1981. Ein feuerspuckender schwarzer Engel bei einem Weihnachtskonzert im Club SO36 in der Oranienstraße. Das Impulsive und Explosive dieses Bühnenauftritts von Käthe Kruse symbolisiert die künstlerische Herangehensweise der Musik- und Kunstszene in den 1980er Jahren. Man war überfordernd, lautstark, grenz- und genreüberschreitend. Das Lob des Nichtkönnens führte, im Idealfall, zu überraschenden kreativen und ästhetischen Ausbrüchen – und Brüchen.
In dieser dreiteiligen Textsammlung schaut Käthe Kruse anhand des Festivals der Genialen Dilletanten Die Große Untergangsshow, das am 4. September 1981 im Tempodrom-Zelt auf dem Potsdamer Platz stattfand, also gleich neben dem Todesstreifen, auf die damals absolut neue Berliner Musikszene. Es spielten unter anderem: Die Einstürzenden Neubauten oder Die Tödliche Doris (mit Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und damals noch Drummerin Dagmar Dimitroff). Käthe Kruse berichtet von der Entstehung des Kunstwerks Die Mariakissen als Beispiel für eine kollaborative Arbeitsweise. Diese speiste sich auch aus den Wohnkulturen und anderen Möglichkeiten von Gemeinschaft etwa in besetzten Häusern: Man beachtete ökologische Bauweisen und entwickelte Großküchen. Es zeigt sich, wie die Subkulturen der 1980er Jahre nicht nur eine „zweite Generation der Fluxus-Bewegung“ waren (Dietrich Diederichsen), sondern Wegbereiter eines Berliner Lebensgefühls, das heute, im Zuge von Sanierungen, Immobilien-Investoren und Stadtplanungsmisere zu verschwinden droht.
Käthe Kruse
Lob des Imperfekts
Kunst, Musik und Wohnen im West-Berlin der 1980er
ein mikrotext
Lektorat: Nikola Richter
Erstellt mit Booktype
Cover: Lydia Salzer
Coverfoto: Doll Mohead. Käthe Kruse am Schlagzeug, 1984 New York City, bei einem Auftritt von Die Tödliche Doris
Covertypo: PTL Attention, Viktor Nübel
www.mikrotext.de – info@mikrotext.de
ISBN 978-3-944543-52-9
Alle Rechte vorbehalten.
© mikrotext 2017, Berlin / Käthe Kruse
Käthe Kruse
Lob des Imperfekts
Kunst, Musik und Wohnen im West-Berlin der 1980er
Meine Erinnerungen sind schwarzweiß. Meistens war ich nachts unterwegs, da ist noch weniger Farbe. Die Beleuchtung der Gaslaternen war dürftig. Die Hochbahn verlief düster und mächtig vom Gleisdreieck zum Schlesischen Tor. Es waren kaum Autos unterwegs. In Kreuzberg 36 war alles irgendwie anders. Ein Auto hielt bei Grün und fuhr bei Rot über die Ampel. Die schmierig verdreckten Schaufenster enthielten Gerümpel von Wohnungsauflösungen, einfach hineingeschmissen, nicht dekoriert. Es waren nur wenig Menschen auf der Straße, nachts fast gar keine. Vereinzelt wohnten Leute in den Häusern, ganze Straßenzüge standen leer, Ruinen, nirgends Licht. Dustere Gebäude mit schwarzen Löchern statt Fenstern, die Türen zugemauert. Wohnungen waren entmietet und die Leute umgesetzt, ins Neue Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor. Der Plan: Abriss des gesamten Viertels und Neubebauung. In Indien las ich von Hausbesetzungen in Berlin. John Lennon wurde in New York erschossen. Das waren die wichtigen Meldungen.
Juli 1981 zog ich in den Bauhof in der Manteuffelstraße 40/41 ein. 40 Leute bewohnten zwei Häuser, zwei Seitenflügel und eine Fabrik. Ein Bad, eine Küche, ein Schlafraum für alle. Legal, illegal, scheißegal. Wir klauten Strom und Wasser. Wir ließen uns Telefon in einen Bauwagen vor der Tür legen und zogen das Kabel über den Bürgersteig ins Haus. Beatrix Mohren und ich eröffneten ein Besetzercafé, die Milchbar. Wir waren frei. Es gab 164 besetzte Häuser in der Mauerstadt. Plenum, Blockrat, Besetzerrat und wieder Plenum. Zwei Leute schoben Nachtwache und machten Frühstück, zwei kochten täglich für alle, 36 renovierten das Haus, sammelten Fenster, Türen, Toiletten, Dusch- und Badewannen aus leerstehenden Häusern ein, entfernten Dachpfannen von Abrisshäusern und fuhren alles in VW-Bullis in unseren Hof. Am Freitag war der Bauhof geöffnet. Andere Besetzer holten sich, was sie für ihre Häuser brauchten. Zwischendrin gab es Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, erkennungsdienstliche Erfassungen, Demonstrationen, Sirenen, Blaulichter, Polizei, Tränengas, Pflastersteine, Verletzte, Sanitätsdienst, Wunden verbinden. Wer sich im Krankenhaus meldete, wurde verhaftet.
Leben und Arbeiten. Alles unter einem Dach, das wollten wir erhalten. So hieß auch eine Band. Jeder, der irgendwie schreien konnte, hatte die Möglichkeit eine Schallplatte zu machen. Ein Independentplattenladen war der Scheißladen von Norbert Hähnel und Theo Bosky in der Großbeerenstraße 50. 1981 veranstaltete Norbert ein Heiligabendkonzert im SO 36. Untergangsstimmung absolut. Der Laden war mäßig gefüllt. Dunkel gekleidete Gestalten standen desillusioniert herum oder tanzten Pogo. Ich trug schwarzes Leder und hatte schwarzgoldene Flügel umgeschnallt. Als schwarzer Engel ging ich auf die Bühne und spuckte Feuer, was die Stimmung ein wenig hob. Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen von Die Tödliche Doris sahen mich an diesem Abend und luden zu einer Probe ein. Im Januar 1982 entwickelten wir bei unserem ersten Treffen das „Naturkatastrophenballett“ und traten damit im Arsenalkino in der Welser Straße in Schöneberg auf. Seitdem war ich Mitglied und Schlagzeugerin der Gruppe. Wir spielten im Musée d’Art Moderne in Paris, im Museum of Modern Art in New York und auf der documenta 8 in Kassel. Im November 1988 in Tokio spielten wir uns selbst und zeigten alle Phasen unseres gemeinsamen Schaffens. Das Konzert fand nach unserer Auflösung statt. Bis dahin übten wir in meinem Keller, trafen uns täglich und planten sowohl unsere Auflösung als auch unsere Solokarrieren, die wir mit einem Festakt im Blauen Satellit hoch über dem Kurfürstendamm und drei Soloschallplatten begannen.
Das Risiko war die legendäre Kneipe an den Yorckbrücken in Schöneberg. Einstürzende Neubauten, Malaria!, Sprung aus den Wolken, Die Tödliche Doris und Camping Sex waren einige Bands, die zu Sabina Maria van der Linden und Alex Kögler kamen. Schwarzgelbe Wände, die Toilette hatte eine halbhohe Wand, selbst beim Kacken konnte man sich prima unterhalten. Viel Gin Tonic, viel Speed, viel Spaß, geile Musik, laut schreiende Gespräche, Sex. Hier waren wir zu Hause, fuhren mit der letzten U-Bahn aus Kreuzberg raus und mit der ersten wieder rein. Vorher ging es in die neonbeleuchtete Oranienbar oder ins Café Mitropa, das später nur noch Café M heißen durfte wegen des DDR-Restaurants auf der Transitstrecke. Der Dschungel war die angesagte Diskothek. Edel, elegant, viele Spiegel, ein großes Aquarium als Raumteiler, das coole Tresenpersonal konnte von den Galerieplätzen aus beobachtet werden, auf der Tanzfläche war die beste Musik der Stadt zu hören. Schillernde Persönlichkeiten, Schönheiten, Stars und Transvestiten, wer hier vom attraktiven Türsteher Mark Brandenburg eingelassen wurde, gehörte selbst zu den coolsten Personen der Stadt.
Aids veränderte 1984 die Sexualität. Plötzlich war es mit der bedenkenlosen geilen Vögelei an jeder Ecke vorbei. Safer Sex ja oder nein? Spätestens mit dem Erkranken meiner Freunde Nikolaus Utermöhlen und Bärbel Beier, den Besuchen auf der Aidsstation im Auguste-Viktoria-Krankenhaus und dem Anblick der vielen sterbenden jungen Menschen war klar, dass der Slogan „Live fast, die young!“ für mich nicht mehr relevant war.
Am 1. Mai 1987 eröffnete das Kumpelnest 3000. Marc Ernestus mietete einen Puff und ließ die Einrichtung aus Lämpchen und grünblauen Blumenteppichen an Wand und Decke. Die schummrige Beleuchtung und das kuschelige Design waren nach der neongrellen Phase der frühen 1980er Jahre revolutionär. In der ersten Nacht arbeitete ich als DJ. Der Laden war knallvoll und so sollte es bleiben. Das Team war grandios und die Musik reichte von Schlager über P-Funk zu Heavy Metal. Nikolaus Utermöhlen und ich arbeiteten im Partner-Look in weißer Bluse und rotem Faltenrock an der Bar, Reinhard Wilhelmi manchmal unten ohne. Oben ohne tanzen auf dem Tresen gab es sowieso, Sex in der Nische zur Küche auch. Aber Türsteher gab es nicht, jeder konnte kommen und sich hineinquetschen. Manchmal kippten alle nach links, dann wieder nach rechts; es wurde getanzt, gelacht, geschrien und viel Kokain konsumiert. Die Drinks waren randvoll, der Tresen nass, die Stimmung ausgelassen. Am 9. November 1989 stand ein Pärchen am Tresen und fragte ob sie telefonieren dürften. Klar, da steht das Telefon. Und dann sollte ich in den Hörer sagen, dass wir uns in einer Kneipe in West-Berlin befinden, dass wir wirklich in der Lützowstraße im Westen sind und dass es stimmt, dass sie von hier aus anrufen. Unfassbar! Die beiden kamen aus Ost-Berlin und es war für uns alle eine unglaubliche Nacht!
Der folgende Flyer lud zum Festival Genialer Dilletanten, zur Großen Untergangsshow ein:
4. Sept.’ 81 Freitag BILD + TON IM TEMPODROM
Beginn: 19.30 Uhr live!
Eintritt: 6 Mark