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Table of Contents

Title Page

Sic transit

1999

Juan Hildefonso Unai Cuatero

Rückkehrer

Die ruhigen Jahre danach: 2000-2005

2006

Finale furioso

Am Meer, 31.03.2009

2008, die Ereignisse überschlagen sich

Auf dem Felsen

Ercole

Countdown

Der letzte Tag

Fin

Non, je ne regrette rien

Ciao

Bergsee

Epilog

Adi Mira Michaels

F. FRANCOIS

Psychogramm eines Genies
Band 04: Sic transit

 

 

Verlag des Instituts Drachenhaus

© 2015 Babenhausen, Süd-Hessen

Bibliographische Angaben & Kurztitel CIP

Autor

Adi Mira Michaels

Titel

F. – Francois, Psychogramm eines Genies

Band 04: Sic transit

Verlagsort

Babenhausen, Süd-Hessen

Verlag

Verlag des Instituts Drachenhaus © 2015

Volumen

Als Papierausgabe circa 186 Seiten

Grafik

9 Strichzeichnungen, 5 Fotos

 

Rechte

© 2015 Alle Rechte beim Verlag. 1. Auflage

© 2016 Alle Rechte beim Verlag. 2. Auflage

 

Texte

Adi Mira Michaels

Lektorat

Michael Hoffmann, Petra Schirmer

Fotos, Grafiken und Titelgestaltung

Vom Verlag * Lizenzfreie Fotos sind beim Bild gekennzeichnet

Umsetzung zum eBook; Druck & Bindung

Im Verlag

ISBN

978-3-932207- Print -815 Gesamtausgabe aller 4 Bände

ePub -778 (Band 01), -785 (Band 02), -792 (Band 03), -808 (Band 04)

Hörbuch noch unklar

Sic transit

1999

Natürlich waren sie Weihnachten nicht im Schloss gewesen, auch nicht in Spanien. Julia meinte, das Landgut wäre noch nicht perfekt fertig und Martin weilte zum Weihnachtsfest ´98 daher auch nicht im Schloss, sondern an der Costa Brava.

Die beiden Parisien erlebten daher ein paar Tage Schnorchelurlaub in Ägypten, angehängt an eine entspannende Sieben-Tage-Kreuzfahrt auf dem Nil. Zwei Jahre nach dem Anschlag auf den Tempel der Hatschepsut kam der Nil-Tourismus langsam wieder in Gange, die Sicherheitsauflagen waren extrem gestiegen – der einzige Grund, warum sich Olivier überhaupt bewegen ließ, sich in dieses Land ins Flugzeug zu setzen und dort doch nicht ständig mit einer Kevlar-Weste herumzulaufen.

„Wenn die Dich erschießen wollen, dann tun sie auch mit einer schusssicheren Jacke. Oder möchtest Du auch so eine Sturmhaube wie bei der GSG-9 tragen?“

Dieser Vorschlag kam selbst Olivier übertrieben vor, was aber nicht bedeutete, dass er auf der gesamten Ägyptenreise, also auch im schwer bewachten Hotel, sich ständig nach Sicherheit und Fluchtmöglichkeiten umsah. F. ging das fürchterlich auf die Nerven, er beschloss dann aber, eher darüber zu lachen und siehe da, der Spruch von Olivier „wer eher lacht ist schneller tot“ bewahrheitete sich für die beiden nicht.

 

Als sie im Januar zurückkamen, machte Liz schon Terror. F. hatte sich eigens wegen ihr ein zweites Handy zugelegt, gut versteckt in seinem Auto unter dem Sitz. Als er es beim der nächsten Solo-Einkaufsfahrt einschaltete, waren 23 Anrufe in Abwesenheit und mindestens acht Schimpfkanonaden auf Mailbox drauf. Warum ‚mindestens acht?‘ Weil F. nach der achten den Rest einfach so gelöscht und sie angerufen hatte. Sie war erreichbar und Schimpfkanonade Nummer X+ begann, F. unterbrach sie sofort.

„Darling, es reicht. Wenn ich nicht erreichbar bin, dann hat das seine Gründe. Ich habe Dir vorab gesagt, dass ich in Ägypten bin.

Nein, da habe ich das Telefon nicht mitgenommen und beabsichtigte es auch nicht. Ich bin nicht bereit, der Telefongesellschaft den Arsch mit den Roaminggebühren zu vergolden. Wie vergoldet der wird, sehe ich an den Bilanzen der Unternehmen, die ich ja ebenfalls mit verkaufe.

Also: wenn Du was willst, dann sag das ruhig oder aber ich lege auf und warte, bis Du Dich wieder beruhigt hast.

Wie bitte? Ob ich eine andere habe?

Darling, haben wir uns schon ewige Treue geschworen? Aber nein, ich habe keine andere. Doch das hat Dich bis jetzt ja auch nicht interessiert. Was ist also los? Hast Du einen anderen?

Ach, Du Scheiße. Oh, Verzeihung, das wollte ich natürlich so nicht sagen.

Ich gratuliere.

Und wer ist der Vater?“

 

Jetzt musste sich F. den Hörer einen halben Meter vom Ohr weghalten, es war immer noch mehr als deutlich zu hören. Natürlich ahnte er, dass er der Vater sein könnte, doch eigentlich

„Ich habe da sowas im Ohr, das mir dauernd zuflüstert, mir habe eine gewisse Elisabeth etwas von einer Pille erzählt. Du bist eine erwachsene Frau in einem hochrangigen Beschäftigungsverhältnis, ich gehe also mal davon aus, dass Du so eine kleine Tablette pro Tag zuverlässig einnehmen ODER mir Bescheid geben kannst, wenn es mal nicht geklappt hat.

Also, liebste Liz, nachdem sich mein sehr gutes Gedächtnis an nichts vom beidem erinnert, heißt das für mich, dass es Absicht war. Von Dir.“

Wieder reichte der Arm gerade so, um ausreichenden Gehörschutz zu bieten.

„Nun, Du kannst noch so laut plärren, ich habe ein recht stabiles Handy, das hält auch Dich durch. Die Frage für mich ist eher, was Du nun zu tun gedenkst.

Aha, also wegmachen kommt nicht in Frage. Auch gut, da wäre ich auch nicht dafür.

Ich schlage damit vor, Du bekommst das Kind.

Ja, natürlich werde ich mich finanziell beteiligen, ich vergesse allerdings nicht, dass ich Dich erst kürzlich gegen Verdienstausfälle sehr gut versichert habe und Du in der anderen Zeit selbst recht gut verdienst.

Ich werde einen Beitrag zum Leben des Kindes beisteuern, jeder Richter in Europa würde mich dazu verdonnern, aber mehr auch nicht. Insbesondere, da mir Dein Theater zeigt, dass es wirklich Absicht war. Du hast einfach einen Hengst für Deine Fortpflanzung gesucht.

Nun gut

Ach, hör auf zu plärren, ich habe keine Lust mehr, mir das anzuhören.

Ja, wir treffen uns bei meinem nächsten Londonbesuch und besprechen die Details, ich melde mich rechtzeitig an. Wann, kann ich noch nicht sagen, ich war seit der Reise nicht mehr im Büro.

Warum ich Dich nicht mit nach Ägypten genommen habe? Wie bitte? Ich hatte es Dir vorgeschlagen, aber Du hattest ja Angst wegen der bösen Terroristen – wir haben im Übrigen an jeder Straßenecke mindestens zehn gesehen, die Terroristen sein könnten – und Du hast dann Termine vorgeschoben.

Darling! Ich warne Dich! Komm mir nicht auf diese Weise. Da reagiere ich sehr schnell sehr böse.

Ja, Du mich auch. Äh, ich Dich auch.

Ja, ich liebe Dich immer noch. Natürlich. Also reg Dich ab, entspanne, am besten vom Kinn an aufwärts, ich melde mich.“

 

Das Handy hatte Mitleid mit F. und gab in diesen Sekunden durch penetrante Pieptöne bekannt, dass sein Akku bald alle sein würde. Es schaltete ab und F. gönnte sich in der Cafeteria des Supermarktes erst mal einen Pastis. Das hatte er noch nie getan, doch er gestand sich grinsend ein, dass so krachendes Donnerwetter auch noch nie über ihn eingebrochen wäre. Auf der anderen Seite machten ihm solche wirklich bösen Diskussionen manchmal Spaß, sein an diesem Morgen leicht vorhandenes Unwohlsein im Magenbereich jedenfalls war blitzartig verschwunden. Noch vor dem Anisschnaps.

Beschwingt erledigte er den Einkauf und kehrte bester Laune zu Olivier heim. Der war so über beide Ohren mit Arbeit zugedeckt, telefonierte teilweise mit drei Telefonen gleichzeitig, dass er nicht mal bemerkt hätte, wäre F. als Clown oder Tod verkleidet hereingekommen.

Trauer

Knapp eine Woche aus Ägypten retour verkündete der Anrufbeantworter eine dringende Rückrufbitte von Martin. Das war natürlich gar kein Thema und sofort hingen beide an dem kleinen Lautsprecher der Freisprecheinrichtung.

Martin klang geknickt.

„Leute, könnt ihr am nächsten Samstag, den 23. Januar hier sein? Um elf Uhr. Mutter ist gestorben. Gestern. Sie wird am 23. Ersten beigesetzt.“

Was F. an Erschütterung in jedem Teil des Gesprächs mit Liz gefehlt hatte, trat hier sofort als Tränen in seine Augen. Warum, das war ihm im Nachhinein auch nicht klar, so toll war sein Verhältnis mit den beiden Alten nicht, erst recht nicht mit der schweigsamen Gräfin. Gut, er hatte sie mehrfach jährlich gesehen, sich immer ein wenig mit ihr unterhalten, doch wenn er im Schloss war, war er viel mehr mit Martin und Thomas zusammen.

Und doch:

Der alte Graf Eduard war für ihn mehr als sein eigener Vater, die Gräfin mehr als seine eigene Mutter gewesen. Er hatte den Verdacht, dass der Vater seine Frau nicht sehr lange überleben würde.

Ein leicht schlechtes Gewissen plagte ihn sofort, als er daran dachte, dass er mit seiner Familie schon seit drei Jahren überhaupt keinen Kontakt mehr hatte.

 

Sie sagten natürlich zu, warfen alle Termine über den Haufen und buchten für Freitagvormittag einen Flug. Aleana und seine beiden anderen Dekoratussen, wie Olivier sie im privaten Gespräch mit F. unfein nannte, waren darüber gerade nicht erbaut und klagten, sie hätten so viel zu tun, dass sie ihre eigenen Kinder kaum noch erkennen würden. Jedes Mal, wenn sie sie sähen, seien sie schon wieder ein paar Zentimeter gewachsen und hätten schon wieder eine neue Schuhgröße.

F. lachte darüber mehr als Olivier. Der würde sich bald nach noch jemandem für noch mehr Arbeit umsehen müssen.

 

Wären sie mit dem Auto gefahren, hätten sie sagen können, „der Wagen fährt die Strecke schon von alleine“, so oft hatten Flugzeuge die beiden von Paris an den Rhein gebracht. So auch diesmal wieder war der Flug so ruhig wie langweilig, die kleine Citymaschine flog nicht sehr hoch, sie konnten sogar was sehen – hätten etwas sehen können, hätte es sie interessiert. Seit dem 1995 die Grenzkontrollen zwischen Frankreich und Deutschland weggefallen waren, war selbst das Boarding zur Routine geworden und Standard.

Thomas holte die beiden vom Flughafen ab, Martin begrüßte sie bald darauf im Schloss. Die Flaggen vor dem Schloss hingen auf Halbmast, Gäste wie Gastgeber waren in einheitliches Schwarz gekleidet, Victors Dackelblick passte ausnahmsweise mal zum Anlass und Imelda sah in dem schwarzen, enganliegenden Kostüm einfach hinreißend aus. Etwas, was weder F. noch Olivier versäumten, zu erwähnen.

Sie waren am späteren Nachmittag eingetroffen, die Familie war schon soweit vollständig, wie sie sich noch nicht in den verschiedenen Auflösungserscheinungen ihrer Ehen oder ihrer eigenen Leben befanden. Man drückte gegenseitig die Trauerbekundungen zusammen mit ein paar Tränen ab, das gemeinsame Abendessen blieb ruhig, die Nacht brach bald an und selbst die vier Freunde sowie Julia und Arabella waren zu nicht viel mehr als zu ein paar Plaudereien aufgelegt – „aber bitte nicht über die Tote“, wie Martin erbeten hatte.

 

„Hast Du eigentlich Lucien Bescheid gegeben?“, wollte F. wissen. Martin nickte.

„Ja, haben wir. Er hat einen Kranz geschickt, ansonsten aber bedauert, nicht kommen zu können, aktuell sei überall Inventur, da sei er kaum abkömmlich. Etwas leiser meinte er dann dazu, dass er die Gräfin ja eh nur wie eine ferne Bekannte gekannt hätte und nicht wie eine Freundin. Recht hatte er und der Kranz, den er hat binden lassen, ist wirklich schön. Ihr werdet ihn morgen sicherlich sehen, WENN ihr ihn findet. Der Bestatter musste sich schon von einem Kollegen zwei weitere Kranzwagen leihen, seine waren schon alle überfüllt.“ Trotz der ausgesprochen traurigen Situation, mussten sie alle doch lachen.

Und so endete der Abend doch im Whirlpool, immer noch aber sittlich und streng.

Beerdigung einer Staatsfürstin

Die Beerdigung war der eines hochangesehen Staatsfürsten würdig. Kaum ein Bürger, der es sich nicht nehmen lassen wollte, mindestens einen Blumenstrauß heranzuschleppen, ein wenig wohlhabendere Familien hatten gleich Kränze spendiert und die Geschäftsleute, regionale Politiker und andere Honoratioren überboten sich und die Familie mit ihren Blumen-Trauer-Gebilden. Fassungslos machte Olivier ein Bild nach dem anderen für sich, bis sich Arabella bereit erklärte, jeden Kranz einzeln abzulichten, damit man später immer noch wisse, wer was geschickt hatte. Beim sechsten Wagen und dem rund 150. Bild kam auch sie ins Straucheln und so dürfte der eine oder andere Kranz in ihrer Sammlung gefehlt haben.

„Mein Gott“, raunte F. Olivier zu, „mit den ganzen Kränzen hättest Du die Alte auch erschlagen können!“ Olivier prustete los, was natürlich überhaupt nicht zu dem feierlichen Anlass passte und ihm damit einen Seitenstüber von Julia einbrachte.

„Aua, sei nicht so brutal zu mir. Ich bin keine kräftige Landfrau, ich bin ein zartes Dekorationsobjekt aus feinstem ChiChi!“ Nun war es an Julia, sich nur mit VIEL Mühe des Lachens enthalten zu können.

Die Trauerandacht mit aufgebahrtem, aber geschlossenem Sarg fand in der Kirche statt, die kleine Friedhofskapelle wäre dabei vermutlich auseinandergeborsten, ein Festzelt wie bei der Hochzeit, zwar besser gewesen, doch ein schwarzes Festzelt war in der kurzen Zeit nicht aufzutreiben gewesen.

Martin und sein Bruder saßen mit ihren Familien in der ersten Reihe, zur größten Empörung Victors hatte Martin auch Thomas, F. und Olivier dort platziert, einige der in die zweite Reihe versetzte Verwandtschaften schauten mal wieder sehr indigniert drein.

Die Andacht durch den Pfarrer war nicht schlecht, verstieß aber gegen die goldene Regel jeglicher Beerdigung:

 

Du darfst über alles reden, nur nicht über 30 Minuten.

 

Trotzdem war sie einmal zu Ende und endlich, gegen 12.30 Uhr rollte der Sarg unter dunklen Orgelklängen aus der Kirche.

Der Graf nahm Martin bei Seite. „Tu mir bitte einen Gefallen. Wenn ich sterbe, lass fröhlichere Musik erklingen. Das hier hat Victor arrangiert!“

Martin nickte und verzog den Mund in bittere Winkel. Ja, das hatte Victor arrangiert, Victor, der sich um seine Mutter Lebtags wenig gekümmert und sie noch seltener gesehen hatte. Okay, Letzteres war ungerecht, er wohnte schließlich nicht im Schloss, wie es Martin tat. Doch es tat Martin gut, ungerecht zu sein.

Ob er seine Mutter vermisste? Er war sich noch nicht darüber im Klaren. Er hatte jahrelang Tür an Tür mit ihr gelebt, im Regelfall die Mahlzeiten gemeinsam mit den beiden (und mit Thomas) eingenommen, aber sonst? Er hätte nicht behaupten können, ihr dabei näher gekommen zu sein, so wie er auch kein Entfernen gespürt hatte. Seit er in die Internate geschickt wurde, war das Verhältnis zu seiner Mutter immer gleich distanziert geblieben und hatte sich auch nicht mehr verändert, als er endgültig nach dem Studium im Schloss wieder einzog.

Die Beerdigung an sich zog sich noch länger hin als der Kirchenaufenthalt, ein halbes Dutzend Leute mussten am Sarg noch etwas sagen, mehrere Dutzend waren schon abgelehnt worden. Nur die wichtigsten Kränze der engsten Familie und des Bürgermeisters waren in der Kirche und am Grab direkt gelandet, man hätte mit dem Rest den gesamten Weg im Friedhof, vom Tor bis zum Grab, zu beiden Seiten mit einer lückenlosen Reihe schmücken können, so aber hatte der Beerdigungsunternehmer entschieden, die Kränze auf dem Kranzwagen hängen zu lassen, alles andere hätte nur einem meterhohen, unübersichtlichen Haufen ergeben.

Und so standen die von der Kirche mitgeführten Kranzwagen und die bereits vorher hier abgestellten wie eine Trutzburg um Gäste und Grab und durften einer nach der anderen mehr oder eher minder inspirierenden Reden lauschen.

Als endlich das Kondolieren endete und jeder der Gäste sein Schäufelchen Erde auf das Grab geworfen hatte, hatten die Friedhofsarbeiter nicht mehr viel zu tun, das Grab war schon fast zu. Nur eine kleine Menge Kränze zierte bald den kleinen Hügel, die restlichen Kranzwagen hatte man miteinander und mit ein paar Bäumen gegen Diebstahl verkettet, die Kränze würden gar nicht erst abgelegt werden.

In ein paar Tagen würden die Blumen verwelkt, alles zusammen als Müll entsorgt und die Floristen der gesamten Umgebung von ihrem Umsatzfeier-Ausflug zurück sein, während die teure Verblichene darauf wartete, dass ihr Mann sich bald neben, beziehungsweise eher über sie legte; so entsprach es ja auch der christlichen Tradition in den meisten Ehebetten.

Sie würde nicht sehr lange warten müssen.

Kältepacks für die Hände

Martin, sein Vater, Julia und Victor ließen sich im Schloss dicke Eispackungen für ihre Hände reichen, die „zweitklassige“ Verwandtschaft hatte sich beim Kondolieren fein in die hinteren Reihen zurückgezogen und sich damit dem Ansturm der allermeisten Handquetschungen entzogen. Nur diejenigen, die wirklich Bescheid wussten, suchten den einen oder anderen dieser Gruppe auf.

Der Magen aller knurrte vernehmlich, als sie sich endlich am späten Nachmittag zu Tisch setzten, zusammen mit der Verwandtschaft im großen Speisesaal und ein wahrhaft fürstliches Büffet genossen. Im Gegensatz zu vielen normalen, bürgerlichen Familien, waren hier alle Fragen von Erbschaft, Vermögen und anderer „wer bekommt was“-Diskussionen schon lange im Vorfeld und lange vor dem Tod festgelegt, ein notarielles Testament war vorhanden, dessen Inhalt aber wohlweislich schon bekannt, so dass es zu den üblichen Streitereien oder auch Spekulationen gar nicht erst kam. Für die meisten Anwesenden hatte damit diese Beerdigung jeden Kick verloren.

Natürlich hatte man noch genug Stoff für Diskussionen, konnte Anwesende und nicht Anwesende in der Luft zerreißen und wieder zusammensetzen, die Gelegenheit, aufgestautem Ärger und Unmut einmal Luft zu machen, war einfach zu gut. Und so bekam als erster Victor von der Verwandtschaft aus der zweiten Reihe „sein Fett weg“. Seine Fehlinvestitionen, seine undurchsichtigen Bauausgaben, der desaströse Verlust bei dem Schloss an der niederländischen Grenze, das alles war etwas, was man zwar schon seit Jahren wusste, auf jedem Sommerfest hätte vorbringen können, doch jetzt, ausgerechnet jetzt, schien die Gelegenheit für die meisten gekommen. Der Graf und Martin & Co. hörten dem Ganzen scheinbar ungerührt zu, doch F. sah nicht nur einmal, wie nah Martin am Platzen vor lauter Lachen war.

Julia, Arabella und Olivier hatten weniger davon, so dass F. sich bemüßigt fühlte, die bösesten Sticheleien oder offen ausgetragenen Aggressionen für alle drei auf Englisch zu übersetzen und sie somit wenigstens halbwegs teilnehmen zu lassen. Die vier hatten einen Heidenspaß, allerdings alle anderen auch, bis auf denjenigen, der gerade im Ziel der Geschosse war. Es war ja beileibe nicht nur Victor und die Beschossenen, inklusive Victor, waren nicht zimperlich.

Gerade die „jüngeren“ Generationen der Verwandtschaft, also alle unter 60 und noch nicht scheintot, freuten sich, dass sie gekommen waren, so eine Show erlebte man in gräflichen Familien höchst selten.

Es kamen die Trunksucht des Onkels vom Neckar zur Sprache, die als „Bridge-Abende“ seiner Frau verkleideten amourösen Abenteuer, das drohend unehelich werdende Kind einer gerade mal 16jährigen entfernten, aber dennoch adeligen Cousine. Auch die medienwirksamen Auftritte mit Schirm eines „beliebten“ Verwandten in Hannover vor gerade mal einem Jahr wurden durchgehechelt. In diesem Sinne standen „Adeligs“ dem „Fußvolke“ in nichts nach. Auch Ton und Lautstärke wurden brutaler, je mehr man den hauseigenen Weinen oder eher noch den daraus entstandenen Bränden zugesprochen hatte. Dass es am Ende keine körperlich Verletzten gab, war nur den von Martin, Thomas und F. eilig geholten drei großen Feuerlöschern zu verdanken, die die aufeinander losgehende Meute schließlich trennte.

Martin entschuldigte sich hinterher vielmals beim Personal und gab den zur Sonderreinigung Beauftragten ein fürstliches Trinkgeld, bedauerlicherweise waren nur zwei Schaumlöscher zur Hand gewesen, die zusammen viel weniger Dreck gemacht hatten als der ebenfalls zum Einsatz gekommene Pulverlöscher. Letzterer würde jedoch in den Reinigungen der jeweiligen Heimatorte für sehr gute Umsätze sorgen, seiner vernebelnden Wirkung war es schlussendlich zu verdanken, dass die Streithähne wirklich auseinander gingen.

Mühsam lachend ließen sich Graf Martin und Entourage in die noch unbepulvert gebliebenen Sessel fallen, selbst der trauernde Witwer konnte sich eines gewissen Amüsements nicht verweigern. Julia und Arabella, schienen geflohen zu sein, doch sie kamen sehr bald wieder aus der Küche heraus, wohin sie sich in Sicherheit gebracht und in aller Ruhe durch die runden Bullaugen das Spektakel besehen hatten. Arabella brachte es in ihrer kernigen Art auf den Punkt: „Ein Stierkampf ist dagegen richtig langweilig.“

Fröhlicher als der Anlass es erlaubte, begaben sie sich alle gemeinsam, diesmal sogar mit dem alten Grafen!, in Martins Räume und sprachen nicht nur viele der Themen an, sondern auch gutem Tropfen zu. Man fiel bald in die Betten. Müde und schwer vom Tag, dem Essen, der Aufregung und dem Alkohol.

Showdown, die 2. Version: kläglich

Zum nachfolgenden Frühstück hatte sich der Saal gegenüber dem Vorabend erheblich geleert. Ohne sich zu verabschieden, vielleicht auch, ohne zu wissen, wo sich die befanden, von denen man sich noch verabschieden hätte sollen, waren bereits ganze Scharen entweder schon am gestrigen Abend oder in aller Früh abgereist. Meist vom Personal einen hämischen Gruß ausrichten lassend.

Martin und seine Entourage feixten schon, als doch tatsächlich Victor den Saal betrat, das feiste Gesicht in Wut verzerrt sich an Martin wendete und ihn grob mitteilte, dass auch er schon längst weg wäre, handele es sich nicht um seine Mutter.

 

„Um unsere Mutter, um unsere, mein Lieber“, flötete Martin. Victor schien dies zu überhören.

„Imelda ist bereits mit den Kindern abgereist. Sie ist stinkesauer.“

„Oh, das ist aber schade. Warum ist sie so sauer auf Dich?“ Martin konnte seinen Spott kaum zurückhalten.

„Auf mich?“, Victor kreischte auf, um noch im gleichen Moment die Lautstärke wieder herunter zu fahren. „Auf mich? Auf Dich! Weil Du das Ganze nicht verhindert hast. Ich könnte Dir eine reinhauen, dafür.“

Nun war es an Martin, zu reagieren. Er musste einen Bruchteil einer Sekunde überlegen, ob er nun wüten oder lachen sollte, entschied sich für das Zweite. Allerdings mit für alle gut hörbarer Stimme.

„Mein liebster Bruder Victor! Wenn hier jemand einem etwas reinhauen sollte, dann wäre es doch eher ich Dir. Aber keine Angst, ich mache mir meine Hände nicht schmutzig. Nicht an Dir. So was wie Dich, fasse ich nicht mal im kleinsten Räumen meines bescheidenen Hauses mit weichem Papier an.“

Es dauerte mehr als einen Moment, bis Victor begriffen hatte, was Martin damit ausgedrückt hatte. Die anderen waren schneller und das Gelächter schwoll an, wie Victors Kamm. Er war puterrot geworden, seine beginnende Halbglatze glänzte vor austretendem Schweiß, bis er wieder Luft bekam, harrten die anderen auch schon dem amüsanten morgendlichen Disput.

„Das ist ja besser als jedes Frühstücksfernsehen“, flüsterte Olivier Julia und Arabella zu und alle drei grinste um die Wette.

„Nein, mich fasst Du nicht an. Aber sonst kannst Du Deine Hände nicht von Männern lassen? Du alte schwule Sau!“ Nun war es raus, es war das erste Mal, dass Victor Martin gegenüber seinem Bruder seinen Hass so deutlich gezeigt hatte, die Reaktion des Saales war auch entsprechend. Ein entsetztes „Huch“ war einigen Mündern entwichen, schwebte langsam zur Decke, während es totenstill geworden war. Keiner wollte die nächste Runde verpassen.

Dass Martin schwul war, war in der Familie kein Geheimnis. Man hatte es schon platt getreten, als er noch in die Schule ging, das Internat besuchte, studierte – nun, da er hier mit Thomas residierte, gab es kaum einen, den es störte, wenn sich dieser Zweig der weitverzweigten Familie nicht auch noch mit Strömen von Kindern vermehrte.

 

„Oink, oink. Oder, Dir vielleicht angemessener, grunz, grunz.

Mein liebes Brüderchen“, Martin artikulierte die Boshaftigkeit der nun folgenden Worte so, dass die Zuhörer meinten, kleine Funken zwischen den einzelnen Worten gehört zu haben. „Mein liebes Brüderchen, habe ich da etwa was übersehen? WOLLTEST Du etwa, dass ich Dich anfasse? Du hast die ganze Zeit darauf gewartet? WIRKLICH?

Warte nicht weiter, Du bist mir zu hässlich. Und glaube mir: nur die Vermutung, dass zwischen Deinen Beinen mehr als nur zwei Zentimeter vor sich hin müffeln, macht einen Mann nicht unbedingt für einen Schwulen attraktiv.

Ach, und noch was; ich meine, nur, falls Du es vergessen hast: nach der Vererbungslehre gehört der Bruder einer Sau ebenfalls der gleichen Gattung an. Grunz, grunz, wie ich bereits sagte.“

 

Homerisches Gelächter der Anwesenden zeigte Victor, dass er geschlagen war. Wortlos nahm er an der Tafel Platz, möglichst weit weg von seinem Bruder. Seinen Appetit hatte der kleine Zweikampf jedoch nicht beeinträchtigt.

Am frühen Nachmittag und nach der Verkündung, dass ein Mittagessen nicht mehr geplant sei, waren auch die restlichen Gäste wieder verschwunden und Ruhe kehrte ein auf dem Schloss. Der väterliche Graf, Martin, Thomas, F., Olivier, Julia und Arabella nahmen gemeinsam ein schlichtes Mahl ein. Sie gedachten zum ersten Mal in Ruhe der Toten und nun war es auch für alle Zeit, ihrer Trauer mit der einen oder anderen Träne Ausdruck zu verleihen. Viele Tränen waren es nicht, auch nicht vom Vater.

Man verabschiedete sich in den Abend, auch diese Gäste würden am nächsten Morgen zurückfliegen. Nur, dass an diesem Abend sich die Gruppe in die Geschlechter trennte und die vier Jungs das machten, wonach sie alle sich schon gesehnt hatten.

Zwischen den einzelnen Feinschmecker-Gängen und danach fanden die beiden endlich Zeit, ihren Gastgebern vom Schlosshotel Draigons Cleuch vorzuschwärmen, über das – trotz Luxushotel – recht mäßige Essen in Ägypten zu schrotzen oder von den Blasen an den Füßen nach all den Wanderungen durch die Niltempel zu jammern. Es wurde ein vergnüglicher und viele Muskelgruppen entspannender Abend, wenn auch lange nicht alle möglichen Aktionen durchgespielt werden konnten. Keiner war mehr so jung.

„Ach, Kinder“, seufzte Martin am Ende, „Das Leben geht weiter. Ich habe mich schon mit Thomas darüber unterhalten, ob sie uns wirklich fehlen wird und wir beide sind zum Schluss gekommen: eher nicht. Sie war viel zu wenig in unserem Leben wirklich vorhanden.“

Offerte

Am nächsten und letzten Morgen auf dem Schloss, sprachen Julia, Arabella und Olivier ein wenig intensiver miteinander. Offenbar hatte Olivier schon in den letzten Tagen geklagt gehabt, dass er vor lauter Arbeit nicht weiter wisse, sogar Aufträge ablehnen musste.

„Wir hätten da vielleicht jemanden für Dich.

Du weißt doch, als unser Landgut eingerichtet werden musste, warst Du ja nicht abkömmlich. Deine Mitarbeiterin war zwar gut, aber“ Julia wurde leicht rot.

Arabella führte für sie fort: „aber sie war auch einfach nur zu kurz da. Daher haben wir uns einen jungen Mann aus Olot kommen lassen. Juan hat eine wirklich gute Arbeit geleistet. Er ist noch wirklich jung, vielleicht 25, hat den Beruf gelernt, hat aber noch keinen Namen.“

„Und er ist süß UND so warm, dass er beim Faltenbügeln kein Bügeleisen braucht“, fügte nun Julia grinsend hinzu. „Sollen wir ihn vielleicht mal fragen, ob er Interesse hätte, bei Dir ein paar Jahre zu arbeiten? Du hättest eine wirklich gute Hilfe und er könnte sich einen Namen machen. Danach kommt er sicherlich nach Katalonien zurück, macht Dir also keine Konkurrenz!“

Olivier hatte mit wachsendem Interesse zugehört. „Aber, ich spreche kein Spanisch!“

„Oh, das macht nichts. Du hast es ja selbst gehört, wir da unten sprechen es auch nicht, zumindest nicht als Muttersprache. Catalán ist dem Französischen sehr ähnlich. Außerdem kann er auch ein paar Brocken Englisch.

Also: Interesse?“

Olivier nickte begeistert. Er hätte es nicht einmal zugegeben, hätte man ihn gefoltert – okay, nicht zu stark, also maximal kitzeln oder Haare schneiden – doch vor seinem geistigen Auge war ein wunderschöner, braun gebrannter Spanier-Macho aufgetaucht, der seine glänzend eingeölten Muskeln nur mühsam mit einem Shirt überdecken konnte. Er musste erst den Sabber herunterschlucken, der sich in seinem Mund gebildet hatte, bevor er verbal antworten konnte.

Die beiden Frauen grinsten ihn breit an und versprachen, „Juan Hildefonso Unai Cuatero wird sich bei Dir in den nächsten Tagen melden.“

Sie ließen den verdutzten Mann stehen, viel Zeit blieb ihm jedoch nicht, Thomas kam alsbald mit der Limousine vorgefahren, lud alle vier ein und unter freundlichem Winken zweier Handpaare am Schloss kroch der Wagen langsam dem Ausgang des Parks entgegen.

Ein tränenreicher Abschied von Thomas und Martin wurde es nicht. Zu häufig sah man sich, noch häufiger telefonierte man miteinander, dazu kam das Internet mit E-Mail und ICQ, wobei den Jungs das Persönliche daran fehlte. Nichtsdestotrotz, für kurze Nachrichten war es einfach, leicht und kostenfrei.

 

Nach wenigen Stunden befanden sich alle Gäste wieder in ihren Heimat-Häusern.

Ja, auch F. hatte eine Art Heimatgefühl, als die beiden in Villeneuve aus dem Auto stiegen. Er war ganz verwundert, dass sich sein Herz beim Anblick des kleinen, aber gemütlichen Hauses zusammenzog, ihm einen leichten Stich gab. Es brauchte bis in den Abend hinein, bis er in mathematisch-logischer Analyse als Ursache ein unlogisches Gefühl extrahiert hatte: Das Gefühl, „hier bin ich zuhause“. Es war ihm neu, sehr neu. Bisher hatte er es noch nie so gespürt und er war ganz überrascht, dass dieses Gefühl ihm aktuell zu gut tat.

Er dankte es Olivier auf seine Art, bevor sie einschliefen.

Dass Olivier bei dem aufschreienden Akt an jemanden anderes dachte, wusste er nicht, es wäre ihm auch egal gewesen. Egal im Sinne von Eifersucht, nicht im Sinne von „es geht mir am Arsch vorbei“.

Juan Hildefonso Unai Cuatero

Olivier hatte ein komisches Kribbeln im Bauch, als er schnell nach Orly rüber fuhr, den Gast abzuholen. Er konnte es sich auch nicht erklären, warum, doch seine Gedanken hatten seit der Ankündigung durch Julia und – noch viel mehr – seit dem Anruf Juans schon am nächsten Tag Purzelbäume geschlagen und ganze Fotoalben produziert. Zu Papier gebracht und gedruckt, wären sie der Inbegriff lateinamerikanischer Männlichkeit geworden.

Olivier trug ein Schild dabei, auf dem „Juan“ stand, den restlichen Namen würde er sich Buchstaben für Buchstaben aufschreiben müssen, um ihn vielleicht zu behalten.

Der Flieger kam pünktlich an, leerte sich und Dutzende fragender Gesichter blickten in die Menge, die auf der anderen Seite des Gitters auf die wartete.

Strahlend kam ein Mann auf Olivier zugelaufen und Olivier fiel beinahe in Ohnmacht. „Sóc Juan 1“, grüßte der Ankömmling mit breitem Lächeln und Olivier brachte erst mal keine Silbe hervor. Der Mann war vielleicht 160cm, allerdings nicht nur in der Körpergröße, sondern wie Olivier fachmännisch sofort erkannte, auch im Bauchumfang. Oliviers eigene Gürtellänge war bei 105cm schon zu lang. Juan hatte eine Vollglatze, die Haut sah aus, als wäre eine lederne Damenhandtasche zu lange im Wasser gelegen, nur die Zähne blitzten wie die Augen.

„Ich ich bin Olivier“, stotterte Olivier mühsam. Der Augenausdruck des Fremden veränderte sich.

“Oh, perdó2. Dann ich hier woll falsch. Brauche Cornelios!” und stürmte auf einen anderen Schildträger mit einem Schild namens “Juan” zu.

Olivier zerrte sein Taschentuch aus der Hose. Es war gar nicht heiß, aber der Schweiß stand ihm wie eine Surfwelle auf der Stirn. Er starrte wieder auf den Ausgang.

Plötzlich fühlte er sich in diese eine Coca-Cola-Werbung im Büro von 1997 erinnert, als der Lift aufgeht und ein absolut sexy Mann mehrere Trays mit der Brauselimonade hereintrug. Was gerade aus dem Ausgang schlenderte, war lange nicht so verschwitzt wie der sexy Kerl in der Werbung, aber dafür war die Beule in seiner ausgewaschenen Jeans noch größer. Olivier kam sich plötzlich wie alle diese Frauen zusammen vor. Hätte es damals schon den Film “Ice Age” gegeben, hätte er sogar für seine lang heraushängende Zunge Scrat als Vorbild gehabt. So versuchte er nur, einen halbwegs nicht idiotischen Eindruck zu machen.

“Hi, ich bin Juan. Du bist Olivier?”, kam der Fremde gleich direkt auf ihn zu und Olivier nickte nur stumm, versuchte, den Mund nicht offen stehen zu haben.

“Äh, oh, äh, ja, ich bin Olivier”, konnte er langsam von sich geben, schluckte dann schwer und ließ dem Satz ein halbwegs vernünftig klingendes “Bienvenido a París“ folgen. Er erinnerte sich daran, dass er der normalen Sprache doch mächtig sein sollte.

„Gracias“, lächelte der Fremde. „Wo ist Deine Auto?“

Eher wortlos führte Olivier Juan zum Abholer-Parkplatz, ebenso wortlos fuhren sie nach Hause. Erst kurz vor dem Haus fand Olivier seine Sprache wirklich wieder, erklärte kurz, wo sie sich befanden, dass dies sein Haus und das seines Freundes F. und dass F. aktuell nicht da sei. Er schalt sich einen Teenager, einen Tattergreis, den es gerade mal wieder erwischt hatte, als er zitternd Juan das Gästezimmer im Erdgeschoss zeigte und ihn dann nach oben bat. Wenigstens seine Manieren hatten sich wieder dienstfähig gemeldet, sie boten dem Gast einen Platz und was zu trinken an und Juan fläzte sich breitbeinig in den Sessel, genau so, dass Olivier alles deutlichst sehen konnte. Ihm wurde wieder schwindelig, dabei leicht übel. Nur mit Mühe hielt er sich und seine Contenance auf den Beinen, reichte dem Gast den leichten Drink, sich selbst hatte er bewusst eine stärkere Mischung des Whiskey sour gemacht, mehr Whiskey als sour, konnte sich gerade noch beherrschen, den Alkohol nicht sofort herunterzuschütten.

„Santé!“

„¡Salud!“

Der kalte Trunk lief brennend seine Kehle herunter, landete im Magen und Olivier meinte, das Aufspritzen der dort aktuell gar nicht vorhandenen Inhalte zu verspüren. Jedenfalls tat ihm das Brennen beim Herunterrinnen gut, spülte seine Anspannung etwas mit sich weg und ihm sogar ein leichtes Lächeln auf die Lippen.

Sie unterhielten sich „zwanglos“ über Juans Vorleben – rein arbeitstechnisch – klärten die Personalien. Juan war tatsächlich 27 Jahre alt, in dem kleinen Olot nördlich von Girona geboren und aufgewachsen und seine Eltern waren entsetzt gewesen, als er sich nach dem Mittelschulabschluss für den Beruf des Dekorateurs im Rahmen des Ciclo formativo3 entschieden hatte.

„Ihnen wäre immer noch lieber gewesen, ich wäre Torero geworden als das“, grinste er Olivier breit an.

Das war so der Moment, in dem sich Olivier überlegte, ob Juan wirklich der richtige Mitarbeiter für ihn sein würde. Für ihn, der er selbst das Baccalauréat4 nur mit Bestnoten abgeschlossen hatte und bei seinen Mitarbeiterinnen auch auf diesen Bildungsabschluss Wert gelegt hatte, erschien Juan plötzlich als der tumbe Dörfling. Allerdings was für ein Dörfling! Ihm wurde schon wieder schwindelig und er rutschte auf dem Sessel hin und her, um seine 24x7 zurechtzurücken, die schon in Ruhe eine Beule verursachten – vor allem in DIESER Hose, die er da – ganz und gar nicht absichtlich! – angezogen hatte. Juan sah grinsend drauf. Er ließ die Hand mit dem Glas sinken und führte die gleiche Hand wie in unabsichtlicher Zeitlupe in seine Leibesmitte, von da aus sank sie ein Stückchen tiefer. Er schob dann etwas zurecht und Olivier hatte das Gefühl, seine Augen, mit denen er sonst nie Probleme gehabt hatte, quollen heraus, wie sonst bei Disney bei den Trickfiguren.

Er schluckte schwer und ihm wurde plötzlich bewusst, dass Juan jede seiner Regungen beobachtet hatte. Fieberhaft überlegte er, wie er das Gespräch weiterführen könnte, doch alle Fragen, nach Berufserfahrung, vielleicht dem einen oder anderen Foto halt, das war eine Option.

„Hast Du ein paar Fotos von Deinen bisherigen Arbeiten dabei?“, quälte es sich ihm aus dem Mund, ihm kam es dabei vor, als spräche er wie ein langgezogenes Gummiband. Juan grinste ihn breit an, griff sich – nein, nicht in die Hose – sondern diesmal in die Hemdentasche und holte einen kleinen Stapel Fotoabzüge heraus. Sauber, knitterfrei – wohl eigens für dieses Vorstellungsgespräch angefertigt. Natürlich hatte Juan heute weder sichtbar eingeölte Muskeln zur Schau gestellt, noch trug er ein T-Shirt oder Kurzarm, schließlich war Februar und dieser Monat zeichnete sich weder in Ost-Spanien, noch in Frankreich als besonders warm aus. Er legte den Stapel lächelnd und wortlos vor Olivier ab.

Endlich hatte Olivier eine Möglichkeit, seine Hände sinnvoll zu beschäftigen. Das Glas – er bemerkte, dass er es immer noch in der Hand hielt, dankte ihm das Lösen der harten Umklammerung mit leichtem Ächzen.

Die ersten Fotos zeigten ein Landgut in Spanien.

„Du kennst das neue Landgut von Julia noch nicht?

Nein, ach, das hat sie ja gesagt. Das alte war abgebrannt.“

Endlich wieder ein Gesprächsthema, dankbar nahm Olivier es an wie ein Ertrinkender den Strohhalm. Er hatte sich zwar immer gefragt, was denn ein Ertrinkender ausgerechnet in dieser Situation mit einem Strohhalm machen solle, die Brühe um sich herum wegsaufen? Oder wäre am anderen Ende des Strohhalms wenigstens ein Longdrink? Doch dazu würde er ja nicht mal mehr Zeit haben.

Er musste plötzlich grinsen, fast zu Lachen anfangen – doch seinem Gast hätte er den Grund dafür nicht mal erklären können. Daher antwortete er lieber auf die Frage.

„Nein, ich war nicht unten. Seit dem Brand nicht mehr. F., mein Partner und Mitbewohner hier, ist sofort mit dem nächsten Flieger runter, auch Martin, ihr Ehemann. Na, Du weißt sicher schon wie hier alle Verhältnisse sind.“

Der Neue grinste. Dieses Grinsen musste wohl so was wie angeboren sein oder zumindest festgetackert, wie eine gute Dekoration.

„Ja, das ist mir hinreichend bekannt. Weißt Du, wenn ich arbeite, ist meine Kundschaft meist dicht um mich rum und die erzählen über die Tage eigentlich alle Familiengeheimnisse. So zum Beispiel, dass F. zwar Dein aktueller Mitbewohner ist, sich aber ständig damit brüstet, nicht schwul zu sein, höchstens bi und bei der passenden Gelegenheit zu gehen.“

Damit hatte bei Olivier einen wunden Punkt getroffen. Nein, F. sprach ihm gegenüber solches schon lange nicht mehr aus, aber nicht aus Schonung oder weil es nicht mehr wahr war, sondern einfach, weil für F., den Mathematiker, diese einmal so getroffene Aussage auch dauerhaft Bestand hatte. Sie musste nicht wiederholt werden, nur, um wahr zu bleiben.

 

Die nächsten Bilder zeigten ein paar frühere Arbeiten von Juan und Olivier musste anerkennen, dass ihm gegenüber mindestens ein größeres Talent saß. Ob das ausreichen würde, SEINE Kunden zufrieden zu stellen, dass konnten nur einige Probeläufe zeigen.

„Nun, das mit dem Ratschen mit den Kunden ist in meinem Kundenkreis im Regelfall nicht möglich. Diese hochnäsigen Typen geben normalerweise den Auftrag und dann siehst Du sie bis zur Abnahme nicht wieder. Manchmal wünschte auch ich, es wäre anders und der einzige Ansprechpartner wäre nicht ein verknittertes Männchen oder eine alte Schreckschraube, ihn zur Sicherheit und sie zum Kaffeekochen abgestellt.“

Juan lachte laut auf. Es war das erste Mal, dass er lachte und Olivier liefen die nächsten Schauer den Rücken runter. Er spürte, wie sich bei ihm die Gänsehaut aufstellte. Sofort erinnerte er sich an Sascha und doch, dieses Lachen war ganz anders. Es war keine warme braune Schokolade, eher heiße Vanillesauce, die seine Erdbeeren überdeckte.

„Nun blättere mal weiter, die nächsten Bilder zeigen ein paar Kleinigkeiten, die ich in meinem Haus gemacht habe.“

Olivier tat dies und sofort bereute er es. Die Bilder zeigten durchaus ein Haus, das Juans hat sein können, viel mehr aber zeigten sie IHN vor oder neben seinen Dekorationen, eines davon sogar auf dem Boden vor einer der Dekos liegend. Gerne mögen sich Künstler vor ihren Werken abbilden lassen – doch normalerweise waren sie dabei nicht nackt!