Elsbeth Schneider
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1: Brahms
Kapitel 2: Mitten im Leben
Kapitel 3: Der leere Raum
Kapitel 4: Painted black
Kapitel 5: Kontakte
Kapitel 6: Grenzverkehr
Kapitel 7: Ich, Ebenbild der Gottheit
Kapitel 8: Vermintes Gelände
Kapitel 9: Schwarze Heilung
Kapitel 10: Der Preis der Freiheit
Kapitel 11: Nachspiel
Impressum neobooks
Wenn Joseph Bergholtz operiert, wird nicht geredet. Kein Kliniktratsch, keine Abenteuergeschichten vom letzten Wochenende, kein Geplänkel unter den Assistenten, keine Witze, nur kurze Ansagen und Kommandos – das Nötigste. Im Hintergrund läuft klassische Musik, Tschaikowsky manchmal, Verdi, Richard Strauss, darunter die disziplinierten Stimmen von Beatmungsgerät und EKG-Monitor. Heute ist es Brahms, das erste Klavierkonzert in d-moll, gespielt vom noch jungen Daniel Barenboim und dem Orchester von St.Martin-in-the-Fields – Bergholtz liebt Brahms. Über dem bedrohlichen Paukenwirbel zu Beginn des ersten Satzes zuckt das F-Dur-Thema verstörend hin und her, als der Professor an den schon aufgeschnittenen Körper der 32-jährigen Patientin herantritt; die ersten Inzisionen, die Eröffnung der Bauchhöhle nimmt immer ein erfahrener Assistent vor oder ein Oberarzt, während der Chef noch seine Runde durch die übrigen Operationssäle macht und sich dann erst im Vorraum wäscht und steril ankleiden lässt. Bei der Frau auf dem Tisch handelt es sich um eine Verkäuferin, Mutter eines kleinen Sohnes, der die Metastasen eines bösartigen Hauttumors schon große Teile der Leber zerstört haben (das maligne Melanom ist, wenn man so will, ein König der Bösartigkeit.) Ihr eigener Arzt hat sie nach Monaten der wirkungslosen Chemotherapie aufgegeben; niemand ist bereit gewesen, sie zu operieren, noch etwas für sie zu tun. Niemand außer Bergholtz.
Grüne OP-Tücher hängen über einem Metallbügel quer über ihren Brustkorb und trennen so den Bereich des Anästhesisten ab, der bereits neben ihrem intubierten Kopf Wache hält, das Stethoskop lässig um den Hals geschlungen; andere grüne Tücher verdecken ihre unversehrte Haut und lassen nur den OP-Bereich selbst frei, ein mit antiseptischer Folie beklebtes, von Jodlösung orange verfärbtes quadratisches Areal, innerhalb dessen jetzt der Schnitt klafft und die Wundränder mit Haken auseinandergezogen werden. Dieser Bereich ist das einzige, was der Operateur von seiner Patientin sieht.
„Alles in Ordnung soweit?“, murmelt Bergholtz, und die Oberärztin nickt knapp. In Ordnung, soweit man sich nur auf den lege artis durchgeführten Schnitt bezieht und nicht auf das hoffnungslos zerfressene, tumordurchsetzte Gewebe darunter. Bergholtz lässt sich ein Skalpell reichen, eine Sonde, schiebt ein Gefäß zur Seite, dringt weiter vor, exploriert, während der Pianist endlich, endlich mit seiner eng geführten, traurig-schönen Melodie die Bühne betritt. Er lässt sich Zeit und schwingt sich langsam hoffnungsvoll auf, nur um schließlich dem Diktat des düsteren Themas zu verfallen und in verzweifelten Trillern abzustürzen. Genial, denkt Bergholtz, der Anfang des Maestoso ist zwar gewalttätig, aber genial, unglaublich, dass Brahms keine fünfundzwanzig war, als er das komponiert hat – . Blut sammelt sich in der Bauchhöhle vor ihm und muss abgesaugt werden; er klemmt die Arterie ab, um klarere Sicht zu haben, und gibt einer der Schwestern ein Zeichen, dass sie seine Brille abwischt, auf der ein paar Blutspritzer gelandet sind. Ein Schlachtfeld liegt vor ihm, auf dem die Truppen von Tumorzellen alle strategisch wichtigen Punkte besetzt haben und kurz vor dem Sieg stehen. Da gibt es nichts mehr, was ein tollkühner Heerführer noch tun könnte, nur noch eines: nur noch das Letzte. Das Klavier hat in eine harmlose Fröhlichkeit hineingefunden, eine Finte, wie Bergholtz weiß, bevor das bedrohliche Hauptthema wieder hervorbricht. So sei es. Er greift nach einer kleinen Schere, hält einen Augenblick inne und durchtrennt dann mit einer einzigen Bewegung die große Hohlvene, ein Gefäß von etwa zwei Zentimetern Durchmesser. Blut schießt heraus und überschwemmt in Sekundenschnelle den OP-Bereich, läuft über den Rand des Schnittes hinaus und über den Tisch und tropft auf den Boden.
„Oh mein Gott!“, entfährt es der Instrumentenschwester. „Was tun Sie denn da?!“ Irgendjemand versucht die Blutung mit der Hand zu stoppen; es wird hektisch und laut. Der Anästhesist springt fassungslos hoch, dreht die Infusionsschläuche auf bis zum Anschlag, brüllt nach Blutkonserven, während die Blutlache auf dem Boden sich stetig vergrößert und der Blutdruck fällt, fällt in nicht messbare Tiefen. Bergholtz lauscht reglos den letzten Takten Brahms: Leidenschaft, Kampf, Verlust und Trauer.
„Das habe Sie absichtlich getan!“ Der Oberärztin kippt die Stimme. „Professor Bergholtz! Sie haben – “ Bergholtz nickt.
„Ja“, sagt er ruhig. „Exitus in tabula.“
1
Iris griff nach ihrem Skalpell, führte es mit gleichmäßigem Druck an einem Stahllineal entlang und schnitt damit ein winziges Stückchen bedruckter Tapete ab. Sie hob das Schnipselchen hoch, tupfte mit dem Pinsel einen Tropfen Kleister auf die Rückseite und passte es in die Lücke zwischen Waschtisch und Ankleidespiegel des Puppenschlafzimmers ein. „You´re my heart, you´re my soul!“, dudelte das Radio, während sie sich selbst konzentriert in dem Miniaturspiegel zunickte, sehr schön, wunderbar! Seit ein paar Jahren arbeitete sie an der Einrichtung dieses Modellhauses, einer Gründerzeitvilla im Maßstab 1:12, mehr als einen Meter hoch und breit, mit drei kompletten Geschossen und ausgebautem Dach. Das Modell bot ausreichend Platz für ein großbürgerliches Idyll mit Vater, Mutter und drei Kindern, mit Köchin und Hausmädchen, gestärkten Schürzen, Blümchentapete und Klavier in der guten Stube – eine konzentrierte Süße, vor der Iris im wirklichen Leben unwillkürlich zurückgezuckt wäre („…I'm living in my, living in my dreams …“). Vorsichtig blies sie über die winzigen Plastikblumen in den Miniatur-Blumenkästen, um den Staub zu entfernen: Tausendschön, Stiefmütterchen, Vergissmeinnicht. Es klang wie die Kurzfassung eines ganzen Märchens.
Von unten war ein grelles Quietschen zu hören, Zeichen dafür, dass Gregor nach Hause kam. Der elektrische Garagentoröffner war das einzige geblieben, das er nach dem Hauskauf vor zehn Jahren angebracht und in Betrieb genommen hatte, das einzige Denkmal seiner damaligen Entschlossenheit, aus diesem Gebäude etwas Persönliches zu machen – ein Zeugenberg im Tiefland seiner Do-it-yourself-Ambitionen. Der Durchbruch zwischen Wohn- und Esszimmer dagegen, der neue Fassadenanstrich, die selbstklebenden Isoliermodule, erst recht der Bewegungsmelder für die Einfahrt hatten den Schritt von der ideellen in die materielle Existenz nie vollziehen dürfen; sie hatten sich irgendwo zwischen Kassenbereich und Parkplatz des bevorzugten Baumarkts in einen Haufen unnützer Schrauben, klebriger Farbeimer und rätselhafter Werkzeuge verwandelt. Abendelang war Gregor nicht ansprechbar gewesen, weil er die Bedienungsanleitungen las und nicht zugeben wollte, dass er weder deren Sinn ganz verstand noch den Sinn des Kaufs überhaupt, dann hatte er die Bosch-, Metabo- und Black-&-Decker-Devotionalien in den Heizungskeller getragen und in einem alten Umzugskarton beerdigt.
Die schrille Melodie des Garagentors und seiner immer ungeölten Federn war der Startschuss, dann folgte der doppelte Paukenschlag von Auto- und Garagentür und leitete Gregors Aufstieg aus dem Keller ein: Vierzehn Stufen nach oben, Schuhe ausziehen, Jacke aufhängen, Tasche ins Arbeitszimmer, Blick auf die Post auf dem Garderobentisch, pinkeln, Hände waschen, durch die Haare streichen, jeden Tag. Als wollte er mit diesem konzentrierten Zeremoniell sein Talent zur Zuverlässigkeit beweisen, dachte Iris und schaltete das Radio aus. Immerhin blieb ihr so Zeit genug, ihre Arbeitsutensilien wegzuräumen, die Pinsel in einem alten Taschentuch auszudrücken und ordentlich in das Glas mit Reinigungsflüssigkeit zu stellen, die Hände gründlich abzuwischen, bis hundert zu zählen und in den Flur zu treten, um dort auf Gregor zu warten. Zeit genug, ein Kind zu zeugen oder ein Verbrechen zu begehen und alle Spuren zu verwischen.
„Hallo, Liebling.“ Weit offenes weißes Hemd, Jeans, nackte Füße: Daran lag es nicht. Mit seinen Dreiundvierzig war Gregor ein gut aussehender Mann. Trotz des unübersehbaren Bauchansatzes wirkte er geschmeidig, war groß und braungebrannt, als verbringe er viel freie Zeit an der frischen Luft bei Bergsteigen, Segeln, Kitesurfen und anderen Jack-Wolfskin-Sportarten (was nicht stimmte, da es im Grunde genommen keine freie Zeit gab). Dass die Locken allmählich lichter wurden und die Falten um Mund und Augen ausgeprägter, gab seinen Zügen eine geheimnisvolle Tiefe, die sie früher nicht gehabt hatten. Das Altern schrieb ihm eine Geschichte ins Gesicht, die deutlich interessanter war als die, die er in Wirklichkeit durchlebt hatte. Iris streifte seine Wange mit den Lippen, atmete die Mixtur aus Aftershave, Softasept und zu viel Kaffee und versuchte sich an den bemitleidenswert schmächtigen Studenten zu erinnern, für den sie in der ersten Zeit ihrer Beziehung jedes Wochenende liebevoll gekocht hatte. Damals, als sie noch sorglos durch die Südsee ihrer Gefühle gesegelt waren, mit vollen Segeln, von einem paradiesischen Eiland zum nächsten.
„Hast du schon gegessen? Es ist noch ein bisschen Schafskäse da, Baguette, Tomaten und Oliven … ich könnte einen Salat machen … “
„Danke, ich brauche nichts mehr. Hab´ auf dem Rückweg von der Praxis noch einen Döner gekauft. Heute ist doch dein freier Nachmittag, da wollte ich dich nicht zum Kochen nötigen.“ Gregor versuchte zu grinsen, als sei ihr Wohlergehen das einzige, was für seine Entscheidung eine Rolle gespielt hatte. Früher war das gemeinsame Abendessen eine heilige Handlung gewesen, eine Zeremonie, deren Regeln unumstößlich feststanden wie die Liturgie der Osternacht – vom Decken des Tisches über die Diskussion, wer dran war, das Wasser aus dem Keller zu holen, bis zu dem Augenblick, in dem die Spülmaschine eingeschaltet wurde. Aber seit die Kinder das Haus verlassen hatten (Leonie verbrachte ein Auslandsjahr bei Iris´ Freundin in Hawaii, Fabian leistete seinen Zivildienst in einer Klinik im Schwarzwald und war in den letzten fünf Monaten exakt zwei Mal zwei Tage zu Hause gewesen), waren gemeinsame Abendessen eine Seltenheit geworden. Früher hatte Iris diese Regeln immer für ein unbequemes Korsett gehalten, aus dem sie gern ausgebrochen wäre, aber inzwischen hatte sie zu ihrer Überraschung festgestellt, dass es sich dabei im Gegenteil sogar um tragende Strukturen ihres Alltags gehandelt hatte, ohne die sie in sich zusammenfiel wie ein knochenloser Körper. Wie eine Qualle, die von der Strömung hin- und hergetrieben wurde.
Gregor war inzwischen zum Wohnzimmerschrank hinübergeschlendert, klappte das Bar-Fach auf und holte eine Flasche Cognac heraus. Im Laufe der Jahre hatte er eine ansehnliche Spirituosensammlung zusammengetragen: Geschenke dankbarer Patienten, Geschenke abergläubischer Patienten, die auf diese Weise das Schicksal bestechen wollten, Geschenke diverser Pharmareferenten, Geschenke zu Geburts- oder Gedenktagen, lokale Spezialitäten, die an die Brenn- und Braugewohnheiten irgendwelcher touristischer Regionen gemahnten und unter denen das rosafarbene Bier „Mors subite“ aus Namurs einen fragwürdigen Ehrenplatz einnahm. Die bunten Flaschen in der Bar erinnerten an die glitzernde Auslage einer Schießbude.
„Auf den Feierabend?“ Er nahm die Cognacschwenker heraus, schenkte ein ohne hinzusehen und reichte ihr ein Glas. „Auf den Feierabend.“ Nach all den Klebstoffdünsten, in denen Iris sich vorher stundenlang aufgehalten hatte, schien der Alkohol sofort den Weg in irgendein lebenswichtiges Zentrum gefunden zu haben; das Wohnzimmer begann in einem unerwarteten Seegang zu schwanken, und Iris musste sich an der Couch festhalten wie an einem Rettungsring.
„Und, bist du mit deinem Projekt weitergekommen?“, erkundigte sich Gregor großzügig. Das Projekt: Dabei handelte es sich um einen Artikel, den Iris unbedingt schreiben wollte, ein Stück über den positiven Einfluss von Klinik-Parks und Grünanlagen auf den Gemütszustand dementer oder depressiver Patienten; ein Stück, das nebenbei einen positiven Einfluss auf ihre eigene journalistische Karriere entfalten sollte, die schon vor Jahren mit der Geburt der Kinder zum Stillstand gekommen war. Mittlerweile arbeitete Iris als eine Art Mädchen für alles in Gregors Praxis mit, begrüßte die Patienten, maß Blutdruck, kümmerte sich um die Abrechnung und die Konflikte unter den Sprechstundenhilfen. Nach langer Schreibabstinenz hatte sie vor ein paar Monaten einen überraschenden Erfolg mit einem netten Artikel über das neue Leben knochenmarktransplantierter Jugendlicher erzielt, einen Artikel, den sie eher zufällig geschrieben hatte, nachdem sie in Fabians Bekanntenkreis einem Mädchen begegnet war, das durch diese Behandlung eine Leukämie überwunden hatte. Nicht nur die örtliche Presse, sondern auch eine überregionale Zeitung hatte den Artikel gedruckt. Und wenn Iris sich auch insgeheim eingestand, dass möglicherweise ihr Name und nicht die Qualität ihres Berichts den Ausschlag gegeben hatte (schließlich war sie die Schwiegertochter von Josef Bergholtz, Professor Josef Bergholtz, dem großen alten Mann der Chirurgie), so hoffte sie nun, dass ein zügiger Folgeartikel die Tür ein bisschen weiter öffnen würde, die sich da so unerwartet aufgetan hatte, die Tür in ein neues Leben. Sie wünschte nur, Gregor würde nicht ständig davon als „Projekt“ sprechen, als etwas, dem nur in der Zukunft Wirklichkeit zukam und das sich nie in der Gegenwart realisieren würde (so wie er es bei seinen eigenen Projekten gewohnt war). Sie schüttelte leicht den Kopf, was das Schlingern des Wohnzimmerschiffs weiter verstärkte.
„Nein. Ich war irgendwie nicht inspiriert … konnte mich nicht konzentrieren.“ Schon das Interview mit der zuständigen Klinikärztin war für Iris eine Strafe gewesen, von der schwärmerischen Verehrung der Medizinerin für Goethes Garten in der Ilmenau bis zu ihrer Weigerung, ganze Sätze zu sprechen. Iris konnte sich kaum vorzustellen, wie ein psychisch Kranker unter ihrer Betreuung gesund wurde.
„Ich hab´s versucht, aber nachdem ich eine Stunde am Schreibtisch gesessen hatte, ohne auch nur einen einzigen vernünftigen Satz auf die Reihe zu kriegen, habe ich lieber an meinem Haus weitergearbeitet.“ Gregor ließ sich auf dem Barhocker nieder, kniff ein Auge zu und betrachtete sie durch die Konvexität seines Cognacglases – ihre sportlich schlanke, fast schon hagere Figur, die schulterlangen dunklen Haare, die braunen Augen und ausgeprägten Wangenknochen. In Iris´ Familie waren alle klein und untersetzt und neigten dazu, im Alter völlig aus der Form zu gehen; ihrer übergewichtigen Mutter war ihr Körper so peinlich gewesen, dass sie sich nicht ins Schwimmbad getraut hatte. Er wusste, dass Iris um keinen Preis der Welt genauso enden wollte und hart daran arbeitete, sich ihr Erscheinungsbild zu erhalten – sie ging regelmäßig ins Fitnessstudio, achtete auf ihre Ernährung, kaschierte die ersten grauen Haare mit ein paar blonden Strähnchen. Wenn er eine Verbesserung hätte vorschlagen dürfen (was nicht der Fall war), dann hätte er ihre Lippen voller und weicher gemacht, das Kinn weniger prominent, die Augenwimpern länger. Aber es war absolut nicht notwendig, sagte er sich, es war in Ordnung, so wie es war. Vollbusige Sinnlichkeit passte sowieso nicht zu ihrem nüchternen Naturell. Unwillkürlich nickte er ihr zu.
„Aha. Findest du nicht, dass die Beschäftigung mit einem Puppenhaus bei einer über vierzigjährigen Frau etwas von Regression an sich hat?“
„Nein, finde ich nicht. Ich finde es im Gegenteil kreativ, entspannend und anspruchsvoll. Deutlich anspruchvoller, als in jeder freien Minute am Computer zu kleben.“
„Sehr schön. Und, wann können wir umziehen?“
„Noch lange nicht. Es sei denn, wir schlafen in der Küche.“ Der Regen hatte mittlerweile die Richtung geändert und belagerte die Panoramascheiben der Terrassenverglasung mit aufdringlichem Trommeln, als wolle er bei ihrer Unterhaltung dabei sein. Schwere Tropfen zerplatzten an den Scheiben, rannen hinunter und zogen schmale nasse Spuren hinter sich her, in denen die Gewitterfliegen ertranken. „Manchmal glaube ich, ich kriege diesen Artikel nie hin, obwohl ich genau weiß, was ich sagen will. Es ist wie verhext. Als hätte ich noch nie ein Wort geschrieben.“ Gregor schnickte mit dem Mittelfinger gegen sein Glas und hielt es dann an sein Ohr, als dürfte er sich keine Sekunde des Klangs entgehen lassen.
„Vielleicht ist das ja ein Zeichen dafür, dass der Artikel gar nicht wirklich geschrieben werden will. Soweit ich verstanden habe, besteht die Quintessenz doch mehr oder weniger in der Behauptung, pflanzliches Grün tue den Patienten gut, was ja wohl kein vernünftiger Mensch bestreiten würde, und deine Aufgabe ist es jetzt, die Schlichtheit dieser Botschaft mit Ausdrücken wie Neurogenese, präfrontaler Cortex, limbisches System, Stresstoleranz und Stimulation aufzuhübschen, oder?“
„Ich glaube, du verstehst nicht, wie wichtig mir das ist“, antwortete Iris gekränkt. Vermutlich war Gregor zufrieden damit, was für eine griffige Formulierung er für seine superklugen Erkenntnisse gefunden hatte. Klar, von der unermesslichen Höhe seiner neurologischen Fachkenntnis aus betrachtet mussten ihre Bemühungen sich trivial und stümperhaft darstellen, all ihre Bemühungen vermutlich. „Du nimmst mich überhaupt nicht ernst! Ich – “
„Iris, Liebes! Ich nehme dich ernst, vollkommen ernst! Und du kannst mir glauben, dass ich mich freuen würde, wirklich freuen, wenn du Erfolg hättest und ein bisschen Geld zusätzlich hereinkäme.“ Er streckte den Arm aus, so dass er mit seinen Fingerspitzen gerade über ihre Wange streichen konnte. Sein Lächeln sollte bestimmt ermutigend wirken, zumindest tröstlich, tat es aber nicht. „Als Ehemann einer attraktiven, gut verdienenden Starkolumnistin bräuchte ich mich jedenfalls nur noch um den Garten zu kümmern und müsste mir keine Gedanken mehr um die Finanzen machen.“ Er nahm ihre Hand und hielt sie fest.
„Ich habe Mutter versprochen, dass wir zu ihrem Geburtstag am Sonntag zum Essen kommen.“ Iris zog die Hand zurück, als hätte sie auf eine heiße Herdplatte gefasst.
„Gregor, verdammt noch mal! Es ist unser erstes freies Wochenende seit Monaten! Du hättest mich wenigstens vorher fragen können!“
„ … Winfried und Thea kommen auch.“
„Meinst du etwa, dadurch wird es besser?!“ Am liebsten hätte sie den Cognacschwenker genommen und mit voller Kraft gegen die Fensterscheibe geworfen. „Meinst du etwa, ich hätte Lust, den Nachmittag mit Thea zu verbringen und mir ihr Gefasel über Lichtwesen und kosmische Energien anzuhören?“ Zu spät erkannte Iris, dass sie sich auf einen Nebenkriegsschauplatz hatte locken lassen. Gregor lächelte verständnisvoll.
„Ich weiß, Thea ist eine furchtbare Kuh … aber du kannst dich ja auch mit Mutter unterhalten. Sie freut sich immer, wenn sie jemanden hat, mit dem sie über den Garten sprechen kann. Und vielleicht kommt Frank ja auch.“
„Toll, wirklich. Das hast du toll hingebogen! Weißt du eigentlich, dass wir am Sonntag zur Ausstellungseröffnung bei Christiane Siebert eingeladen sind? In Frankfurt? Ich dachte – “
„Aber du kannst ihre komischen Splitterbilder doch sowieso nicht leiden, hast du mir immer erzählt! Woher soll ich wissen, dass du plötzlich unbedingt da hin willst?“ Gregor hatte mittlerweile so etwas wie ehrliche Empörung in seinen Gesichtsausdruck gelegt. „Wirklich, Iris, woher hätte ich das wissen sollen?“ Gereizt griff Iris nach der Blumenvase auf dem Tisch und fing an, verwelkte Blätter von den Blüten darin abzuzupfen. Das Wasser hatte schon einen leicht fauligen Geruch; sie hätte es längst wechseln sollen.
„Indem du mal zur Abwechslung darüber nachdenkst, was ich gerne möchte, zum Beispiel? Die Ausstellung ist mir scheißegal, aber ich würde gern mal wieder allein mit dir ausgehen, an irgendeinen Ort, wo ich nicht ständig auf Mediziner treffe und über Hirntumore und Hämorrhoiden reden muss! Einfach mal ausgehen und zusammen etwas Schönes machen so wie früher, ist das so schwer zu verstehen?“ Gregor wand sich.
„Komm schon, Iris … es ist schließlich nur der Sonntag. Wir können doch am Samstag zusammen ins Kino gehen und danach meinetwegen noch in der Stadt essen. Einverstanden? Samstag Woody Allen und Sushi, Sonntag Mutters Geburtstag und Schwarzwälder Kirschtorte?“ Wütend fegte Iris die Blättchen zusammen und trug sie zur Biotonne hinüber. Irgendwie hatte Gregor es schon wieder geschafft, dass sie sich im Unrecht fühlte, obwohl sie doch wusste, instinktiv wusste, dass sie Recht hatte. Gregor stand auf und fuhr sich mit den Händen durch die Haare.
„Ich muss noch ein bisschen an meinen Gutachten tun … ich bin im Arbeitszimmer, ja?“
2
Gregors Arbeitszimmer lag im Erdgeschoss des Hauses, ein heller, nahezu quadratischer Raum mit einem Fenster nach Osten, das einen wunderbaren Blick auf Iris´ kunstvolle Staudenrabatte gewährte, auf die sorgfältig nach Höhe und Farbe gestaffelten Lilien und Astern, Storchschnäbel, Monarden, Gräser und jeweiligen Dekoartikel, deren Auftritt Iris´ Intuition nach gerade gekommen war. Allerdings war der Zugang zum Fenster durch eine gewagte Konstruktion aus hüfthoch gestapelten Diakästen versperrt (Gregor hatte sich vor Jahren vorgenommen, über die nächsten Weihnachtsfeiertage den Scanner eines Kollegen zu leihen und alle alten Bilder zu digitalisieren, sortieren und beschriften, aber allein der Umfang dieser Arbeit und die Aussicht darauf waren so entmutigend, dass auch ein disziplinierterer Mann als er noch nicht die Kraft dazu gefunden hätte), flankiert von mehreren Jahrgängen „Der Neurologe“, „Stroke“, „Deutsche Medizinische Wochenschrift“ und dem „New England Journal of Medicine“, die er spätestens dann noch einmal lesen würde, wenn er die Dias gescannt hatte. Eine kleine Ausziehcouch – Erinnerung an seine Studentenzeit, in der er jeden zweiten Tag Übernachtungsbesuch gehabt und mit ihm das wahre Leben erlebt hatte – versteckte sich unter einer dicken Schicht angestaubter Patientenakten, die bei einer unglücklichen Blumengießaktion Gregors vor Monaten in Mitleidenschaft gezogen worden waren und in aller Ruhe trocknen sollten, nachdem die verantwortlichen Grünlilien des Zimmers verwiesen worden waren. Die raumhohen Regale beherbergten überquellende Ordner, in denen Gregors beruflicher Werdegang dokumentiert war, von den Mitschriften der ersten Anatomievorlesung über die kopierten Chirurgieskripte bis hin zu seinen persönlichen Notizen zu interessanten Fällen, die er irgendwann einmal zu einer Publikation zusammenfassen wollte. Die nagelneuen dunkelblauen Mappen des Arbeitskreises Qualitätsmanagement quetschten sich neben die Informationsbroschüren der kassenärztlichen Vereinigung und eine verbeulte Plätzchendose, in der Gregor die Marken ausländischer Briefe sammelte, fest entschlossen, das völlige Desinteresse seiner Kinder an diesem Gründerzeit-Hobby zu ignorieren. Irgendwo stand auch noch die andere Blechdose, Zwilling der ersten, in deren Bauch kopflose Playmobilpiraten, durchgebrochene Legoschienen und Batteriekästen mit ausgelaufenen Batterien immer noch geduldig auf den ärztlichen Eingriff warteten. Manchmal hatte Gregor den Eindruck, die ganze Welt warte auf seinen Eingriff. Seufzend bahnte er sich einen Weg zum Schreibtisch und schaltete den Laptop ein.
Willkommen, begrüßte ihn der freundliche Bildschirm (Sonnenuntergang in Key West) und bot ihm seine verschiedenen Optionen an wie ein Bauchhändler sein Sortiment bunter Bonbons. Nur drei Schritte waren es, bis sich das Solitaire-Fenster öffnete, und im selben Augenblick empfand Gregor, wie sein Herzschlag sich normalisierte. Er konnte gar nicht anders, als jede seiner PC-Sitzungen mit Solitaire zu beginnen („Solitaire?! Das dümmste aller Spiele seit Blindekuh? Ich fasse es nicht!“, hatte Fabian kommentiert in einem Ton, der Gregor die Haare zu Berge stehen ließ. War er selbst in dem Alter auch so arrogant gewesen, so selbstsicher und gnadenlos? Das ist doch nur Fassade, würde Iris behaupten. In Wirklichkeit ist er ein orientierungsloser Junge, der dich liebt und respektiert. Gregor war sich da nicht so sicher). Aber auch dieses dümmste aller Spiele hatte seine Berechtigung, sagte sich Gregor. Wie konnte er dem Schicksal besser seine Souveränität und Verachtung zu zeigen als dadurch, dass er gegen die Sinnlosigkeit des Daseins etwas noch Sinnloseres stellte?
Selbstverständlich kannte und verstand Gregor den Unwillen seiner Frau, seine Eltern zu besuchen. Er verstand ihn sogar sehr gut, durfte ihm aber auf gar keinen Fall nachgeben – ein Dilemma, aus dem ihn selbst der freundlichste Solitaire-Marathon nicht retten konnte. Es war schwierig, sich in Gegenwart von Professor Dr.Dr.h.c.mult. Josef Bergholtz, Starchirurg, Bundesverdienstkreuzträger und Patriarch nicht wie ein Versager zu fühlen; für einen Bergholtz-Sohn und wenig erfolgreichen Neurologen war es praktisch unmöglich. Gregor hatte Jahre lang, sein ganzes Leben lang Zeit gehabt, sich an dieses Gefühl zu gewöhnen, aber es war ihm nicht geglückt (nicht einmal das). Eine Zeit lang hatte er sich eingeredet, dass das Eingeständnis, ein Versager zu sein, ihm Erleichterung bringen würde, aber dem war nicht so. Sogar in der Hinsicht, erkannte er scharfsinnig, war er ein Versager, denn er brachte nicht einmal ein erleichterndes Eingeständnis zuwege. Iris litt darunter, ihn in Gegenwart seines Vaters zu erleben, mehr noch als er selbst; aber um ihr genau diesen Schmerz zu ersparen, hätte er sich zu seiner Unterlegenheit bekennen müssen und sie damit noch einmal eindrucksvoll unterstrichen. Ganz abgesehen davon, dass er seine Eltern liebte. Und dass er ihnen ziemlich viel Geld schuldete, welches sie in seine Praxis und damit in seine vielversprechende Zukunft gesteckt hatten. Er hatte es nicht geschafft, ihnen zu erklären, dass ihm alle Versprechungen der Zukunft mittlerweile so gleichgültig waren wie die Börsenkurse von Aktien, die er sich nicht leisten konnte; dass er dankbar und hinreichend zufrieden wäre mit einem Augenblick verheißungs- und sorgenfreier Gegenwart.
Er schloss das Spielemenü (acht Mal in Folge verloren) und öffnete das Gutachten, das seit drei Wochen überfällig war. Sonntag war auch nur ein Tag.
3
Thea saß im Schlafzimmer vor der Spiegelkommode und behandelte ihr Gesicht mit einer selbstgemachten Feuchtigkeitscreme. Sie tupfte sich einen Tropfen davon auf Zeigefinger- und Mittelfingerkuppe, sog das kräftige Aroma ein und schloss die Augen. Alles wird gut, wenn du vertraust war die Formel, auf die sie sich heute konzentrieren wollte. Alles wird gut. Sie versuchte sich den Satz vorzustellen, in goldenen Buchstaben auf einem kostbaren Pergament niedergeschrieben, während ihre Finger von der Nasenwurzel hin zu den Augenbrauen massierten. Oder von einer sonoren Stimme mit fragloser Autorität deklamiert: Alles wird gut, wenn du vertraust, Thea. Mach dir keine Sorgen, auch wenn die Welt unter ihren ewigen Kriegen zittert; wenn sich Gifte ungehindert im Erdboden anreichern und in der Atmosphäre, wenn das Klima sich unwiderruflich verändert, der Mann an deiner Seite sich als unbelehrbarer Ignorant erweist und die Haare über deinen Augen wuchern wie ein ungebändigter Urwald. Alles wird gut, wenn du vertraust. Thea rieb energisch über ihre Wangenknochen. Ihre Augen tränten von der Intensität der ätherischen Öle in ihrer Cold Cream. Mitfühlend schauten die vielen Theas aus dem Kaleidoskop des Spiegelschranks sie an. Alles wird gut, suggerierten die Blicke, aber sie hatte ihre Gedanken nicht im Griff, und die Gedanken waren anderer Meinung.
„Winfried“, murmelte sie angespannt, aber weder Winfried noch sein gespiegelter Widergänger waren zu sehen.
Die Spiegelkommode, ein Wunderwerk des 19. Jahrhunderts, hatte Theas Großeltern gehört und war zu Theas und Winfrieds Hochzeit endlich in ihren Besitz übergegangen (allerdings hatte sie damals nicht damit gerechnet, dass es sich dabei um einen der größten Aktivposten ihrer Ehe handeln würde). Auf einen Schubladenschrank aus poliertem Kirschholz hatte der Schreiner einen dreiteiligen Spiegel mit schwenkbaren Flügeln gesetzt, ein verschnörkeltes Triptychon, das nur eine einzige Szenerie zeigte, allerdings aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Als ganz kleines Mädchen war Thea schon entzückt davon gewesen, sich in diesen geheimnisvollen Spiegeln zu vervielfachen, sich zu drehen und zu posieren und ihre gespiegelten Spiegelbilder zu betrachten und die eigenartige Tiefe dahinter. Konnte nicht jederzeit – jederzeit! – aus der merkwürdig fremden Welt im Spiegel eine Gestalt auftauchen und ihrem Dasein hernach die alles entscheidende Wende geben? Jetzt erinnerte er sie hauptsächlich daran, dass es einmal eine unschuldige Zeit gegeben hatte, als sie in einen Spiegel schauen konnte, ohne an den Body-Mass-Index zu denken oder an die Auswirkung von erhöhter radioaktiver Strahlung und Elektrosmog auf die Farbe ihrer Haare.
„Winfried, denkst du daran, dass wir am Sonntag zu deinen Eltern müssen?“ Winfried, der die ganze Zeit so erfreulich unsichtbar gewesen war, war exakt an der Demarkationslinie zwischen Kristalllampe und Nachtschränkchen aufgetaucht. Sie wusste, dass er keinen Schritt weiter in das Zimmer hinein und auf sie zu machen würde; seit er vor einigen Jahren auf eine Schlafcouch in seinem Arbeitszimmer umgezogen war, hatte er das nicht mehr getan. Als hätte er Angst, auch nur zufällig das vormals gemeinsame Bett zu berühren oder die Stelle, an der die Wiege gestanden hatte.
„Glaubst du, ich bin senil, oder was?“ Winfrieds Gesicht erinnerte sie mittlerweile an einen Hefeteig, der zu lange gegangen war. „Du heulst mir doch schon seit Tagen die Ohren damit voll! Wenigstens müssen die anderen auch kommen und können Mutter ruhig stellen.“ Er riss die Kleiderschranktür auf (der Kleiderschrank stand auf seiner Seite der unüberschreitbaren Grenze) und wühlte in seinen Oberhemden. „Hast du immer noch nicht das beigefarbene Hemd gewaschen? Du weißt doch genau, dass ich heute den braunen Anzug anziehen will!“
„Nimm das weiße Hemd, das geht auch.“ Thea zog die Augenbrauen hoch und massierte sich die Lider. Wenn sie einen leichten Druck auf die Augäpfel ausübte, explodierte die Welt in ihrem Kopf in ein Feuerwerk roter und gelber Bälle.
„Das Weiße? Meinst du, ich will aussehen wie eine Leiche? Was machst du eigentlich den ganzen Tag, frage ich mich? Ist es dir nicht möglich, einmal in zwei Wochen mein wichtigstes Hemd zu waschen?“ Mein wichtigstes Hemd. Manche Leute hatten keine wichtigen Termine oder wichtigen Ideen oder wichtigen Anliegen, sondern wichtige Hemden und wahrscheinlich sogar wichtige Socken. Sie stellte sich vor, wie seine Fragen von ihren Trommelfellen abprallten wie ein ungeschickter Sportler von einem zu straff gespannten Trampolin, um dann irgendwo weit entfernt schmerzhaft wieder zu Boden zu gehen. Trampolinspringen war eine der wenige Sportarten in der Schule gewesen, die sie nicht gehasst hatte, wo sie sich nicht so entsetzlich ungelenkig und ungraziös vorgekommen war. Wenn sie Kinder gehabt hätten, wäre es eine gute Begründung dafür gewesen, einen dieser großen Trampoline im Garten aufzustellen, und sie hätte gemeinsam an einem lauen Sommerabend mit ihnen darauf herumhüpfen können. Aber sie hatten keine Kinder.
„ … ob du mir überhaupt zuhörst, habe ich gefragt!“ Sie verrieb die letzten Reste der Creme zwischen ihren Fingern.
„Ja. Ja, natürlich höre ich dir zu. Zieh den blauen Anzug an, der sitzt sowieso besser.“
4
Eigentlich war es Irrsinn gewesen, sich hier einzumieten: Größe und baulicher Zustand des Anderthalb-Zimmer-Apartments in der Stuttgarter Innenstadt standen in einem verwegenen, aber absolut ortsüblichen Missverhältnis zu den Mietkosten. Der Blick auf seine Kontoauszüge ließ Frank regelmäßig nach Luft schnappen, aber als Künstler, erst recht als noch wenig etablierter Künstler war er auf die urbane Atmosphäre angewiesen sowie auf die Nähe zu Galeristen, Journalisten und sonstigen potentiellen Unterstützern. Das Mietshaus lag in einem 30er-Jahre-Block in der Nähe des Hauptbahnhofs, so nah, dass Frank die Proteste der Stuttgart-21-Gegner, die mit ihren Montagsdemos gerade ihren Höhepunkt erreichten, in Echtzeit miterleben konnte. Das Thema selbst interessierte ihn im Grunde nicht (in seinem ganzen Leben hatte er erst drei Mal einen Fuß in den Bahnhof gesetzt und fand außerdem, dass es sich um einen hässlichen Klotz handelte, den nur ein Schwachsinniger unter Denkmalschutz gestellt haben konnte), aber eine Zeit lang war er fasziniert von der Leidenschaft, mit der Leute für den Erhalt dieser Bausünde kämpften, Plakate schwenkten, sich verbrüderten und an Parkbäume ketteten, um sie vor der Fällung zu bewahren. Über Wochen hatte er die kursierenden Handzettel gesammelt und für eine vage angedachte Dokumentation abfotografiert, aber irgendwann hatte selbst seine Fantasie nicht mehr ausgereicht, um sich auch nur einen einzigen Interessenten dafür vorzustellen, und er hatte die Zettel zu einer Collage zusammengeklebt und auf dem Klo aufgehängt („Oben bleiben!“).
Den größeren Raum der Wohnung hatte er als Studio eingerichtet, dessen Möblierung aus zwei schwarzen Hockern und einer passenden anthrazitfarbenen Ledercouch vom Trödel sowie einem winzigen Schreibtisch bestand. Die Wände waren ganz mit dunklem Stoff ausgeschlagen; einzelne Spots hingen von einer spinnennetzähnlichen Stahlseilkonstruktion unter der Decke und beleuchteten verschiedene großformatige Fotos, die in schlichten Glasrahmen an den Wänden hingen, einige wenige in Farbe, die meisten in Schwarzweiß oder Sepiatönen. Sie zeigten den künstlerischen Ertrag seines bislang erfolgreichsten Projekts „Der Totentanz“: Hauchzarte Primaballerinen in schwarzen Masken schwebten über eine fast grafisch erscheinende Bühne, die so raffiniert ausgeleuchtet war, dass es sich auch um eine Wüstenlandschaft hätte handeln können; einen jungen Tänzer hatte er in Bewegung abgelichtet, zwölf quadratische Aufnahmen, die er dann zu einem einzigen Bild zusammengesetzt hatte, in dessen Hintergrund eine stilisierte Sense erkennbar war. Daneben eine Serie von Ballettschülerinnen, die mit todernstem Gesicht an der Stange übten.
Diese Arbeit hatte Spaß gemacht, trotz des düsteren Themas; außerdem hatte sie Geld eingebracht, echtes, richtiges Geld, für das er sich die zwei sündhaft teuren Studiolampen geleistet hatte. Damit war der Raum zum Bersten voll; in die Nebenkammer hatte Frank einen Schrank und zwei Regale gequetscht. Schlafen konnte er auf der Couch, essen an dem Klapptisch in der Küche, und sobald er den nächsten Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte, was nicht mehr lange dauern konnte, würde er sich zusätzlich zu dem Studio noch eine Wohnung leisten. Vorerst allerdings flossen die Einnahmen nur sehr zögernd, sodass es schon vermessen war, überhaupt von „fließen“ zu sprechen. Aber Durststrecken gehörten eben einfach dazu, sagte er sich und schlug sich damit durch, Hochzeiten, Firmenjubiläen und Ähnliches zu fotografieren. Gelegentlich konnte er auch ein Bild bei einer Zeitung unterbringen, aber künstlerische Aufträge, echte, anspruchsvolle, künstlerische Aufträge kamen nicht, und die Arbeiten, die er auf eigene Initiative anfertigte, ließen sich einfach nicht verkaufen. Die Mappe mit der Serie über ein ehemaliges Fabrikgelände, das zu einem Kulturzentrum umgebaut worden war, hatte die frisch in die Selbständigkeit gestarteten Nutzer zu wahren Begeisterungsstürmen hingerissen und ihm Dutzende von Einladungen zu Atelier-, Werkstatt- und Designbüro-Eröffnungen mit vielen neuen total abgedrehten Freunden eingebracht, die genauso wenig flüssig waren wie er selbst. Keiner dieser Künstler hatte auch nur einen Euro dafür übriggehabt, die Bilder auch zu kaufen. Was Frank seinerseits überhaupt nicht überraschte (er hatte schließlich reichlich Bilder verschenkt). Die Mappe mit den Flughafenbildern wiederum, Ertrag einer schlaflosen Woche auf dem Frankfurt Airport, hatte es nicht einmal bis zu den kritischen Augen eines Lokalredakteurs geschafft, obwohl Frank selbst sie für das Beste hielt, was er bisher überhaupt zustande gebracht hatte. So hatte er schließlich eingesehen, dass er Kompromisse schließen musste, wenn er als Künstler überleben wollte, und sich auf die Suche nach Modellen gemacht.
Sobald er erklärt hatte, dass er an einem künstlerisch-erotischen Kalender für ein neuartiges Männermagazin arbeitete, brannten die Mädchen geradezu darauf, sich auszuziehen und von ihm ablichten zu lassen, obwohl er keinen Cent Honorar bezahlte. Sie glaubten wirklich, ihr Bild in einem Kalender mit Fünftausender-Auflage würde sie unfehlbar in den siebten Himmel der Prominenz katapultieren; irgendein Produzent, Modeschöpfer oder Agent würde mit seinen kritischen Augen gebannt an ihrer nackten Haut klebenbleiben und fortan nicht mehr von ihnen lassen. Vermutlich hatte Frank mit zwanzig Jahren selbst an solche Verheißungen geglaubt, aber inzwischen waren seine Erwartungen zu einem desillusionierten Vielleicht-Wer-weiß?-Irgendwann zusammengeschrumpft.
Dennoch war es kein Trick, wie ein Mädchen ihm vor Kurzem erbost vorgeworfen hatte: Er arbeitete tatsächlich an einem künstlerisch-erotischen Kalender für ein neuartiges Männermagazin, allerdings schon seit zwei Jahren. Und das Männermagazin hatte sich noch nicht festgelegt, ob es den Kalender tatsächlich kaufen würde, wenn er denn endlich fertig war, was hauptsächlich daran lag, dass er eben nicht fertig wurde. Das wiederum hatte seinen Grund im Wesentlichen darin, dass, wenn die Mädchen es sich erst einmal in seinem kleinen Studio gemütlich gemacht und die Kleider abgelegt hatten, immer andere, drängendere Bedürfnisse dazwischenkamen, bevor Frank seine künstlerischen Vorstellungen so umsetzen konnte, wie er es geplant hatte.
Eine Zeit lang zum Beispiel hatte er mit Lebensmitteln experimentiert (so dass er den Kalender notfalls auch einer Gourmetzeitschrift hätte anbieten können, falls das Männermagazin unterwegs das Interesse verlor oder pleite ging), hatte den Mädchen Erdbeeren zwischen die Lippen gesteckt und hübsche Muster aus Schokoladenmousse auf die Körper gemalt. Die Vorzüge dieses Konzepts lagen auf der Hand: Die benötigten Requisiten waren preiswert und leicht zu besorgen und besaßen außerdem eine nicht zu leugnende stimulierende Potenz. Gerade dieses Faktum erwies sich allerdings bei näherem Hinsehen als entscheidender Schwachpunkt, so dass Frank sich nach einigen zwar sexuell äußerst befriedigenden, in künstlerischer Hinsicht jedoch dürftigen Nächten für ein anderes Setting entschied und die Mädchen mit Utensilien aus dem gehobenen Heimwerkersortiment kombinierte („Mach es selber“, „Der Handwerker“, „Schöner Wohnen“ – die Zielgruppe war erfreulich breit gefächert). Zunächst konnte er kaum glauben, wie viel erotische Kraft sich in einer schlichten Schlagbohrmaschine versteckte, aber der direkte Kontakt mit zwei vollen weiblichen Brüsten verhalf ihr dann doch zu einer verblüffenden phallischen Symbolik, die ihre Wirkung auf Frank nicht verfehlte, allerdings nicht den Fotos zugute kam. Mittlerweile (nachdem er die Zeitschriftenregale des nächsten größeren Supermarktes studiert hatte) experimentierte er mit Accessoires, die im weitesten Sinne dem romantischen Leben auf dem Lande zugeordnet werden konnten – einem Leiterwagen, einer geblümten Schürze, einem Plüschschwein und so weiter. Landleben war offensichtlich der moderne Traum schlechthin, jede Woche schien ein neues Blatt auf den Markt geworfen zu werden. Zunächst hatte Frank sich für die Idee begeistert, ein komplementäres Satiremagazin zu gründen. Leider war ihm außer ansprechenden Titeln („Landei“, „Landflucht“ und seinem Liebling „Landwahn“) nichts weiter eingefallen, und er hatte den Gedanken fallen gelassen. Immerhin schien es so, als ob er damit endlich einen Bereich gefunden hatte, in dem er selbst erotisch blind und taub war. Allerdings litt auch seine Urteilskraft, was die Wirkmächtigkeit der entstandenen Bilder anging – wie zum Teufel sollte er wissen, ob ein Bild auf andere Männer erotisch wirkte, wenn es ihn selbst überhaupt nicht anmachte? Genau diesen Sachverhalt hatte er gestern Abend mit einer (nackten) zwanzigjährigen Chemiestudentin erörtert, während sie sich zwischen zwei Heuhaufen räkelte und darauf wartete entdeckt zu werden.
„Willst du damit sagen, dass du mich überhaupt nicht erotisch findest?“, hatte Linda mit leicht aggressivem Unterton gefragt und ihr Gewicht verlagert, so dass die Rundung ihrer üppigen Brüste besser zur Geltung kam und eine rosa Brustwarze ihm keck ins Gesicht lachte. „Besser so?“ Frank geriet ins Schwitzen, während er hektisch an seinem Teleobjektiv herumfummelte und die Blende variierte. Sollte er mit einer geringeren Tiefenschärfe arbeiten und den Weichzeichnereffekt erhöhen, oder war das vielleicht genau die Technik, auf die auch jeder Amateur verfallen wäre? Und er war schließlich kein Amateur, er war ein Profi. Ein ausgebuffter Profi. Sie öffnete leicht die Schenkel und fuhr sich mit dem Zeigefinger den Oberschenkel entlang.
„Wenn du mich nicht erotisch findest, liegst es ja wohl eher an dir als an mir, meinst du nicht?“ Nein, wollte er sagen. An ihm lag es nicht, das war mittlerweile deutlich zu spüren. Wahrscheinlich war es das Heu, das die Erotik störte, die Assoziationen mit chronischem Schnupfen, Kneippkuren, Kerbtieren und pieksenden Halmen im Rücken. Er schlug vor, zu der kleinen Couch hinüber zu gehen, wechselte noch die Batterien, justierte die Einstellung am Stativ und richtete die Fotolampen (200 Watt) neu aus, verfing sich dann mit dem Fuß unglücklich im Verlängerungskabel, stolperte und kam so mehr oder weniger zwangsläufig auf der bereits ausgestreckten Linda zu liegen, wenn auch nicht zur Ruhe.
Der nächste Morgen schmeckte pelzig, grau und trüb, und Frank verstand nicht ganz, warum er überhaupt so früh aufgewacht war: Die Studiouhr zeigte erst 10.30 Uhr, und nach den Anstrengungen der letzten Stunden hätte er sicher bis in den Nachmittag hinein schlafen können. Irgendwann im Laufe der Nacht hatte er die schmale Couch geräumt und sein Lager provisorisch auf dem dicken Teppich aufgeschlagen, eine Entscheidung, die er sofort bereute, als er erst wach genug war, um die verspannten Muskelbündel rechts und links von seiner Wirbelsäule zu registrieren. Vermutlich hatten genau die ihn zur Unzeit geweckt, aber gut, sobald er Linda hinauskomplimentiert hatte, konnte er sich ja noch eine Mütze Schlaf genehmigen. In dem Augenblick fing Joe Cocker irgendwo am Boden gedämpft an zu grollen: „You can leave your hat on … “, und Frank machte sich auf die Suche nach seinem Handy. Noch bevor er es in seinem Kleiderhaufen gefunden hatte, war schon die Mailbox dran und dann die Stimme seiner Mutter:
„ … Frank, Lieber, du denkst an unser gemeinsames Mittagessen heute? Sei doch so gut und bring´ noch deine Kamera mit, dann können wir ein paar Bilder machen. Wir freuen uns! Bis bald.“ Das gemeinsame Mittagessen. Frank stöhnte laut auf. Verdammt, er hatte dieses gemeinsame Mittagessen vergessen! Sei doch so gut und bring´ deine Kamera mit, hörte er Karin Bergholtz noch immer flöten. Nett von ihr, wenigstens so zu tun, als hätte sie aus einem anderen Grund angerufen als dem, ihn an ihre Verabredung zu erinnern. Sie wusste genau, dass er seine Kamera immer mitbrachte. Er tappte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu dem winzigen Bad hinüber (war man mit gerade Fünfunddreißig wirklich schon zu alt, um auf dem Boden zu schlafen??), bahnte sich seinen Weg zwischen Lindas Klamotten und ihren Schminkutensilien hindurch bis zur Dusche, stieg hinein und drehte das kalte Wasser auf.
5
Karin Bergholtz legte das Telefon zur Seite und kehrte in die Küche zurück, wo die Rehkeule schon seit ein paar Stunden im Backofen schmorte. Würzige Duftschwaden schlugen sich als feiner Nebel an den Sprossenfenstern nieder und verliehen dem Raum eine försterselige Feld-, Wald- und Wiesengemütlichkeit. Solange sie sich erinnern konnte, hatte es zu Familientreffen immer Wildgerichte gegeben, abgesehen von diesem einen katastrophal missglückten Weihnachtsessen vor acht Jahren. Damals hatte sich Thea erboten, makrobiotisch zu kochen, und für Stunden die Küche belegt, bis Josef Bergholtz nach einem einzigen Löffel Miso-Suppe (mit Shiitake-Pilzen und Meeresalgen) kurz vor Mitternacht den Pizza-Service bestellt hatte. Das nachfolgende schwere Beben hatte zu einer heftigen Erschütterung des vorher scheinbar so tragfähigen Beziehungsfundamentes geführt, die noch zu Ostern spürbar war, so dass Karin sich geschworen hatte, dass so etwas nicht wieder passieren würde, nie wieder. Stattdessen setzte sie nach Josefs unausgesprochenen Vorgaben nur noch Hirschbraten und Wildschweinragout, geschmorte Waldmorchel und Preiselbeermousse auf den Plan; Rehkeule also dieses Mal. Rotkraut und Klöße warteten vorbereitet im Kühlschrank und mussten im Grunde nur noch erhitzt und abgeschmeckt werden, und um das Dessert (Walnusseis, Eierlikör, Schlagsahne und Schokoladensplitter) würde sich traditionsgemäß Josef kümmern, das heißt, er war bereit, Sahne zu schlagen und die anderen Ingredienzien in kleine Glasschüsselchen zu füllen.
Gottseidank hatte sie rechtzeitig daran gedacht, tiefgekühlte Soja-Gemüsepfannkuchen für Thea zu besorgen, die sich seit einigen Wochen vegetarisch und lactosefrei ernährte, aber genau wusste, dass ihre Schwiegermutter nicht mehr bereit war, ihre regelmäßig wechselnden Diäten mit liebevoll selbst gekochten Spezialgerichten aus ihrer Küche zu unterstützen. Im Grunde, überlegte Karin mit schlechtem Gewissen, war Thea eine arme Frau, die ihre Figurprobleme mit keiner Diät in den Griff bekommen würde – die anderen Probleme sowieso nicht. Vielleicht hätte sie ja damals nicht so sehr auf eine Eheschließung von Thea und Winfried hinarbeiten sollen, denn dass die beiden nicht glücklich miteinander waren, ließ sich leider nicht übersehen. Theas hängende Lider, ihr schlaffer Händedruck, ihre schwabbelige Figur waren ein einziger Vorwurf, ebenso wie Winfrieds mürrischer Gesichtsausdruck und die gelangweilten Kommentare, in denen er sich so gut gefiel. Ohne direkt hässlich zu sein war Thea so unattraktiv, dass sich jede Frau in ihrer Gegenwart wohlfühlen musste, aber trotzdem hatte sie keine Freundinnen, jedenfalls keine, von denen Karin wusste. Sie holte die Weingläser aus dem Büfettschrank, griff sich ein Geschirrtuch und fing an zu polieren. Es war idiotisch, sich für Theas Unglück verantwortlich zu fühlen, schließlich war Thea ein erwachsener Mensch, der für sich selbst entscheiden konnte (und musste).
„Es ist nicht meine Schuld“, murmelte Karin beschwörend vor sich hin. „Ich habe es nur gut gemeint.“ Mit einem leisen pling! brach der Stiel eines der mundgeblasenen Gläser ab, das sie nicht vorsichtig genug angefasst hatte. Die teuersten Gläser, natürlich. Und sie regte sich über andere Leute auf, statt sich um sich selbst zu kümmern! Außerdem hatte sie mit ihren eigenen Kindern genug zu tun. Und damit war sie in ihren Gedanken wieder bei Frank angekommen.
Warum war er nicht an sein Handy gegangen? Ob er ihre Nachricht überhaupt rechtzeitig hören würde? Ob er auch kommen würde, wenn er sie nicht gehört hatte? Ob er überhaupt kommen würde, selbst wenn er sie gehört hatte? Schließlich wusste er ja, dass auch Winfried und Thea da sein würden. Sie nahm die beiden Teile, Stiel und Tulpe, in die Hand, und betrachtete sie: Da war nichts mehr zu retten, ab damit in den Müll.