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JÜRGEN TIETZ

MONUMENT EUROPA

Wie Baukultur europäische Identität stiftet

NZZ Libro

INHALT

Titelei

Geleitwort

Vorspiel

Europäische Erinnerungen

Europa als kulturelles 
Projekt

Europäische Reise

Grenzüberschreitungen

Europas Städte

Europas 
Monumentenspeicher

Europäisches Erbe

Zukunft Europa

Dank

Anmerkungen

Literaturauswahl

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GELEITWORT

Über das Europäische Kulturerbejahr 2018
von Dr. Uwe Koch

2012 wurde die EU für ihren Einsatz für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Diese herausragende Auszeichnung ist vor dem Hintergrund der nachfolgenden Ereignisse fast in Vergessenheit geraten. Die europäische Idee hat seitdem erheblich gelitten. Das Bild Europas wird derweil geprägt durch Eurokrise, nationale Egoismen in Politikfeldern wie der Flüchtlingspolitik oder dem Brexit. Ein antieuropäischer Populismus ist salonfähig geworden. Viele Menschen nehmen Europa vermehrt als Zweckgemeinschaft mit bürokratischem Überbau wahr. Doch Europa ist nichts Fernes, nichts Abgehobenes. Es gehört zu uns und ist überall zu entdecken. Diese Erkenntnis steht im Kern des Europäischen Kulturerbejahrs 2018. Ausgerufen durch die Europäische Union, möchte das Jahr die Identifikation mit einem gemeinsamen Erbe fördern und gleichzeitig die Bereitschaft wecken, für dessen Bewahrung einzutreten. 2018 soll deshalb ein neues Bewusstsein dafür gestärkt werden, dass wir Teil eines länderübergreifenden, vielschichtigen, aber eng miteinander verbundenen europäischen Kulturerbes sind.

Wesentliches Ziel des Europäischen Kulturerbejahrs 2018 ist es, eine noch aktivere Teilhabe am kulturellen Erbe zu ermöglichen. Angesprochen werden sollen dabei nicht in erster Linie die Experten. Vielmehr soll das Kulturerbejahr in der Breite der Gesellschaft wirken. Dies umfasst insbesondere die Personengruppen, die allgemein keinen exklusiven Zugriff auf klassische Kulturangebote haben oder diesen in der Regel nur beschränkt nutzen. Der deutsche Beitrag zum Europäischen Kulturerbejahr unter dem Motto «Sharing Heritage» wird deshalb einen besonderen Fokus auf Vermittlungsangebote für Kinder und Jugendliche setzen. Schliesslich werden sie das Europa von morgen prägen und dafür Sorge tragen müssen, dass das Erbe erhalten und weitergetragen wird.

Doch unabhängig von der Zielgruppe: Alle Aktivitäten im Rahmen des Jahres sollen das reiche Kulturerbe des Kontinents zum Ausgangspunkt für eine gemeinschaftliche Beschäftigung mit Europa machen.

Europa ist ein einzigartiger Kontinent mit einer einzigartigen Geschichte, geprägt von Gegensätzen und Gemeinsamkeiten. Die unterschiedlichsten Themenfelder bieten dabei Anknüpfungspunkte, um die vielfältigen kulturellen Verknüpfungen aufzuzeigen. Seien es die Grenzlandschaften, die sich nicht nur als Orte der Trennung, sondern ebenso als Transformations- und Bewegungsräume darstellen. Oder aber die Vielzahl an Routen und Schneisen, die beispielsweise in Form von Handelswegen von jeher die unterschiedlichsten Punkte auf der Landkarte zum steten Austausch von Ideen und Waren verbinden und sich wie ein Netz über den Kontinent legen. Auch ist 2018 historisch betrachtet ein besonderes Jahr, an dem sich das Ende des Ersten Weltkriegs wie auch der Beginn des Dreissigjährigen Kriegs sowie der Westfälische Frieden jähren. Ein Jahr, in dem wir schrecklicher Gräuel gedenken, aber uns eben auch vor Augen führen, was Europa ausmacht und auch sein kulturelles Erbe prägt: Der lange und schmerzliche Weg zum Frieden, zum friedlichen Dialog.

«Sharing Heritage» wird das gesamte Spektrum des Kulturerbes betrachten: von der Literatur bis zum Tanztheater, vom Film bis zur Folkmusik. Doch wird dem gebauten und archäologischen Erbe innerhalb des deutschen Beitrags ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden, denn insbesondere das architektonische und das archäologische kulturelle Erbe legen ganz unmittelbar Zeugnis ab über Europas reiche Geschichte. Geradezu haptisch werden hier grenzüberschreitende Bezüge erfahrbar. Europas Städte und ihre Denkmale stehen regelrecht archetypisch für das gesamte Kulturerbe in der Alten Welt, in sich einzigartig und geprägt von unverwechselbaren Silhouetten – und doch weisen sie umfassende Querbeziehungen auf, seien es die antiken Thermalanlagen von Bath bis Aix-en-Provence, gotische Sakralbauten von Reims bis Magdeburg, die Zeugen des Handels von Brügge bis Visby oder die Nachkriegsmoderne in Europas wiederaufgebauten urbanen Zentren.

Das Europäische Kulturerbejahr 2018 möchte aufzeigen, dass unser kulturelles Erbe immer beides ist: lokal und europäisch. Die Betonung dieser doppelten Dimension lässt sich dabei ebenso auf unsere aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen projizieren. Das Kulturerbejahr allein wird die Sinnkrise Europas nicht heilen. Es wird aber einen Beitrag dazu leisten können, das Gemeinsame wieder verstärkt über das Trennende zu stellen.

Dr. Uwe Koch leitet die Geschäftsstelle des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz (DNK). Das DNK zeichnet verantwortlich für die Koordination des deutschen Beitrags zum Europäischen Kulturerbe 2018 «Sharing Heritage».

VORSPIEL

 

Im Dezember 2015 lud die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin zum Auftakt einer neuen Veranstaltungsreihe über «Europabilder» in ihr Haus am Rand des Berliner Tiergartens ein. Das Thema klang interessant, zumal in einem Jahr, in dem das mediale Europa-Bashing angesichts von Euro-, Griechenland- und sogenannter Flüchtlingskrise ungeahnte Dimensionen angenommen hatte. Da kann es nur helfen, mit unterschiedlichen Blicken auf Europa zu zeigen, dass Europa gerade durch seine Vielfalt, durch seine unterschiedlichen Facetten seine besondere Qualität gewinnt und sich nicht allein auf die Europäische Gemeinschaft beschränkt.

Für den ersten Vortrag war Georges Santer eingeladen, Botschafter des Grossherzogtums Luxemburg in Deutschland. Doch der hufeisenförmige Saal der Stiftung füllte sich nur zögerlich. Interessiert Europa wirklich so wenige Menschen? Oder liegt es daran, dass allein in Berlin dutzendweise Veranstaltungen zu Europa stattfinden? Also ein Überangebot? Ist der Markt für Europainteressierte gesättigt?

Während wir auf den Beginn des Vortrags und die anschliessende Diskussion warten, laufen an der Rückwand des Saals «europäische» Bilder in einer Endlosschleife. Aus ihnen soll Santer seine Europabilder auswählen. Neben bedeutenden Politikern sind es vor allem europäische Monumente, die an die Wand projiziert werden. Zu gern würde ich wissen, wer sich hier im Raum bewusst macht, wie sehr wir diese europäischen Sehenswürdigkeiten verinnerlicht haben, wie tief wir bis in unsere demokratische Diskussionskultur hinein in der europäischen Kulturgeschichte verankert sind.

Europa, das ist meine Arbeitshypothese, ist so allgegenwärtig in unserem Wissen, Handeln und Fühlen, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen. Und die Monumente, die uns allerorten umgeben, gehören zu den zentralen Speichern dieses europäischen Wissens. Nehmen wir nur die Architektur, die uns in der Berliner Adenauer-Stiftung umgibt: Schon der Saal, in dem wir uns aufhalten, ist Europa pur. Mit seinen abfallenden Sitzreihen, die im Halbkreis zur Bühne hin ausgerichtet sind, erweist er sich als eine moderne Adaption eines antiken griechischen Theaters. Und das ganze übrige Haus, das der Kölner Thomas van den Valentyn vor rund zwanzig Jahren beim Hauptstadtumzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin entworfen hat, spielt von dem bekrönenden Doppelzylinder der Dachlandschaft bis zum Sichtbeton mit den Assoziationen an die Bauten des französisch-schweizerischen Architekten Le Corbusier an, den einflussreichsten Vertreter der – europäischen – Moderne im 20. Jahrhundert.

Wir haben Europa im Blut, in der Seele, in der Architektur und auf dem Teller. Aber haben wir es auch im Herzen?

Auf dem Podium beschreibt Georges Santer in diplomatischer Eloquenz Europa als ein soziales und vor allem als ein Friedensprojekt. Das zustimmende Kopfnicken in den Reihen ist ihm gewiss, in denen die ältere Generation klar dominiert. Eines der Bilder, anhand derer Santer sein Europa erläutert, zeigt den ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, den italienischen Premierminister Alcide De Gasperi, den französischen Aussenminister Robert Schuman, der ja recht eigentlich als der Vater des Europäischen Einigungsprojekts bezeichnet werden darf, den niederländischen Aussenminister Dirk Uipko Stikker sowie den luxemburgischen Aussenminister Joseph Bech. In dem vereinheitlichenden Schwarz-Weiss des Fotos sind sie auf einem Flur im Rahmen einer Sitzung des Europarats ins Gespräch vertieft. Wohlgemerkt, des Europarats. Den Europäischen Rat gab es damals noch gar nicht. Wer jetzt seine mediengewandten Töchter und Söhne fragen würde, was denn der Unterschied zwischen den beiden Institutionen sei, dann wette ich, dass die meisten Jugendlichen erst Google befragen müssten, ehe sie antworten könnten.

Sosehr sich unser Europaverständnis längst aus der Krümmung der Gurken berechnet, so gleichmütig selbstverständlich nehmen wir es als gegeben hin und verschwenden in der Ausbildung unserer Schüler kaum einen expliziten Gedanken an den Wert und die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses. Was für eine Arroganz spricht daraus gegenüber unserer Vergangenheit!

Um 1950, als das Foto entstand, war Europa eine Herausforderung. Es war ein verheissungsvolles Ziel, das es vor dem Hintergrund der Erfahrung von zwei grausamen Weltkriegen in nur einem halben Jahrhundert und mehrerer Millionen toter Europäer zu befrieden und zu einen galt. Ein weiter Weg, der seither beschritten wurde. Der Enthusiasmus von damals ist heute einer müde wirkenden Gleichgültigkeit gewichen, die immer mehr in eine Europaaversion umschlägt. Das zu oft bemühte Argument der Alternativlosigkeit zieht immer weniger, vielleicht, weil sich zu wenige noch an das uneinige, das kriegerische Europa erinnern?

Derweil versichert man sich bei unserer Berliner Veranstaltung gegenseitig, wie wichtig Europa sei, wie – eben – alternativlos, aber zugleich fragil es wäre und geht anschliessend in die kühle Berliner Nacht hinaus.

Ach, Europa! Du lockst uns an deine Strände und auf deine Gebirge, du bist unser gelebter Alltag.

Doch der Abend liefert mir mehr Fragen als Antworten. Wer eigentlich interessiert sich überhaupt für Europa ausser ein paar älteren Herrschaften – und seinen lautstarken Kritikern? Grund genug, sich zu vergewissern, wie wir uns in den vergangenen siebzig Jahren jenen Zielen genähert haben, die Winston Churchill – ausgerechnet ein Brite – in seiner Zürcher Rede von 1946 beschwor.1

«Dieser edle Kontinent», sagte Churchill damals, «der alles in allem die schönsten und kultiviertesten Gegenden der Erde umfasst und ein gemässigtes, ausgeglichenes Klima geniesst, ist die Heimat aller grossen Muttervölker der westlichen Welt. Hier sind die Quellen des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik. Hier liegt der Ursprung fast aller Kulturen, Künste, philosophischen Lehren und Wissenschaften des Altertums und der Neuzeit. Wäre jemals ein vereintes Europa imstande, sich das gemeinsame Erbe zu teilen, dann genössen seine drei- oder vierhundert Millionen Einwohner Glück, Wohlstand und Ehre in unbegrenztem Ausmass.»

Was für eine Vorstellung!

Nach dem – überraschenden – Ende des Kalten Kriegs dachten viele, jene paradiesischen Zustände endlich, endlich erreicht zu haben.

Was für eine Täuschung.

Und Churchill fuhr fort: «Es ist die Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie, oder doch so viel davon, wie möglich ist, indem wir ihr eine Struktur geben, in der sie in Frieden, in Sicherheit und in Freiheit bestehen kann. Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten. Nur auf diese Weise werden Hunderte von Millionen sich abmühender Menschen in die Lage versetzt, jene einfachen Freuden und Hoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen. Das Vorgehen ist einfach. Das Einzige, was nötig ist, ist der Entschluss Hunderter von Millionen Männer und Frauen, recht statt unrecht zu tun und dafür Segen statt Fluch als Belohnung zu ernten.»

Streicht man das üppige Nachkriegspathos aus der Rede, dann bleibt ein ziemlich einfacher Kern übrig: Wir müssen Europa wollen! An der Umsetzung dieser Vision arbeitet inzwischen bereits die dritte Generation von Europäern. Trotz aller Veränderungen und vieler Fortschritte ist Europa – wie 1950 – noch immer eine Herausforderung, ist immer noch ein verheissungsvolles Ziel. Der Weg bis hierher hat uns immerhin eine der längsten Friedensepochen in der europäischen Geschichte überhaupt geschenkt. Ein Geschenk, das wir nicht geringschätzen sollten.

Doch was tun wir Europäer? Wir behandeln unser Europa allzu oft, wie ein kleines Kind sein Spielzeug behandelt. Es schätzt es nicht wert, weil es nichts anderes kennt. Wir lassen uns gehen, aber niemand ruft uns zur Ordnung.

Ein paar Tage vor der Berliner Veranstaltung der Adenauer-Stiftung dachte die Jugendbuch-Bestsellerautorin Cornelia Funke in einem Beitrag des Deutschlandfunks über Deutschland und Europa nach. Wie winzig diese europäischen Länder doch wären im Vergleich zum grossen Amerika, stellte sie aus der Perspektive ihrer kalifornischen Wahlheimat Los Angeles fest. Europa mit seinen Grenzen und seinen ewigen Streitereien.

Wie seltsam. Wie recht sie hat.

Aber warum fällt es uns Europäern – und ausgerechnet den Engländern – so schwer, Churchills Gedanken der Vereinigten Staaten von Europa zu folgen? Warum hängen wir in einer globalisierten Welt an dem überlebten Nationalstaatenmodell des 19. Jahrhunderts so fest wie eine Klette? Warum ruft die Idee der Gemeinsamkeit eher Grausen als Begeisterung hervor? Wieso gelingt es uns nicht, Europa als unsere Heimat zu begreifen? Warum berührt Europa nicht (mehr) unsere Herzen? Und warum tun wir uns so schwer, etwas dagegen zu tun?

Dabei hat uns Cornelia Funke eigentlich schon an die Hand gegeben, was wir zu tun haben: Was wir brauchen, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als einen Perspektivenwechsel, um uns in Europa (wieder) zu erkennen, unsere Chancen, unsere Potenziale und unsere gemeinsame Geschichte. Diese eröffnet Europa eine Perspektive, fordert es auf, aus dem reichen Reservoir seines kulturellen Erbes zu schöpfen. Dabei erweisen sich eigentlich diese kleinteiligen regionalen Fundamente als eine erstaunlich tragfähige Basis für das gemeinsame Haus. Den Blick für die Facetten und Potenziale zu schärfen, ist Ziel eines Europäischen Jahrs des kulturellen Erbes 2018; es gleicht einer ausgestreckten Hand, die die Europäer zurückführen kann – zurück zu sich selbst.

EUROPÄISCHE ERINNERUNGEN