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Außerdem von Amie Kaufman und Meagan Spooner bei Carlsen erschienen:

These Broken Stars. Lilac und Tarver (Band 1)
These Broken Stars. Jubilee und Flynn (Band 2)

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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2017
Originalcopyright © 2015 by Amie Kaufman and Meagan Spooner
Originalverlag: Hyperion, an imprint of Disney Book Group
Originaltitel: Their Fractured Light
Umschlagfotografien: shutterstock © veryulissa / © Daxiao Productions
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Aus dem Englischen von Stefanie Frida Lemke
Lektorat: Franziska Leuchtenberger
Herstellung: Gunta Lauck
Satz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN: 978-3-646-92937-9

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Für Josie Spooner und Flic Kaufman,
unsere Schwestern und allererste Komplizinnen,
deren Ideen uns vor so vielen Jahren geholfen haben
mit dem Geschichtenerzählen zu beginnen

Ein Kräuseln.

Die Stille wird erschüttert und zerbricht, und wo einst nichts war, wo nur wir waren, ist etwas Neues. Hell und hart und kalt streift es die Oberfläche der Stille, das Neue dauert nur einen kurzen Augenblick, bevor es wieder verschwunden ist.

Aber wir kommen zusammen. Und wir halten Ausschau. Und wir warten, denn es hat noch nie zuvor etwas Neues gegeben und wir wollen es noch einmal sehen.

1

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SOFIA

Die Sprenkel von Sonnenlicht im Gras sind wunderschön, auch wenn ich weiß, dass es bloß eine Illusion ist. Das Licht erzeugt keine Wärme auf meiner Haut, ich werde weder Sonnenbrand noch Sommersprossen davon bekommen. Meine Füße biegen die Grashalme nicht um, sie sinken einfach so durchs Gras auf den Marmorboden unter den holografischen Bildern. Noch vor einem Jahr hätte ich beim Anblick von Sonne und blauem Himmel laut aufgeseufzt, selbst wenn es nur ein Hologramm gewesen wäre, doch heute verstärken die Bilder nur mein Heimweh. Was würde ich dafür geben, den Kopf zu heben und die grauen Wolken zu sehen, wie sie am Horizont auf den Sumpf treffen; eine Weite, die kein Hologramm im Empfangsbereich eines Bürogebäudes nachbilden könnte.

Der Holo-Park ist voller Leute, und während viele von ihnen offenbar Angestellte im Headquarter von LaRoux Industries sind, ist es bei anderen nicht so leicht zu sagen. Manche tragen in Anlehnung an die 1920er-Erdenjahre alt anmutende Vintage-Brieftaschen –der neueste Modefimmel unter den Reichen und Schönen –, andere haben bloß ihre Palm-Pads dabei. Handtaschen und so mit sich rumzutragen ist auch vollkommen absurd, wenn alles, was man früher hineingetan hätte, schon vor Hunderten von Jahren digitalisiert worden ist.

Doch dank dieses Trends kann ich alles dabeihaben, was ich brauche, ohne aufzufallen. Noch vor ein paar Jahren hätte ich der damaligen Mode entsprechend ein pseudo-viktorianisches Kleid anziehen und meine Sachen unter einem sperrigen Rock verstecken müssen. In meinem kurzen 1920er-Freizeitkleid dagegen kann ich, wenn nötig, schnell rennen. Und was das Wichtigste ist: Die luftige, unschuldig wirkende, elfenbeinfarbene Spitze lässt mich noch jünger aussehen als meine siebzehn Jahre. Ich halte meine Handtasche nah am Körper und atme tief durch, während ich mit dem Blick die Massen von Leuten absuche.

Die Anspannung im Raum lässt meinen Puls schneller werden. Sie ist bloß ganz subtil – die Leute, die sich hier vor aller Augen verstecken, machen das perfekt. Fast. Denn ich, die ich auf Avon aufgewachsen bin, erspüre die Stimmungen in so einer Menschenmenge. Und ich weiß, wie schnell ein Protest sich in einen Aufstand verwandeln, wie schnell eine friedliche Stadt zu einem Schlachtfeld werden kann.

Keine Ahnung, ob das große Sicherheitsnetzwerk von LaRoux Industries über die für heute angesetzten Proteste aus dem Untergrund informiert ist. Ich habe von einem meiner Kontakte bei Corinth Gegen Tyrannei davon erfahren – ein selten bescheuerter Name, aber die Leute mögen die romantische Vorstellung, für die gute Sache gegen die Unterdrücker zu kämpfen. Als ich mich so im Holo-Park umblicke, habe ich nicht gerade den Eindruck, dass die Leute hier überhaupt wissen, was Unterdrückung ist. Limonaden- und Wasserspender flitzen auf schwebenden Tabletts umher und der Raum ist von angeregten Gesprächen und Lachen erfüllt. Ich reiße meinen Blick von einem Paar los, das vollkommen fasziniert ein etwa fünf- oder sechsjähriges Kind beobachtet, das holografischen Vögeln hinterherjagt. Es hat schon seinen Grund, dass LaRoux Industries jedes Jahr den ersten Platz auf der Liste der besten Arbeitgeber der Galaxie belegt, und hätte ich den heutigen Protest organisiert, hätte ich mit Sicherheit nicht den neuen Holo-Park im zwanzigsten Stock von LRI als Ort dafür gewählt.

Für Angestellte ist der Eintritt frei und alle anderen zahlen auch nur einen kleinen Betrag. Der Holo-Park ist Teil von LaRoux’s neuem PR-Programm. »Seht her, wie großzügig ich bin«, sagt er damit. »Ich opfere ganze Etagen meines Headquarters, um den Menschen und ihren Kindern sichere Orte zum Entspannen und Spielen zur Verfügung zu stellen.« Mir wird ganz schlecht, wenn ich daran denke, wie er versucht die gesamte Galaxie dazu zu bringen, ihn zu lieben, und die Leute vergessen zu lassen, was für Anschuldigungen gegen ihn über den Avon-Funkspruch verbreitet wurden – nicht zuletzt, weil es funktioniert.

Die Leute hier scheinen glücklich zu sein. Niemanden interessiert es, dass auf Avon unzählige Menschen ums Leben gekommen sind, bevor Flynn Cormac vor einem Jahr seine berüchtigte Rede gehalten hat. Niemanden interessiert es, dass Roderick LaRoux ein Ungeheuer ist. Es sind nur vereinzelte Grüppchen, die tatsächlich glauben, was Flynn der Galaxie damals mitgeteilt hat. Die Leute sind bloß hier, weil es sich auf ihren Media Pages gut macht, wenn sie auf einem Protest waren. Manche hoffen wahrscheinlich sogar darauf, festgenommen zu werden, damit sie später ihr Knastfoto im Hypernet posten können.

Aber für mein Vorhaben ist es die perfekte Ablenkung.

Ich weiß nichts außer dem Namen der Kontaktperson, mit der ich hier verabredet bin –Sanjana Rao –, und auch wenn der Name auf familiäre Wurzeln im alten Indien schließen lässt, könnte sie auch gut blond und blauäugig sein, so wie die Nationalitäten der Erde über die Jahrhunderte durcheinandergewürfelt wurden. Sie hat geschrieben, dass sie mich auf dem Palm-Pad anklingelt, sobald sie da ist, aber ich kann trotzdem nicht anders, als die ganze Zeit nach ihr Ausschau zu halten.

Mein Blick wandert zu den Fahrstühlen, die in dieser Parksimulation geschickt als Eingang zu einem Karussell getarnt sind. In dem einen Jahr, das ich jetzt schon hinter LaRoux her bin, war ich ihm noch nie so nah wie heute, und am liebsten würde ich in die Hochsicherheitsfahrstühle einbrechen und bis ins Penthouse zu ihm hinauffahren. Ein Jahr der falschen Identitäten und der Isolation; ein Jahr der schmerzhaften Tattoo-Entfernungen, trotz derer immer noch Reste meines Gen-Tattoos zu erkennen sind; ein Jahr, in dem ich keine Spuren hinterlassen und alle Überbleibsel meines alten Lebens immer bei mir hatte, für den Fall, dass ich wieder alles stehen und liegen lassen und weglaufen muss.

Aber an LaRoux selbst ist kein Herankommen. Wäre es anders, hätte ihn schon vor Jahren irgendjemand umgebracht – denn auch wenn er in der Galaxie im Großen und Ganzen sehr geachtet wird, gibt es genug Menschen, über die er auf seinem Weg zur Macht hinweggetrampelt ist und die ihn als das sehen, was er ist. Nein, der direkte Angriff wird niemals klappen. LaRoux zu beseitigen erfordert Raffinesse.

Ich werfe einen Blick auf meinen Unterarm, eine Angewohnheit, die ich besser ablegen sollte. Wer schlau ist, könnte sich denken, was der Blick bedeutet – niemand, der auf Corinth oder einem der anderen älteren Planeten geboren wurde, trägt ein Gentattoo – und trotzdem kann ich es mir nicht verkneifen. Der blasse Rest von meinem Tattoo ist gut abgedeckt, aber ich muss aufpassen, mit dem Unterarm nicht übers Kleid zu reiben, sonst werden mich die Make-up-Flecken auf dem Stoff verraten. Ich würde gern auf meinem Palm-Pad nachsehen, ob ich möglicherweise Dr. Raos Nachricht überhört habe, aber hier zu stehen und wiederholt mein Pad zu checken, wäre ein deutliches Zeichen von Nervosität, sollte mich jemand beobachten.

Als ich den Kopf hebe, sehe ich, dass mich tatsächlich jemand beobachtet. Und es ist nicht die, auf die ich warte.

Ein junger Mann sitzt an einen Baum gelehnt da – einen Baum, den es natürlich nicht gibt. Es ist eine Marmorsäule, aber das Hologramm lässt es so aussehen, als würde der junge Mann sich in einem Park befinden und entspannen. Nur hat er einen Lapscreen auf dem Schoß, der mit einem Kabel an den Baum angeschlossen ist. Hier gibt es kabellosen Strom, daher weiß ich, dass er den Screen nicht auflädt. Es ist eine Datenverbindung. Das allein ist schon ziemlich seltsam, eigentlich sind an einem öffentlichen Ort wie diesem alle zugänglichen Informationen im Hypernet zu finden. Doch was mich richtig stutzig macht und mein Herz vor Schreck beinah stehen bleiben lässt, ist sein graugrünes Hemd von LaRoux Industries mit dem gestickten Lambda auf der Brust. Er arbeitet hier – und er beobachtet mich.

Mein Mund wird ganz trocken, am liebsten würde ich schnell in eine andere Richtung sehen. Stattdessen senke ich den Blick, tue so, als wäre ich verwirrt, dass er gerade mich auserwählt hat, als fühlte ich mich geschmeichelt, wäre schüchtern.

Als ich wieder aufblicke, sieht er immer noch in meine Richtung und grinst mich an. Er versucht gar nicht zu überspielen, dass er mich beobachtet, tippt sich nur mit den Fingerspitzen an die Augenbraue, als würde er einen Hut tragen. Wie der typische Büromensch sieht er nicht gerade aus, so lang wie seine aschblonden Haare sind, und dann lehnt er auch noch in dieser unverschämt lässigen Haltung an der Säule.

Ich hole tief Luft, um mich zu beruhigen. Ich darf mir meine Angst, er könne wissen, dass ich nicht hierhergehöre, nicht anmerken lassen. Stattdessen erwidere ich sein Lächeln, mime das schüchterne süße Mädchen, und zu meiner Erleichterung wird sein Grinsen breiter. Also flirtet er nur.

Er zwinkert mir zu, dann drückt er einen Knopf auf seinem Lapscreen. Ein holografischer Vogel mit glänzendem roten Federkleid fliegt an mir vorbei. Doch plötzlich erstarrt er in der Luft und alle Hintergrundgeräusche verstummen: der Vogelgesang und die rauschenden Blätter – alles weg. Teilweise verstummen sogar das Lachen und die Gespräche. Und dann verschwindet auf einmal der gesamte Holo-Park und wir bleiben in einem riesigen weißen Raum zurück.

Außer den Holo-Projektoren, den vielen Leuten und den Marmorsäulen befindet sich in der Mitte des Raums ein aufrecht stehender Metallring, zweimal so groß wie ich. Er ist aus einer seltsam schimmernden Legierung und steht auf einem Sockel, der mit Skalen und Steuerinstrumenten bedeckt ist. LaRoux hat seine eigene ganz spezielle Holografietechnik, so einen Projektor habe ich allerdings noch nie gesehen. Im Gegensatz zu den anderen Projektoren im Raum, die flackernd und surrend versuchen nach der Störung wieder in Gang zu kommen, ist der Metallring vollkommen lautlos.

Verwirrtes Murmeln geht durch die Menge und die Leute unterbrechen ihre Unterhaltungen, um sich nach einer Erklärung umzublicken. Jetzt, da kein Hologramm die Gegenstände im Raum mehr verbirgt, stechen sie krass hervor – die Getränkespender sind nackt und karg, die vielen an der Decke hängenden Projektoren und Lautsprecher sehen aus wie unförmige Sterne.

Was auch gerade passiert, es ist nicht Teil des geplanten Protests. Angestellte wie Besucher laufen verwirrt umher. Wäre die Störung geplant, würden die Demonstranten sie nutzen, um mit ihrem Protest anzufangen, doch sogar die Security-Leute sehen beunruhigt aus. Ich verstecke mich hinter einer Gruppe Praktikanten, um möglichst unauffällig hinter ihnen zum Notausgang zu schleichen. Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, dass man mich für eine der Demonstrantinnen hält. Aber lieber wäre mir, ich würde hinauskommen, ohne dass meine Personalien aufgenommen werden.

Ehe ich es zum Notausgang schaffe, sehe ich aus den Augenwinkeln, wie der Junge mit dem Lapscreen einen Chip so groß wie ein Fingernagel aus dem Screen nimmt und sich in die Hosentasche steckt. Er wirft einen kurzen Blick an die Decke, steht auf und macht zwei langsame, gelassene Schritte zur Seite, in den blinden Fleck der Überwachungskameras.

Dann zieht er das LaRoux-Industries-Hemd aus und steht einen Moment lang nur im Unterhemd da, mit tätowierten, nackten Armen. Er dreht das Hemd auf links, und auf der anderen Seite ist es grell gestreift, wie es in besseren Kreisen gerade total angesagt ist – und schon ist er in der Menge verschwunden.

Auf mich wirkt er viel zu clever, um zu den Demonstranten zu gehören. Die laufen jetzt verwirrt umher und ärgern sich, dass sie wohl doch nicht in die Nachrichten kommen.

»Sehr geehrte Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten«, erklingt eine sanfte Stimme aus den Lautsprechern. »Es wurde eine Sicherheitslücke festgestellt und die Quelle auf diesen Raum zurückgeführt. Bitte bleiben Sie ruhig und kooperieren Sie mit der Security, damit wir das Problem so schnell wie möglich beheben können.«

Die Security-Leute haben vermutlich über den Knopf in ihren Ohren die Anweisung bekommen, alle Leute zu befragen, sie haben bereits begonnen sich einzelne vorzunehmen. Ein Security-Mann steht vor dem Notausgang und blockiert den Weg zum Treppenhaus – meinen Fluchtweg. Mit dem Make-up auf meinem Arm kann ich vielleicht jemanden am Empfang täuschen, der nur einen kurzen Blick auf mich wirft, aber als Demonstrantin kann ich mich jetzt nicht mehr ausgeben – durch die Sicherheitslücke werden die Security-Leute besonders aufmerksam sein. Wenn sie mich in die Finger bekommen, werden sie als Erstes nach einem Gen-Tattoo sehen, weil sie natürlich annehmen, dass die Übeltäter Aufständische der Grenzplaneten sind. Ich schließe die Augen und rufe mir die Grundrisse des Gebäudes ins Gedächtnis, die ich mir anderthalb Wochen lang eingeprägt habe. Auf dieser Etage ist der Zugang zu den Fahrstühlen inzwischen bestimmt deaktiviert worden, aber es gibt noch einen Fluchtweg auf der anderen Seite des Gebäudes. Ich sehe mich um, bis ich den zweiten Notausgang entdecke, und den Security-Typen, der die Leute in die Richtung scheucht.

Ich muss ihn irgendwie ablenken.

Mein Blick fällt auf ein grelles, rot-gold gestreiftes Hemd. Wer auch immer der junge Mann ist, er ist nicht von LaRoux Industries und hat hier genauso wenig verloren wie ich. Ich weiß zwar nicht, ob sein Knopfdruck auf dem Lapscreen für das Aussetzen der Holo-Projektoren verantwortlich war, aber wenn wir zusammen gefasst werden, wird er auf jeden Fall sehr viel mehr Verdacht erregen als ich – sobald auffliegt, dass er eine LRI-Uniform in sein Hemd eingenäht hat. Ich stoße einen leisen Fluch aus, dann laufe ich auf einen der Security-Männer zu.

Tut mir leid, mein Hübscher. Du willst wahrscheinlich auch nicht unbedingt zum Zentrum der Aufmerksamkeit werden.

»Der junge Mann da«, keuche ich und reiße die Augen weit auf. »Er braucht Hilfe.« Wenn ich Glück habe, werden die Security-Leute nach ihm sehen, und sobald sie feststellen, dass er hier nichts zu suchen hat, kann ich hinausschlüpfen.

Der Security-Mann sieht zu dem Typen im gestreiften Hemd, der uns leicht argwöhnisch, aber trotzdem lächelnd beobachtet. Doch das Lächeln vergeht ihm, als der Security-Mann sich ihm zuwendet. Ich will schon den ersten Schritt zur Tür machen. Langsam, ganz langsam, bloß keine Aufmerksamkeit erregen.

Als hätte ich den Gedanken laut ausgesprochen, fasst der Mann mich am Arm. »Welcher junge Mann?«, fragt er. Ich erstarre. Um es noch schlimmer zu machen, winkt er noch einen der anderen Schlägertypen herbei. Jetzt haben mich gleich zwei auf dem Kieker und die Tür ist wieder versperrt. Mist. Nachher denken sie noch, ich würde mit dem Typen im falschen LRI-Hemd unter einer Decke stecken. Jetzt muss ich uns beide hier rauskriegen.

Toll gemacht, Sofia.

Schnell gehe ich meine Möglichkeiten durch, verwerfe die unmöglichen, bis nur noch eine einzige bleibt, nämlich die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf den jungen Mann zu lenken.

»Bitte, beeilen Sie sich«, keuche ich und presse ein paar Tränen heraus. »Er ist mein Verlobter – er ist krank und durch Stress wird sein Zustand noch schlimmer.« Bei der ganzen Aufregung um uns herum kann ich nur hoffen, dass der Security-Typ nicht zu viele Fragen stellt.

Ich zeige wieder auf den jungen Mann im gestreiften Hemd. Er sieht immer noch zu uns rüber, er ist jetzt wachsam. Bitte, denke ich. Sag nichts, bis ich an ihnen vorbei bin.

»Eben ging es ihm doch noch gut«, sagt der Security-Typ und wechselt einen Blick mit seinem Kollegen, der jetzt neben mir steht. »Es kann sicher warten.« Seine Stimme ist gelassen und verrät nichts, aber die Hand, die eben noch auf der Waffe an seiner Hüfte lag, zupft nervös an seinem Ärmel.

Ich versuche es erneut. »Bitte«, flehe ich die beiden an. »Ich bleibe auch hier und beantworte alle Ihre Fragen. Aber er braucht einen Arzt, sonst kriegt er einen Anfall.« Die Security-Typen müssen nur lange genug in seine Richtung sehen, dann kann ich durch den Notausgang schlüpfen, und zwar ohne meine Personalien aufnehmen zu lassen und allein.

Der Security-Typ neben mir verlagert das Gewicht und ich halte die Luft an, aber er rührt sich nicht vom Fleck. Wieder wechseln die beiden einen Blick. »Ich rufe den Erste-Hilfe-Beauftragten«, sagt er schließlich. »Auch wenn der Junge völlig okay aussieht.«

Meine Gedanken rasen, ich suche nach irgendwas, womit ich den Security-Mann überzeugen könnte. Er ist schätzungsweise Mitte vierzig, wahrscheinlich würde er sich auf einen Flirt nicht einlassen – außerdem habe ich ja bereits meinen Verlobten eingeführt. Der Typ sieht auch nicht so aus, als ob er Tiere oder Kinder hätte, da ist nichts, worüber ich mit ihm reden, worauf ich ihn als Menschen ansprechen könnte. Ich will gerade meine letzte Geheimwaffe einsetzen –das hysterisch heulende Mädchen –, als der junge Mann mit dem Lapscreen plötzlich zusammenklappt.

Die Security-Männer starren ihn mit offenem Mund an und ich bin genauso verblüfft wie sie. Der Typ liegt zuckend am Boden und scheint genau den Anfall zu haben, vor dem ich die beiden eben noch gewarnt habe. Ich befürchte schon, dass meine Lüge viel zu dicht an der Wahrheit war – aber das kann ich jetzt nicht herausfinden. Als ich den ersten Schritt Richtung Ausgang machen will, packt mich der Security-Mann am Arm und stößt mich nach vorn. »Tun Sie doch was!« Sein Blick ist leicht panisch.

Mist. Mist. MIST. Obwohl, es wäre auf jeden Fall besser, mit diesem Typen im Rettungswagen hier rauszukommen, als im Verhörraum des LRI-Headquarters zu landen. Denn auch wenn die Sanitäter den ID-Chip in meinem Palm-Pad scannen, lautet der Name darauf Alexis, und nach einem Gen-Tattoo gucken sie bestimmt nicht. Also hocke ich mich neben den Fremden, greife nach seiner zuckenden Hand und verschränke die Finger mit den seinen, als wäre ich es gewohnt, ihn zu berühren. Einer der Security-Männer spricht hastig in das Mikrofon an seiner Weste und verlangt nach einem Arzt oder irgendeiner Unterstützung.

Die Hand des jungen Manns verkrampft sich, und als ich ihm ins Gesicht blicke, ist es mit meinen simulierten Tränen und der gespielten Panik schlagartig vorbei. Er hat tatsächlich Schaum vorm Mund und von seinen Augen ist nur noch das Weiße zu sehen. Er kann nicht viel älter sein als ich, doch irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit ihm.

Der eine Security-Typ stellt mir alle möglichen Fragen –ob mein Verlobter vor Kurzem etwas gegessen hat, wann er zum letzten Mal seine Medikamente genommen hat, wie seine Krankheit heißt –, um die Sanitäter, die inzwischen auf dem Weg sind, schon mal zu informieren. Doch seine Stimme geht in einem anderen Geräusch unter, das aus der Mitte des Raums kommt, immer lauter wird und die nervösen Gespräche im Raum verstummen lässt. Der Metallring, den die Holo-Projektionen verborgen hatten, schaltet sich gerade selbst an.

Am Sockel des Rings leuchten eine Reihe von Lichtern auf, anscheinend sind auf den Displays jetzt Daten zu lesen, und die Deckenlichter flackern, als würde der Ring ihnen den Strom wegnehmen. Doch das ist nicht der Grund, weshalb die Leute auf einmal still werden.

Züngelndes blaues Licht läuft um den Ring, verschwindet und taucht wieder auf, als ob es direkt durch das Metall wandern würde. Während die Maschine immer lauter wird, werden die Lichtblitze immer schneller, bis schließlich der gesamte Ring in blauen Flammen steht.

Da spüre ich eine Hand auf meinem Arm und mit klopfendem Herzen blicke ich wieder zu dem jungen Fremden.

Er zieht eine Augenbraue hoch und sagt: »Verrätst du mir, wann die Hochzeit ist, Schatz?« Seine Stimme ist kaum hörbar, er spricht, fast ohne die Lippen zu bewegen.

Ich blinzle ihn an. »Was?« Ich bin so perplex, ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Er blickt kurz zu dem Security-Mann, der nicht weit von uns entfernt steht, aber vollkommen vom Ring in der Mitte in den Bann gezogen ist, dann sieht er wieder mich an. Er wischt sich den Schaum vom Mund und stützt sich auf die Ellbogen. »Vielleicht ziehen wir die Hochzeitsreise besser vor.« Diesmal klingt sein Flüstern etwas dringlicher und er deutet mit dem Kinn leicht ungeduldig zum Notausgang.

Wer er auch ist und was auch immer er hier getan hat, in diesem Moment wollen wir beide das Gleiche: hier raus. Und das genügt. Loswerden kann ich ihn später noch.

Ich helfe ihm auf – der Security-Mann guckt noch nicht mal in unsere Richtung – und wir schleichen zum Ausgang. Wir erreichen gerade die Tür, als die Wände von blau aufblitzendem Licht erhellt werden. Während mein Begleiter die Tür öffnet, werfe ich noch einen Blick über die Schulter.

Das blaue Licht züngelt nicht mehr nur um den Ring, sondern auch in seiner Mitte, blaue Funken leuchten auf und verschwinden, wie blitzschnelles Sternenfeuer. Ab und zu treffen die Funken mit einem enormen Lichtblitz aufeinander – bis schließlich der gesamte Ring mit Licht erfüllt ist und vor Energie nur so knistert.

Da bricht auf einmal, ohne einen Laut von sich zu geben, ein Mann neben dem Ring zusammen. Ich hätte erwartet, dass die Leute neben ihm irgendwie reagieren, zu ihm eilen, aber sie sind alle total gebannt von dem Ring und stehen völlig reglos da, wie Maschinen, denen man den Strom abgestellt hat. Immer mehr Leute im Raum verharren so merkwürdig still, Security-Leute, Angestellte von LRI und Demonstranten gleichermaßen, und bilden einen immer größer werdenden Kreis um das Ding in der Mitte. Ab und zu sackt wieder jemand zusammen, aber die meisten stehen still, aufrecht, und werfen lange Schatten, während die Maschine weiter flackernde Lichtblitze aussendet.

Zwischen den Lichtblitzen sehe ich die Gesichter der Menschen auf der anderen Seite des Rings – und ihre Augen.

Auf einmal befinde ich mich wieder auf der Militärbasis auf Avon und sehe zu, wie mein Vater sich verwandelt. Ich sehe seine Augen vor mir, die ich Dutzende Male in den Gesichtern um mich herum wiedererkenne, Pupillen so groß, dass die Augen aussehen wie tintenschwarze Löcher, wie die sternenlose Weite des Nachthimmels über dem Sumpf. Ich erlebe den Moment wieder, als mein Vater mit einer Bombe am Körper in eine Militärkaserne ging. Ich erinnere mich an ihn, wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, ein Schatten seiner selbst, nicht mehr als eine leere Hülle, wo seine Seele einmal war.

Hunderte von Menschen in der weißen Weite des Holo-Parks – und jeder einzelne von ihnen hat Augen wie die Finsternis.

Zuerst ist da nichts weiter. Und dann kommen Symbole, die sehen so aus:

TEST.

Dann kommen mehr Wörter, gefolgt von Bildern und Geräuschen und Farben. Stück für Stück wird die Stille von dieser neuen Art Leben überflutet, und wir beginnen die Reihen von Symbolen und Geräuschen zu verstehen, die die Stille durchbrechen. Die harten, kalten Dinge kommen immer öfter, hinterlassen Kräusel in der Stille, sammeln die Materie des Daseins in Wellen auf, während sie durch die Oberfläche der Welt springen.

2

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GIDEON

Inzwischen sollte ich eigentlich wissen, wie ich Problemen aus dem Weg gehe. Aber hier bin ich, renne hastig einen Gang hinunter, mein Mund schmeckt nach SysCleanz, und das Ganze nur wegen zwei Grübchen. Irgendwann muss ich wirklich mal vernünftig werden.

Das Mädchen, das vor mir herrennt, ist schlank, bestimmt einen Kopf kleiner als ich und sie trägt eins dieser Kleider, die alle reichen Mädchen gerade tragen. Trotz der hohen Schuhe hat sie ein ganz schönes Tempo drauf. Außer den Grübchen hat sie platinblonde, kinnlange Haare, die sie kunstvoll durcheinandergewuschelt hat, und große graue Augen.

Tja, so bald werde ich wohl nicht vernünftig werden.

»Ich hoffe, es gibt zu deinem Plan noch einen Teil zwei, Superhirn«, keuche ich, während wir weiter den Gang hinunterjagen.

»Was hast du da drinnen eigentlich gemacht?«, entgegnet sie. Ihre Augen sind sogar noch größer als vorhin, und ihre Stimme zittert vor Angst, was mich etwas beunruhigt. Sie hatte einen besseren Blick auf das, was da drin passiert ist, und es hat sie völlig aus der Bahn geworfen – sie, die kaum mit der Wimper gezuckt hat, als ich direkt vor ihren Augen auf einmal Schaum vorm Mund bekam.

»Das war ich nicht.« Ich werfe einen Blick über die Schulter, ob uns irgendwelche Security-Leute folgen. »Aber danke für das Kompliment.«

Auf einmal packt sie mich am Hemd und schleudert mich in eine Nische mit Feuerlöschern und Ähnlichem. Ich knalle gegen die Wand und sie gegen meinen Rücken, und da ich annehme, dass sie noch einen anderen Grund dafür hatte, als bloß mir wehzutun, halte ich still. Einen Augenblick später höre ich Stimmen, sie klingen sauer. Gut aufgepasst, Grübchen.

»Wir müssen sie irgendwie ablenken«, flüstert sie und legt mir eine Hand in den Nacken, um mir ins Ohr zu flüstern – was mich für meinen Teil schon sehr ablenkt. »Kannst du sie irgendwo anders hinschicken?«

»Wie kommst du darauf, dass ich das kann?«, frage ich, während ich bereits meinen Lapscreen aus der Tasche nehme, aber ich bin trotzdem gespannt auf ihre Antwort.

»Mag ja sein, dass du die Maschine da drin nicht angeworfen hast, murmelt sie, »aber ich weiß, dass du die Projektoren abgestellt hast.«

Hm. Also hat sie mich beobachtet. Das ist doch schon mal ein Anfang. Ich werde sie später fragen, ob sie noch was trinken gehen mag. Wenn wir bis dahin noch leben und nicht weggesperrt sind.

Ich drehe mich in der engen Nische zu ihr um. So wie sie die Lippen zusammenkneift, ist sie offenbar nicht besonders begeistert davon und würde mir am liebsten einen Eimer kaltes Wasser übergießen, aber dann kapiert sie, dass ich es – hauptsächlich – gemacht habe, um genug Platz für meinen Lapscreen zu haben. »Dann wollen wir ihnen mal was bieten«, murmele ich, nehme den Chip aus der Hosentasche und stecke ihn in den Screen.

»Was hast du vor?«, fragt sie.

»Würdest du es verstehen, wenn ich es dir erkläre?« Ich schalte den Screen an, und wie immer versetzt es mir einen leichten, aber nichtsdestotrotz berauschenden Kick, als ich mich in das Herz von LaRoux Industries begebe und die Jagd auf meinen Tanzpartner beginne. Das System ist nicht schlecht, aber längst nicht gut genug.

Sie schnaubt. »Nein«, gibt sie zu. »Mit Computern kenn ich mich nicht aus. Ich finde, Menschen sind einfacher zu verstehen.« Mit den Security-Typen im Holo-Park ist sie auf jeden Fall fertig geworden, als hätte sie ganz genau gewusst, welche Knöpfe und Hebel sie betätigen musste. Und auch wenn ich sie nicht richtig hören konnte, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie vorgehabt hatte mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, bis die Typen ihr klargemacht haben, dass sie im selben Gehege landen würde. Ich kann es ihr trotzdem nicht verübeln – es war eine brenzlige Situation, und in der Liebe, im Krieg und im Verbrechen ist alles erlaubt.

»Ach ja?« Ich finde den Pfad, den ich brauche, und fange mit der Arbeit an.

»Stell sie dir als Computer mit organischen Schaltsystemen vor.« An ihrem Ton höre ich, dass die Grübchen wieder da sind. Ich würde gern behaupten, nicht zu merken, wie sie sich in unserem Versteck an mich presst, aber das wäre Quatsch. Ich meine, sie will doch, dass ich es mitbekomme, und ich helfe den Leuten eben gern, wenn ich kann. »Okay, wenn Menschen einfacher zu verstehen sind … erzähl mir, was du über mich herausgefunden hast.«

»Wie, du zeigst mir deins und ich zeige dir meins?« Amüsiert schüttelt sie den Kopf. »Ich war wirklich bloß hier, um jemanden zu treffen. Als die Projektoren ausgingen und die Security-Leute anfingen die Leute wegzuzerren, hab ich dich als Ablenkung gewählt, weil ich gesehen hab, wie du dein Hemd auf links gedreht hast. Ich dachte, du hast wahrscheinlich genauso wenig hier verloren wie ich und würdest sicher mitspielen.«

Langweilig. Und nicht die eigentliche Geschichte. Jemand wie sie kommt nicht hierher, ohne einen guten Grund dafür zu haben. Noch nicht mal ich komme ohne guten Grund hierher – die Tatsache, dass ich dieses Chaos ohne irgendwelche neuen Infos über den Verbleib von Commander Towers verlasse, streut nur Salz in die Wunde. Aber meine Jagd auf die ehemalige Marionette von LaRoux Industries muss warten. Ich stoße geräuschvoll die Luft aus, um Grübchen zu verstehen zu geben, dass ich ihr die Geschichte nicht abkaufe, da finde ich endlich, wonach ich gesucht habe. Jetzt kann die Party losgehen.

Sie schweigt einen Moment, und als ich zu ihr rüberblicke, kaut sie wieder auf der Unterlippe. »Wie hast du das angestellt?«, fragt sie schließlich. »Wie hast du das mit dem Schaum gemacht?«

Ich fahre mir mit der Zunge über die Zähne und verziehe das Gesicht, als der Geschmack in meinem Mund wieder intensiver wird. »SysCleanz-Tabletten. Tu eine davon in dekontaminiertes Wasser und du hast eine alkalische Lösung zum Reinigen von Schaltsystemen. Wenn du ohne Wasser draufrumkaust, was nicht unter den Verwendungszwecken auf der Packung steht, fühlt es sich an, als würde dein Mund explodieren.«

»Hm.« Sie klingt widerstrebend beeindruckt, und ich wette, sie speichert die Info ab, für den Fall, dass sie den Trick irgendwann mal anwenden kann.

»Hast du einen Namen, meine zukünftige Frau?«, frage ich, da ich anscheinend gerade einen Lauf habe.

»Alexis.«

»Schön dich kennenzulernen, Alexis.« Es macht dir doch nichts aus, wenn ich bei Grübchen bleibe, oder? Ich meine, Alexis ist doch auch nicht dein richtiger Name.

»Und du bist?«

»Sam Sidoti«, sage ich, und diesmal ist sie diejenige, die mich vielsagend anguckt. Die kleine Linie zwischen ihren Augenbrauen ist fast so cool wie die Grübchen.

»Samantha Sidoti moderiert die Spätnachrichten auf SDM«, erwidert sie. »Und sie ist eine Frau.«

»Erwischt.« Ich wende mich wieder meinem Lapscreen zu. »Ich bin gleich fertig. Haben wir einen Plan für hinterher, wenn unsere Freunde hier zum Alarm rennen? Oder ist der Plan, dass du deiner Wege gehst und ich meinen?«

Ein paar Sekunden lang antwortet sie nicht. Schwer zu sagen, ob sie ihre Möglichkeiten abwägt oder lauscht, ob sich Schritte nähern. »Wenn wir uns trennen, laufen wir wohl weniger Gefahr, aufgehalten zu werden«, antwortet sie langsam, während sie beobachtet, wie meine Finger über die Tastatur fliegen, als ich die letzten Befehle eingebe. Dann sagt sie mit fester Stimme: »Aber ich habe eine Zugangskarte für die Feuertreppe, und da sind keine Kameras. Falls du mitkommen willst.«

Ist das nicht interessant? Ich lege den Daumen auf den Fingerabdrucksensor und fahre den Lapscreen runter. Dann nehme ich den Chip heraus und stecke ihn wieder in die Tasche. »Ein Mädchen, das sich auf eine Beziehung einlassen will. So was findet man heutzutage nicht mehr oft.« Ich drehe den Kopf ein paarmal hin und her und lockere die Schultern –wenn man einen Anfall mimt, ist man hinterher echt angespannt –, dann richte ich mein Hemd.

»Und?«, fragt sie. »Hast du’s geschafft?«

Ich hebe die Hand –ein bisschen Effekthascherei muss schließlich sein –, zähle leise bis fünf und schnippe mit den Fingern.

Und auf einmal ist die Hölle los.

Der Feueralarm heult so laut, dass ich, obwohl ich sehe, dass Grübchen den Mund bewegt, kein Wort verstehe. Ich gehe einfach mal davon aus, dass sie mir ein Kompliment zu meinem gelungenen Hack macht. Sie schüttelt kurz den Kopf und legt den Mund auf mein Ohr, und einen Moment bin ich von der Wärme ihrer Lippen so abgelenkt, dass es etwas dauert, bis ihre Worte bei mir ankommen. »Du Idiot, wir müssen die Feuertreppe runter!«

Grinsend erwidere ich: »Ich hab dem System mitgeteilt, dass das Feuer genau da ist. Die Leute werden alle auf die andere Gebäudeseite laufen.«

Sie sieht mich an und gibt mir Gelegenheit, mich kurz an ihrer widerwilligen Bewunderung zu erfreuen. Dann deutet sie mir mit einer Kopfbewegung an, ihr zu folgen, biegt nach rechts auf den Gang ein und an der nächsten Gabelung wieder nach rechts.

Als auf einmal ein Schrei das Sirenengeheul übertönt, bleibt sie abrupt stehen. Der Schrei kommt aus Richtung des Holo-Parks, in dem wir eben noch waren. Doch es ist kein wütendes Gebrüll von Demonstranten, denen wieder eingefallen ist, warum sie eigentlich hier sind, und die nach Freiheit verlangen. Es ist ein Schrei und er wird von dem schrillen Heulen einer Laserpistole beendet.

Das Mädchen sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an und auch mein Puls rast. Was auch immer da drin geschieht, ist schlimmer als jedes Worst-Case-Szenario, auf das wir uns vorbereitet haben. »Hast du gesehen…« Sie hebt die Stimme, damit ich sie verstehen kann, und ich höre die Angst darin. »Als wir gegangen sind…«

Ich habe gesehen, dass die Leute wie Statuen dastanden, dass sie alle auf diesen riesigen, in blauen Flammen stehenden Metallring in der Mitte ausgerichtet waren, als würden sie das Ding anbeten. Ich glaube, ich weiß, was der Ring ist, aber…

»Die Leute«, rufe ich über den Lärm, »ich habe keine Ahnung, was zum Teufel mit denen los war.«

»Ich schon.« Ich höre ihre Antwort fast nicht, aber ihr Gesichtsausdruck ist eindeutig. Für einen kurzen Moment hat Grübchen ihre Maske abgelegt, und was auch immer sie weiß, beunruhigt sie zutiefst. Ich will etwas erwidern, aber sie gibt mir keine Gelegenheit. Sie packt mich am Arm und zieht mich weiter den Gang entlang.

Die Wände sind überall gleich, cremeweiß, und die Türen identisch, sodass ich das unangenehme Gefühl habe, im Kreis zu laufen, aber Grübchen zögert kein einziges Mal, während sie eine Abbiegung nach der nächsten nimmt. Mein falscher Feueralarm hat funktioniert; die Flure sind alle leer, bis auf gelegentliche Security-Männer, die wir aber alle ohne große Probleme hinter uns lassen. Das geht bestimmt eine Viertelstunde so, bis sie schließlich stehen bleibt, eine Hand hochhält und die Augen schließt, offenbar, um sich eine verinnerlichte Karte zu vergegenwärtigen. Ich beschäftige mich derweil damit, nach ungebetenen Besuchern Ausschau zu halten, und nach etwa einer halben Minute nickt sie und geht weiter.

Ich will mehr – sehr viel mehr – über dieses Mädchen erfahren, das einen Passierschein für die Feuertreppe, ein unglaubliches Lächeln und eine verinnerlichte Karte der nichtöffentlichen Gänge von LaRoux Industries hat.

Schließlich ist unser Glück aufgebraucht; als wir um die nächste Ecke linsen, steht neben einer Tür mit einem leuchtenden Notausgangsschild – unserem Fluchtweg – ein Security-Mann. Er ist ein bisschen pummelig und sein Hemd so neu, dass es noch lauter Bügelfalten hat. Er ist wohl erst seit Kurzem hier angestellt. Mit weit aufgerissenen Augen steht er da, sicherlich überrascht schon so früh im neuen Job etwas Derartiges zu erleben. Ich weiß nicht, was meine Gefährtin sieht, aber es bringt sie zum Lächeln, als sie den Kopf zurückzieht.

Sie legt mir eine Hand auf die Brust und für einen Augenblick kann ich an nichts anderes denken als an diesen Kontaktpunkt, die Wärme ihrer Haut, die durch mein Hemd dringt. Dann schubst sie mich zurück gegen die Wand. Das wird langsam zur Gewohnheit. Sie arbeitet offensichtlich nicht oft mit einem Partner. »Du bleibst hier«, sagt sie und fährt sich mit der Hand in den BH, eine Handlung, die ich wahrscheinlich gebührend würdigen soll, also tue ich es. Sie fischt eine kleine blaue Kapsel heraus und zerdrückt sie in der Hand. Als sie sich durch die platinblonden Haare fährt, sind sie mit einer einzigen Handbewegung glänzend blau gesträhnt. In der Kapsel war Färbemittel. »Ich hab doch gesagt, ich zeig dir meins«, sagt sie und geht in die Hocke, um sich die Hand am Teppich zu säubern.

»Ach so?« Ich grinse sie an und sie antwortet mit einem unschuldigen Lächeln – nur ein Grübchen diesmal. Ich glaube, das gefällt mir sogar noch besser. Und was mir auch gefällt, ist, dass – zumindest fürs Erste – ihre Angst weniger wird, auch wenn sie immer noch nicht ganz weg ist.

»Pass auf.« Sie zwickt sich mit den Fingern der sauberen Hand in die Wangen, sodass sie ganz rot werden, dann atmet sie ein paarmal schnell ein und aus und schießt um die Ecke. Sie läuft direkt auf den Security-Mann zu und wirft sich ihm weinend entgegen. Ich bin in der Unterstadt schon einer Menge Schauspielerinnen begegnet, aber dieses Mädchen ist wirklich gut.

Der Mann wirkt ziemlich schockiert einen hysterischen, blauhaarigen Teenager in seinen Armen vorzufinden und probiert verschiedene Variationen von Sind Sie verletzt und Der Sammelplatz für die Evakuierung ist in der anderen Richtung, Miss. Ich behalte die beiden im Auge, während ich mein Hemd ausziehe, auf links drehe und andersrum wieder anziehe, damit das LaRoux-Zeichen, das ich draufgenäht habe, zu sehen ist.

Grübchen holt ein paarmal hektisch Luft, dann versucht sie es noch mal, jetzt etwas klarer, trotz ihrer gespielten Angst. »Da ist ein Mann«, keucht sie und zeigt auf den Gang gegenüber von dem, in dem ich mich versteckt halte. »Er wollte mich als Geisel nehmen, er hat eine Pistole! Bitte, Sie müssen mir helfen!« Dann fängt sie an zu wimmern, aber der Feueralarm übertönt sie, sodass ich nicht viel davon höre. Der Körpersprache des Typens nach kann ich mir ungefähr denken, was er sagt, während er sich aus ihrer Umklammerung befreit. Sie bleiben hier und Ich kümmere mich darum. Allerdings lässt er sich mit dem Loslaufen eine Menge Zeit. Er will wahrscheinlich nicht unbedingt derjenige sein, der den bewaffneten Geiselnehmer findet, was ich gut verstehen kann.

Ich warte ab, bis er um die Ecke biegt, dann eile ich zu Grübchen, die gerade in ihrer Handtasche wühlt – wer trägt denn bitte so was mit sich rum? – und schließlich eine Plastikkarte hervorholt. Als das Kontrollfeld an der Tür grün aufleuchtet, schafft sie es, sich die Erleichterung kaum anmerken zu lassen, und einen Augenblick später befinden wir uns im kargen Treppenhaus. Der Feueralarm ist nur noch entfernt zu hören, und während wir die Stufen hinuntereilen, hallen unsere Schritte von den Wänden wider.

»Was hast du da drin eigentlich gemacht?«, ruft sie mir nach einer Weile wieder über die Schulter zu. »Ich habe gesehen, wie du irgendwas mit deinem Lapscreen und dem Datenanschluss in dem Baum gemacht hast, kurz bevor die Holo-Projektionen ausgingen, aber nach der Security zu urteilen ist das Ganze hier noch eine ganz andere Nummer.«

Ich würde gern sagen, dass ich keine Ahnung habe. Ich war auf den LaRoux-Servern und hatte gerade eine seltsame Energiespitze gesehen, über die ich mehr herausfinden wollte, aber ich bin nicht besonders weit gekommen. Allerdings hätte nichts, worüber ich gestolpert bin, so eine Reaktion hervorrufen dürfen. Ein paar meiner alten Hacks hätten vielleicht so ein Chaos verursachen können, als ich gerade erst angefangen habe. Aber heutzutage nicht mehr, außer, jemand hat es sich gründlich mit mir verscherzt … Die Sache ist die: Nichts, was ich getan habe, rechtfertigt die Schüsse, die wir oben gehört haben.

Wir sind im zwanzigsten Stock losgelaufen – auch wenn das bloß eine relative Zahl ist, schließlich ist das Erdgeschoss garantiert nicht auf der gleichen Ebene mit der tatsächlichen Oberfläche von Corinth – und inzwischen haben wir nur noch drei vor uns, also spare ich mir meinen Atem fürs Laufen.

Dann geht plötzlich die Tür unten auf und drei Security-Leute stürmen ins Treppenhaus. Wir sind beide viel zu sehr in Fahrt, als dass wir sofort stehen bleiben könnten, also mache ich einen Satz in Richtung Wand, damit man mich nicht sieht, und Grübchen krallt sich an meinem Hemd fest, um sich abzubremsen. Sie fliegt neben mir gegen die Wand und dann stehen wir vollkommen still da und warten ab, ob die Security uns bemerkt hat und ob die drei die Treppen raufkommen.

Natürlich kommen sie rauf. Ist heute eigentlich schon irgendwas nicht schiefgelaufen? Ohne gesehen zu werden, gelangen wir jetzt jedenfalls nicht mehr zum Ausgang, also verstecke ich die Tasche mit dem Lapscreen hinter meinem Rücken und setze all mein Vertrauen auf meine falsche LaRoux-Industries-Uniform. Dann trete ich in ihr Blickfeld. Meine Komplizin bleibt hinter mir und hofft wahrscheinlich genau wie ich, dass den dreien nicht auffällt, dass sie keine LRI-Uniform trägt.

»Erschießen Sie mich bloß nicht aus Versehen«, rufe ich, als fände ich die Vorstellung tatsächlich lustig. »Ich bin ziemlich schwer zu ersetzen.«

Die drei richten sofort die Pistolen auf mich, lassen sie aber gleich wieder sinken, als sie mein LRI-Hemd sehen, das seine Aufgabe also erfüllt, jedenfalls auf die Entfernung. »Was machen Sie im Treppenhaus?«, ruft einer.

Verdammt. Gute Frage. Ein LRI-Angestellter sollte eigentlich den offiziellen Evakuierungsweg nehmen.

Dann ergreift Grübchen – Alexis (ich muss unbedingt ihren echten Namen herausfinden) – hinter mir das Wort. »Oben hat man uns gesagt, es handelt sich wohl nur um ein technisches Problem. Es gibt keinen Rauch und kein Feuer, deswegen überprüfen wir die Feuermelder.« Sie ist wirklich ganz schön fix.

»Wartungsarbeiten«, pflichte ich ihr bei und lege ein bisschen Lustlosigkeit in meinen Tonfall. »Die einzige Möglichkeit, die Störquelle ausfindig zu machen, ist, jeden Feuermelder einzeln zu überprüfen, was offenbar in letzter Zeit versäumt wurde, wenn es sich hier um einen Fehlalarm handelt. Dürften wir Sie bitten das Treppenhaus wieder zu verlassen? Ihre Bewegungen könnten sonst noch mehr Fehlmeldungen auslösen.«

Zwei von ihnen kaufen uns die Geschichte sofort ab, doch der Typ, der gefragt hat, scheint nicht ganz überzeugt zu sein – er sieht mich noch einmal ganz genau an, bevor er sich umdreht und den anderen beiden folgt, die Pistole immer noch in der Hand.

»Danke«, rufe ich ihnen fröhlich nach.

Grübchen hinter mir flüstert: »Wir können im zweiten Stock raus – da führt die Tür direkt auf die Straße. Dann können wir den Empfang komplett umgehen.«

Ich nicke und dann laufen wir wieder los, wobei ich weiterhin versuche Grübchen vor den Blicken der Security-Leute abzuschirmen, die jetzt zurück nach unten gehen. Ihr ist hoffentlich klar, dass ich bloß ihre nicht vorhandene Uniform verdecken will und ich nicht so blöd bin, als Schutzschild für sie herzuhalten.

»Moment!« Das ist wieder der Typ mit den vielen Fragen – er steht auf halber Treppe und hat die Hand gegen das Ohr gepresst, wo ihm ein Knopf im Ohr zweifellos gerade Informationen über uns liefert. Alexis flucht leise –ich meine, ich höre einen Akzent – und dann hechten wir beide zur Tür.

»Stehen bleiben!« Alle drei donnern die Stufen hoch, sie sind nur noch ein paar Meter entfernt. Sie brüllen uns Warnungen hinterher, ihre Stimmen dröhnen so laut wie ihre Schritte, während immer noch der Feueralarm heult.

Vor mir wirft Alexis sich gegen die Tür und auf einmal fällt Sonnenlicht ins Treppenhaus. Meine Tasche schlägt mir gegen die Hüfte, während ich ihr hinterherstolpere. Sie haben keinen guten Winkel zum Schießen und ich ducke mich, um es ihnen noch schwerer zu machen.

Im nächsten Moment höre ich das Heulen einer Laserpistole. Als ich die Tür hinter mir zuknalle, höre ich einen zweiten Schuss und ein brennender Schmerz schießt mir durch den Oberarm bis in die Brust.

Da sind Buchstaben und Bilder und Songs, und alle werden sie erfasst und in die Stille eingespeist. Aber jedes Element ist so vereinzelt, so grundverschieden von den anderen, dass es unmöglich ist, sie zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Individuen.

Das Konzept ist neu, genau wie die kalten harten Dinge, die durch das Universum flitzen. Ein paar dieser Dinge, die die Stille überfluten, sind wunderschön, und manche sind hässlich, und manche sind jenseits von unserem Verständnis.

Wie sollen wir sie jemals alle verstehen?

Indem wir eins verstehen.

Wir beobachten sie, wir warten und wir lernen.