalt anfühlte. Er sagte, er habe kalte Beine, und Jean beugte sich und legte seine kleine Kinderbrust auf das Bett, um ihn zu erwärmen.
Dann begann Hauptmann Renaud seine Bettücher mit den Händen abzutasten und sagte, er fühle sie nicht mehr, was ein schlimmes Zeichen ist. Seine Stimme klang hohl. Mühsam führte er eine Hand an die Schläfe, schaute Jean aufmerksam an und sagte noch:
»Es ist merkwürdig... Das Kind sieht dem Russenkinde ähnlich!«
Dann schloß er die Augen, drückte mir mit wiederkehrender Geistesgegenwart die Hand und sagte:
»Sehen Sie, jetzt kommt es ins Gehirn, das ist das Ende.«
Sein Blick war anders und ruhiger. Wir begriffen den Kampf eines starken Geistes, der sich wider den Schmerz wehrte, welcher ihn verwirrte, und dies Schauspiel auf einem elenden Bette war für mich von feierlicher Erhabenheit. Von neuem überkam ihn eine Hitzewelle und er sagte sehr laut:
»Sie waren vierzehnjährig... Alle beide... Wer weiß, ob jene junge Seele nicht in diesen andern jungen Leib zurückgekehrt ist, um sich zu rächen ?« ...
Dann zitterte er, wurde bleich und schaute mich ruhig und gerührt an:
»Sagen Sie mir ... könnten Sie mir nicht den Mund schließen ? ... Ich fürchte zu sprechen ... man wird schwächer... Ich möchte nicht mehr reden... Ich habe Durst...«
Man reichte ihm einige Schlucke zu trinken und er sagte:
»Ich hab' meine Pflicht getan... Der Gedanke tut einem wohl...«
Und er fügte hinzu:
»Wenn es dem Lande nach allem, was geschehen ist, besser geht, haben wir nichts zu sagen; doch Sie sollen sehn ...«
Dann schlummerte er ein und schlief etwa eine halbe Stunde. Nach dieser Zeit kam eine Frau schüchtern an die Tür und machte ein Zeichen, daß der Chirurg da sei.
Ich ging auf den Zehenspitzen hinaus, um mit ihm zu sprechen, und als ich mit ihm in den kleinen Garten getreten und bei einem Brunnen stehen geblieben war, um ihn zu fragen, hörten wir einen lauten Schrei. Wir eilten hin und sahen ein Laken über das Haupt des braven Mannes gebreitet, der nicht mehr war...
Die Nacht vom siebenundzwanzigsten Juli Achtzehnhundertunddreißig war still und feierlich. Die Erinnerung an sie ist mir viel gegenwärtiger als manche grausigere Bilder, die das Schicksal vor meinen Augen sich abspielen ließ, in mein Gedächtnis eingegraben sind.
Die Ruhe von Land und Meer vor dem Sturm wirkt nicht majestätischer als die von Paris vor der Revolution. Die Boulevards waren verödet. Begierig um mich blickend und horchend, wanderte ich sie allein nach Mitternacht ihrer ganzen Länge nach. Der reine Himmel breitete den weißen Schimmer seiner Gestirne über den Erdboden, die Häuser aber waren lichtlos, geschlossen und wie tot. Alle Straßenlaternen waren zertrümmert. Einige Arbeitergruppen ballten sich noch unter Bäumen zusammen und lauschten einem geheimnisvollen Redner, der ihnen mit leiser Stimme zuflüsterte. Dann trennten sie sich laufend und warfen sich in enge und finstere Straßen, preßten sich gegen kleine Flurtüren, die sich wie Falltore auftaten und wieder hinter ihnen schlossen. Dann rührte sich nichts mehr und die Stadt schien nur tote Bewohner und verpestete Häuser zu enthalten.
In bestimmten Abständen begegnete man einer düsteren, untätigen Masse, die man nur bei der Berührung erkannte: es war ein Gardebataillon, das aufrecht, ohne Bewegung, ohne einen Laut von sich zu geben, dastand. Weiter weg eine Artilleriebatterie, von ihren angesteckten Lunten wie von zwei Gestirnen überragt. Ungestraft ging man an diesen achtunggebietenden und düsteren Posten vorbei, schritt um sie herum, machte sich davon und kam zurück, ohne von ihnen eine Frage, eine Beleidigung, ein Wort zu hören. Sie waren harmlos, bar des Zorns, bar des Hasses, schickten sich in die Lage und harrten.
Als ich mich einem der an Kopfzahl stärkeren Bataillone näherte, trat ein Offizier mit äußerster Höflichkeit auf mich zu und fragte mich, ob die Flammen, welche man in der Ferne das Saint-Denistor beleuchten sah, wohl von einem Brande herrührten; er wolle mit seiner Kompagnie vorrücken, um sich dessen zu vergewissern. Ich erklärte ihm, daß sie von einigen großen Bäumen erzeugt würden. Fällen und verbrennen ließen Kaufleute sie, die, sich die Unruhe zu Nutze machend, jene alten Ulmen vernichteten, die ihre Läden den Blicken entzogen. Dann setzte er sich auf eine der Steinbänke des Boulevards und hub an, mit einem Spazierstöckchen Linien und Kreise in den Sand zu zeichnen. Daran erkannte ich ihn, während er mich an meinen Gesichtszügen erkannte. Da ich vor ihm stehen blieb, drückte er mir die Hand und bat mich, an seiner Seite Platz zu nehmen.
Hauptmann Renaud war ein Mann von geradem und strengem Sinne und sehr gebildetem Verstande, wie die Garde zu jenen Zeiten deren viele besaß. Sein Charakter und seine Gewohnheiten waren uns sehr bekannt, und wer die Erinnerungen hier liest, wird genau wissen, welch ernstes Gesicht er sich zu dem ihm von Soldaten gegebenem, von Offizieren übernommenem und von ihm selber mit Gleichmut geduldetem Spitznamen zu denken hat. Wie alte Familien nehmen alte Regimenter, die im Frieden unversehrt erhalten bleiben, zwanglose Sitten an und erfinden charakteristische Namen für ihre Kinder. Eine alte Wunde am rechten Beine begründete des Hauptmanns Gewohnheit, sich immer auf ein Spazierstöckchen zu stützen, dessen Knopf recht auffallend war und die Aufmerksamkeit aller derer auf sich ziehen würde, die ihn zum ersten Male sähen. Stets hatte er ihn bei sich und fast immer trug er ihn in der Hand. Übrigens gab es keine Ziererei bei dieser Gewohnheit, dazu waren seine Manieren zu einfach und zu ernst. Indessen fühlte man, daß er ihn sehr wert hielt. In der Garde wurde er hochgeehrt. War ohne Ehrgeiz und wollte nicht mehr vorstellen, als er war, nämlich Grenadierhauptmann; immer las er, sprach so wenig wie möglich und dann einsilbig. – War sehr groß, sehr bleich und schwermütigen Aussehens und besaß auf der Stirne zwischen den Augenbrauen eine kleine, ziemlich tiefe Narbe, welche bläulich war, häufig aber schwarz wurde und seinem gewöhnlich kühlen und friedlichen Gesichte dann ein wildes Aussehn verlieh.
Bei den Soldaten war er sehr beliebt; und im spanischen Feldzuge vor allem hatte man die Freude bemerkt, mit der die Abteilungen abmarschierten, wenn sie vom »Spazierstöckchen« befehligt wurden. Es war wirklich auch das Spazierstöckchen, das sie befehligte, denn Hauptmann Renaud nahm nie den Degen in die Faust, selbst dann nicht, wenn er an der Spitze der Plänkler sich dem Feinde so weit näherte, daß er mit ihm ins Handgemenge geraten konnte. Er war nicht nur ein kriegserfahrener Mann, sondern besaß auch noch ausgezeichnete Kenntnisse der größten politischen Angelegenheiten Europas unter dem Kaiserreiche, die man sich nicht zu erklären wußte. Bald schrieb man sie eingehenden Studien, bald sehr alten hohen Beziehungen zu, die in Erfahrung zu bringen seine ständige Zurückhaltung vereitelte.
Eben solche Zurückhaltung ist übrigens ein Hauptcharakterzug der Männer von heute, und er übertrieb diese allgemeine Beschaffenheit nur bis zum Äußersten. Ein Anflug kalter Höflichkeit verhüllt jetzt Charakter wie Handlungen. So glaube ich denn nicht, daß viele sich in den verzerrten Bildern, die man von uns liefert, wieder erkennen können. Erkünsteltes Wesen wirkt in Frankreich lächerlicher als anderswo und um deswillen bemüht sich zweifelsohne jeder, die unendliche Kraft, welche die Leidenschaften verleihen, ja nicht auf seinen Gesichtszügen und in seiner Sprache zum Ausdruck zu bringen, sondern heftige Gemütsbewegungen, tiefen Kummer oder unwillkürliche Begeisterung in sich zu verschließen. Ich meine nicht, daß die Zivilisation alles entnervt hat, bin aber überzeugt, daß alles von ihr maskiert wurde. Zugegebenermaßen ist das ein großer Vorzug und ich liebe den zusammengefaßten Charakter unserer Zeit. In solch anscheinender Kälte liegt Scham, und wahre Gefühle bedürfen ihrer. Auch Geringschätzung mischt sich darunter, die gute Münze zur Bezahlung der menschlichen Dinge ist.
Schon viele Freunde haben wir verloren, deren Gedächtnis unter uns lebt; ihr erinnert euch ihrer, meine teuren Waffengefährten! Die einen sind im Kriege, andere auch im Zweikampfe, wieder andere durch Selbstmord umgekommen; alle waren sie Männer von Ehre und festem Charakter, von starken Leidenschaften und doch von einfachem, zurückhaltendem und kaltem Äußeren. Ehrgeiz, Liebe, Spiel, Haß und Eifersucht quälten sie heimlich; doch sie sprachen kaum und umgingen jede allzu direkte Äußerung, welche die blutende Stelle ihres Herzens berühren konnte. Niemals sah man, daß sie in den Salons sich durch tragische Gebärde bemerklich zu machen suchten; und wenn eine junge Frau nach beendigter Romanlektüre sie ganz unterwürfig und wie eingeschult in die üblichen Höflichkeitsbezeugungen und harmlosen, mit leiser Stimme geführten Plaudereien gesehen hätte, würde sie sie verachtet haben. Und doch lebten und starben sie, wie ihr wißt, als so starke Männer, wie die Natur sie jemals hervorgebracht. Obwohl sie Togen trugen, haben die Cato und Brutus das Leben nicht mit größeren Ehren bestanden. Unsere Leidenschaften besitzen genau so große Energien wie zu allen anderen Zeiten, doch nur an den Spuren der Ermüdung kann ein Freundesblick sie erkennen. Äußeres, Reden und Benehmen besitzen ein gewisses Maß kühler Würde, die uns allen gemein ist, und über die nur manche Kindsköpfe, welche sich um jeden Preis größer machen und zur Geltung bringen wollen, sich hinwegsetzen. Heute ist Gemessenheit höchstes Sittengesetz.
Es gibt keinen Beruf, in dem die Kälte der Redeformen und Gewohnheiten in stärkerem Widerspruche mit des Lebens Wirklichkeit steht, als im Waffenhandwerke. Da man Übertreibung haßt, schießt man übers Ziel hinaus und verachtet die Sprache eines Menschen, welcher, was er fühlt, zu übertreiben oder durch seine Leiden zu rühren sucht. Das alles war mir bewußt und ich wollte Hauptmann Renaud schnell verlassen, als er mich beim Arme griff und zurückhielt.
»Haben Sie heute früh das Manöver der Schweizer gesehn?« fragte er mich; »es war sehr seltsam. Mit vollkommener Präzision haben sie »Straßenfeuer im Vorrücken« ausgeführt. Seit ich diene, sah ich es nie zur Anwendung kommen: 's ist ein Paraden- und Opernmanöver; doch kann's in den Straßen einer Großstadt seinen Wert haben, wenn die Halbzüge vom rechten und linken Flügel sich schnell vor der eben feuernden Rotte entfalten.«
Zu gleicher Zeit malte er immer mit der Spitze seines Stockes Linien auf den Erdboden; dann stand er langsam auf, und da er in der Absicht, sich von der Offizier- und Soldatengruppe zu entfernen, den Boulevard entlang schritt, folgte ich ihm, und er redete fortgesetzt mit einer Art nervöser und wie unwillkürlicher Erregtheit mit mir, die mich fesselte und die ich bei ihm, den man einen kalten Menschen zu nennen pflegte, niemals vermutet hätte.
Mich am Rockknopf fassend, begann er mit einer sehr simplen Bitte:
»Nehmen Sie's mir nicht übel,« sagte er zu mir, »wenn ich Sie bitte, mir Ihren Halsschild der königlichen Garde zu schicken, falls Sie ihn aufgehoben haben. Ich habe meinen zu Hause vergessen und kann ihn weder holen lassen noch selber holen, weil man uns wie tolle Hunde in den Straßen totschlägt. Da Sie aber vor drei oder vier Jahren aus dem Heere getreten sind, besitzen Sie ihn vielleicht nicht mehr? Vor vierzehn Tagen hab auch ich meine Entlassung genommen, denn ich bin sehr armeemüde; als ich vorgestern aber die drei Verordnungen sah, sagt' ich mir: Man wird sicher zu den Waffen greifen. Habe aus meiner Uniform, meinen Achselstücken und meiner Bärenmütze ein Bündel gemacht und in der Kaserne die braven Leute da wieder aufgesucht, die man an allen Ecken töten will und die im Grunde ihres Herzens sicherlich gedacht hatten, daß ich sie in einem bösen Augenblicke übel im Stich ließe; das wäre gegen die Ehre, nicht wahr, gänzlich gegen die Ehre gewesen ?«
»Haben Sie schon vor Ihrer Entlassung die Verordnungen vorausgeahnt ?« fragte ich ihn.
»Meiner Treu, nein; ich habe sie jetzt noch nicht einmal gelesen!«
»Nun also, was werfen Sie sich denn da vor ?«
»Nichts als den Anschein; und ich wollte nicht, daß auch nur der Anschein gegen mich spräche.«
»Das ist bewundernswert«, sagte ich. »Bewundernswert! bewundernswert!« entgegnete Hauptmann Renaud, indem er schneller ausschritt, »das ist ein Modewort jetzt, welch ein kindisches Wort! Ich verabscheue die Bewunderung, sie ist die Grundursache allzu vieler üblen Handlungen. Heutzutage zollt man sie allzu wohlfeil jedermann. Vor dem leicht in Bewunderung Geraten sollen wir uns recht hüten ...
Die Bewunderung ist verdorben und verderblich. Gutes muß man um seiner selbst und nicht um des Geredes willen tun. Übrigens hab ich so meine eigenen Gedanken darüber«, schloß er rauh und wollte mich verlassen.
»Es gibt etwas, das ebenso schön ist wie ein großer Mann,« erwiderte ich, »nämlich einen Mann von Ehre.«
Herzlich schüttelte er meine Hand. –
»Das ist eine Meinung, die wir gemeinsam, hegen,« sagte er lebhaft zu mir, »und mein ganzes Leben über hab ich mich nach ihr gerichtet, doch ist sie mich teuer zu stehen gekommen. Es ist nicht so leicht, wie man meint.«
Hier kam der Unterleutnant seiner Kompagnie und bat ihn um eine Zigarre. Er zog mehrere aus seiner Tasche und reichte sie ihm wortlos hin; die Offiziere fingen zu rauchen an, indem sie in einer Schweigsamkeit und Ruhe auf und ab schritten, die kein Gedanke an die augenblicklichen Umstände unterbrach. Nicht einer hielt es für wert von den Gefahren des Tages oder von seiner Pflicht zu sprechen und kannte doch von Grund auf die eine wie die andere.
Hauptmann Renaud kam zu mir zurück.
»Es ist schönes Wetter,« sagte er, mit seinem Spazierstöckchen auf den Himmel deutend, »ich weiß nicht, wann ich aufhören werde allabendlich die nämlichen Sterne anzugaffen; einmal bildete ich mir gar ein, ich würde die der Südsee zu sehn bekommen, doch war's mir vorherbestimmt, die Hemisphären nicht zu vertauschen ... Macht nichts! Das Wetter ist prachtvoll, die Pariser schlafen oder tun so, als ob sie schliefen. Von uns hat seit vierundzwanzig Stunden niemand etwas gegessen oder getrunken, da hat man denn sehr klare Gedanken. Ich erinnere mich, daß Sie mich eines Tages, als es nach Spanien ging, fragten, warum ich keine große Karriere gemacht; damals hatte ich keine Zeit Ihnen das zu erklären, heute abend aber fühl' ich mich versucht auf mein früheres Leben zurückzukommen, da ich es in meinen Gedanken wieder durchging. Sie haben ja Erzählungen gern, wie mir einfällt, und in Ihrem zurückgezogenen Leben werden Sie sich unserer wohl mit Freuden erinnern ... Wenn Sie sich mit mir auf die Boulevardbrüstung hier setzen wollen, können wir in aller Ruhe darüber plaudern, denn dem Anscheine nach hat man für dieses Mal aufgehört aus Fenstern und Kelleröffnungen auf uns zu schießen... Ich will Ihnen nur einige Zeitabschnitte meiner Lebensgeschichte erzählen und dabei nur meiner Laune nachgeben. Ich hab viel gesehen und viel gelesen, glaube aber bestimmt, daß ich's schriftlich nicht niederlegen könnte. Das ist, Gott sei Dank, auch nicht mein Beruf und ich hab's niemals versucht ... Doch weiß ich, meiner Treu, zu leben, und ich habe gelebt, wie ich's mir vorgenommen hatte (seit ich den Mut besaß, mir etwas vorzunehmen) und das will wahrlich etwas heißen ... Setzen wir uns.«
Ich folgte ihm langsam, und wir schritten das Bataillon ab, um auf die Linke seiner schönen Grenadiere zu gelangen. Ernst standen die da, das Kinn auf ihren Gewehrlauf gestützt. Einige junge Leute, welche ihr Tagewerk müder als die anderen gemacht hatte, saßen auf ihren Tornistern. Alle schwiegen und brachten kaltblütig ihre Uniform in Ordnung, damit sie vorschriftsmäßiger aussähe. Nichts wies auf Unruhe oder Unzufriedenheit hin. Sie standen wie am Tage nach einer Heerschau in ihren Gliedern und harrten der Befehle.
Als wir saßen, ergriff unser alter Kamerad das Wort und erzählte mir in seiner Weise aus drei großen Zeitabschnitten, welche das Verständnis seines Lebens erschlossen und mir seine seltsamen Gewohnheiten und das Düstere seines Charakters erklärten. Nichts von dem, was er mir erzählte, verwischte sich in meiner Erinnerung und ich werde es fast wortgetreu wiederholen.
»Ich bin nichts,« sagte er anfangs, »und das zu denken macht heute mein Glück aus; wenn ich aber etwas wäre, könnt' ich wie Ludwig der Vierzehnte sagen: ich habe zu sehr den Krieg geliebt ... Da half nichts. Bonaparte hatte mich wie alle anderen von Kindheit an in jenen Rauschzustand versetzt und sein Ruhm stieg mir so hitzig zu Kopfe, daß in meinem Hirne kein anderer Gedanke mehr Platz hatte. Mein Vater, ein alter hoher Offizier, der stets im Felde stand, war mir, als es ihm eines Tages in den Kopf kam, mich mit sich nach Ägypten zu nehmen, noch gänzlich unbekannt. Zwölf Jahre war ich alt und ich erinnere mich aus jener Zeit noch, wie wenn es heute wäre, der Gefühle der ganzen Armee, die auch von meiner Seele bereits Besitz ergriffen hatten. Zwei Geister blähten die Segel unserer Schiffe: der Geist des Ruhms und der Geist der Seeräuberei. Mein Vater hörte den zweiten nicht mehr als den Nordwestwind, der uns davontrug; ersterer aber umbrauste so stark meine Ohren, daß er mich lange Zeit über für alle Geräusche der Welt außer für die Musik Karls des Zwölften: das Kanonengebrüll taub machte. Die Kanone war Bonapartes Stimme für mich; und so klein ich noch war, ich wurde rot vor Freude, hüpfte vor Vergnügen auf, klatschte in meine Hände und antwortete ihr mit lauten Schreien, wenn sie brummte. Diese ersten Gemütsbewegungen waren Vorläufer des übertriebenen Enthusiasmus, welcher Zweck und Steckenpferd meines Lebens ward. Eine für mich denkwürdige Begegnung entschied diese Art verhängnisvoller Bewunderung, jene unsinnige Verehrung, der ich nur zuviel opfern sollte. Die Flotte war seit dem dreißigsten Floreal des Jahres sechs unterwegs. Tag und Nacht verbrachte ich auf Deck, um mich von dem Glücke, das weite blaue Meer und unsere Schiffe zu sehen, durchdringen zu lassen. Ich zählte hundert Fahrzeuge und vermochte nicht alle zu zählen. Unsere Militärlinie dehnte sich eine Meile weit aus, und der Halbkreis, welchen die Geleitschiffe bildeten, betrug ihrer wenigstens sechs. Ich sprach nicht. Corsika sah ich ganz nahe an uns vorüberziehen, Sardinien zog es an seiner Seite nach und bald erschien Sizilien zu unserer Linken. Denn die »Juno«, die meinen Vater und mich trug, war dazu ausersehen den Kurs zu erkunden und mit drei anderen Fregatten die Vorhut zu bilden. Mein Vater hielt mich an der Hand und zeigte mir den stark rauchenden Ätna und Felsen, die ich nie vergaß; es war die Insel Favignana und der Mons Eryx. Marsala, das alte Lilybaeum, trat aus seinen Dunstschichten hervor, und seine weißen Häuser hielt ich für Tauben, die aus einer Wolke hervorflattern, und eines Morgens, es war ... ja, es war der vierundzwanzigste Prairial, sah ich bei Tagesanbruch ein Bild vor mir auftauchen, das mich für zwanzig Jahre blendete. Malta reckte sich vor mir auf mit seinen Befestigungen, seinen Kanonen in gleicher Höhe mit dem Meere, seinen langen, wie frischpolierter Marmor in der Sonne glänzenden Mauern, und seinem Gewimmel von ganz schmalen Galeeren, die mit langen roten Rudern umherstrichen. Einhundertvierundneunzig französische Fahrzeuge hüllten es mit ihren großen Segeln und ihren blaurotweißen Flaggen ein, die man in diesem Augenblicke auf allen Masten hißte, während die Standarte des Malteserordens sich auf dem Gozzo und dem Fort San Elmo langsam senkte; es war das letzte kämpfende Kreuz, welches fiel. Dann löste die Flotte fünfhundert Kanonenschüsse.
Das Schiff »der Orient« ankerte allein und abgesondert, groß und unbeweglich uns gegenüber. An ihm fuhren langsam, eins nach dem andern, alle Kriegsschiffe vorbei und ich sah Desaix von weitem Bonaparte begrüßen. Wir stiegen zu ihm an Bord des »Orient«. Endlich sah ich ihn selbst zum erstenmal.
Nahe am Schiffsbord stand er plaudernd mit Casa-Bianca, des Fahrzeuges Kapitän, (armer »Orient«), und spielte mit den Haaren eines zehnjährigen Kindes, welches des Kapitäns Sohn war. Sofort ward ich eifersüchtig auf das Kind und mein Herz bäumte sich auf, als ich sah, wie es des Generals Degen berührte. Mein Vater näherte sich Bonaparte und sprach lange mit ihm. Noch erblickte ich sein Gesicht nicht. Plötzlich drehte er sich um und sah mich an; am ganzen Leibe bebte ich angesichts der gelben Stirn, die von langen Haaren umgeben war, welche ganz feucht herabhingen, wie wenn sie eben aus dem Meere kämen, angesichts der großen grauen Augen, der mageren Wangen und jener eingekniffenen Lippe über spitzem Kinn. Er hatte eben von mir gesprochen, denn er sagte:
»Hör, mein Lieber, da Du es willst, magst Du mit nach Ägypten kommen und General Vaubois kann schon ohne Dich mit seinen viertausend Mann hier bleiben; doch seh ich's nicht gern, daß man seine Kinder mitnimmt; ich hab' es nur Casa-Bianca erlaubt und tat nicht recht daran. Den da sollst Du nach Frankreich zurückschicken; ich wünsche, daß er ein tüchtiger Mathematiker wird, und wenn Dir da unten etwas zustößt, steh ich Dir für ihn ein; werde für ihn sorgen und einen guten Soldaten aus ihm machen.«
Gleichzeitig bückte er sich, faßte mich unter den Armen, hob mich bis zu seinem Mund empor und küßte mich auf die Stirn. Mir wurde schwindlig, ich fühlte, daß er mein Meister war und meinem Vater, den ich, weil er ständig bei der Armee lebte, übrigens kaum kannte, meine Seele raubte. Ich meinte Moses', des Hirten, Schrecken zu empfinden, als er Gott im Dornbusche sah. Frei war ich gewesen, als Bonaparte mich hochgehoben hatte, als seine Arme mich aber sanft wieder aufs Verdeck setzten, stand dort ein Sklave mehr.
Am Vorabend würd' ich mich ins Meer gestürzt haben, wenn man mich vom Heere entfernt hätte; nun aber ließ ich mich fortführen, wann man wollte. Gleichmütig verließ ich meinen Vater, und es war für immer! Doch von Kindheit an sind wir so schlecht und, mögen wir nun Männer oder Kinder sein, es gehört nur so wenig dazu, und fort sind all die guten natürlichen Gefühle! Mein Vater war nicht mehr mein Herr und Meister, weil ich seinen Herrn gesehen, und von dem allein schien mir alle Machtvollkommenheit der Erde auszugehen ...
O ihr Träume der Machtvollkommenheit und Sklaverei! O ihr verderblichen Gedanken der Herrschaft, die ihr Kinder zu verführen vermögt! Falsche Begeisterung, feine Gifte, welches Gegengift könnte man auch je gegen euch gebrauchen? ... Ich war betäubt, berauscht; wollte arbeiten und arbeitete, daß ich fast verrückt wurde! Tag und Nacht rechnete ich und nahm Gewand, Wissen und auf meinem Antlitz die gelbe Farbe der Militärschule an. Von Zeit zu Zeit unterbrach mich die Kanone und diese Stimme des Halbgotts teilte mir die Eroberung Ägyptens, Marengo, den achtzehnten Brumaire und das Kaiserreich mit ... und der Kaiser hielt mir Wort ...
Was meinen Vater anlangte, so wußt' ich nicht weiter, was aus ihm geworden war; eines Tages aber erreichte mich folgender Brief.
Immer trage ich den in dieser alten, einstmals roten Brieftasche hier und lese ihn sehr oft wieder, um mich so recht von der Zwecklosigkeit der Ratschläge zu überzeugen, welche eine Generation der ihr nachfolgenden gibt, und um über den aberwitzigen Starrsinn meiner Illusionen nachzudenken.«
Hier knöpfte der Hauptmann seine Uniform auf, zog aus seiner Brusttasche erst ein Taschentuch, dann eine kleine Brieftasche, die er sorgsam aufmachte, und wir traten in ein noch erleuchtetes Kaffeehaus ein, wo er mir folgende Brieffragmente vorlas, welcher man wird bald hören warum, in meinen Händen geblieben sind.
An Bord des englischen Schiffes »der Culloden« vor Rochefort, 1804.
Sent to France, with admiral Collingwood's permission.
»Du brauchst nicht zu wissen, mein Kind, auf welche Weise Du in den Besitz dieses Briefes gelangst und auf welchem Wege ich von Deiner Aufführung und von Deiner augenblicklichen Lage habe hören können. Möge Dir die Mitteilung genügen, daß ich zufrieden mit Dir bin, daß ich Dich zweifelsohne aber niemals wiedersehen werde. Wahrscheinlich wird Dich das wenig beunruhigen. Du hast Deinen Vater nur in einem Alter gekannt, wo das Gedächtnis noch nicht ausgebildet und das Herz noch nicht erschlossen ist. Später als man gewöhnlich denkt, tut es sich bei uns auf, und ich habe mich oft darüber gewundert. Was aber sollte man dagegen tun? ... Du bist, wie mir scheint, nicht schlechter als ein anderer. Ich muß mich wohl damit begnügen. Alles, was ich Dir zu sagen habe, ist, daß ich seit dem vierzehnten Thermidor des Jahres Sechs (oder dem zweiten August Siebzehnhundertachtundneunzig alter Zeitrechnung, die, wie es heißt, heute wieder in Mode kommen wird) Gefangener der Engländer bin. Ich war an Bord des »Orient« gegangen, und wollte den tapferen Brueys überreden nach Corfu zu segeln. Bonaparte hatte seinen armen Adjutanten Julien bereits an mich geschickt, der die Torheit beging sich von den Arabern wegfangen zu lassen. Ich kam hin, doch vergebens. Brueys war eigensinnig wie ein Maultier. Er erklärte, man würde das Fahrwasser nach Alexandrien schon finden, um die Schiffe dort einlaufen zu lassen; fügte aber noch einige reichlich kecke Worte hinzu, die mir nur zu deutlich sagten, daß er im Grunde ein bißchen eifersüchtig auf das Landheer war ...
»Hält man uns denn nur für Fährleute,« sagte er zu mir, »und meint man, daß wir Angst vor den Engländern hätten ?«
Besser wär' es für Frankreich gewesen, er hätte Angst gehabt. Wenn er aber üble Fehler beging, so sühnte er sie ruhmreich; und ich kann sagen, daß ich den von mir begangenen, nämlich bei ihm an Bord geblieben zu sein, als man ihn angriff, mit Langeweile büße. Brueys ward anfangs an Kopf und Hand verwundet. Er setzte den Kampf bis zu dem Augenblicke fort, wo ihm eine Kugel die Eingeweide heraustrieb. Er ließ sich in einen Kleiesack stecken und starb, auf seiner Admiralsbank. Genau erkannten wir, daß wir gegen zehn Uhr abends in die Luft fliegen würden. Was von der Mannschaft übrigblieb, stieg in die Schaluppen und brachte sich mit Ausnahme von Casa-Bianca in Sicherheit. Er harrte wohlverstanden als letzter aus; sein Sohn aber, ein hübscher Junge, den Du, glaub ich, gesehen hast, suchte mich auf und fragte:
»Was soll ich jetzt tun, Bürger, wenn ich Ehre im Leibe habe ?« ...
Armer Kleiner. Er war, glaub ich, zehn Jahre alt, und das sprach in solchem Augenblicke von Ehre! Ich nahm ihn im Boot auf meine Knie und sorgte dafür, daß er seinen Vater nicht in die Luft fliegen sah mit dem armen »Orient«, der wie eine Feuergarbe in der Luft auseinandersprühte. Wir flogen nicht mit in die Luft, sondern wurden, was sehr viel schmerzlicher ist, gefangen genommen; und ich kam unter Aufsicht eines wackeren englischen Kapitäns namens Collingwood, der jetzt den »Culloden« befehligt, nach Dover. Wenn es je einen Ehrenmann gab, so ist er's. Seit Siebzehnhunderteinundsechzig – so lange dient er bei der Marine – hat er das Meer nur für zwei Jahre verlassen, um sich zu verheiraten und seine beiden Töchter in die Welt zu setzen. Diese Kinder, von denen er fortgesetzt erzählt, kennen ihn nicht und seine Frau kennt seinen trefflichen Charakter fast nur aus seinen Briefen. Ich aber fühle deutlich, daß der Kummer über jene Niederlage bei Abukir meine Tage abkürzt; währen sie doch nur zu lange, da ich solchen Unstern und meiner ruhmreichen Freunde Tod erlebte. Mein hohes Alter hat hierzulande jedermann gerührt. Da das Klima Englands mir starken Husten verursacht und alle meine Wunden wieder aufgebrochen hat, so daß ich mich des einen Armes gar nicht mehr bedienen kann, ist der gute Kapitän Collingwood für mich um die Vergünstigung (die er für sich selber, dem das Land verboten ist, nicht hätte durchsetzen können), daß ich nach Sizilien unter eine wärmere Sonne und einen reineren Himmel gebracht werde, eingekommen und damit zum Ziel gelangt. Ich glaube schon, daß ich dort endigen werde, denn achtundsiebzig Jahre, sieben Wunden, tiefer Kummer und Gefangenschaft sind unheilbare Krankheiten. Ich konnte Dir nur meinen Degen hinterlassen, armes Kind, jetzt aber kann ich nicht einmal das, denn ein Gefangener hat keinen Degen mehr! Doch habe ich Dir wenigstens einen Rat, den nämlich zu geben, Deiner Begeisterung für Männer, welche schnell emporsteigen, und vor allem für Bonaparte zu mißtrauen. So wie ich Dich kenne, würdest Du ein fanatischer Parteigänger werden und vor Parteigängerschaft muß man sich in Acht nehmen, wenn man Franzose, das heißt sehr empfänglich dafür ist, von dieser ansteckenden Krankheit befallen zu werden. Es ist merkwürdig, welche Menge kleiner und großer Tyrannen sie hervorbrachte. Maßlos lieben wir die Maulhelden und geben uns ihnen so gutwillig hin, daß wir es hinterdrein unweigerlich bereuen. Ursache dieses Fehlers ist großes Tätigkeitsbedürfnis und große Gedankenträgheit. Daraus ergibt sich, daß wir uns dem am liebsten mit Leib und Seele überlassen, der das Denken und die Verantwortung für uns übernimmt, und hinterdrein lachen wir über uns und ihn und damit ist's dann abgetan.
Bonaparte ist ein guter Junge aber ein über die Maßen plumper Marktschreier. Er wird, fürcht' ich, bei uns Urheber einer neuen Art Taschenspielerei werden und deren haben wir doch schon hinreichend genug in Frankreich ... Marktschreierei ist unverschämt und verderblich und man sah in unserm Jahrhundert so viele Beispiele und hörte sie auf dem Marktplatze so viel Pauken- und Trommellärm vollführen, daß sie sich in jeglichen Beruf einschlich und es keinen noch so kleinen Mann gibt, den sie nicht aufgeblasen macht ... Die Zahl der platzenden Frösche läßt sich nicht abschätzen. Sehr lebhaft hoffe ich, daß mein Sohn sich nicht darunter befindet.
Recht froh bin ich, daß er mir sein Wort hielt, indem er, wie er sagte, für Dich sorgte; doch verlaß Dich nicht zu sehr darauf. Kurz nachdem ich Ägypten auf so traurige Weise verließ, erzählte man mir folgende Szene, die sich bei einem gewissen Mittagmahle abspielte; ich will sie Dir berichten, damit Du häufig an sie denkst.
Als Bonaparte am ersten Vendemiaire in Kairo war, ordnete er als Institutsmitglied ein Bürgerfest zum Jahrestage der Einführung der Republik an. Die Besatzung Alexandriens feierte das Fest bei der Pompejussäule, auf der man die dreifarbige Fahne aufpflanzte. Die Nadel der Kleopatra wurde mäßig beleuchtet; und die oberägyptischen Truppen feierten das Fest, so gut sie es vermochten, zwischen den Pylonen, Säulen und Karyatiden Thebens, auf den Knien des Memnonkolosses und zu Füßen der Tama- und Chamabildsäulen. Das erste Armeekorps veranstaltete seine Manöver, Wettrennen und Feuerwerke in Kairo. Der kommandierende General hatte den ganzen Generalstab, die Kanzleibeamten, die Gelehrten, den Kiaya des Paschas, den Emir, die Diwanmitglieder und die Aghas eingeladen; man saß um eine Tafel mit fünfhundert Gedecken herum in einem ebenerdigen Saale des von ihm am El-Bekirplatze bewohnten Hauses. Freiheitsmütze und Halbmond verflochten sich liebevoll, türkische und französische Farben bildeten höchst anmutig Baldachin und Teppich, auf dem Koran und Tafel der Menschenrechte sich vermählten.
Nachdem die Gäste mit ihren Fingern wacker Hühnchen und mit Safran gewürzten Reis, Wassermelonen und Früchte verzehrt hatten, warf Bonaparte, welcher kein Wort sprach, einen schnellen Blick über sie alle. Der gute Kleber, der neben ihm lag, weil er seine langen Beine nicht in türkischer Weise unterschlagen konnte, versetzte seinem Nachbar Abdallah-Menou einen kräftigen Ellenbogenstoß und sagte mit seinem halbdeutschen Akzente zu ihm:
»Paß auf, Ali-Bonaparte will uns einen seiner Streiche spielen!«
Er nannte ihn so, weil der General sich beim Mohammedfeste den Spaß geleistet orientalische Tracht anzulegen und man ihn im Augenblicke, wo er sich zum Beschützer aller Religionen aufwarf, pomphaft den Namen: Eidam des Propheten beigelegt und ihn Ali-Bonaparte genannt hatte.
Kleber hatte noch nicht zu Ende gesprochen und fuhr mit seiner Hand durch seine dichten blonden Haare, als der kleine Bonaparte schon aufrecht stand, und, sein Glas seinem mageren Kinn und seiner breiten Halsbinde nähernd, mit rascher, heller und kurz abgerissener Stimme rief:
»Trinken wir auf das Jahr Dreihundert der französischen Republik!«
Kleber hub an Menous Schulter so zu lachen an, daß der sein Glas über einen alten Agha ausschüttete; Bonaparte warf beiden stirnrunzelnd einen Seitenblick zu.
Gewißlich hatte er recht, mein Kind; denn in Gegenwart eines kommandierenden Generals darf ein Divisionsgeneral, und wäre es auch ein fideles Haus wie Kleber, keine unschickliche Haltung annehmen; doch hatten die auch nicht ganz unrecht, da Bonaparte sich zu eben dieser Stunde Kaiser nennt und Du sein Page bist.«
»Tatsächlich«, sagte Hauptmann Renaud, den Brief wieder aus meinen Händen nehmend, »war ich eben, Achtzehnhundertvier, zu des Kaisers Pagen ernannt worden ... Ach, ein schreckliches Jahr war das, mit was für Ereignissen ging es schwanger, als es über uns kam, und wie aufmerksam würd' ich es betrachtet haben, wenn ich damals etwas zu betrachten verstanden hätte! Aber ich hatte keine Augen zu sehen, keine Ohren, um etwas anderes als des Kaisers Handlungen, des Kaisers Stimme, des Kaisers Gesten und des Kaisers Schritt zu hören. Sein Kommen berauschte, seine Gegenwart magnetisierte mich. Der Ruhm, an diesen Mann gebunden zu sein, erschien mir als Höchstes auf dieser Welt, und nie hat ein Liebhaber seiner Geliebten Gegenwart mit lebhafterer und erdrückenderer Gemütsbewegung empfunden, als sein Anblick täglich in mir hervorrief. Die Bewunderung vor einem militärischen Anführer wird eine Leidenschaft, ein Fanatismus, eine Raserei, die uns zu rasenden und blinden Sklaven macht ... Der arme Brief, den ich Ihnen eben zu lesen gab, wirkte auf mein Gemüt nur wie das, was Schüler eine Moralpauke nennen, und ich fühlte nur die ruchlose Erleichterung der Kinder, die sich von der natürlichen Autorität erlöst meinen und sich frei fühlen, weil sie die Kette wählten, welche ihnen die allgemeine Begeisterung um ihren Hals geschmiedet. Doch ein Rest angeborenen guten Gefühls ließ mich dies geheiligte Schriftstück aufbewahren, und sein Einfluß auf mich vermehrte sich in dem Maße, in welchem meine Träume heldenhafter Unterwürfigkeit sich verminderten. Stets trug ich ihn auf meinem Herzen und schließlich faßte er unsichtbare Wurzeln dort, sobald der gesunde Menschenverstand meinen Blick von den Wolken befreite, die ihn damals bedeckten. Ich konnte heute nacht nicht umhin ihn nochmals mit Ihnen zu lesen und habe ja Mitleid mit mir, wenn ich bedenke, welch langsamen Kreislauf meine Gedanken verfolgten, um zu der dauerhaftesten und einfachsten Basis männlichen Betragens zurückzukehren. Sie sollen sehen, mit wie wenig es sich begnügt; doch glaub' ich wahrlich, mein Herr, daß das für eines rechtschaffenen Mannes Leben genügt, und ich habe sehr viel Zeit gebraucht, um den Quell der wahren Größe, die in dem schier barbarischen Waffenhandwerk möglich sein kann, zu entdecken.«
Hier ward Hauptmann Renaud von einem alten Grenadiersergeanten unterbrochen, der vor der Kaffeehaustüre mit geschultertem Gewehr Halt machte und einen unter seinen Gewehrriemen geschobenen, auf graues Papier geschriebenen Brief hervorzog. Der Hauptmann erhob sich gelassen und brach den Befehl, welchen er erhielt, auf.
»Sagen Sie Bejaud, er soll das ins Befehlsbuch eintragen«, erklärte er dem Sergeanten.
»Der Feldwebel ist vom Zeughause nicht zurückgekommen«, meldete der Unteroffizier mit einer Stimme, die so sanft war wie die eines jungen Mädchens, und schlug die Augen nieder, ohne auch nur ein Wort verlauten zu lassen, wie sein Kamerad getötet worden war.
»Sein Schreiber soll ihn ersetzen«, sagte der Hauptmann, ohne etwas zu fragen, und unterzeichnete auf des Sergeanten Rücken, der ihm als Pult diente, den Befehl. Er hustet etwas und fuhr dann ruhig fort: