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Über die Autoren

Ian Morgan Cron ist Autor, Redner, Seelsorger, Musikkünstler und Gemeindepastor. Sein Herz schlägt vor allem für andere Menschen. Es ist ihm ein großes Anliegen, ihnen mithilfe der Erkenntnisse der christlichen Spiritualität und Theologie, der Psychologie sowie durch künstlerische Ausdrucksformen in eine tiefere Beziehung mit Gott und zu sich selbst zu verhelfen.

Suzanne Stabile ist viel als Rednerin, Lehrerin und international anerkannte Lehrerin für das Enneagramm unterwegs. Ihr Wissen zum Enneagramm hat sie bisher bereits auf 500 Seminaren und Workshops an Universitäten, in Kirchen und anderen Organisationen weitergegeben. Neben ihrem Fachwissen zeichnen sie vor allem ihre mitreißenden Geschichten und Illustrationen aus.

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Wer du bist ist eine bereichernde Lektüre, deckt sie doch mit viel Humor und einer Prise Selbstironie auf, wie wichtig es ist, uns selbst zu kennen. Erst dann können wir entdecken, was genau uns in unserem Leben und unseren Beziehungen fehlt. Das Enneagramm ist eine Art Leitplanke, die uns helfen will, so zu werden, wie Gott uns haben will.

Bereichernd finde ich die vielen Aussagen darin, die sich auf Gott beziehen. Somit ist Wer du bist ein Ratgeber, der sich wohltuend von den rein psychologischen Abhandlungen ähnlicher Bücher abhebt. Ich bin begeistert!“

Elisabeth Büchle

Jede Lebensreise ist eine Entdeckungsreise: Wer bin ich? Wer sind die Menschen, denen ich begegne? Wie können meine Beziehungen gelingen? Das Enneagramm ist für mich seit vielen Jahren ein einzigartiger Wegbegleiter, ein Augenöffner und Ratgeber. In diesem Buch wird es neu entfaltet und ins praktische Leben übersetzt. Eine ausgesprochen spannende und erhellende Lektüre mit vielen Aha-Momenten! Ehrlich, aktuell und alltagstauglich.

Jürgen Werth

Ich bin begeistert! Das Enneagramm hat meiner Ehe eine ganz neue Qualität gegeben und meinen Blick dafür geöffnet, wie Gott mich erschaffen hat. Mit den Geschichten, dem Humor, der Wärme und der klaren Sprache ist das Enneagramm leichter zu verstehen. Ich brauche einen Karton voll von dem Buch, mindestens!

Shauna Niequist, Autorin von
Der Geschmack von Leben und Brot & Wein

In Zusammenarbeit mit Suzanne Stabile hat uns Ian Morgan Cron wieder einmal mit einem zeitgemäßen und brillanten Buch beglückt. Ein solch frischer, geistlich fundierter Ansatz, der Menschen hilft, Selbsterkenntnis zu gewinnen und mehr Mitgefühl zu entwickeln, war schon lange fällig. Das Buch ist eine gewinnende und gut durchdachte Grundlage.

Mark Batterson, leitender Pastor der National Community Church in Washington D. C. und Autor von Kreiszieher

Mit einer Portion wunderbarem, aber auch bissigem Humor machen Cron und Stabile das Geheimnis des Enneagramms zugänglich und helfen uns so, unser Inneres zu entdecken. Wenn Sie sich selbst und die Menschen um sich herum besser verstehen wollen, ist dieses wunderbare Buch voller Erkenntnisse genau das Richtige.

William Paul Young, Autor von Die Hütte

Inhalt

Kapitel 1: Eine merkwürdige Theorie unbekannter Herkunft

Kapitel 2: Den eigenen Typ bestimmen

Kapitel 3: Die Acht – der Herausforderer

Kapitel 4: Die Neun – der Friedliebende

Kapitel 5: Die Eins – der Perfektionist

Kapitel 6: Die Zwei – der Helfer

Kapitel 7: Die Drei – der Leistungsmensch

Kapitel 8: Die Vier – der Romantiker

Kapitel 9: Die Fünf – der Forscher

Kapitel 10: Die Sechs – der Loyale

Kapitel 11: Die Sieben – der Enthusiast

Kapitel 12: Und jetzt? Der Anfang der Liebe

Anmerkungen

Herr, hilf mir, mich selbst zu erkennen,
damit ich dich erkenne.

Augustinus

Kapitel 1

Eine merkwürdige Theorie
unbekannter Herkunft

An einem Samstagmorgen um sieben Uhr klingelte mein Handy. Es gibt nur einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der es wagt, mich um diese Uhrzeit anzurufen.

„Spreche ich mit meinem Jüngsten, Ian?“, fragte meine Mutter, als sei sie sich nicht sicher, ob sie die richtige Nummer gewählt hatte.

„Ja, hier ist Ian.“ Ich machte ihr Spiel mit.

„Woran arbeitest du gerade?“, wollte sie wissen.

Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich gerade an gar nichts. Ich stand in der Unterhose in der Küche, fragte mich, warum meine Kaffeemaschine lebensbedrohlich röchelte, und stellte mir all die traurigen Szenarien vor, wie diese frühmorgendliche Unterhaltung mit meiner Mutter enden würde, wenn meine Kaffeemaschine mir jetzt den Dienst versagte.

„Ich überlege, ob ich ein Buch zum Enneagramm schreiben soll“, sagte ich und beobachtete erleichtert, wie ein schwarzer Kaffeestrahl meinen Becher füllte.

„Das Sonogramm?“, fragte sie prompt zurück.

„Nein, ich habe …“

„Das Anagramm?“, fuhr sie dazwischen.

„Enneagramm. Enneagramm!“, meinte ich.

„Was ist ein Ein-ja-gramm?“

Meine Mutter ist 82 Jahre alt. Davon hat sie 67 Jahre lang geraucht, sich erfolgreich um jeden Sport gedrückt und Frühstücksspeck gegessen, ohne jemals deshalb Probleme mit dem Gewicht zu haben. Sie hat nie eine Brille oder ein Hörgerät getragen und ist so rüstig und bei klarem Verstand, dass man meinen könnte, Nikotin und Bewegungsmangel seien der Schlüssel zu einem langen, glücklichen Leben. Sie hatte schon beim ersten Mal genau verstanden, was ich gesagt hatte.

Ich lächelte und fing mit einer meiner Kurzerklärungen des Enneagramms an. „Das Enneagramm ist eine Typologie des Menschen, die aus der Antike stammt. Es hilft den Menschen zu verstehen, wer sie sind und wie sie ticken“, sagte ich.

Am anderen Ende der Leitung entstand eine lange Pause. Es war mucksmäuschenstill. Ich fühlte mich, als hätte man mich in ein schwarzes Loch in einer weit entfernten Galaxie geschleudert.

„Vergiss dieses Angiogramm. Schreib lieber ein Buch darüber, wie man in den Himmel und wieder zurückkommt“, erwiderte sie. „Damit verdient man Geld.“

Ich zuckte zusammen. „Aber man muss zuerst sterben.“

„Ach, das sind nur Nebensächlichkeiten“, meinte sie und wir lachten beide.

Die zurückhaltende Reaktion meiner Mutter auf meine Idee, ein Buch über das Enneagramm zu schreiben, ließ mich erst einmal innehalten. Ich hatte selbst einige Vorbehalte.

Wenn meine Großmutter etwas nicht einsortieren konnte, sagte sie, es sei „neumodisch“. Das hätte sie wohl auch über das Enneagramm gesagt. Niemand weiß genau, wer wann oder wo zuerst die menschliche Persönlichkeit auf diese Art dargestellt hat. Klar ist nur, dass das Enneagramm lange Zeit unvollendet war. Manche glauben, es gehe zurück auf einen christlichen Mönch namens Evagrius, dessen Lehren die Grundlage waren für etwas, das später als die „sieben Hauptsünden“ bekannt wurde. Außerdem werden die Wüstenväter aus dem vierten Jahrhundert damit in Verbindung gebracht, die es als Grundlage für die Seelsorge verwendeten. Manche behaupten, es gäbe auch in anderen Weltreligionen Elemente aus dem Enneagramm, zum Beispiel im Sufismus (der mystischen Tradition des Islam) und im Judentum. Anfang des 20. Jahrhunderts benutzte ein zweifellos sehr seltsamer Gelehrter namens George Gurdjieff eine geometrische Figur aus dem Altertum mit neun Spitzen, auch Enneagramm genannt, um esoterische Inhalte zu lehren, die aber nichts mit Persönlichkeitstypen zu tun hatten. (Ich weiß, ich weiß, wenn ich an dieser Stelle aufhören würde, dann fehlten nur noch Harrison Ford und ein Affe und es wäre die perfekte Grundlage für einen Indiana-Jones-Film. Aber hier endet die Geschichte ja nicht!)

In den frühen 1970ern stolperte ein Bolivianer namens Oscar Ichazo über das Enneagramm und leistete einen bedeutenden Beitrag, genauso wie einer seiner Schüler, der chilenische Psychiater Claudio Naranjo. Er entwickelte es weiter und brachte Erkenntnisse der modernen Psychologie ein. Naranjo stellte das Enneagramm in Kalifornien einer kleinen Gruppe von Studierenden vor. Darunter befand sich auch der Jesuitenpriester und Lehrer am theologischen Seminar Loyola Pater Robert Ochs.

Ochs war beeindruckt vom Enneagramm, kehrte ans Loyola-Seminar zurück und lehrte es dort die Studierenden und Priester. Schon bald wurde es unter den Priestern, geistlichen Leitern, Verantwortlichen der Einkehrzeiten und Laienpredigern als sehr nützliches Mittel zum geistlichen Wachstum angewandt.

Nicht genug, dass die Ursprünge des Enneagramms so bruchstückhaft sind, es gibt auch keinerlei wissenschaftlichen Beleg dafür, dass es ein zuverlässiger Maßstab für die menschliche Persönlichkeit ist. Und trotzdem halten Millionen von Menschen an seiner Richtigkeit fest. Tierschützer Timothy Treadwell, der „Grizzly Man“, dachte auch, er könne sich mit Bären anfreunden, und wir wissen ja, wie das endete.

Was hat mich dennoch dazu gebracht, ein Buch über eine altertümliche, historisch fragwürdige, wissenschaftlich nicht belegte Persönlichkeitstypologie zu schreiben?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich Ihnen einen hochgewachsenen Mönch mit Brille, einem tiefgründigen Blick und einem sanftmütigen Lächeln vorstellen: Bruder Dave.

Zehn Jahre lang war ich Gründungspastor einer Gemeinde im US-Bundesstaat Connecticut gewesen und liebte die Menschen dort. Im siebten Jahr hatten wir sonntags durchschnittlich 500 Gottesdienstbesucher und ich ging auf dem Zahnfleisch. Es war klar, dass die Gemeinde einen Pastor mit anderen Gaben brauchte, jemanden, der eher von der beständigen Sorte war und nicht so ein Pioniertyp wie ich. Drei Jahre lang versuchte ich alles – außer einem operativen Eingriff –, um mich in einen Leiter zu verwandeln, den die Gemeinde meiner Meinung nach brauchte und sich wünschte. Dieses Vorhaben war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Je mehr ich es versuchte, desto schlimmer wurde alles. Ich trat in jedes Fettnäpfchen. Das Durcheinander, die Verletzungen und Missverständnisse nahmen kein Ende. Ich war innerlich zerbrochen, als ich die Gemeinde endlich verließ.

Da ich so enttäuscht und durcheinander war, riet mir ein besorgter Freund, zu Bruder Dave zu gehen, einem 70-jährigen Benediktinermönch und Seelsorger.

Als ich Bruder Dave zum ersten Mal sah, stand er in seiner schwarzen Kutte und in Sandalen am Ende der Auffahrt zum Kloster. Er wartete darauf, mich zu begrüßen. Angefangen von der Art, wie er zur Begrüßung meine Hand in seine beiden nahm und mich anlächelte, bis hin zu seiner Begrüßung „Willkommen Reisender, darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“, zeigte mir, dass ich am richtigen Ort war.

Es gibt Mönche, die den ganzen Tag im Souvenirladen ihres Klosters stehen und Gebetskerzen und selbst gemachten Käse verkaufen, aber Bruder Dave gehörte nicht dazu. Er ist ein weiser Seelsorger, der weiß, wann er trösten und wann er jemanden hinterfragen muss.

Während unserer ersten Treffen hörte Bruder Dave mir geduldig zu, als ich ihm von der langen Liste von Irrtümern und Fehlern aus meiner Zeit als Pastor erzählte. Rückblickend war ich davon selbst überrascht. Warum hatte ich so viele Dinge getan und gesagt, die zwar in der Situation richtig schienen, die aber im Nachhinein ganz eindeutig sinnlos und manchmal sogar verletzend für andere und mich gewesen waren? Wie konnte jemand so viele tote Winkel haben und immer noch Auto fahren dürfen? Ich war mir selbst fremd.

Bei unserem vierten Treffen kam ich mir allmählich wie ein verirrter, halb verrückter Wanderer vor, der den Weg aus dem Wald heraus sucht und dabei laut mit sich selbst darüber debattiert, wie er sich bloß verlaufen konnte.

„Ian“, unterbrach Bruder Dave meine Gedankengänge, „warum sind Sie hier?“

„Wie bitte?“ Ich fühlte mich, als hätte mir gerade jemand auf die Schulter getippt und mich aus einem Tagtraum geholt.

Er lächelte und beugte sich auf seinem Stuhl nach vorne. „Warum sind Sie hier?“

Bruder Dave hatte die seltsame Gabe, Fragen zu stellen, die auf den ersten Blick schon fast beleidigend einfach waren – bis man versuchte, sie zu beantworten. Ich sah aus dem Bleiglasfenster hinter ihm und erblickte eine riesige Ulme, deren Zweige sich im Wind bis fast auf die Erde neigten. Ich rang nach Worten, um das auszudrücken, was ich sagen wollte, fand sie aber nicht. Die Worte, die ich dann aussprach, waren nicht meine eigenen, aber sie drückten genau das aus, was ich sagen wollte.

„Ich verstehe mich selbst nicht. Ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich“, antwortete ich und war überrascht, dass jemand, der sich nicht einmal seine eigene Handynummer merken kann, plötzlich Paulus’ Worte aus Römer 7 zitieren konnte.

„Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“, antwortete Bruder Dave mit einem Vers aus dem gleichen Kapitel.

Einen Augenblick saßen wir schweigend da und dachten über Paulus’ Worte nach. Sie hingen zwischen uns in der Luft wie Staubteilchen, die in einem Lichtstrahl flimmern.

„Bruder Dave, ich weiß nicht mehr, wer ich bin oder wie ich in dieses Chaos gekommen bin“, gestand ich in die Stille hinein. „Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen könnten, das alles zu verstehen.“

Bruder Dave lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. „Gut“, sagte er. „Jetzt können wir anfangen.“

Bei unserem nächsten Treffen fragte Bruder Dave: „Kennen Sie das Enneagramm?“

„Ein bisschen“, antwortete ich und rutschte auf meinem Stuhl hin und her. „Aber die Geschichte meiner ersten Begegnung damit ist ein wenig verrückt.“

Bruder Dave zuckte etwas zusammen und lachte, als ich ihm erzählte, wie ich in den frühen 1990ern das erste Mal vom Enneagramm gehört hatte. Damals war ich Student an einem konservativen theologischen Seminar. Auf einer Wochenendfreizeit fiel mir eine Ausgabe von Bruder Richard Rohrs Buch Das Enneagramm – Die 9 Gesichter der Seele in die Hand. Darin beschreibt Rohr die Charakteristiken und die Grundmotivation aller neun Persönlichkeitstypen des Enneagramms. Nach meiner eigenen Erfahrung zu urteilen und nach dem, was ich in meiner Ausbildung als Seelsorger gelernt hatte, waren Rohrs Beschreibungen frappierend genau. Ich war mir sicher gewesen, ein ungeheuer hilfreiches Buch für Christen entdeckt zu haben.

Am Montagmorgen fragte ich einen meiner Dozenten, ob er schon einmal davon gehört hatte. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte man meinen können, ich hätte „Pentagramm“ gesagt. Die Bibel verurteile Beschwörungen, Wahrsagerei, Horoskope und Hexen, meinte er – ich konnte mich nicht erinnern, irgendetwas davon in Rohrs Buch gelesen zu haben –, und ich solle es sofort wegwerfen.

Damals war ich ein junger, leicht zu beeinflussender, hingegebener Christ, und obwohl ich das Gefühl hatte, dass seine Reaktion schon beinahe paranoid war, befolgte ich den Rat meines Dozenten – bis auf das Wegwerfen. Für Bücherliebhaber ist das unverzeihlich. Ich wusste ganz genau, wo Rohrs Buch mit den Eselsohren in meinem Bücherregal stand.

„Wirklich schade, dass Ihr Dozent Sie davon abgehalten hat, das Enneagramm zu studieren“, meinte Bruder Dave. „Es steckt voller Weisheiten für Menschen, die sich nicht mehr selbst im Weg stehen und zu dem Menschen werden wollen, wie Gott ihn sich gedacht hat.“

„Was muss man machen, wenn man sich nicht mehr selbst im Weg stehen will?“, fragte ich. So oft schon hatte ich genau das tun wollen, aber ich wusste nicht wie.

„Es hat damit zu tun, sich selbst zu kennen. Die meisten glauben zu wissen, wer sie sind, aber sie wissen es nicht“, erklärte Bruder Dave. „Sie hinterfragen die Brille nicht, mit der sie die Welt betrachten – woher sie kommt, wie sie ihr Leben geprägt hat. Sie denken noch nicht einmal darüber nach, ob man mit ihr klar sieht oder verzerrt. Noch beunruhigender ist: Viele Menschen merken gar nicht, dass die Dinge, die ihnen als Kinder geholfen haben, ihr Leben zu bewältigen, ihnen als Erwachsene im Weg sind. Sie schlafen.“

„Sie schlafen?“, sagte ich mit verwirrtem Gesichtsausdruck.

Bruder Dave sah kurz zur Decke hinauf und runzelte die Stirn. Jetzt suchte er nach den richtigen Worten für die Antwort auf eine scheinbar ganz einfache Frage. „Was wir über uns selbst nicht wissen, kann und wird uns sogar verletzen, ganz zu schweigen von den Menschen in unserem Umfeld“, sagte er und zeigte dabei erst auf mich und dann auf sich selbst. „Solange wir uns nicht im Klaren darüber sind, wie wir die Welt sehen und welche Wunden und Überzeugungen uns zu denen gemacht haben, die wir sind, bleiben wir Gefangene unserer eigenen Vergangenheit. Wir steuern mit dem Autopiloten durchs Leben und machen Dinge, die uns und unsere Mitmenschen verletzen und irritieren. Irgendwann haben wir uns so daran gewöhnt, immer und immer wieder dieselben Fehler zu machen, dass sie uns in den Schlaf wiegen. Wir müssen aufwachen!“

Aufwachen. Nichts wollte ich mehr als das.

„Das Enneagramm hilft den Menschen, sich selbst zu verstehen und zu erkennen, wer sie sind und warum sie auf die Welt so reagieren, wie sie es tun“, fuhr Bruder Dave fort. „Und dann müssen sie sich selbst nicht mehr im Weg stehen und können zu dem Menschen werden, wie Gott ihn sich gedacht hat.“

Kurz darauf erfuhr Bruder Dave, dass einer seiner Termine an diesem Nachmittag abgesagt worden war. So verbrachte er noch mehr Zeit mit mir und wir unterhielten uns darüber, wie wichtig es auf unserer geistlichen Reise ist, sich selbst zu kennen. Oder wie Johannes Calvin es formulierte: „Wer sich selbst nicht kennt, kennt Gott nicht.“

„Über Jahrhunderte haben große christliche Gelehrte gesagt, dass es genauso wichtig ist, sich selbst zu kennen wie Gott zu kennen. Manche behaupten, das sei Wohlfühlpsychologie, aber es ist einfach nur gesunde Theologie“, sagte er.

Einen Augenblick dachte ich an all die Theologen und Pastoren, die ich kannte und die Dinge getan hatten, mit denen sie ihr Leben und ihren Dienst zerstört hatten. Sie taten das oft in ganz großem Ausmaß, nur weil sie sich selbst nicht kannten und ihnen die menschliche Fähigkeit zum Selbstbetrug nicht bewusst war. Sie kannten die Bibel in- und auswendig, aber sie kannten sich selbst nicht. Ich überlegte, wie viele christliche Ehen in meinem Umfeld zerbrochen waren, weil die Partner sich nicht darüber im Klaren waren, wie wunderbar und gleichzeitig zerbrechlich ihr eigenes Wesen war.

Dann dachte ich über mich selbst nach. Ich hatte immer geglaubt, dass ich mir meiner selbst mehr bewusst wäre als die meisten anderen Menschen. Doch in den letzten drei Jahren hatte ich lernen müssen, dass es im Bereich Selbsterkenntnis noch jede Menge Wachstumspotenzial gab.

Bruder Dave sah auf die Uhr und stand langsam auf. „Nächsten Monat bin ich unterwegs, um Freizeiten zu leiten“, verkündete er und streckte sich, um nach unserer beinahe zweistündigen Unterhaltung die Blutzirkulation wieder anzuregen. „Bis dahin sollten Sie das Buch von Rohr vom Staub befreien und noch einmal lesen. Es wird Ihnen gefallen, dass er das Enneagramm mehr durch die Brille christlicher Spiritualität sieht als durch die der Psychologie. Ich schicke Ihnen eine E-Mail mit einigen weiteren Buchtiteln, die Sie auch lesen können.“

„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken“, sagte ich, stand auf und warf mir meinen Rucksack über die Schulter.

„Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werden wir jede Menge zu besprechen haben“, versprach Bruder Dave und drückte mich, bevor er die Tür seines Büros öffnete, um mich hinauszulassen. „Gottes Friede mit Ihnen!“, rief er mir nach, als ich den Gang entlangging.

Da ich gerade eine längst überfällige dreimonatige Auszeit genommen hatte und sowieso nicht wusste, was ich mit der ganzen Zeit anfangen sollte, nahm ich mir Bruder Daves Rat zu Herzen und widmete mich ganz dem Enneagramm. Wochenlang ging ich fast jeden Morgen in ein nahe gelegenes Café, brütete über den Büchern, die er mir empfohlen hatte, und machte mir Notizen. Abends berichtete ich meiner Frau Anne von allem, was ich über das Enneagramm gelernt hatte. Fasziniert davon fing sie selbst an zu lesen. In dieser Phase hatten wir die tiefsten und bedeutsamsten Gespräche unserer bisherigen Ehe.

Kennen wir uns selbst wirklich? Wie sehr beeinflusst unsere Vergangenheit unsere Gegenwart? Sehen wir die Welt durch unsere eigenen Augen oder durch die der Kinder, die wir einmal waren? Welche versteckten Wunden und falschen Auffassungen haben wir aus unserer Kindheit mitgenommen, die unser Leben unbewusst immer noch bestimmen? Und wie könnten uns diese Fragen dabei helfen, Gott besser kennenzulernen?

Mit diesen Fragen bombardierte ich Bruder Dave, als er von seiner Dienstreise zurück war. Wir saßen in seinem Büro und ich beschrieb ihm einige meiner vielen Aha-Momente, die ich bei der Beschäftigung mit dem Enneagramm gehabt hatte.

„Wie ging es Ihnen, als Sie entdeckt haben, welcher Typ Sie sind?“, fragte er.

„Nicht so toll“, sagte ich. „Ich habe ein paar unangenehme Dinge über mich gelernt.“

Bruder Dave drehte sich um, griff nach einem Buch auf seinem Schreibtisch und schlug eine markierte Seite auf. „Uns selbst zu kennen bedeutet vor allem zu wissen, was uns fehlt. Wir messen uns selbst an der Wahrheit und nicht andersherum. Das erste Ergebnis der Selbsterkenntnis ist Demut“, las er vor.

„Das trifft es ziemlich gut“, sagte ich lachend.

„Das ist von Flannery O’Connor“, meinte Bruder Dave, schlug das Buch zu und legte es wieder auf den Schreibtisch. „Sie bringt die Dinge meistens sehr gut auf den Punkt.“ Dann fragte er: „Und Anne? Wie war das für sie?“

„Eines Abends hat sie mir im Bett die Beschreibung ihres Typs vorgelesen und dabei geweint“, sagte ich. „Sie hatte bisher nie die richtigen Worte gefunden, um zu beschreiben, wie es ihr wirklich geht und wie sie die Dinge sieht. Das Enneagramm war ein echtes Geschenk für sie.“

„Das klingt, als hätten Sie beide einen guten Weg eingeschlagen“, meinte Bruder Dave.

„Es war unglaublich. Was wir bisher über das Enneagramm gelernt haben, hat schon unsere Sicht von Ehe, Freundschaft und Elternsein verändert“, sagte ich.

„Denken Sie daran, dass es nur ein Werkzeug ist, um Ihre Liebe zu Gott und anderen zu vertiefen“, warnte mich Bruder Dave. „Es gibt noch viele andere. Das Wichtigste ist: Je mehr Sie und Anne sich selbst erkennen, desto mehr werden Sie erkennen, wie sehr Sie Gottes Gnade brauchen. Ganz zu schweigen davon, dass Sie mehr Mitgefühl mit sich selbst und anderen haben werden.“

„Ich möchte Ihnen ein Zitat von Thomas Merton vorlesen, das ich gefunden habe“, sagte ich und blätterte in meinem Notizbuch.

Bruder Dave rieb sich die Hände. „Aha, Merton, jetzt wagen Sie sich ins tiefe Wasser“, meinte er lächelnd.

„Hier ist es“, sagte ich, als ich das Zitat gefunden hatte. Ich räusperte mich. „Früher oder später müssen wir unterscheiden zwischen dem, was wir nicht sind, und dem, was wir sind. Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass wir nicht so sind, wie wir gerne wären. Wir müssen unser aufgesetztes äußeres Ich ablegen, denn es ist nur ein billiges, angeberisches Gewand …“ Ich las langsamer und war selbst überrascht, dass ich einen Frosch im Hals hatte, der es mir schwer machte fortzufahren.

„Lesen Sie weiter“, sagte Bruder Dave ruhig.

Ich holte tief Luft. „Wir müssen unser wahres Ich finden, mit all seiner ursprünglichen Armseligkeit, aber auch mit seiner großartigen und ganz einfachen Würde: erschaffen als Kind Gottes und dazu fähig, aufrichtig und selbstlos wie Gott zu lieben.“ Ich schlug mein Notizbuch zu, sah auf und bekam einen roten Kopf, weil es mir peinlich war, dass ich so emotional geworden war.

Bruder Dave legte den Kopf schief. „Was von dem, was Merton geschrieben hat, hat Sie besonders bewegt?“

Ich saß ganz still da und wusste nicht, was ich antworten sollte. Draußen läuteten die Klosterglocken zum Gebet. „Ich habe das Gefühl, dass ich die ganze Zeit geschlafen habe und jetzt langsam aufwache“, sagte ich. „Zumindest hoffe ich das.“

Immer wenn ich etwas sagte, das Bruder Dave für wichtig hielt, schloss er die Augen und dachte einen Moment darüber nach. Jetzt war so ein Moment.

Bruder Dave öffnete die Augen wieder. „Darf ich Sie noch segnen, bevor Sie gehen?“, fragte er.

„Natürlich“, erwiderte ich und rutschte auf dem Stuhl nach vorne, damit er seine Hände um meine legen konnte.

Mögen Sie in Ihrem Leben die Gegenwart,
die Kraft und das Licht Ihrer Seele erkennen.

Mögen Sie spüren, dass Sie nie alleine sind,
dass Ihre Seele mit all ihrem Glanz und dem,
was sie ausmacht, Sie zutiefst mit dem Rhythmus
des Universums verbindet.

Mögen Sie Ihre Individualität und
Ihre Andersartigkeit respektieren.

Mögen Sie erkennen, dass Ihre Seele einzigartig geformt ist,
dass Sie eine ganz besondere Bestimmung haben und
dass hinter der Fassade Ihres Lebens etwas Wunderbares
und Ewiges geschieht.

Mögen Sie lernen, Ihr Ich mit der gleichen Freude,
dem gleichen Stolz und der gleichen Erwartung zu sehen,
wie Gott Sie jeden Augenblick sieht.
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„Amen“, sagte Bruder Dave und drückte meine Hände.

„So sei es“, flüsterte ich und drückte ebenfalls seine Hände.

Bruder Daves Segen veränderte mein Leben. Mit der Zeit habe ich durch meine Arbeit mit dem Enneagramm gelernt, mich selbst „mit der gleichen Freude, dem gleichen Stolz und der gleichen Erwartung zu sehen, wie Gott mich jeden Augenblick sieht“. Da ich das Enneagramm kennengelernt habe und jetzt auch selbst lehre, sehe ich ein wenig von dem „morschen Holz“, aus dem mein Herz und das anderer Menschen geschnitzt sind. Ich habe ein Selbstverständnis entwickelt, das mir geholfen hat, einige Verhaltensweisen aus meiner Kindheit abzulegen und zu einem reiferen Menschen zu werden. Ich bin sicher noch nicht am Ziel, aber ich spüre immer wieder die unmittelbare Nähe von Gottes Gnade, und manchmal erhasche ich einen Blick auf die Person, zu der Gott mich formen möchte. In der Beziehung zu Gott ist das keine Kleinigkeit.

Einige Jahre nachdem ich Bruder Dave kennengelernt hatte, nahm ich die Einladung von Suzanne Stabile an, während einer Konferenz einen Vortrag zu halten, die sie an der Brite Divinity School veranstaltete. Wir verstanden uns auf Anhieb und wussten: Sollten wir Freunde werden, könnten wir in eine Menge Schwierigkeiten geraten, wenn wir ohne die Aufsicht verantwortungsbewusster Erwachsener wären.

Also freundeten wir uns an.

Als Suzanne mir erzählte, dass unser gemeinsamer Freund Richard Rohr jahrelang ihr geistlicher Mentor gewesen war und sie das Enneagramm gelehrt hatte, wurde ich neugierig und ging zu einem ihrer Workshops. Nachdem ich mir eine Stunde lang ihren Vortrag angehört hatte, wusste ich, dass Suzanne nicht nur eine gewöhnliche Enneagramm-Lehrerin war – sie war mein Mr Miyagi aus Karate Kid, eine Enneagramm-Lehrerin der Extraklasse. Es war mein Glück, dass Suzanne da weitermachte, wo Bruder Dave vor einigen Jahren aufgehört hatte, und mich auf dem nächsten Abschnitt meiner Reise begleitete. Mit ihrer Hilfe konnte ich das Enneagramm noch besser verstehen und die Weisheiten des Enneagramms auf mein Leben als Christ anwenden.

Viele Erkenntnisse und Anekdoten auf diesen Seiten stammen aus Suzannes Vorträgen. Andere sind aus meinem eigenen Leben und aus dem, was ich über die Jahre selbst gelernt habe, als ich Workshops besucht und zahllose Bücher von bekannten Enneagramm-Lehrern gelesen habe wie zum Beispiel Russ Hudson, Richard Rohr, Helen Palmer, Beatrice Chestnut, Roxanne Howe-Murphy und Lynette Sheppard. Aber mehr als alles andere ist dieses Buch das Ergebnis des großen Respekts und der tiefen Zuneigung, die Suzanne und ich füreinander empfinden. Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir unser bisschen Erfahrung und Wissen zusammenlegen können, damit die Welt ein wenig freundlicher und mitfühlender wird. Wir hoffen, dass es gelingt. Und wenn es nicht gelingt, hatten wir wenigstens einen Riesenspaß dabei.

Eines muss ich klarstellen: Ich bin kein aufbrausender Enneagramm-Fanatiker. Bei einer Cocktailparty rücke ich niemandem auf die Pelle und behaupte, ich könne den Enneagramm-Typ der Person anhand ihrer Schuhe erkennen. Wer das tut, ist von Übel.

Ich bin kein Fanatiker, sondern ein dankbarer Schüler. Um es mit den Worten des britischen Mathematikers George Box zu sagen: „Alle Modelle sind falsch, aber manche sind nützlich.“ So sehe ich das Enneagramm. Es ist nicht unfehlbar. Es ist nicht das A und O zu christlicher Spiritualität. Es ist bestenfalls ein ungenaues Persönlichkeitsmodell – aber ein sehr nützliches.

Und deswegen lautet mein Rat: Wenn Ihnen dieses Buch auf Ihrer geistlichen Reise hilft, dann ist das großartig. Aber wenn nicht, dann werfen Sie es nicht weg. Stellen Sie es in Ihr Bücherregal. Eines Tages wird es sich vielleicht als nützlich erweisen. Das Leben hat einen sehr anspruchsvollen Lehrplan für uns. Wir können alle Unterstützung brauchen, die wir kriegen können.