Sprachmanagement im digitalen Zeitalter
Erweiterte deutsche Ausgabe
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Swantje Lichtenstein und Hannes Bajohr
ich habe mich immer unwohl gefühlt dichter genannt zu werden
wenn robert lowell ein dichter istwill ich kein dichter sein
wenn robert frost ein dichter warwill ich kein dichter sein
wenn sokrates ein dichter warüberleg ichs mir
David Antin
Einleitung
1Die Rache des Textes
2Sprache als Material
3Mit Unbeständigkeit umgehen
4Für eine Poetik des Hyperrealismus
5Warum Appropriation?
6Unfehlbare Prozesse. Was das Schreiben von der bildenden Kunst lernen kann
7Unterwegs abtippen
8Die neue Unlesbarkeit parsen
9Datenwolken säen
10Das Inventar und das Ambiente
11Unkreatives Schreiben im Seminarraum. Eine Desorientierung
12Das Netz als telepathischer Raum
13Provisorische Sprache
Nachwort
Danksagung
Anmerkungen
Abbildungen und Rechte
Der Konzeptkünstler Douglas Huebler schrieb 1969: »Die Welt ist voller Objekte (mehr oder weniger interessant); ich habe nicht vor, ihnen welche hinzuzufügen.«1 Ich bin mit Hueblers Idee völlig einverstanden, auch wenn ich sie vielleicht folgendermaßen umrüsten würde: »Die Welt ist voller Texte (mehr oder weniger interessant); ich habe nicht vor, ihnen welche hinzuzufügen.« Das scheint mir eine angemessene Reaktion auf die heute herrschenden neuen Bedingungen des Schreibens zu sein: Konfrontiert mit einer noch nie dagewesenen Masse an verfügbarem Text besteht das Problem nicht darin, mehr schreiben zu müssen; stattdessen sollten wir lernen, mit den riesigen Mengen existierenden Textes fertigzuwerden. Es ist die Art und Weise, in der ich mich durch dieses Dickicht an Informationen schlage – wie ich sie manage, wie ich sie »parse«, wie ich sie organisiere und verbreite –, die mein Schreiben von dem anderer unterscheidet.
Die Literaturwissenschaftlerin Marjorie Perloff hat vor Kurzem den Begriff des »Unoriginalgenies« zu verwenden begonnen, um diese im Entstehen begriffene Tendenz in der Literatur zu beschreiben.2 Ihre Kernidee ist, dass sich aufgrund der Veränderungen, die durch Technologie und Internet vorangetrieben worden sind, unsere Vorstellung des Originalgenies – als einer romantischen, isolierten Figur – überholt hat. Ein Update der Genievorstellung müsste sich auf die Fähigkeit konzentrieren, wie man Information und ihre Verbreitung meistert. Perloff hat auch den Begriff der »Informationsbewegtheit« (moving information) geprägt, der sowohl das Umherschieben von Sprache als auch die Tatsache meint, dass man sich von diesem Prozess emotional bewegen lässt. Sie ist der Meinung, dass die Schreibenden von heute eher Programmierern ähneln als gemarterten Genies und auf brillante Weise Maschinerien des Schreibens, Schreib-Maschinen konzeptualisieren, konstruieren, ausführen und instand halten.
Perloffs Idee des »Unoriginalgenies« sollte man nicht für eine bloße theoretische Spielerei halten; sie ist angewandte literarische Praxis, die in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurückreicht und ein Ethos verkörpert, dem die Konstruktion oder Konzeption eines Textes ebenso wichtig ist wie das, was der Text sagt oder tut. Man denke nur an die kollationierende Zettelwirtschaft von Walter Benjamins Passagen-Werk oder die von mathematischen Überlegungen geleiteten und auf Selbstbeschränkung basierenden Werke der Gruppe Oulipo. Heute sind diese mechanistischen Tendenzen im Schreiben technologisch verschärft (es gibt beispielsweise mehrere webbasierte Versionen von Raymond Queneaus in mühseliger Handarbeit konstruierten Hunderttausend Milliarden Gedichte von 1961). Sie bringen jüngere Schreibende dazu, sich an den Funktionsweisen neuer Technologien und am Internet für die Literaturverfertigung zu orientieren. Ein Ergebnis ist, dass Autorinnen und Autoren Wege des Schreibens erforschen, die man traditionellerweise außerhalb des Bereichs literarischer Praxis vermutet: Text- und Datenbankverarbeitung, Recycling, Appropriation, bewusstes Plagiat, Identitätsverschlüsselung und intensives Programmieren, um nur einige zu nennen.
Jonathan Lethem veröffentlichte 2007 im Harper’s Magazine einen plagiierten Essay, der sich für das Plagiat starkmachte: The Ecstasy of Influence. A Plagiarism (Einflussrausch. Ein Plagiat). Der Text ist eine lange Verteidigung und Geschichte jener Praxis, Ideen in der Literatur zu teilen, zu klauen, auszuwählen, wiederzuverwenden, zu recyceln, zu stibitzen, zu stehlen, zu zitieren, zu plündern, zu schenken, zu appropriieren, nachzuahmen und zu raubkopieren, die so alt ist wie die Literatur selbst. Er erinnert daran, wie zentral Schenkökonomien, die Open-Source-Kultur und die öffentliche Allmende für die Schöpfung neuer Werke gewesen sind, bei denen Motive älterer Arbeiten die Basis für neue abgaben. Er reiht sich damit ein in den Chor der Verteidiger freier Kultur, zu dem etwa Lawrence Lessig und Cory Doctorow zählen, und schmäht höchst eloquent das bestehende Urheberrecht als eine Bedrohung der Lebensgeister aller Kreativität. Von Martin Luther Kings Predigten bis hin zu den Bluesmelodien Muddy Waters’ demonstriert er die reiche Ernte, die eine Kultur des Teilens abwirft. Er zitiert sogar Beispiele, die er für seine eigenen »originellen« Einfälle hielt, nur um später herauszufinden – oft per Google –, dass er unbewusst anderer Leute Ideen aufgenommen und als seine eigenen ausgegeben hatte.
Es ist ein großartiger Essay. Dumm nur, dass er ihn nicht »geschrieben« hat. Die Pointe? Fast jedes Wort und jede Idee sind von anderen geliehen – entweder in Gänze angeeignet oder von Lethem neu formuliert. Lethems Essay ist ein Beispiel von patchwriting, einer Technik, verschiedenste Wortfetzen anderer zu einem harmonisch geschlossenen Ganzen zu verweben. Das ist ein Trick, den Studierende ständig anwenden, wenn sie etwa einen Wikipedia-Artikel in eigenen Worten formulieren. Wenn sie erwischt werden, setzt es Ärger: An der Universität ist derartig Flickgeschriebenes ein Vergehen, das einem Plagiat gleichkommt. Wenn Lethem seinen Essay als Abschlussarbeit oder Dissertationskapitel eingereicht hätte, hätte man ihn rausgeschmissen. Aber die wenigsten würden behaupten wollen, er habe kein brillantes Kunstwerk – und einen pointierten Essay – ganz aus den Worten anderer konstruiert. Es ist die Art und Weise, in der er seine Schreib-Maschine konzeptualisiert und in Gang gesetzt hat – die Präzision der Wahl dessen, was er dann mit großem Geschick arrangierte –, die uns für ihn einnimmt. Lethems Text ist das hochreflektierte, anschauliche Werk eines »Unoriginalgenies«.
Lethems Provokation macht vergessen, dass es einen Trend unter jungen Schreibenden gibt, die diese Übung einen Schritt weiter treiben und sich ganz kühn die Werke anderer ohne jedes Zitieren aneignen und damit die kunstfertige und nahtlose Integration von Lethems patchwriting hinter sich lassen. Für sie bedeutet der Akt des Schreibens ganz wörtlich, Sprache von einem Ort an einen anderen zu bewegen und dreist zu behaupten, dass Kontext der neue Content sei. Gehörten Pastiche und Collage schon lange zum Kernbestand der Literatur, hat mit dem Internet das Ausmaß des Plagiats ein neues Extrem erreicht. Verschiedenste Autoren haben in den letzten fünf Jahren außerordentliche Werke veröffentlicht: Sie haben Jack Kerouacs Unterwegs zur Gänze – eine Seite pro Tag über ein Jahr verteilt – abgetippt und auf einem Blog hochgeladen, den vollständigen Text einer Ausgabe der New York Times als einen Neunhundertseiten-Wälzer publiziert oder ein Listengedicht geschrieben, das der bloßen Aufzählung von Geschäften in einer Shoppingmall in poetischer Form einen neuen Rahmen verleiht. Da ist der verarmte Autor, der jeden ihm zugesandten Kreditkartenantrag in ein achthundertseitiges Print-on-Demand-Buch packt, das so teuer ist, dass er sich selbst keine Ausgabe leisten kann; oder da ist das Buch, das die Regeln einer ganzen Grammatik aus dem achtzehnten Jahrhundert, einschließlich Index, auf sich selbst anwendet; ein weiteres, das die juristischen Schriftsätze einer Autorin, die im Brotjob Strafverteidigerin ist, in Gänze und ohne ein Wort zu ändern als Poesie wiederverwertet; noch eines, dessen Autorin ihre Tage in der British Library damit verbracht hat, die ersten Verse von Dantes Hölle aus jeder in der Bibliothek befindlichen englischen Übersetzung abzuschreiben, Seite für Seite, bis sie deren Bestände erschöpft hat. Da ist das Autorenkollektiv, das Statusmeldungen aus sozialen Netzwerken abzapft und ihnen die Namen toter Schriftsteller unterschiebt (»Jonathan Swift hat Karten zum Wranglers-Spiel heute Abend!!«) und so ein episches, nichtendendes Gedicht schafft, das sich so oft selbst neu schreibt, wie Facebook-Seiten aktualisiert werden. Und schließlich ist da eine ganze literarische Bewegung namens Flarf, die auf dem Schlechtesten basiert, was die Google-Suche zu bieten hat: je obszöner, je lächerlicher, je unerhörter, desto besser.
Diese Schreiber sind Sprachmessies. Ihre Projekte nehmen epische Ausmaße an und spiegeln die gigantischen Maßstäbe wider, mit denen Text im Netz gemessen wird. Obwohl diese Werke meist elektronische Form haben, gibt es oft auch Papierversionen, die in Zeitschriften und Zines zirkulieren, von Bibliotheken gekauft und von Lesern rezipiert, studiert und analysiert werden. Auch wenn dieses neue Schreiben einen elektrischen Glanz in den Augen hat, sind seine Ergebnisse entschieden analog. Es schöpft Inspiration aus der Avantgarde der Moderne und mischt sie mit der Technik des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Diese »unkreative« Literatur basiert sicher nicht auf einer nihilistischen, missgünstigen Akzeptanz – oder gar offenen Ablehnung – einer angeblichen »technologischen Versklavung«; sie ist Produkt eines Schreibens, das sich für die Zukunft begeistert und den Augenblick mit seiner Fülle an Möglichkeiten feiert. Diese Freude erweist sich im Geschriebenen selbst, in dem es Momente unerwarteter Schönheit gibt, seien sie grammatisch, strukturell oder philosophisch. Dazu gehören die wundervollen Rhythmen der Wiederholung, das Schauspiel der als Literatur neu gerahmten Alltäglichkeit, eine Hinwendung zur Poetik der Zeit und ein neuer Blick auf das, was einen »Leser« ausmacht. Außerdem gibt es da Gefühl: ja, Gefühl. Aber statt eben zu zwingen oder zu überreden, verabreicht dieses Schreiben seine Emotionalität verdeckt und unvorhersehbar, mit Empfindungen, die sich als das Ergebnis des Schreibprozesses ausdrücken statt als auktorialer Wille.
Diese Autorinnen und Autoren agieren eher wie Programmierer denn als traditionelle Schriftsteller, indem sie sich Sol LeWitts berühmtes Diktum zu Herzen nehmen: »Wenn ein Künstler eine konzeptuelle Form von Kunst benutzt, heißt das, daß alle Pläne und Entscheidungen im Voraus erledigt werden und die Ausführung eine rein mechanische Angelegenheit ist. Die Idee wird zum Apparat, der Kunst produziert.«3 So werden neue Möglichkeiten eröffnet für das, was Schreiben alles sein kann. Der Dichter Craig Dworkin fragt:
Wie sähe eine nicht-expressive Dichtung aus? Eine Dichtung des Intellekts und nicht der Emotionen? Eine, in der die Ersetzungen, die in Metapher und Bild vor sich gehen, von der direkten Darstellung der Sprache selbst abgelöst werden, in der »spontaner Überschwang« durch akribische Prozeduren und erschöpfende logische Prozesse ausgetauscht werden? In der das Selbstbewusstsein des Poeten-Egos auf die Reflexivität der Sprache im Gedicht umgeleitet wird? So, dass das Kriterium für Dichtung nicht länger ist, ob es besser hätte gemacht werden können (die Werkstattfrage), sondern ob es überhaupt denkbar ist, dass es anders hätte gemacht werden können.4
Mehr und mehr Schriftsteller haben in den letzten Jahren die Strategien des Kopierens und der Appropriation, also der Aneignung fremden Textes, verfolgt. Der Computer legt ihnen nahe, so zu arbeiten wie er selbst. Wenn das Kopieren und Einfügen, das Copy-and-paste, wesentlicher Bestandteil des Schreibprozesses ist, wäre es Unsinn zu glauben, dass Schriftsteller diese Funktionen nicht in Extremen ausbeuten würden, die von ihren Erfindern gar nicht vorgesehen waren.
Schauen wir auf die Geschichte der Videokunst zurück als der letzten Mainstream-Technologie, die in die Kunstpraxis einging, dann finden wir einige Vorläufer solcher Gesten. Eine, die heraussticht, ist Nam June Paiks Magnet TV von 1965, für das der Künstler einen riesigen Hufeisenmagneten auf einen Schwarz-Weiß-Fernseher legte und so sehr elegant eine Fläche, die vorher Komikern und Showmastern vorbehalten war, in schleifenförmige, organische Abstraktionen verwandelte. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand die Aufgabe des Fernsehens darin, als Lieferdienst für Unterhaltung und kristallklare Kommunikation zu fungieren. Aber diese simple künstlerische Geste stellte das Fernsehen auf eine Weise auf den Kopf, die Zuschauern wie Produzenten unbekannt war. Sie eröffnete dem Medium ein völlig neues Vokabular und dekonstruierte gleichzeitig die in dieser Technik eingebundenen, aber bislang verborgen gebliebenen Mythen der Macht, Politik und Verbreitung. Die Copy-and-paste-Funktion des Computers wird nun von Schriftstellern so ausgebeutet, wie Paiks Magnet es mit dem Fernsehen getan hatte.
Heimcomputer gibt es seit ungefähr dreißig Jahren und man hat in dieser Zeit immer kopiert und eingefügt, doch es ist erst die Verbreitung von Hochgeschwindigkeitsverbindungen, die es so einfach und verführerisch macht, ganze Massen von Sprache abzuzapfen. Bei den alten Telefon-Internetverbindungen war Copy-and-paste zwar möglich, aber anfangs (im sogenannten Gopherspace) wurde Text nur nach und nach auf dem Bildschirm ausgegeben. Obwohl es bloß Text war, waren die Ladezeiten beträchtlich. Im Breitbandnetz dagegen geht der Zapfhahn gar nicht mehr zu.
Verglichen damit ermutigte die Schreibmaschine überhaupt nicht zur Vervielfältigung von Text. Sie war unendlich langsam und arbeitsaufwendig. Hinterher, nachdem man mit dem Schreiben fertig war, konnte man nach Herzenslust mit dem Fotokopierer Abzüge machen. Das hatte zur Folge, dass es im zwanzigsten Jahrhundert eine Menge Zweckentfremdung, détournement, gab, das mit dem Gedruckten spielte, nachdem es einmal getippt war: William S. Burroughs Cut-Ups und Fold-Ins oder Bob Cobbings ramponierte, matrizengedruckte Gedichte sind bekannte Beispiele.5 Die Vorgängerformen solchen literarischen Borgens, die Collage und das Pastiche – für die man ein Wort von hier, einen Satz von dort nahm – wurden zum Teil mit Hinsicht auf die damit verbundene Arbeitsmenge entwickelt. Ein ganzes Buch per Hand auf einer Schreibmaschine abzutippen, ist das eine; es mit drei Tastenkombinationen (Alles auswählen / Kopieren / Einfügen) zu übernehmen, etwas völlig anderes. Ohne Frage bereitet das alles die Bühne für eine literarische Revolution.
Oder vielleicht doch nicht? So wie es aussieht, geht das Schreiben heute zumeist so vor, als hätte das Internet nie stattgefunden. Die Literaturwelt lässt sich immer noch regelmäßig von uralten Betrugs-, Fälschungs- und Plagiatssperenzchen schockieren, und zwar in einer Weise, die die Kunst-, Musik-, Computer- oder Wissenschaftswelt nur ungläubig kichern ließe. Man mag kaum glauben, dass die literarischen Skandale um Autoren wie James Frey oder J. T. LeRoy irgendjemanden aufregten,6 der mit den anspruchsvollen, willentlich betrügerischen Provokationen eines Jeff Koons vertraut ist oder die abfotografierten Werbeplakate von Richard Prince kennt, dem für seine Plagiatsneigungen eine ganze Retrospektive im Guggenheim spendiert wurde.7 Koons und Prince begannen ihre Karrieren, indem sie offensiv erklärten, dass sie appropriierten und bewusst »unoriginell« waren, während Frey und LeRoy – auch nachdem sie erwischt wurden –, immer noch darauf bestanden, ihre Werke als authentische, ernsthafte und persönliche Aussagen an ein Publikum zu verkaufen, das solche Qualitäten von Literatur ganz offensichtlich erwartete. Der darauffolgende Eiertanz war skurril. In Freys Fall wurde Random House verklagt und musste Lesern, die sich in die Irre geleitet fühlten, Millionen von Dollar an Schadensersatz erstatten. Alle folgenden Auflagen des Buches enthalten nun einen Warnhinweis, der die Leser darüber informiert, dass das, was sie lesen, in Wirklichkeit ein fiktionales Werk ist.8
Man stelle sich vor, wie all diese Komplikationen hätten vermieden werden können, wenn sich Frey oder LeRoy den Koons’schen Anstand von Anfang an zu eigen gemacht und zugegeben hätten, dass ihre Strategie in Ausschmückung bestand, mit einigen Tupfern Unaufrichtigkeit, Falschheit und Unoriginalität. Aber nein. Fast ein Jahrhundert ist es her, dass die Kunstwelt die konventionellen Vorstellungen von Originalität und Vervielfältigung zu den Akten gelegt hat, mit Marcel Duchamps Readymades, Francis Picabias mechanischen Zeichnungen und Walter Benjamins vielzitiertem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Seitdem haben eine ganze Reihe hochrangiger Künstler, von Andy Warhol bis Matthew Barney, diese Ideen auf immer neue Spitzen getrieben und damit ganz fürchterlich komplexe Theorien über Identität, Medien und Kultur angeregt. Natürlich gehört das alles inzwischen zum täglichen Brot des Kunstdiskurses, bis zuletzt als Gegenreaktionen wieder Ernsthaftigkeit und Repräsentation auftauchten. In der Musik verfährt das allgegenwärtige Sampling, bei dem ganze Tracks aus anderen zusammengebaut werden, ganz ähnlich. Von Napster bis zum Gaming, vom Karaoke bis zu Torrent-Dateien scheint die Gegenwartskultur das Digitale und all die Komplexität, die aus ihm erwächst, mit offenen Armen aufzunehmen – mit der alleinigen Ausnahme der Literatur, die immer noch an der Idee hängt, mit allen Mitteln eine authentische und stabile Identität behaupten zu müssen.
Ich möchte damit nicht sagen, dass man solches Schreiben ausrangieren sollte: Wen haben großartige Memoiren noch nicht bewegt? Aber ich habe das Gefühl, dass sich die Literatur – so unendlich sie in ihrem Potenzial und in ihren Ausdrucksregistern ist – festgefahren hat. Sie schlägt immer wieder nur dieselben Töne an und beschränkt sich auf das engste aller Spektren, was wiederum eine Praxis hervorbringt, die den Anschluss an die lebendigsten und aufregendsten kulturellen Diskurse unserer Zeit verloren hat und unfähig ist, an ihnen teilzunehmen. Ich halte das für einen zutiefst traurigen Zustand – und für eine große verschenkte Möglichkeit, die literarische Schaffenskraft sich in ungeahnten Weisen revitalisieren zu lassen.9
Vielleicht ist ein Grund dafür, dass das Schreiben feststeckt, in den Methoden zu suchen, mit denen es an den Instituten für Creative Writing gelehrt wird. Was die vielen ausgeklügelten Ideen angeht, die mit Medien, Identität und Sampling zu tun haben, die im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt worden sind, haben Bücher über Kreatives Schreiben den Zug völlig verpasst und verlassen sich auf stereotype Ideen dessen, was es heißt, »kreativ« zu sein. Diese Bücher sind mit Ratschlägen gepfeffert wie: »Ein kreativer Autor ist ein Entdecker, ein Bahnbrecher. Kreatives Schreiben hilft Ihnen, sich Ihren eigenen Weg zu öffnen und dahin zu gehen, wo kein Mensch zuvor gewesen ist«. Oder sie meinen, Michel de Certeau, John Cage und Warhol völlig beiseitelassend, dass »Kreatives Schreiben die Befreiung von den Zwängen des Alltags ist.« In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erklärten Duchamp und Erik Satie, ohne Erinnerung leben zu wollen. Für sie war dies eine Möglichkeit, den Wundern des Alltags gegenwärtig zu sein. Doch es scheint, als bestehe jedes dem Kreativen Schreiben gewidmete Buch darauf, dass »Erinnerung die Hauptquelle der Fantasie« sei. Die Kapitel mit praktischen Anleitungen in diesen Büchern erscheinen mir unendlich schlicht zu sein, wenn sie uns dazu zwingen, die Grundlage des Schreibens eher im Theatralischen als im Alltäglichen zu suchen. »Erklären Sie aus der Ich-Perspektive, wie sich ein 55 Jahre alter Mann am Tag seiner Hochzeit fühlt. Es ist seine erste Ehe.«10 Mir sind die Ideen von Gertrude Stein lieber, die in der dritten Person von ihrer Unzufriedenheit mit solchen Techniken berichtet: »In ihrem Bemühen zu beschreiben versuchte sie es mit allen möglichen Experimenten. Sie versuchte es mit dem Erfinden von Worten, gab es aber bald auf. Die englische Sprache war ihr Medium, und mit der englischen Sprache musste die Aufgabe gelöst werden. Die Verwendung erfundener Worte widerte sie an, es war eine Flucht in imitierte Empfindung.«11
Im Laufe der letzten Jahre habe ich an der University of Pennsylvania Kurse unterrichtet, die Uncreative Writing hießen. In ihnen ist es den Studierenden verboten, auch nur einen Hauch von Originalität und Kreativität an den Tag zu legen. Stattdessen werden sie für Plagiat, Identitätsbetrug, wiederverwertete Essays, patchwriting, Sampling und für das Stehlen und Plündern belohnt. Wenig überraschend blühen sie dabei auf. Mit einem Mal wird etwas, worin sie heimlich zu Experten geworden sind, ans Tageslicht geholt, in einer sicheren Umgebung erforscht und in Begriffen von Verantwortung statt Leichtsinnigkeit neu formuliert.
Wir tippen Dokumente ab und transkribieren Audiodateien. Wir nehmen kleine Änderungen an Wikipedia-Artikeln vor (indem wir aus einem »der« ein »das« machen oder irgendwo ein Leerzeichen einfügen). Wir halten Seminarstunden in Chaträumen ab und verbringen ganze Semester in Second Life. Die Semester-Abschlusshausarbeit besteht darin, einen Text von einer Ghostwriting-Website zu kaufen und den eigenen Namen darunterzusetzen – die sicher am meisten geächtete Handlung in der akademischen Welt. Alle Studierenden müssen danach vor das Seminar treten und ihre Arbeit so präsentieren, als hätten sie sie selbst geschrieben, und sie anschließend gegen die Einwände ihrer Kommilitonen verteidigen. Welche Arbeit haben sie sich ausgesucht? Ist es möglich, etwas zu verteidigen, was man nicht geschrieben hat? Vielleicht etwas, dem man gar nicht zustimmt? Überzeuge uns! All das beruht selbstverständlich auf Technik. Wenn die Studierenden den Seminarraum betreten, sage ich ihnen, dass sie ihre Laptops vor sich haben und mit dem Internet verbunden sein müssen. Und so bekommen wir einen Ausblick auf die Zukunft. Nachdem ich die spektakulären Ergebnisse dieses vollkommen engagierten und demokratischen Seminars gesehen habe, bin ich umso überzeugter, dass ich nie wieder zu einer traditionellen Schreibpädagogik zurückkehren werde. Die Studierenden bringen mir mehr bei als ich ihnen. Die Rolle des Professors ist jetzt eine Mischung aus Partygastgeber, Verkehrspolizist und einem, der sie zum Schlimmsten anspornt.
Das Geheimnis: Es ist unmöglich, Selbstdarstellung ganz auszuschalten. Selbst dann, wenn wir etwas scheinbar »Unkreatives« tun, wie einige Seiten abzutippen, stellen wir uns doch auf verschiedene Weise selbst dar. Die Wahl dessen, was man neu zu rahmen plant, erzählt so viel über uns selbst, wie die Story über die Krebsoperation unserer Mutter. Die Sache ist bloß, dass uns nie beigebracht wurde, diese Wahl zu schätzen. Nach einem Semester, in dem ich die »Kreativität« einer Studentin zwangsweise unterdrückt habe, indem ich sie plagiieren und transkribieren ließ, kann es sein, dass sie in der letzten Stunde mit traurigem Gesicht auf mich zukommt und mir sagt, wie enttäuscht sie sei, weil das, was wir geschafft haben, überhaupt nicht unkreativ gewesen ist; indem sie nicht »kreativ« war, hatte sie die kreativsten Werke ihres Lebens produziert. Das Gegenteil von »Kreativität« in den Blick zu nehmen – den abgedroschensten, ausgelutschtesten und am schlechtesten definierten Begriff in der Ausbildung eines Autors – hatte sie erfrischt und ihr eine neue Leidenschaft für das Schreiben verliehen.
Ich habe viele Jahre in der Werbung als »Creative Director« gearbeitet und weiß daher, ganz gleich, was die kulturellen Meinungsmacher sagen, dass Kreativität – so, wie sie in unserer Kultur mit ihrer nicht enden wollenden Parade an stereotypen Romanen, Memoiren und Filmen definiert wird – etwas ist, vor dem man sich in die Büsche schlagen sollte; nicht nur als Teil der »kreativen Klasse«, sondern auch der »künstlerischen Klasse«. Wir leben in einer Zeit, in der die Technik die Regeln des Spiels für jeden Aspekt unseres Lebens neu schreibt, und es ist Zeit, solche Klischees infrage zu stellen, niederzureißen, vor uns auszubreiten und diese schwelende Glut in etwas Neues, Gegenwärtiges und – endlich! – Relevantes zu gießen.
Natürlich ist nicht jeder dieser Meinung. Nachdem ich vor Kurzem einen Vortrag an einer Ivy-League-Universität beendet hatte, stand ein älterer, bekannter, in der Tradition der klassischen Moderne schreibender Dichter auf und beschuldigte mich erhobenen Zeigefingers, ein Nihilist zu sein und die Poesie all ihrer Freude zu berauben. Er tadelte mich dafür, geweihte Böden einzureißen, und schleuderte mir eine Reihe von Fragen entgegen, die ich bereits oft gehört hatte: Wenn alles transkribiert und als Literatur ausgegeben werden kann, was macht dann ein Werk besser als ein anderes? Wenn es nur darum geht, das ganze Internet in ein Word-Dokument zu kopieren, wo soll das aufhören? Wenn wir uns einmal darauf einlassen, alle Sprache, die wir neu rahmen, als Poesie zu akzeptieren, laufen wir dann nicht Gefahr, alle Urteilskraft und Qualität aus dem Fenster zu werfen? Was passiert mit dem Begriff der Autorschaft? Wie werden Karrieren und Kanons geschaffen und wie werden sie anschließend bewertet? Spielen wir nicht schlicht den Tod des Autors nach, eine Figur, die die Theorie schon das erste Mal nicht hat umbringen können? Werden alle Texte in der Zukunft autoren- und namenlos sein, geschrieben von Maschinen für Maschinen? Ist in der Zukunft alle Literatur auf bloßen Code reduzierbar?
Das sind alles begründete Sorgen, denke ich, für einen Mann, der aus den Kämpfen des zwanzigsten Jahrhunderts siegreich hervorgegangen ist. Die Herausforderungen seiner Generation waren ähnlich gewaltig. Wie gelang es ihnen, die Traditionalisten vom fragmentarischen Gebrauch der Sprache zu überzeugen, die sich in gesprengter Syntax und unerhörten Komposita entfaltete, und die sie für ebenso fähig hielten, menschliche Emotionen auszudrücken, wie die lang erprobten Methoden? Oder davon, dass eine Geschichte nicht als strenge Erzählung vorgetragen zu werden braucht, um ihre eigene Logik und ihren eigenen Sinn zu haben? Sie setzten sich schließlich gegen alle Widerstände durch.
Das einundzwanzigste Jahrhundert, dessen Fragen ganz andere sind als die des letzten, lässt mich aus einer anderen Perspektive antworten. Wenn es schlicht darum geht, das ganze Internet in ein Word-Dokument zu kopieren – was natürlich unmöglich ist –, dann kommt es auf die eigene Auswahl als Autor an. Erfolg liegt im Wissen, was man einschließt und, am wichtigsten, was man auslässt. Wenn alle Sprache durch Neurahmung in Poesie verwandelt werden kann – eine aufregende Möglichkeit –, dann wird derjenige, der Worte in der am meisten aufgeladenen und überzeugendsten Weise neu rahmt, für am besten gehalten. Ich stimme zu, dass wir in dem Moment, in dem wir Urteilsvermögen und Qualität aus dem Fenster werfen, in die Bredouille kommen. Demokratie ist gut für YouTube, aber wenn es um Kunst geht, ist es der sicherste Weg in die Katastrophe. Es mögen alle Wörter gleich geschaffen (und behandelt) sein, doch die Art und Weise, wie sie zusammengesetzt werden, ist es nicht; es ist unmöglich, die Urteilskraft auszusetzen, und es wäre Wahnsinn, Qualität zu ignorieren. Mimesis und Nachbildung merzen Autorschaft nicht aus, vielmehr stellen sie schlicht neue Forderungen an Autoren, die diese neuen Bedingungen für das nehmen müssen, was sie sind: wesentliche Bestandteile der Umwelt, in der sie ihre Kunstwerke schaffen. Wenn du nicht kopiert werden willst, dann stells nicht online!
Karrieren und Kanons werden nicht mehr auf traditionelle Weise gemacht. Ich bin mir nicht so sicher, dass wir in Zukunft noch Karrieren in der Art haben werden, wie wir sie gewohnt sind. Literarische Werke könnten so funktionieren, wie es Meme heute im Web tun, die sich für kurze Zeit wie ein Lauffeuer verbreiten, oft ohne Signatur und ohne Autor, nur, um von der nächsten Welle überholt zu werden. Während der Autor wohl nicht sterben wird, werden wir vielleicht anfangen, Autorschaft auf eine konzeptuellere Weise zu betrachten: Vielleicht sind die besten Autoren der Zukunft solche, die die besten Programme schreiben können, mit denen man sprachbasierte Praktiken manipulieren, parsen und verteilen kann. Selbst wenn, wie Christian Bök meint, Poesie in der Zukunft von Maschinen für andere Maschinen zur Lektüre geschrieben werden kann, so wird doch noch für einige Zeit jemand hinter dem Vorhang die Fäden ziehen und diese Drohnen erfinden, sodass, selbst wenn Literatur auf Codes reduziert werden kann (eine faszinierende Idee), die klügsten Köpfe hinter ihnen als unsere größten Schriftsteller gelten werden.
Dieses Buch versucht diese Gebiete zu kartieren, Terminologien zu definieren und Kontexte zu kreieren – sowohl in der Geschichte wie in der Gegenwart – in denen diese Werke situiert und diskutiert werden können. Die ersten Kapitel sind eher technischer Art und bilden das Fundament. Sie sprechen über das Wie und Warum des Unkreativen Schreibens. »Die Rache des Textes« konzentriert sich auf den Aufstieg des Internets und die Folgen digitaler Sprache für den Akt des Schreibens selbst. Die neuen Bedingungen von Wortüberfluss und -übermenge werden nachgezeichnet und der Vorschlag gemacht, sie als Teil eines Ökosystem anzuerkennen, in dem sie auch zu bewältigen sind. »Sprache als Material« legt den Grund für die Betrachtung von Wörtern als nicht nur semantisch transparenten Kommunikationsvehikeln, sondern als Träger formaler und materialer Eigenschaften – eine Umwendung, die wesentlich ist, wenn man in einer digitalen Umwelt schreibt. Zwei Bewegungen aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, der Situationismus und die Konkrete Poesie, werden hier zu gegenwärtigen Formen des Schreibens in Beziehung gesetzt – auf dem Bildschirm, dem Papier und auf der Straße. »Mit Unbeständigkeit umgehen« nimmt Probleme der Kontextualisierung in der digitalen Umwelt auf und kommentiert die Fluidität und Austauschbarkeit von Wörtern und Sachen. »Für eine Poetik des Hyperrealismus« setzt sich mit der Frage auseinander, wie das seit jeher schwer zu fassende Thema der Bestimmung des eigenen Selbst in der Onlinewelt immer komplizierter geworden ist und den Weg für eine postidentitäre Literatur in unserem globalen Konsumentenmilieu bereitet. Das Kapitel endet mit einer kurzen Analyse eines Werkes von Vanessa Place, Statement of Facts, das Unkreatives Schreiben ganz radikal als ethisches Vakuum versteht, in dem folgenlos regelwidrige und mechanistische Impulse erforscht werden können. Place setzt eine Dokumentarpoetik um, die unserer ethischen DNS moralische Impulse einschreibt, die in appropriierter Sprache eingeschlossen liegen. Schließlich stellt »Warum Appropriation?« die Frage, wieso Collage und Pastiche schon lange akzeptierte Methoden des Schreibens sind, während Appropriation selten ausprobiert worden ist. Das Kapitel untersucht die reiche Geschichte der Appropriation in der bildenden Kunst und schlägt Wege vor, diese Vorlagen auf die Literatur zu übertragen.
Der folgende Essay, »Unfehlbare Prozesse«, liest die Werke zweier bildender Künstler durch die Brille des Unkreativen Schreibens. Es kann einiges aus der Karriere und dem Schaffen Sol LeWitts lernen. Seine Ansätze und Methoden in der bildenden Kunst können sehr elegant auf das Schreiben im digitalen Zeitalter angewandt werden. Der zweite Teil des Kapitels setzt Leben und Werk Andy Warhols in Beziehung zum Unkreativen Schreiben und betrachtet seine mechanistischen Tendenzen und die manische Produktion parallel zur Weise, in der wir heute digitale Wörter hin- und herschieben.
Der letzte Abschnitt des Buches demonstriert, wie man Unkreatives Schreiben in der Praxis anwenden kann. Diese Essays stellen die repräsentativen Werke und Autoren für spezifische Richtungen des Unkreativen Schreibens vor. »Unterwegs abtippen« behauptet, dass der simple Akt, einen Text abzuschreiben, genug ist, um ein neues literarisches Werk zu konstituieren, wobei das Handwerk des Kopisten auf das Niveau des Schriftstellers gehoben wird. Es ist eine utopische Kritik von Arbeit und Werthaftigkeit im von Werten befreiten Raum poetischer Produktion. »Die neue Unlesbarkeit parsen« behauptet, dass das neue Schreiben möglicherweise am besten überhaupt nicht gelesen zu werden braucht: Es mag besser sein, über es nur nachzudenken. Die »Schwierigkeit« eines Textes ist heute durch Quantität (zu viel, um es zu lesen) statt Fragmentierung (zu zerstückelt, um es zu lesen) definiert, und hat sich damit von modernistischen Vorstellungen von Disjunktion und Dekonstruktion entfernt. »Datenwolken säen« untersucht, wie kurze Formen – der Telegraf, die Zeitungsüberschrift und der fettgedruckte Name – stets mit medienbasiertem Schreiben einhergingen, und kommentiert, wie dieser Impuls heute im Zeitalter von Twitter und sozialen Netzwerken weitergeführt wird. »Das Inventar und das Ambiente« hebt die neue und prominente Rolle hervor, die das Archiv in der Schöpfung literarischer Werke eingenommen hat, zumal in einer Epoche, in der die Art und Weise, wie man Informationen managt, die Qualität des eigenen Schreibens beeinflusst.
»Unkreatives Schreiben im Seminarraum« ist ein kurzer Traktat über Pädagogik und die Frage, welchen Einfluss die digitale Umwelt auf die Lehre und das Studium des Schreibens im universitären Rahmen hat. »Das Netz als telepathischer Raum«, ein eigens für die deutsche Fassung geschriebenes Kapitel, versucht, soziale Medien mit Marshall McLuhan als Erweiterungen unseres Zentralnervensystems zu verstehen, und stellt Sprachnutzung und -missbrauch in den Mittelpunkt. Ohne Frage schreiben wir mehr als viele Generationen vor uns, aber im Zeitalter sozialer Medien sind Worte nun mit einer eigenen Dynamik geladen und haben eine affektive, potenziell explosive Dimension angenommen.
Ein kurzer, manifestartiger Text, »Provisorische Sprache«, beschließt das Buch und artikuliert die Bedingungen von Sprachentwertung und -verzeitlichung im Zeitalter des Internets. Das Nachwort ist eine Spekulation über ein potenzielles Resultat Unkreativen Schreibens, die »Robopoetik« – der Zustand, in dem Maschinen Literatur für andere Maschinen schreiben und eine menschliche Leserschaft völlig umgehen.
1959 stellte der Dichter und Künstler Brion Gysin fest, das Schreiben hinke der Malerei fünfzig Jahre hinterher. Und er könnte immer noch recht damit haben: In der Kunstwelt ist seit dem Impressionismus der Mainstream immer die Avantgarde gewesen. Innovation und Risikobereitschaft wurden stets belohnt. Aber trotz der Erfolge der Moderne ist die Literatur mit sehr wenigen Überschneidungen zweigleisig gefahren, als Mainstream und als Avantgarde. Doch die Bedingungen der digitalen Kultur haben eine unerwartete Kollision erzwungen und die einst sicheren Grundfesten beider Lager ins Wanken gebracht. Mit einem Mal finden wir uns im selben Boot wieder und ringen mit neuen Fragen zu Autorschaft, Originalität und der Schöpfung von Sinn.
Im Musée d’Orsay gibt es einen Saal, den ich den »Raum der Möglichkeiten« nenne. Das Museum ist einigermaßen chronologisch strukturiert und schlängelt sich fröhlich durchs neunzehnte Jahrhundert, bis man auf einmal in einen Saal gelangt, in dem eine Reihe malerischer Reaktionen zur Erfindung der Kamera zu sehen sind – etwa eine Handvoll von Vorschlägen, wie sich die Malerei dazu verhalten könnte. Einer unter ihnen, der mir im Gedächtnis geblieben ist, ist eine Trompe-l’Œil-Lösung, in der eine Figur buchstäblich ihre Hände aus dem Rahmen hinaus in den Raum des Betrachters streckt. Ein anderer integriert dreidimensionale Gegenstände in die Leinwand. Alles großartige Anläufe, aber wie wir alle wissen, trug der Impressionismus – und damit die Moderne – den Sieg davon. Heute steht das Schreiben an einem ebensolchen Scheideweg.
Mit dem Aufstieg des Internets hat das Schreiben seine Fotografie gefunden. Damit meine ich, dass es sich in einer ähnlichen Situation befindet wie die Malerei zum Zeitpunkt der Erfindung der Fotografie – einer Technologie, die so sehr viel besser darin ist, die Wirklichkeit zu kopieren, dass die Malerei, um zu überleben, ihren Ansatz radikal verändern musste. Weil es der Fotografie um Tiefenschärfe ging, war die Malerei gezwungen, weicher zu werden, wie es schließlich im Impressionismus geschah. Zwischen den Künsten gab es eine vollkommen analoge Korrespondenz, weil unter der Oberfläche der Malerei, der Fotografie oder des Films nirgends auch nur ein Hauch von Sprache weht. Stattdessen war es ein direktes Abbildungsverhältnis, das die Bühne für eine piktoriale Revolution bereitete.
Heute befinden wir uns mitten in einer Revolution der Literatur, die von digitalen Medien ausgeht. 1974 konnte Peter Bürger noch behaupten: »Mit dem Aufkommen der Fotografie und der damit gegebenen Möglichkeit der exakten Wiedergabe von Wirklichkeit auf mechanischem Wege verkümmert die Abbildfunktion in der bildenden Kunst. Die Grenzen dieses Erklärungsmodells werden jedoch deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es sich nicht auf die Literatur übertragen läßt; denn es gibt im Bereich der Literatur keine technische Neuerung, die eine vergleichbare Wirkung hervorgebracht hätte wie die Fotografie in der bildenden Kunst.«1 Genau dieser Fall ist nun aber eingetreten.
Wenn die Malerei auf die Fotografie mit der Flucht in die Abstraktion reagierte, ist es unwahrscheinlich, dass das Schreiben in Bezug auf das Internet das Gleiche tun wird. Vielmehr scheint es, als müsse die Reaktion des Schreibens – das sich eher an der Fotografie als an der Malerei orientiert – mimetisch oder replikativ sein, Verbreitungsmethoden betreffen, während es gleichzeitig neue Empfangs- und Leseplattformen vorschlägt. Es ist gut möglich, dass Wörter nicht ausschließlich geschrieben werden, damit man sie liest, sondern damit man sie teilt, bewegt und manipuliert – manchmal von Menschen, meistens aber von Maschinen, was die außergewöhnliche Chance bietet, die Frage zu überdenken, was Schreiben ist und wie man die Rolle des Autors definieren kann. Während traditionelle Vorstellungen des Schreibens primär auf »Originalität« und »Kreativität« bezogen sind, fördert die digitale Umgebung neue Fähigkeiten, die »Manipulation« und »Management« der Unmengen an bereits bestehendem Text und sich stetig vermehrenden Sprache betreffen. Während Schriftsteller heute herausgefordert sind, sich Wortwucherungen »entgegenzustellen« und um Aufmerksamkeit zu buhlen, können sie sich diese Wucherungen auf unerwartete Weise zunutze machen, um Werke zu schaffen, die ebenso viel Ausdruck und Sinn besitzen wie solche, die auf eine traditionellere Weise entstanden sind.
Ich sitze im Flugzeug auf dem Weg zurück von Europa nach New York und starre träge auf die Karte, die unseren Reisefortschritt auf einem in die Sitzlehne vor mir eingelassenen Bildschirm zeichnet. Die glatte topografische Weltkarte ist zweidimensional und zeigt die ganze Erde, eine Hälfte im Dunkel, die andere hell, mit uns als einem kleinen weißen Flugzeug, das gen Westen zieht. Der Monitor schaltet regelmäßig von den grafischen Karten auf eine Liste blauen Textes um, die unsere Entfernung vom Ziel, die Zeit, die Fluggeschwindigkeit, die Außentemperatur und so weiter anzeigt, alles in einer eleganten serifenlosen Schriftart. Es ist entspannend und stimmungsvoll, dem Flugzeug zuzusehen, wie es sich seinen Weg bahnt, während ozeanische Platten und exotische Namen kleiner Städte an der nordatlantischen Küste vorbeiziehen – Carbonear, Gander, Glace Bay.
Als wir uns der Neufundlandbank nähern, flimmert mit einem Mal mein Bildschirm und wird schwarz. Für eine Weile ändert sich nichts, bis er wieder anspringt, diesmal in einer unscheinbaren weißen Systemschrift auf schwarzem Grund: Der Computer startet neu und statt all der hübschen Grafiken sieht man DOS-Zeilen, die anzeigen, dass der Computer hochfährt. Für ganze fünf Minuten sehe ich dabei zu, wie sich in der Befehlszeile Systembeschreibungen entspinnen, Schriften geladen und Grafikpakete entpackt werden. Schließlich wird der Bildschirm wieder blau und ein Fortschrittsbalken erscheint zusammen mit einer Sanduhr, während die Grafikschnittstelle lädt und gerade, als wir Land sichten, die Karte wiederkehrt.
Was wir für Grafik, Ton und Bewegung auf den Bildschirmen unserer Welt halten, ist in Wirklichkeit nur ein dünner Firnis, unter dem meilenweit nichts als Sprache herrscht. Gelegentlich, so wie auf meinem Flug, reißt dieser Firnis auf und, als würde einem der Blick unter die Motorhaube gestattet, sehen wir, dass unsere digitale Welt – unsere Bilder, unsere Filme und Videos, unsere Töne und Wörter, überhaupt unsere Information – sprachlich verfasst ist. Und all diese binären Informationen – Musik, Videos, Fotos – sind aus Sprache gemacht, einer riesenhaften Menge alphanumerischen Codes. Man sieht das, wenn man etwa eine E-Mail mit einem JPG-Anhang erhält, der versehentlich nicht als Bild, sondern als Code dargestellt wird, der nicht aufzuhören scheint. Er besteht aus nichts als Wörtern (wenn auch nicht auf eine Weise, die wir verstehen könnten): Das Rohmaterial, das das Schreiben angetrieben hat, seit es feste Form gewann, ist nun dasselbe, aus dem alle Medienarten geschaffen werden.
Abgesehen von seiner Funktionalität besitzt ein Code auch einen literarischen Wert. Wenn wir den Code »rahmen« und ihn mit den Mitteln der Literaturwissenschaft lesen, werden wir sehen, dass die letzten hundert Jahre modernen und postmodernen Schreibens den künstlerischen Wert scheinbar willkürlicher Buchstabenarrangements gezeigt haben.
Hier sind drei Zeilen einer JPG-Datei, die in einem Texteditor geöffnet wurde:
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Natürlich wird ein Close Reading dieses Textes nur sehr wenig zutage fördern, weder auf semantischer noch auf narrativer Ebene. Stattdessen enthüllt ein konventioneller Blick auf dieses Stück eine Nonsensansammlung von Buchstaben und Symbolen – eben einen Code, der entziffert und dann erst verständlich werden könnte.
Aber was passiert, wenn der Sinn nicht als das Wichtigste im Vordergrund steht? Wenn wir dem Text andere Fragen stellen müssen? Es folgen drei Zeilen aus dem Gedicht Lift Off von Charles Bernstein aus dem Jahr 1979:
HH/ ie,s obVrsxr;atjrn dugh seineocpcy i iibalfmgmMw er,, me“ius ieigorcy¢jeuvine+pee.)a/nat” ihl“n,s ortnsihcldseløøpitemoBruce-oOiwvewaa39osoanfJ++,r«P2
Ganz bewusst alle literarischen Tropen und die Vermittlung menschlicher Gefühle auslassend entscheidet sich Bernstein hier dafür, die Vorgänge einer Maschine und nicht Empfindungen zu betonen. Tatsächlich besteht dieser Text genau darin, was sein Titel besagt: Er ist eine Transkription all dessen, was das Korrekturband einer manuellen Schreibmaschine »abgehoben« hat. Bernsteins Gedicht ist in gewisser Weise ein Code, der sich als Gedicht ausgibt: Eine gewissenhafte Lektüre würde Wortbruchstücke sichtbar werden lassen und hin und wieder auch ein ganzes, gelöschtes Wort. Beispielsweise kann man in der letzten Zeile das Wort »Bruce« erkennen, was sich womöglich auf Bruce Andrews bezieht, Bernsteins Mitherausgeber der Zeitschrift L=A=N=G=U=A=G=E. Aber solche Versuche der Wiederherstellung werden uns nicht sehr weit bringen: Wir müssen uns mit den Scherben von Sprache begnügen, die aus Fehlern unbekannter Dokumente stammen. Auf diese Weise betont Bernstein den fragmentarischen Charakter der Sprache und erinnert uns daran, dass selbst in diesem zersplitterten Zustand alle Morpheme durch alle möglichen Referenzen und Kontexte vorgeschrieben sind; in diesem Fall ist der Ergebnistext ein Gewebe aus Zitaten, das aus einer Serie von Texten stammt, die Bernstein als Ghostwriter verfasst hat.
Bernsteins Gedichte stehen am Ende einer langen Entwicklungslinie modernistischer Lyrik und Prosa, in der versucht wurde, die Materialität von Sprache in den Vordergrund zu stellen, dabei aber verschiedene Ebenen von Gefühl und Sinn durchscheinen zu lassen und so die traditionellen Vorstellungen von Autorschaft infrage zu stellen. Stéphane Mallarmés Un coup de dés jamais n’abolira le hasard (Ein Würfelwurf, 1897) ist ein Gedicht, dessen Worte und Positionen auf dem Papier dem Zufall überlassen blieben. Stabilität, kontrollierte Autorschaft und Leseweisen werden so in alle vier Windrichtungen verstreut. Wörter sind nicht länger transparente Träger von Inhalten. Von nun an muss man auch ihre materielle Qualität in Betracht ziehen. Die Seite wird zur Leinwand, auf der dem negativen Raum zwischen den Worten genauso viel Bedeutung zukommt wie den Buchstaben selbst. Der Text wird tätig, fleht uns an, ausgeführt, performt zu werden und die Leerzeichen als Pausen zu verwenden. Dieser Meinung war auch der Autor selbst: »Das Papier schiebt sich ein, jedes Mal, wenn ein Bild von sich aus aufhört oder zurücksinkt, andern das Kommen überlassend.«3 Mallarmé verlangt von uns, den Akt des Lesens – laut oder stumm – als einen Dekodierungsvorgang zu verstehen, der die Symbole auf einer Seite (Buchstaben in diesem Fall) aktualisiert und materialisiert.
Mallarmés lettristische Materialität inspirierte andere dazu, das Gleiche zu versuchen. Seien es nun Gertrude Steins Kolonnen augenkitzelnder Wiederholungen oder Ezra Pounds spätere Cantos – Schriftsteller haben, als das Jahrhundert fortschritt, nicht aufgehört, Sprache als Material zu behandeln. Teile von Pounds Epos sind vollgestopft mit kaum zu entziffernden Wörtern, die aus Dutzenden von Sprachen, Anmerkungen und Verweisen auf nichtexistierende Fußnoten zusammengestückelt sind:
chih, chih!
wo chih3 chih3
wo4 wo ch’ o ch’ o, seichtes Geschnatter
wo4”5 wo4-5 ch’o4-5 ch’o4-5
seichtes Geschnatter.4
Es ist ein Lautgedicht, ein konkretes Gedicht und ein lyrisches Gedicht in einem. Es ist sowohl vielsprachig – Brocken Chinesisch mischen sich mit englischem »Geschnatter« (yatter im Original) – als auch nichtsprachlich. Pounds Konstellationen regieren die Buchseite wie kalligrafische Pinselstriche, die verlangen, laut ausgesprochen zu werden. Es ist tätige Sprache, die an tag clouds erinnert, jene Wortwolken, die man heutzutage auf Internetseiten findet – es ist eine Sprache, die einen anfleht, mit ihr zu interagieren, geklickt, ausgewählt und kopiert zu werden.
James Joyces Donnerschläge sind die zehn Hundertbuchstabenwörter, die über Finnegans Wake verstreut sind, einem Buch von sechshundert Seiten aus Komposita und Neologismen, die für Uneingeweihte aussehen wie ein ganzer Haufen Nonsenscode:
bababadalgharaghtakamminaronnonnbronntonnerronnuonnthunntrobarrhounawnskawntoohoohoordenenthurknuk
Ausgesprochen werden sie zum Geräusch von Donner. Das gilt freilich auch für den Rest von Finnegans Wake, das, auf den ersten Blick, eines der verwirrendsten Bücher ist, das je auf Englisch geschrieben wurde. Aber Joyce zu hören, wie er einen Auszug aus Finnegans Wake liest/dekodiert – am berühmtesten ist sicher seine Aufnahme des »Anna Livia Plurabelle«-Abschnitts –, ist eine Offenbarung: Es ergibt alles Sinn, ist beinahe Standardenglisch, und doch bleibt es weiterhin »Code«. Laut vorzulesen heißt zu dekodieren, und einen Schritt weiter gedacht ist das Lesen selbst ein Akt des Dekodierens, Entzifferns und Entschlüsselns.
Computercode, der aus Zahlen besteht – aus Einsen und Nullen –, kann unmöglich literarischen oder ästhetischen Wert besitzen. Oder vielleicht doch? Das zwanzigste Jahrhundert war reich an Zahlenpoeten. Nehmen wir etwa diesen transkribierten Ausschnitt aus der Serie Seven Number Poems (Sieben Zahlengedichte) des britischen Dichters Neil Mills, die 1971 veröffentlicht wurde:
1,9
1,1,9
1,1,1,9
9
1,1,1,1,9
8,4
1,1,1,1,1,9
8,4
8,4