Über das Buch:
Texas, 1894: Die lebensfrohe junge Bankerin Emma leitet eine Kleinstadt, in der Frauen Zuflucht finden, mit denen es das Leben nicht gut gemeint hat. Doch die Unabhängigkeit der Frauen und die Zukunft von »Harpers Station« gerät unter Beschuss: Banditen versuchen, die Gemeinschaft zu vertreiben. Da greift Emma zu ihrer Geheimwaffe, dem Sprengstoffexperten Malachi, dem sie als Kind einst das Leben rettete. Dieser nimmt einen weiten Weg und viele Gefahren auf sich, um dem Engel seiner Kindheit zu helfen und die Frauenkolonie zu schützen.

Während sie gemeinsam für das Gute kämpfen, fühlen Emma und Malachi sich mehr und mehr zueinander hingezogen. Doch die Welten, in denen sie leben, scheinen einfach zu verschieden zu sein …

Über die Autorin:
Karen Witemeyer liebt historische Romane mit Happy End-Garantie und einem überzeugenden Bezug zum christlichen Glauben. Nach dem Studium der Psychologie begann sie mit dem Schreiben. Zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Texas.

Kapitel 6

Nach zweieinhalb Tagen ununterbrochener Reise verließ Malachi den Zug in Seymour, Texas, mit Schatten unter den Augen, unrasiert und müde bis auf die Knochen. Als er seine Reise in Sheridan in letzter Minute gebucht hatte, waren keine Plätze mehr im Schlafwagen zu bekommen gewesen, weshalb er die ganze Fahrt in der zweiten Klasse auf einer harten Holzbank verbracht hatte. Doch es waren eher die Sorgen gewesen, die ihn wach gehalten hatten, und nicht das unbequeme Schlaflager. Jeder, der in einem Eisenbahnlager arbeitete, war fähig, fast überall und unter allen Bedingungen zu schlafen. Wer das nicht konnte, wäre dort niemals zur Ruhe gekommen. Doch jedes Mal, wenn Malachi im Zug seine Lider geschlossen hatte, war Emma vor seinem inneren Auge erschienen, die ihn flehend ansah.

Womit sollte er ihr helfen?

Diese Frage hatte ihm den Schlaf geraubt. In welchen Schwierigkeiten konnte sie stecken? Was, wenn er gar nicht die Fähigkeiten hatte, ihr beizustehen? Doch sie hatte ihn um Hilfe gebeten. Sie wusste, was er für ein Leben führte. Verflixt! Vielleicht brauchte sie ihn, um etwas in die Luft zu jagen. Malachi grinste, als er auf den Bahnsteig hinuntersprang. Wenn es doch nur so einfach sein würde! Doch Emma war niemand, bei dem die Dinge einfach waren. Nein, ihre Probleme waren normalerweise komplizierter bis unlösbarer Art. Sie war zu gutherzig und viel zu starrköpfig, um lose Enden zu tolerieren. Sie hielt immer alle Fäden fest in der Hand. Das war ihr liebenswertester Charakterzug.

Und zugleich der frustrierendste.

Malachi fuhr sich mit einer Hand über sein stoppeliges Kinn und machte sich auf den Weg, um zwei Dinge zu finden – eine Mahlzeit und ein Pferd. Er hätte auch ein Bad und eine Rasur gebrauchen können, doch er wollte nicht länger hier in Seymour verweilen als nötig. Sein Vorgesetzter hatte ihm nur eine Woche Urlaub gegeben und ein Drittel der Zeit war alleine schon für die Reise draufgegangen. Obwohl die Sonne am westlichen Himmel schon tief stand, musste er unverzüglich nach Harpers Station weiterreisen. Wenn er sich beeilte, konnte er sogar dort sein, bevor die Nacht hereinbrach.

Er folgte den anderen Reisenden in Richtung des Washington Hotels, wo er im Restaurant etwas essen wollte, doch der Mann an der Rezeption musterte ihn von oben bis unten und schnaubte über seine ramponierte äußere Erscheinung.

„Einen Tisch für Sie alleine?“, fragte er mit erhobener Augenbraue und hochgezogener Nasenspitze und machte durch den Klang seiner Fistelstimme deutlich, dass die richtige Antwort ein klares Nein gewesen wäre.

Aber Mal war nicht in der Stimmung, höflich zu reagieren. Stattdessen langte er in seine Tasche und zog einen Fünfdollarschein hervor. Er knallte ihn so fest auf den Tisch, hinter dem der Mann stand, dass Mr Überkorrekt einen erschrockenen Luftsprung machte.

„Ich erspare uns beiden die Unannehmlichkeiten, dieses höchst liebenswürdige Angebot anzunehmen.“

Bei dieser Wortwahl hob sich auch die zweite Augenbraue des Mannes. Mal genoss es, das Spielfeld etwas anzugleichen, indem er ein Wort wie „liebenswürdig“ in den Ring warf. Männer wie Mr Überkorrekt erwarteten so etwas nicht von Männern wie ihm. Es brachte sie aus dem Konzept. Das war genau das, was Malachi erreichen wollte.

„Lassen Sie den Koch eine Proviantbüchse für mich zusammenstellen.“ Mal schlenderte an der Rezeption entlang. Mr Überkorrekt wich einen Schritt zurück. Einige der Gäste, die in der Nähe an ihren Tischen saßen, fingen schon an, die Köpfe zu ihnen umzuwenden. Mal stütze sich wie beiläufig mit dem Ellenbogen ab und beugte sich vor. „Was auch immer er gerade dahat, reicht mir. Ich bin in zehn Minuten wieder da und hole es ab, dann verschwinde ich hier. Einverstanden?“

Mr Überkorrekt nickte, während er sich langsam vom Rezeptionstresen entfernte und unauffällig versuchte, mehr Abstand zwischen sich und Malachi zu bringen. Er schluckte. „I-ich kümmere mich um alles.“

Und das tat er. Er verließ seinen Posten, um Mals Bestellung direkt an die Küche weiterzuleiten. Natürlich, nachdem er die fünf Dollar in seine Tasche gestopft hatte.

Mal tippte sich an den Hut und lächelte das Paar am benachbarten Tisch an. Die Dame zuckte erschrocken zusammen, doch der Cowboy, der sie begleitete, nickte zustimmend. Es war gut zu wissen, dass es immer noch Leute gab, die einen staubigen, hart arbeitenden Mann mehr respektierten als ein glatt rasiertes Milchgesicht.

Malachi ging die Hauptstraße hinunter und fand einen Mietstall, wo er sich ein Pferd, Sattel und Zaumzeug lieh. Da er noch einige Minuten Zeit hatte, ging er weiter zum Platz vor dem Gerichtsgebäude, um ein Gefühl für die Stadt zu bekommen, dann schwenkte er herum und machte sich auf den Rückweg zum Hotel. Als er kam, um seine Mahlzeit abzuholen, wurde er sofort bedient. Mr Überkorrekt drückte ihm wortlos seine Proviantbüchse in die Hand, doch der missbilligende Blick, den der Mann aufgesetzt hatte, gab Mal zu denken.

Er hatte Montana so überstürzt verlassen, dass er für die Reise kaum mehr als das Nötigste eingepackt hatte. Und Harpers Station war gewiss kein Ort, an dem er Rasierartikel im Gemischtwarenladen finden würde. Jegliche Toilettenartikel für Männer wären dort wohl Mangelware. Es war eine Sache, staubig und zerknittert vor Emmas Tür aufzutauchen, weil er sich so sehr beeilt hatte, aber eine andere, tagelang unrasiert herumzulaufen.

Malachi stopfte das Essen in die Satteltasche, die er sich über die Schulter geworfen hatte, dann fuhr er sich mit der Hand über den kratzigen Bart. Am besten besorgte er sich noch Rasierklingen und Schaum, bevor er sich auf den Weg machte. Außerdem brauchte er immer noch eine Wegbeschreibung. Emma hatte ihm geschrieben, dass das größte Geschäft in Seymour Lebensmittel und andere Waren aus Harpers Station vertrieb. Der Fassade nach zu urteilen, die er gegenüber vom Gerichtsgebäude gesehen hatte, war Fischers Warenhaus das größte in der Stadt. Am besten ging er gleich dort vorbei und informierte sich.

Mal ging hinter dem Hotel entlang, um den Weg abzukürzen, und kam zurück auf die Hauptstraße. Er beeilte sich, noch vor einem Frachtwagen auf den Bürgersteig zu gelangen, und machte sich auf den Weg zu dem großen Geschäft an der Ecke. Ein untersetzter Mann mit weißer Schürze um den Bauch stand vor dem Laden und kehrte gerade den Bürgersteig mit viel mehr Elan, als die Aufgabe verlangt hätte. Sein Kopf war gebeugt und er murmelte leise und ärgerlich vor sich hin, hielt allerdings abrupt inne, als Malachis Stiefel in sein Blickfeld kamen.

Er richtete sich auf und sah Mal mit gerunzelter Stirn an. „Ich will gerade abschließen, Mister. Wenn Sie eine größere Bestellung haben, kommen Sie bitte morgen wieder.“

„Ich brauche nur Rasierklingen und Schaum. Sollte nicht länger als eine Minute dauern.“ Mal versuchte, ihn mit einem Lächeln milde zu stimmen, doch die gefurchte Stirn des Mannes schien aus Granit zu bestehen. Die Falten bewegten sich keinen Millimeter. „Es würde mich freuen, wenn ich meinen Einkauf noch schnell erledigen könnte.“

Der Mann seufzte und wandte ihm den Rücken zu, als er die Tür öffnete. „Besser, Sie lassen Ihr Geld bei mir als anderswo. Kommen Sie rein.“ Ein Glöckchen klingelte. „Aber beeilen Sie sich! Ich muss mich noch wegen einer persönlichen Angelegenheit mit Sheriff Tabor treffen.“

„Bin gleich wieder weg“, versprach Mal, „wenn Sie mir nur kurz …“

„Rasierklingen sind dort drüben.“ Fischer zeigte auf die mittlere Regalreihe.

Mal ging in die angewiesene Richtung, vorbei an dem ausladenden Angebot für Damenhygiene, bis er die Klingen gefunden hatte. Er nahm sich auch Pinsel und Schaum und trat schnell an den Tresen, um den übellaunigen Mann nicht noch mehr zu verärgern.

Er rechnete die Einkäufe zusammen. „Macht einen Dollar neunundsiebzig“, grummelte er.

Mal reichte ihm einen Zweidollarschein und wartete, während der Mann das Wechselgeld abzählte. „Sie können mir nicht zufällig den Weg nach Harpers Station beschreiben?“, fragte er. „Es liegt nördlich von hier, richtig?“

„Harpers Station?“ Fischers Hände ballten sich zu Fäusten und sein Gesicht wurde puterrot. „Sie meinen Harpers Station? Diesen Haufen von Männerhassern? Diese Xanthippen! Sie hetzen Frauen gegen ihre Männer auf. Das ist wider die Natur. Kein Mann, der bei klarem Verstand ist, würde an diesen gottverlassenen Ort gehen.“

Mal biss die Zähne zusammen. „Nun, aber genau dort muss ich hin. Ich dachte, weil Sie mit den Frauen zusammenarbeiten, könnten Sie …“

„Zusammenarbeiten?“ Fischer biss die Zähne zusammen. „Nicht mehr. Nicht nach dem, was sie mir angetan haben. Wenn es nach mir ginge, würde ich einen Mob zusammentrommeln und sie ausräuchern. Diese giftspeienden Vipern …“

Im Bruchteil einer Sekunde hatte Mal den Mann beim Kragen gepackt und halb über den Tresen gezogen. Die Münzen klimperten zu Boden, doch Mal kümmerte sich nicht darum. Er drückte seine Nase gegen die des Mistkerls, der Emma beleidigt hatte. „Es geht aber nicht nach Ihnen“, knurrte Mal. „Haben Sie das verstanden?“

Fischer stotterte. „Ganz ruhig, Mister.“ Er hob beschwichtigend die Hände. „I-ich meinte das doch gar nicht so. Das war nur Geschwätz, verstehen Sie?“

„Gut.“ Mal ließ die schleimige Kröte los und schob sie zurück hinter die Theke. „Denn ich hasse Männer, die Frauen tyrannisieren.“

„Nun, also …“ Fischer richtete sein Hemd und rollte die Schultern, als wolle er so das Gefühl von Mals hartem Griff abschütteln. „Und ich mag keine Fremden, die sich in Angelegenheiten einmischen, die sie nichts angehen.“

Mal sammelte seinen Einkauf ein, wandte seinen harten Blick aber nicht von Fischer ab. „Die Frauen von Harpers Station gehen mich sehr wohl etwas an. Jeder, der sie bedroht, wird es mit mir zu tun bekommen!“

Er ließ das Wechselgeld auf dem Boden liegen und verließ das Warenhaus, bevor er noch etwas Dummes tun würde … wie zum Beispiel die Zähne dieses Mistkerls einzuschlagen.

„Was haben Sie in Harpers Station zu tun?“ Ein großer, stämmiger Kerl trat aus dem Schatten neben dem Laden und blockierte Mals Weg zur Treppe.

„Das ist meine Sache“, knurrte Mal und stampfte vorwärts. Was hatten die Leute hier nur? Konnte ein Mann nicht einfach Rasierklingen kaufen, ohne befragt oder beleidigt zu werden?

Der Mann war noch ein paar Zentimeter größer als Mal und mindestens dreißig Pfund schwerer, doch Mal war wütend genug, um sich notfalls auch mit ihm zu prügeln.

Der Mann schien ihn nicht aufhalten zu wollen, doch er ging auch nicht aus dem Weg. Mal stopfte seinen Einkauf in die Tasche und schob sich mit der Schulter voran an dem Kerl vorbei. Der Arm des Mannes fühlte sich an wie Granit, doch er ließ Mal passieren.

„Sie haben die Frauen da drinnen vor Fischer verteidigt“, sagte der Mann, als er Mal folgte, „also vermute ich, dass Sie Ihnen nichts Böses wollen. Die Frauen haben wirklich genug durchgemacht in letzter Zeit. Ich werde keinem Fremden gestatten, sie noch weiter zu verschrecken.“

Mal wirbelte wütend herum, wobei ein Teil seines Gehirns richtig erkannte, dass der Mann die Frauen nur schützen wollte. Doch er war immer noch viel zu aufgebracht. „Ich bin kein Fremder“, schnappte er, während sich seine Hand zur Faust ballte. „Zumindest nicht für Emma Chandler. Sie hat mich um meine Hilfe gebeten.“ Er visierte das Kinn des Mannes an. „Und ich werde mich von diesem Schwachkopf dort drinnen“, er nickte in Richtung des Warenhauses, „nicht aufhalten lassen. Und auch nicht von Ihnen.“

Dann schlug er zu.

Doch der stämmige Mann fing seine Faust auf. Mit seiner Handfläche. Nicht mit seinem Kinn, wie Mal es sich eigentlich ausgerechnet hatte. Die Finger des Mannes schlossen sich mit eisernem Griff um Mals Faust. Mal riss seinen Arm zurück, kam aber nicht los und wollte noch mit der anderen Faust zuschlagen, doch das freundliche Lächeln des Mannes ließ ihn zögern.

„Eine ungewöhnliche Art, jemandem die Hand zu schütteln“, sagte der Mann und zwang Mals gefangene Hand langsam nach unten. „Aber ich muss zugeben, dass ich mich freue, Sie kennenzulernen. Ich bin Ben Porter.“ Jetzt schüttelte er Mals Hand, als wäre nie etwas geschehen. „Und wenn ich mich nicht irre, dann sind Sie Malachi Shaw.“

Mal erinnerte sich an den Namen des Mannes, den er aus Emmas Briefen kannte. Der Frachtfahrer, der die Güter für die Frauen transportierte. Jetzt, wo er sich umsah, sah er auch den Wagen in der Nähe stehen.

Langsam öffnete Mal seine Faust und machte sich von dem Mann los, dann reichte er ihm offiziell die Hand. „Das bin ich.“ Er grinste den Riesen an. „Tut mir leid, dass ich Sie schlagen wollte. Ich habe in den letzten zwei Tagen nicht gerade viel geschlafen. Bin wohl etwas angespannt.“

„Mit Fischer zu reden hat eben diese Wirkung.“ Porter klopfte ihm mit der freien Hand auf die Schulter. „Ich kann Ihnen den Weg nach Harpers Station beschreiben. Und wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben, kann ich Ihnen auch erzählen, was dort in letzter Zeit vor sich gegangen ist.“

Mal warf einen Blick zum Himmel. Die Sonne schien immer noch. Der Sommer bot durch seine längeren Tage mehr Zeit zum Reisen. Bestimmt konnte er sich noch eine halbe Stunde Verzug leisten. Es würde sicher nicht schaden, etwas über die Geschehnisse in Harpers Station zu erfahren.

„Können wir uns an einem ruhigen Ort unterhalten?“, fragte Mal und sah bedeutungsvoll in die Richtung von Fischers Laden.

Porter nickte. „Mein Bruder hat einen Mietstall ganz in der Nähe. Wir können in sein Büro gehen. Lassen Sie mich nur schnell Fischers Sachen abladen, dann treffen wir uns dort.“ Porter ging auf seinen Wagen zu.

„Ich glaube, ich habe vorhin ein Pferd bei Ihrem Bruder gemietet.“ Mal ging in die andere Richtung. „Ich gehe schon mal vor und kümmere mich um alles, bis Sie fertig sind.“

Fünfzehn Minuten später folgte Mal Ben Porter in das Büro seines Bruders, das sich im Mietstall befand. Er hatte es endlich geschafft, sich seinem Essen zu widmen, und kaute an einem Schinkenbrötchen. Der Geruch von Heu und Pferdemist hing in der Scheune. Nicht sehr appetitlich, doch sie brauchten nun einmal die Privatsphäre. Mal schluckte den Bissen herunter und setzte sich auf einen Hocker, der nicht sehr vertrauenerweckend wirkte, während Porter hinter dem Schreibtisch Platz nahm.

Bedacht darauf, möglichst keine Zeit mehr zu verlieren, kam Mal gleich zur Sache. „Also, was wird mich dort erwarten?“

Kapitel 7

Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als Mal sich Harpers Station näherte, doch er tat sein Bestes, um die Umgebung nach dem Schützen abzusuchen, den Ben Porter erwähnt hatte. Der Frachtfahrer hatte die Informationen aus erster Hand, doch es gab keine Beschreibung von dem Mann, keinen Hinweis auf seine Identität. Es gab nur die Erzählung des kleinen Jungen, der von den Schüssen auf die Kirche berichtet hatte. Einer Schießerei, die Emma das Leben hätte kosten können.

Ein Schauer lief ihm über den Rücken, wenn er daran dachte, was an diesem Tag hätte passieren können. Seit er Seymour verlassen hatte, konnte er an nichts anderes mehr denken.

Mal biss die Zähne zusammen. Emma ging es gut. Ben hatte sie gesehen. Hatte mit ihr gesprochen. Es gab keinen Grund, sich Gedanken um das zu machen, was theoretisch hätte passieren können. Viel wichtiger war jetzt das, was in Zukunft noch passieren würde.

Warum bestand die starrköpfige Frau darauf, in Harpers Station zu bleiben? War ihr denn nicht klar, dass ein Mann, der ohne zu zögern auf eine Kirche schoss, jederzeit auch auf Frauen und Kinder schießen würde, wenn er seinen Willen nicht bekam? Emma hatte die Familien mit den Kindern weggeschickt, na gut, aber was war mit ihrem eigenen Wohl? War Emma ihr eigenes Leben so egal?

Sein Pferd wich einem Hindernis auf dem Weg aus und Mal musste sich dazu zwingen, die Zügel etwas zu lockern und seine Hände zu entspannen. Er kannte die Antwort. Er kannte Emma. Sie war eine Kämpferin. Er würde nur seine Zeit verschwenden, wenn er versuchte, sie zum Gehen zu bewegen. Das Einzige, was er tun konnte, war, ihr zur Seite zu stehen und das Feuer des Feindes auf sich zu ziehen, bis er den Mistkerl zur Strecke gebracht hatte.

Ben hatte keine Ahnung gehabt, wer hinter den Drohungen steckte. Stanley Fischer war der lauteste Gegner der Frauenkolonie, doch sein Zorn war erst am Tag zuvor entflammt, als seine Katalogbraut genug gesunden Menschenverstand besessen hatte, bei Emma und ihren Frauen Zuflucht zu suchen. Wenn er selbst zwischen einer Zukunft mit Fischer oder der Bedrohung durch einen Gewehrschützen wählen müsste, hätte Mal sich ebenfalls für letztere Option entschieden.

Viehdiebe trieben ihr Unwesen in der Gegend, doch es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie Harpers Station angreifen würden. Außer ein paar Milchkühen und einigen Hühnern gab es dort nichts zu holen. Außerdem hatte der Schütze darauf bestanden, dass die Frauen verschwanden. Offensichtlich steckte da mehr dahinter. Vielleicht gab es an diesem Ort irgendetwas, das der Mann haben wollte. Mal würde sich mit den Wasserrechten und Bodengutachten beschäftigen müssen, um herauszufinden, ob es irgendetwas Wertvolles gab, das man dem Land abgewinnen konnte. Wenn der Schütze es tatsächlich geschafft hätte, die Frauen zu verängstigen, wäre es ein Leichtes gewesen, einen Strohmann zu engagieren, um Emma das Land abzukaufen.

Wahrscheinlich hatte der Mann gedacht, es brauche nicht mehr als ein paar Gewehrschüsse, um die Frauen zu vertreiben. Mal lachte leise. Der Angreifer hatte ja keine Ahnung, mit wem er sich da angelegt hatte! Emma und ihre Tanten waren die dickköpfigsten Menschen, die Mal jemals kennengelernt hatte. Wenn man sie bedrohte, würden sie die Fersen nur noch fester in den Boden rammen, um sich zu wehren. Was bedeutete … dass der Angreifer seine Pläne entweder aufgeben oder härtere Maßnahmen ergreifen musste.

Irgendwie bezweifelte Mal, dass ein Mann, der das Feuer auf unbewaffnete Frauen eröffnete, zögern würde, eine neue Phase der Gewalt einzuleiten, um sein Ziel zu erreichen.

Mal knirschte mit den Zähnen und trieb sein Pferd zum Galopp an. Erneut wünschte er sich, sein Pferd Ulysses bei sich zu haben. Die graue Stute, die er geliehen hatte, war robust, doch sie war mit Sicherheit nicht für die Geschwindigkeit gemacht. Aber immerhin war das Pferd weiblich, sodass wenigstens einer von ihnen beiden in die Kolonie passen würde.

Endlich kamen die ersten Gebäude von Harpers Station in Sicht, als Mal eine leichte Anhöhe hinaufritt. Dunkle Silhouetten breiteten sich in der Ebene vor ihm aus. Sein Magen kribbelte. Emma lebte unter einem dieser Dächer. Ben hatte berichtet, dass sie in einem Haus am Rande der Stadt lebte, in der alten Kutschenstation, die dem Ort den Namen gegeben hatte.

Ein Gefühl seltsamer Leichtigkeit tanzte über seinen Brustkorb, als er das Gebäude entdeckte. Er rieb sich die Brust, dann runzelte er die Stirn, als das Gefühl nicht verschwand.

Mal zügelte die Stute etwas und musterte den Rest von Harpers Station. Eine kleine Geschäftsstraße zog sich mitten hindurch. Drumherum lagen eine Handvoll Wohnhäuser verstreut. Auf den ersten Blick nicht unbedingt begehrenswert für einen Fremden, wenn er es richtig sah.

Das Knarren einer Tür ließ seine Aufmerksamkeit wieder zu dem alten Kutschenhaus zurückkehren. Eine junge Frau kam heraus und trat auf die überdachte Veranda. Eine elegante Frau, deren dunkles Haar aus dem Gesicht gekämmt und zu einem komplizierten Knoten geschlungen war. Eine erwachsene, selbstbewusste Frau, die wusste, was sie wollte.

Mal brachte sein Pferd zum Stehen. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust. Nach all den Briefen der vergangenen Jahre hatte er gedacht, er wäre darauf vorbereitet, sie wiederzusehen. Doch er hatte sich getäuscht.

Sie legte die Hände auf das Verandageländer und beugte sich vor. Ihre Brauen hoben sich. „Malachi?“

Der Name kam so sanft über ihre Lippen, dass er es kaum hörte. Er las es ihr mehr vom Mund ab. Ihr Gesicht war so vertraut und doch so verändert.

Mal starrte sie an. Er konnte nicht anders. Seine kleine Emma war zu einer wunderschönen Frau geworden.

Der lange Rock, den sie trug, wischte über die Stufen, als sie langsam hinunterging. Ihre elfenbeinfarbene Bluse war an den Schultern etwas gerafft und akzentuierte ihre schlanke Taille. Genau an den richtigen Stellen betonte sie ihre weiblichen Rundungen, die mit dreizehn Jahren noch völlig anders ausgesehen hatten.

Plötzlich wurde sein Hemdkragen enger.

„Malachi? Bist du das?“ Sie hatte die unterste Stufe erreicht und nahm die Hand vom Treppengeländer.

„Genau.“ Die kurze Antwort war nicht gerade das, was er ihr nach zehn Jahren am liebsten gesagt hätte, doch etwas anderes brachte er nicht hervor.

Dann lächelte sie. Nein, es war mehr als nur ein Lächeln. Ihr gesamtes Gesicht erstrahlte mit einer solchen Freude, dass es ihn fast vom Pferd geworfen hätte. Er hatte es vergessen. Hatte vergessen, wie es sich anfühlte, wenn sie ihn so anschaute. Als wäre die Welt plötzlich zu einem besseren Ort geworden, weil er angekommen war.

Unfähig, dieses Strahlen noch länger auszuhalten, senkte Mal den Blick und konzentrierte sich darauf, von seinem Pferd abzusteigen, ohne etwas Peinliches zu tun, wie zum Beispiel rücklings in den Staub zu fallen. Er hoffte, dass seine Passivität ihren Enthusiasmus etwas abschwächen würde, damit er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Vielleicht fiel ihm dann sogar etwas Intelligentes ein, das er sagen konnte.

Doch er hätte es besser wissen müssen.

In dem Moment, als seine Füße auf dem Boden auftrafen, warf sie sich ihm entgegen und drückte ihn so fest an sich, dass ihm der Atem wegblieb.

* * *

Emma schlang ihre Arme um Malachi und drückte ihn an sich. Er war wieder da! Nach all diesen Jahren war er endlich wieder da!

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch schließlich hob auch er seine Arme. Nicht, dass es wirklich eine Umarmung gewesen wäre, denn sie spürte die Berührung kaum. Wenn er ihr nicht unbeholfen auf den Rücken getätschelt hätte, wäre ihr glatt der Gedanke gekommen, einen Holzklotz zu umarmen.

Doch Malachi hatte noch nie gezeigt, wenn er etwas gerne hatte. Oder jemanden. Als er noch bei ihnen gewohnt hatte, hatte sie ihn gleich für sich gewinnen wollen. Sie hatte gehofft, dass sie beste Freunde werden könnten. Aber nach einigen Wochen war sein Verhalten immer noch zurückhaltend gewesen. Er hatte nie gelächelt, hatte all ihre Fragen nur mit Schulterzucken oder Grunzen beantwortet und sie oft sogar bewusst gemieden. Da war selbst sie an ihre Grenzen gestoßen.

Dann hatte er eines Tages Holz gehackt und sie war unbemerkt mit dem Wassereimer und der Kelle hinter ihm aufgetaucht, um ihm zu trinken zu geben. Als sie sich bemerkbar machte, war er vollkommen überrascht herumgewirbelt und hatte die Faust zum Schlag erhoben. Sie hatte zurückspringen müssen, um nicht getroffen zu werden. Da war er plötzlich so erschrocken und bleich im Gesicht geworden, dass sie Angst gehabt hatte, er würde auf der Stelle tot umfallen. Schnell hatte sie ihn trösten wollen und den Eimer abgestellt, um ihn zu umarmen.

Doch er hatte ihre Arme weggeschlagen. Dann hatte er angefangen zu schreien. Schreckliche Dinge. Verletzende Dinge. Hatte gesagt, dass sie nur Federn im Gehirn hätte, und Worte geschrien, die sie noch niemals zuvor gehört hatte. Doch sie war sich bewusst gewesen, dass es schlimme Worte sein mussten, die er ihr da entgegenschleuderte.

Sie war in Tränen ausgebrochen und in ihr Zimmer gelaufen, weil sie glaubte, dass Malachi sie hasste. Erst als Tante Bertie ihr alles erklärt hatte, war sie zur Ruhe gekommen. Während Emma von Bertie in den Armen gehalten und getröstet wurde, hatte ihre Tante ihr ein Geheimnis verraten. Manchmal hatten Menschen in ihrem Leben schon so viel verloren, dass sie nicht zugeben konnten, wenn sie jemanden mochten. Sie hatten zu große Angst, wieder etwas zu verlieren. Oder jemanden. Und wenn man zugab, dass man einen Menschen mochte, machte man sich verletzbar. Deshalb versuchte Mal, seine Gefühle nicht zu zeigen. Hart zu sein. Zu kämpfen.

In diesem Augenblick hatte Emma sich dazu entschieden, ebenfalls zu kämpfen. Um den verängstigten Jungen zu kämpfen, der nicht wusste, wie man ein Freund war, weil er niemals Freunde gehabt hatte. Schon eine Stunde später hatte sie damit angefangen, als sie Mal dabei beobachtet hatte, wie er sich Essen aus der Küche nahm, um abzuhauen. Mit der aufrichtigen Zuversicht einer Elfjährigen hatte sie ihn in die hohe Kunst der Entschuldigungen eingeführt. Alles, was er tun müsste, hatte sie ihm erklärt, war, sich bei ihr zu entschuldigen, weil er sie angeschrien hatte. Sie würde ihm vergeben und alles wäre wieder wie zuvor. Sie hatte ihm sogar ein Beispiel gegeben, wie es Miss Pratt immer in der Schule tat, wenn sie ihnen etwas Neues beibrachte: Sie hatte sich ihrerseits bei Mal dafür entschuldigt, dass sie ihn erschreckt hatte.

Sie erinnerte sich immer noch an den Blick, den er ihr zugeworfen hatte. Als wäre ihr plötzlich mitten auf der Stirn ein drittes Auge gewachsen. In diesem Augenblick hatte sie wirklich Angst bekommen, weil sie sicher gewesen war, dass er nun erst recht weggehen würde. Also hatte sie angefangen, ihn herumzukommandieren, obwohl ihre Tanten ihr schon hundertmal gesagt hatten, dass die Leute es nicht mochten, wenn man ihnen sagte, was sie zu tun hatten. Doch sie hatte keine andere Möglichkeit gesehen. Er wäre weggegangen. Also hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt und eine Entschuldigung verlangt. Sie hatte ihm in Erinnerung gerufen, dass es viel leichter war, drei kleine Worte zu sagen, als sich ein neues Zuhause zu suchen, das auch nur annähernd so schön war wie ihres.

Ihr Worte und ihr Gefühlsausbruch waren ein wenig geschwindelt gewesen. Sie wusste, dass es durchaus Zuhause gab, die schöner waren als ihres. Häuser, in denen Väter sich um Mal gekümmert hätten. Häuser, in denen er Brüder zum Spielen gehabt hätte und keine anstrengenden Mädchen, die die Hände in die Hüften stemmten und Entschuldigungen forderten. Doch er musste ihr geglaubt haben, denn er hatte den Kopf sinken lassen und auf seine Füße gestarrt. Dann hatte er ihr die Entschuldigung gegeben, auf die sie gewartet hatte, und war anschließend von ihr umarmt worden. Auch damals war er ein Holzklotz gewesen und hatte keinen einzigen Muskel bewegt, als sie sich enthusiastisch an ihn geklammert hatte.

Offensichtlich hatte sich nichts geändert. Er hatte nicht gelernt, wie man jemanden umarmte, und sie hatte nicht gelernt, dass man sich niemandem aufzwang.

Emma errötete. Gütiger Himmel. Sie waren keine Kinder mehr. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn so zu umarmen? Wahrscheinlich, dass sie immer noch ein kleines Mädchen war. Das gleiche impulsive Mädchen wie früher. Oder sie hatte gar nicht nachgedacht …

Emma ließ ihn los und trat ein paar Schritte zurück, wobei sie ihre Verlegenheit hinter einem Kichern versteckte. „Tut mir leid. Ich glaube, ich habe mich etwas hinreißen lassen.“ Sie blickte zu ihm auf und sah ihn zum ersten Mal wirklich an.

Du meine Güte.

In ihrer Aufregung hatte sie ihn gar nicht wirklich gesehen. Sonst wäre sie wahrscheinlich wie festgewurzelt auf der Veranda stehen geblieben.

„Schön, dich zu sehen, Emma.“ Seine Stimme hatte eine männliche Tiefe, die sie von dem Jungen von vor zehn Jahren nicht kannte. Er nahm den Hut ab und spielte an der Krempe herum. „Du siehst … gut aus.“

„Und du bist viel größer als das letzte Mal.“ Und er hatte viel breitere Schultern. Und eine muskulöse Brust. Und den Blick eines Mannes, der sich vor nichts fürchtete.

Trotzdem stand er nur dort. Starrte herum. Sah alles an, nur nicht sie. Sein Blick irrte durch die Gegend wie eine nervöse Hummel, die nicht wusste, wo sie landen sollte. Sie schwiegen einander an. Warum fiel ihr nichts ein, das sie sagen konnte? Als sie noch jung gewesen waren, hatten ihr in seiner Gegenwart nie die Worte gefehlt. Natürlich hatte er damals nicht wie ein raubeiniger Gesetzloser ausgesehen. Ein wirklich gut aussehender Gesetzloser, mit einer Waffe am Gürtel, braunem Haar, das fast bis auf die Schultern fiel, und dunklen Bartstoppeln.

Grundgütiger! Ihr Herz schlug so fest gegen ihre Rippen, dass sie fürchtete, er würde es hören, wenn sie nun nicht bald etwas sagte. Irgendetwas.

„Ich habe dich vermisst.“

Innerlich krümmte sich Emma. Vielleicht hätte sie doch etwas anderes sagen sollen. Und vor allem nicht mit einer hauchzarten Stimme, die so gar nichts mit ihrem üblichen vehementen Tonfall gemein hatte.

Jetzt endlich schaute er sie an und alles Bedauern war wie weggeblasen. Denn für einen kurzen Moment sah sie die Sehnsucht in seinem Blick. Doch dann verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen und rollte die Augen in Richtung Himmel, wie er es früher schon immer getan hatte, wenn sie ihm auf die Nerven ging.

„Anscheinend hast du dich gar nicht verändert, Emma. Gerätst immer noch in Schwierigkeiten.“

Oh, sie war in Schwierigkeiten, da hatte er recht! Doch nicht wegen des Schützen, der ihrer aller Leben bedrohte. Nein. Die eigentlichen Schwierigkeiten waren gerade erst eingetroffen.

Kapitel 8

„Malachi Shaw, ist das zu fassen!“

Mal wandte den Blick von Emma ab und drehte sich der verbiesterten Stimme zu, die sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Da stand Henrietta Chandler, groß und dünn, das dunkle Haar in einen strengen Knoten gezwungen, in dem sich jedoch deutlich mehr graue Strähnen befanden als damals.

„Tante Henry.“ Er nickte ihr respektvoll zu, überrascht von den Emotionen, die ihm den Hals zuzuschnüren drohten.

„Bertie!“, rief Henrietta über die Schulter. „Der Junge hat sich endlich dazu herabgelassen, uns einen Besuch abzustatten. Komm schnell raus, bevor er wieder verschwindet.“

Emma lehnte sich näher zu ihm – nah genug, dass ihre Seite seinen Arm berührte. Mal zwang sich dazu, nicht darauf zu reagieren. Wenigstens nicht so, dass sie es bemerkte. Gegen sein rasendes Herz konnte er leider nichts ausrichten.

„Sie hat dir immer noch nicht vergeben, dass du damals weggegangen bist.“ Emmas Flüstern ließ ihn erschauern und lenkte ihn so sehr ab, dass er nicht bemerkte, wie Bertie aus dem Haus kam. Plötzlich stand sie neben ihrer Schwester.

„Oh, Malachi.“ Tante Bertie legte entzückt die Hände unter dem Kinn zusammen, ihr Lächeln ebenso freundlich und warm wie ihre ganze Art. „Es ist wunderbar, dass du wieder da bist! Wir haben dich schrecklich vermisst. Nicht wahr, Schwester?“

„Nun ja …“ Tante Henrys zusammengekniffene Lippen hatten sich keinen Deut entspannt. Doch Mal erkannte ihren eisernen Blick als das, was er war – ein Schutzschild. Immerhin wendete er regelmäßig die gleiche Strategie an. Vielleicht hatte er sich deshalb immer mehr mit der älteren Chandler-Schwester verbunden gefühlt als mit der jüngeren, obwohl Bertie viel liebevoller und fürsorglicher war.

Henry schniefte. „Also, immerhin mussten wir dieses Mal nicht bis zu seinem Brief warten, um zu erfahren, dass er sich nicht selbst in die Luft gesprengt hat.“ Sie winkte ihn mit einer ausladenden Bewegung ihres Armes zu sich, die keinen Widerspruch duldete. „Junge, komm her! Es ist nicht gerade höflich, eine alte Frau draußen im Nachtwind stehen zu lassen. Ich hole mir noch den Tod!“

Malachi unterdrückte ein Grinsen. In der leichten Brise schwang immer noch die Hitze des Sommers mit. Henry würde es schwer haben, sich in der lauen Nachtluft zu erkälten. Und wenn der Tod dann doch einmal an ihre Tür klopfen sollte, würde sie sich ihm mit dem Besen entgegenstellen, ihn verprügeln und ihm vorwerfen, schreckliche Verbrechen gegen die Frauenwelt begangen zu haben. Mal bezweifelte, dass der Tod es wagen würde, Henry auch nur zu berühren, selbst nicht mit seiner langen Sense.

Mal schob sich den Hut in den Nacken und nickte knapp. „Ich komme gleich. Muss mich nur noch um mein Pferd …“

„Mach nur, ich kümmere mich um alles.“ Emmas Hand legte sich auf seine, während die andere nach den Zügeln griff. Ihre Wangen wurden rot, doch sie zog die Hand nicht zurück. Also tat er es. Langsam und mit Bedauern, da er ihre Berührung genoss.

„Danke“, murmelte er, ohne auch nur eine Sekunde lang die Augen von ihr abzuwenden.

Emma senkte die Lider, dann nahm sie die Zügel und wandte sich ab, um das Pferd wegzuführen. „Ja … also … Du hattest eine lange Reise und musst erschöpft sein. Das ist doch das Mindeste, was ich tun kann.“

Mal schnappte sich seine Satteltaschen. Als Emma die Stute wegführte, sah er ihr noch nach. Er bemerkte ihren grazilen Gang und den eleganten Schwung ihrer Hüften. Ihre sanfte Art, wie sie die Graue streichelte. Den Blick, den sie ihm noch einmal über die Schulter hinweg zuwarf, während er ihr nachstarrte …

Verflixt!

Als hätte ein Blitz zu seinen Füßen eingeschlagen, wandte Malachi sich plötzlich um und lief zur Haustür.

Emma ist viel zu gut für jemanden wie dich, Malachi Shaw, rügte er sich innerlich, während er auf die Tanten zustapfte. Daran musst du immer denken. Er war nur aus einem einzigen Grund hier – um Emma und ihre Frauen vor dem Mistkerl zu beschützen, der sie bedrohte. Es war egal, wie hübsch oder freundlich sie war. Oder wie unglaublich gut es sich anfühlte, wenn sie ihn berührte. Er musste einfach den Kopf unten und die Augen gesenkt halten und in ein paar Tagen wäre er wieder in Sicherheit und würde in den Bergen Tunnel in den Stein sprengen.

* * *

Als Emma sich wieder auf den Weg zu den anderen im Haus machte, hatte sie ihre Gefühle unter Kontrolle gebracht. Sie würde sich nicht noch einmal so aus der Fassung bringen lassen. Auch nicht von den Blicken, die Mal ihr nachgeworfen hatte, als sie sein Pferd wegbrachte. In diesem Moment waren die Sehnsüchte einer erwachsenen Frau in ihr aufgebrochen und hatten die mädchenhafte Freude verdrängt. Doch sie musste ihn sich aus dem Kopf schlagen. Mal hatte sein eigenes Leben. Vielleicht sogar eine Frau oben in Montana, obwohl er in seinen Briefen nie darüber gesprochen hatte. Allerdings hatte sie das auch nicht erwartet. Von solchen Dingen würde Mal nicht in einem Brief erzählen. Schon gar nicht in einem Brief an sie. Immerhin hatte auch sie nie den Bankangestellten erwähnt, der um sie geworben hatte, als sie noch bei dem Partner ihres Vaters angestellt gewesen war. Manche Dinge waren einfach zu … privat. Und viel zu peinlich, um sie mit einem jungen Mann zu besprechen, der einmal ihr Held und bester Freund gewesen war.

Vor allem nicht, wenn dieser Bankangestellte viel zu weiche Hände und einen kratzigen Oberlippenbart gehabt hatte und nicht ein einziges Mal ihre Partei ergriffen hatte, wenn sie sich wieder einmal mit dem Manager der Bank darüber stritt, warum Frauen keine Darlehen bekamen. Der arme Nathaniel! Er hatte Mal einfach nicht das Wasser reichen können. Nicht diesem mutigen Jungen, der vor den anderen für sie und ihre Tanten eingetreten war, ganz gleich, wie sehr sich Tante Henry mit ihren Slogans wieder einmal blamiert hatte. Und ganz gleich, wie oft er von den anderen Jungen für seine Treue zu den Tanten verspottet worden war.

Plötzlich ließ ein Gedanke Emma innehalten. Erging es Malachi ähnlich wie ihr? Verglich er die Frauen, die er traf, mit den Erinnerungen an sie? Wie schnitt sie dabei ab? Emma kaute an ihrem Daumen herum, während ein unvorteilhaftes Bild vor ihrem inneren Auge aufstieg. Wahrscheinlich hielt er sie als Beispiel hoch, wie eine Frau nicht sein sollte. Herrisch. Besserwisserisch. Eigensinnig. Starrköpfig. Was hatte er gesagt? Ach, ja. Er hatte sie nur kurz angeschaut und dann ihre größte Schwäche benannt. Anscheinend hast du dich gar nicht verändert, Emma. Gerätst immer noch in Schwierigkeiten.

Genau. Das war nicht gerade die Eigenschaft, nach der ein Mann bei einer Frau suchte. Doch eigentlich hatte sie nie wirklich einen Ehemann gewollt. Die Tanten waren ihr ganzes Leben lang wunderbar ohne einen Mann klargekommen. Warum sollte sie das nicht auch können? Sie hatte ihre Bank, die Frauenkolonie, liebe Freundinnen, durch die sie niemals einsam wurde. Sie brauchte keinen Mann, um der Berufung nachzugehen, die Gott ihr gegeben hatte.

Wie viele Male hatte Tante Henry den ersten Korintherbrief zitiert? „Und die Frau, die keinen Mann hat, und die Jungfrau sorgen sich um die Sache des Herrn, dass sie heilig seien an Leib und auch am Geist; aber die verheiratete Frau sorgt sich um die Dinge der Welt, wie sie dem Mann gefalle.“

Männer waren eine Ablenkung. Eine, die sie sich nicht leisten konnte. Sie musste eine Stadt führen und ihre Frauen beschützen. Emma reckte die Schultern und riss die Haustür auf, während Tante Henrys Zitat noch in ihren Gedanken nachhallte.

Doch als sie durch die Küche ging, hörte sie in ihrem Inneren Tante Berties Stimme, die ihrer Schwester auf der Grundlage anderer Bibelstellen widersprochen hatte. Wie zum Beispiel der Tatsache, dass eine Frau die Gefährtin des Mannes war. Oder dass verheiratete Frauen durchaus verantwortungsvolle Aufgaben und Ämter versehen hatten, wie z. B. die Richterin Debora, die Königin Ester, die Prophetin Hulda, die Missionarin Priszilla und Jesu eigene Mutter, die eine angesehene Stellung in der ersten Gemeinde gehabt hatte. Bertie hatte sichergehen wollen, dass Emma nicht das Gefühl bekam, dass der Weg, den die Tanten eingeschlagen hatten, der einzig wahre war. Gott konnte durch alle Frauen wirken, verheiratet oder alleinstehend, jung oder alt, reich oder arm. Alles, was er brauchte, war ein Herz, das für ihn offen war.

„Wohin führst du mich, Herr?“, flüsterte Emma, als sie im Flur ihren Schritt verlangsamte und in das kleine Wohnzimmer spähte. Bertie versorgte Malachi gerade mit Keksen und stellte ihm Fragen über seine Arbeit, während Tante Henry im Eingangsbereich seinen Mantel ausschüttelte und die Stirn über den ganzen Staub runzelte, der daraus rieselte. Und Malachi? Nun, nachdem Bertie den Teller auf den kleinen Tisch zwischen Sessel und Sofa gestellt hatte, nahm er sich zwei Kekse, wobei er einen davon in seine Serviette einschlug.

Emmas Lippen zitterten leicht. Er bewahrte immer noch Essen auf. Der Anblick schlug eine Saite tief in ihrem Inneren an. Nach all diesen Jahren! Ein erwachsener Mann, der eine sichere Anstellung hatte und ein Gehalt bekam, das die Gefahren dieser Anstellung ausglich. Und trotzdem versteckte er Essen in seiner Serviette, als wäre er immer noch der halb verhungerte Junge, den sie in ihrer Scheune gefunden hatte.

Der Junge, der ihr zum ersten Mal eine Aufgabe gegeben hatte. Und der jetzt zu einem Mann geworden war, der seine Arbeit hinter sich gelassen hatte, um ihr beizustehen.

Emma presste die Lippen zusammen und richtete sich auf. Welche Gefühle auch immer in ihrem Inneren aufgebrochen waren, als sie ihn wiedergesehen hatte, sie mussten beiseitegeschoben werden. Malachi war nicht hier, um ihre alte Freundschaft wieder aufzufrischen. Er war hier, um zu helfen. Um den Frauen von Harpers Station zu helfen.

Es wurde Zeit, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu konzentrieren.

* * *

Emmas leichter Schritt auf dem Dielenboden ließ Malachi aufschauen. Erneut musste er seine Gefühle unterdrücken. Nur sein Herzschlag ließ sich nicht so schnell unter Kontrolle bringen wie sein Gesichtsausdruck. Es war sich darüber im Klaren, dass es besser wäre, wenn er sich schnell an den Anblick der erwachsenen Emma gewöhnte – oder ihm stünden ein paar sehr unangenehme Tage bevor.

„Da bist du ja, Emma!“ Bertie lief zu ihrer Nichte und zog sie zu dem Stuhl, der gleich neben dem von Mal stand. Na wunderbar! Als wäre es nicht schon schwer genug gewesen, mit ihr im selben Raum zu sein, saß sie nun auch noch in seiner direkten Nähe.

Mal starrte auf den großen Quiltrahmen, der an der gegenüberliegenden Wand stand und viel zu viel Platz wegnahm. Was hatte er hier zu suchen? Die Tanten nähten nicht einmal gerne. Und Emma erst recht nicht. Doch da stand der Rahmen mitten im Wohnzimmer und störte ihn. Vielleicht sollte er jetzt einfach in die Scheune gehen, um seine Sachen auszupacken.

„Malachi hat uns gerade von seiner Arbeit bei der Eisenbahn erzählt, nicht wahr, mein Lieber?“ Bertie lächelte Mal breit an und zerstörte seine Hoffnungen auf einen schnellen Rückzug, indem sie sich ihm gegenüber auf das Sofa setzte. „Es muss so aufregend sein zu sehen, wie vor deinen Augen Geschichte geschrieben wird. Die Räder des Fortschrittes stehen niemals still.“ Ihr Gesicht strahlte mit einer solchen Aufrichtigkeit, dass Mal sogar ein Fünkchen Stolz ob ihrer Komplimente empfand. Doch dann fiel ihm wieder ein, warum er nach Harpers Station gekommen war.

Bertie mochte so tun, als wäre sein Hiersein nur ein lange überfälliger Höflichkeitsbesuch, doch Mal konnte keinen Aufschub dulden. Die Frauen waren in Gefahr. Die Frauen, die sich um ihn gekümmert, ihn bemuttert hatten. Und Emma, sein tapferer Engel, der einzige leuchtende Punkt in der Dunkelheit seiner Kindheit. Sie zählte darauf, dass er die Stadt beschützte, die sie aufgebaut hatte. Er würde keine Zeit damit vergeuden, heile Welt zu spielen, wenn ihr Wohlergehen in Gefahr war.

„Jetzt, wo Emma da ist“, sagte Mal, „sollten wir vielleicht wichtigere Themen besprechen.“

Berties Lächeln wirkte etwas angespannter. „Natürlich. Aber wir haben uns doch so lange nicht gesehen und …“

„Lass den Jungen doch, Bert.“ Henry hängte Mals Mantel an einen Haken, dann ließ sie sich neben ihrer Schwester auf dem gelben Sofa nieder. „Nachher ist noch genug Zeit, um Nettigkeiten auszutauschen. Mal will offensichtlich wissen, was hier vor sich geht. Er hat sich doch bestimmt all die Jahre schreckliche Sorgen um uns gemacht.“ Henry sah ihn mit erhobener Augenbraue vielsagend an und ein Mundwinkel zuckte leicht. Mal hatte ihren trockenen Humor und ihren Sarkasmus vermisst. „Emma“, sagte Henry. „Erzähl ihm von der Kirche!“

Da er nicht unhöflich sein wollte, wandte Mal sich Emma zu und zum ersten Mal sah er die dunklen Ränder unter ihren wunderschönen grünen Augen und die feinen Linien, die sich um ihren Mund herum eingegraben hatten und von ihrer Anspannung zeugten. Sosehr sie auch an die Gemeinschaft glaubte und überzeugt davon war, dass die Frauen hier auf gleicher Augenhöhe standen und sich gegenseitig helfen sollten, war sie doch die Anführerin in Harpers Station. Sie war diejenige, zu der die Leute kamen, wenn sie Antworten auf ihre Fragen oder Lösungen für ihre Probleme brauchten. Das war eine schwere Last für einen so jungen Menschen.

„Ich hatte vor ein paar Tagen ein Treffen anberaumt, um über den Drohzettel zu sprechen, den Tori und ich an einem Nagel an der Kirchentür gefunden haben.“

Mal zog die Stirn kraus. „Ein Zettel? Porter hat nichts davon erwähnt.“

Emma legte überrascht den Kopf schief. „Du hast Mr Porter getroffen?“

Mal nickte und lehnte sich in seinem Sessel zurück, während er sich mit den Handflächen über die Oberschenkel rieb. „Ich habe ihn heute in Seymour getroffen.“ Es gab keinen Grund, die näheren Umstände ihres Kennenlernens breitzutreten. „Ich habe nach dem Weg nach Harpers Station gefragt. Er hat gehört, wie ich mit einem Ladenbesitzer gesprochen habe, und mich draußen zur Rede gestellt. Wollte wissen, warum ich mich für euch interessiere. Und er wollte vor allem sichergehen, dass euch nichts geschieht.“

„So war er schon immer, dieser Bär von einem Mann.“

„Aber Henry!“ Bertie sog entsetzt die Luft ein.

Was?“ Henry zuckte mit den Schultern. „Der Mann sieht doch aus wie ein Grizzly. Tu doch nicht so, als hättest du das noch nicht bemerkt!“

Alberta Chandler wurde rot. „Gütiger Himmel! Benjamin Porter hat sich immer wie der perfekte Gentleman verhalten und nimmt sogar Umwege in Kauf, um Miss Adams mit den Waren zu helfen und unsere Güter zu verkaufen. Du solltest mit mehr Respekt von ihm sprechen.“