Sarah J. Maas
Das Reich der sieben Höfe
Flammen und Finsternis
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
von Alexandra Ernst
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Sarah J. Maas wuchs in Manhattan auf und lebt seit einiger Zeit mit ihrer Familie in Pennsylvania. Bereits mit sechzehn schrieb sie den ersten Entwurf zu ihrer Erfolgsserie ›Throne of Glass‹. Ihre zweite Serie, ›Das Reich der sieben Höfe‹, hat eine ebenso große internationale Fangemeinde. Die Bücher der gefeierten Fantasy-Autorin sind weltweit erfolgreich und wurden mittlerweile in 36 Sprachen übersetzt. Auch in Deutschland stürmt sie regelmäßig die Bestsellerlisten.
www.sarahjmaas.de
Alexandra Ernst hat Literaturwissenschaften studiert und ist seit 1993 in der Kinder- und Jugendbuchliteratur aktiv. Zwei Jahre arbeitete sie als Presse- und Werbeleiterin in einem Verlag und ist derzeit als Journalistin, Übersetzerin, Gutachterin und Buchkritikerin tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Mainz.
Feyre hat die Gefangenschaft unter dem Berg überlebt und kehrt mit Tamlin an den Frühlingshof zurück. Von Albträumen geplagt kann sie nur schwer die Grausamkeiten verarbeiten, die sie erlebt hat. Aber auch Tamlin scheint verändert. Und der Pakt mit Rhysand, dem gefürchteten High Lord des Nachthofs, schwebt wie eine Drohung über ihr. Jeden Monat muss sie eine Woche an seinem Hof verbringen. Doch was sie dort erlebt, stellt alles infrage, woran sie bisher geglaubt hat …
Ungekürzte Ausgabe
2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2016 Sarah J. Maas
Titel der englischen Originalausgabe: ›A Court of Mist and Fury‹
2016 erschienen bei Bloomsbury Publishing Plc
This translation published by arrangement with Bloomsbury USA
© der deutschsprachigen Ausgabe:
2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
Lektorat: Britta Mümmler
© der Landkarte: Kelly de Groot
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43243-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71879-0
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ISBN (epub) 9783423432436
Für Josh und Annie –
mein eigener Hof der Träume
Vielleicht war diese Dunkelheit, diese Zerbrochenheit, schon immer ein Teil von mir gewesen.
Vielleicht hätte jemand, der hell und heil war, sich den Dolch aus Eschenholz ins Herz gestoßen und den Tod gewählt anstatt des Lebens, das vor mir lag.
Überall war Blut.
Ich war wie erstarrt und meine verkrampfte Hand konnte den blutverschmierten Dolch kaum noch halten. Tief in mir zerriss ganz langsam etwas beim Anblick des Leichnams zu meinen Füßen. Ein junger High Fae, dessen Körper schon kalt wurde.
»Gut«, grinste Amarantha auf ihrem Thron. »Der Nächste.«
Ein weiterer Eschendolch wartete auf mich, ein weiterer Fae kniete vor mir. Eine Frau diesmal.
Ich kannte die Worte, die aus ihrem Mund kamen. Das Gebet, das sie sprach.
Ich wusste, dass ich sie töten würde, genauso wie ich den jungen Fae getötet hatte.
Ich würde es tun, um sie alle zu befreien. Um Tamlin zu befreien.
Ich war die Mörderin der Unschuldigen und die Retterin des Reichs.
»Lass dir ruhig Zeit, meine liebe Feyre«, höhnte Amarantha, deren rotes Haar genauso feurig leuchtete wie das Blut an meinen Händen. Das Blut, das sich über den Marmorboden ergoss.
Mörder. Schlächter. Monster. Lügner. Verräter.
Ich wusste nicht, wer damit gemeint war. Die Grenze zwischen mir und der Königin verschwamm immer mehr.
Der Dolch glitt mir aus den Fingern und fiel klappernd zu Boden, wo er in einer Blutlache liegen blieb. Kleine rote Spritzer besudelten meine abgewetzten Stiefel, das einzige Überbleibsel aus meinem alten Leben als Mensch, das so weit hinter mir lag, dass es mir manchmal wie einer der Fieberträume vorkam, die mich in den vergangenen Monaten so oft geplagt hatten.
Ich wandte mich der Fae zu, die auf ihren Tod wartete. Ihr Antlitz wurde von einem Sack verhüllt, aber sie hielt den schlanken Körper aufrecht. Sie war bereit für den Tod von meiner Hand, bereit, sich für die Freiheit der Fae zu opfern.
Ich packte den zweiten Eschendolch, der auf einem schwarzen Samtkissen lag. Der Griff war eiskalt in meiner heißen, feuchten Hand. Die Wachen rissen der Frau den Sack vom Kopf.
Ich kannte das Gesicht, das mich da anstarrte.
Die blaugrauen Augen, das goldbraune Haar, der volle Mund, die hohen Wangenknochen. Die Ohren, die sich jetzt zierlich zuspitzten, die Glieder, die jetzt vor Kraft strotzten, die ganze machtvolle Gestalt, deren einstige menschliche Unvollkommenheit von einem zarten unsterblichen Leuchten abgelöst worden war.
Ich kannte die Leere, die Verzweiflung, die Schande, die in diesem Gesicht standen.
Meine Hände zitterten nicht, als ich ausholte.
Als ich die feingliedrige Schulter packte und in dieses verhasste Gesicht blickte. Mein Gesicht.
Und mit aller Kraft stieß ich den Dolch aus Eschenholz in mein wartendes Herz.
Ich erbrach mich in die Toilettenschüssel, umfasste das kühle Porzellan mit den Armen und versuchte, die Würgegeräusche zu unterdrücken.
Mondlicht ergoss sich in das riesige Badezimmer aus glänzendem Marmor. Ich hatte keine Kerze angezündet. Still und leise gab ich mich meiner Übelkeit hin.
Tamlin war nicht aufgewacht, als ich aus dem Schlaf hochschreckte. Und als die Dunkelheit in meinem Schlafgemach zu der nie enden wollenden Nacht in Amaranthas Verlies geworden war und der kalte Schweiß auf meinem Körper zum Blut meiner Opfer, war ich Hals über Kopf ins Badezimmer gerannt.
Eine Viertelstunde lang etwa lag ich dort auf den Knien und wartete, bis das Würgen und Zittern langsam nachließ und schließlich versiegte wie kleine Wellen in einem Teich.
Es war nur ein Albtraum. Einer von vielen, die mich inzwischen bei Tag und Nacht verfolgten.
Drei Monate war es her, seit wir aus Amaranthas Reich unter dem Berg entkommen waren. Drei Monate, in denen ich mich an meinen unsterblichen Körper gewöhnen musste und an eine Welt, die nach fünfzig Jahren Tyrannei nur langsam wieder zur Normalität zurückfand.
Ich konzentrierte mich auf meine Atmung. Durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen. Ein, aus. Ein, aus. Immer wieder.
Als das Schlimmste vorüber war, ließ ich die Toilette los, verharrte dort aber noch einen Moment. Dann kroch ich zum Fenster, wo ich den Nachthimmel sehen und die kühle Brise über mein schweißnasses Gesicht streichen konnte. Ich lehnte den Kopf gegen die Wand und presste die Handflächen auf den kalten Marmorboden.
Die Wand und der Boden, das war real. Das war die Wirklichkeit. Ich hatte überlebt. Ich hatte es geschafft.
Falls das alles nicht doch ein Traum war, ein Fiebertraum, und wenn ich aufwachte, war ich immer noch in Amaranthas Verlies und …
Ich zog die Knie an die Brust. Real. Real.
Ich flüsterte das Wort vor mich hin.
Und ich flüsterte es so lange, bis ich meine Beine nicht länger umklammern musste und den Kopf heben konnte. Schmerz durchzuckte meine Handflächen.
Ich hatte die Hände so fest zu Fäusten geballt gehabt, dass sich im Fleisch kleine Vertiefungen von meinen Fingernägeln abzeichneten.
Übermenschliche Kraft. Eher ein Fluch als ein Segen. In den ersten drei Tagen hatte ich jedes Besteckteil verbogen, war so oft über meine längeren, flinkeren Beine gestolpert, dass Alis alle unersetzbaren Kostbarkeiten aus meinen Gemächern entfernt hatte (für eine achthundert Jahre alte Vase war es leider zu spät gewesen), und hatte nicht eine und auch nicht zwei, sondern fünf Glastüren zerbrochen, nur weil ich sie aus Versehen etwas zu fest zugezogen hatte.
Ich seufzte und lockerte die Finger.
Meine rechte Hand war makellos und glatt.
Aber über meine linke Hand zogen sich dunkle Wirbel und Kreise von den Fingerspitzen über das Handgelenk und den ganzen Unterarm bis zum Ellbogen und schienen die Dunkelheit des Badezimmers in sich aufzusaugen. Mir war, als würde das mandelförmige Auge in der Mitte meiner Handfläche mich beobachten – spöttisch, gelassen und durchtrieben wie eine Katze. Die Pupille war weiter geöffnet als vorhin, wie ein echtes Auge bei schwachem Licht.
Ich bedachte das Auge mit einem finsteren Blick.
Und ihn, falls er mich gerade durch die Tätowierung beobachtete.
In den drei Monaten, die ich jetzt hier war, hatte ich nichts von Rhysand gehört. Keinen Mucks. Ich hatte nicht gewagt, Tamlin, Lucien oder sonst jemanden zu fragen – aus lauter Angst, dass ich dadurch den High Lord des Hofs der Nacht irgendwie heraufbeschwören und ihn an den idiotischen Handel erinnern würde, auf den ich mich unter dem Berg eingelassen hatte: Ich musste jeden Monat eine Woche bei ihm verbringen, als Preis dafür, dass er mir das Leben gerettet hatte.
Selbst wenn Rhysand unsere Abmachung vergessen hatte, ich konnte es nicht. Genauso wenig wie Tamlin oder Lucien. Denn die Tätowierung war ja immer da.
Rhysand war der Dämon. Der Feind. Das Monster. Für Tamlin. Und für jeden anderen. Nur wenige haben je die Grenze zum Hof der Nacht überschritten und überlebt. Niemand wusste so recht, was genau dort im nördlichsten Zipfel von Prythian lauerte.
Berge und Dunkelheit, Sterne und Tod.
Aber für mich war Rhysand kein Feind mehr gewesen, als wir uns zum letzten Mal sahen, kurz nach Amaranthas Niederlage. Von dieser Begegnung hatte ich niemandem erzählt, und auch nicht, was er zu mir gesagt hatte.
Sei dankbar für dein menschliches Herz, Feyre. Und hab Mitleid mit all jenen, die nichts mehr empfinden.
Wieder ballte ich die Hände zu Fäusten, versuchte das Auge und die Tätowierung zu verdrängen. Dann rappelte ich mich auf und zog die Toilettenspülung, ging zum Waschbecken, spülte mir den Mund aus und wusch mir das Gesicht.
Wenn ich doch nur nichts mehr empfinden würde.
Wenn sich mein menschliches Herz doch nur genauso verwandelt hätte wie der Rest von mir. Dann hätte ich jetzt ein Herz aus unvergänglichem Marmor und nicht diesen in Fetzen gerissenen schwarzen Klumpen, aus dem Fäulnis in mein Inneres sickerte.
Tamlin schlief immer noch, als ich in mein dunkles Schlafzimmer huschte. Sein nackter Leib lag quer über der Matratze. Einen Augenblick lang bewunderte ich seinen vom Mondlicht liebkosten muskulösen Rücken, sein goldblondes Haar, das vom Schlaf und von meinen Fingern zerzaust war, weil wir uns vorhin geliebt hatten.
Für ihn hatte ich all das getan. Für ihn hatte ich mit Freuden mein Herz zerrissen und meine unsterbliche Seele aufgegeben.
Und jetzt musste ich bis in alle Ewigkeit damit leben.
Jeder Schritt fiel mir schwer, als ich auf das Bett zuging. Die Laken waren nicht mehr feucht und angenehm kühl. Ich legte mich hin, mit dem Rücken zu ihm, und schlang die Arme um meinen Leib. Tamlins Atem ging tief und ruhig. Aber mit meinen geschärften Fae-Ohren glaubte ich, hin und wieder etwas zu hören … so als würde er ganz kurz den Atem anhalten. Ich wagte nie zu fragen, ob er wach war.
Tamlin schlief stets weiter, wenn die Albträume mich aus dem Schlaf rissen und ich mir Nacht für Nacht die Galle aus dem Leib erbrach. Und falls er es doch mitbekam, so erwähnte er es nicht.
Ich wusste, dass auch er von Träumen heimgesucht wurde. Beim ersten Mal war ich aufgewacht und hatte versucht, mit ihm zu reden. Doch er hatte meine Hand weggestoßen. Seine Haut war schweißnass gewesen, und dann hatte er sich in das Biest aus Fell, Krallen und Reißzähnen verwandelt und die Nacht auf dem Fußboden vor dem Bett verbracht, von wo er die Tür und die Fenster im Auge behalten konnte.
Solche Nächte gab es oft.
Ich wickelte die Decke fester um mich, suchte mehr Wärme in der kühlen Nachtluft. Wir hatten eine stillschweigende Übereinkunft: Wir würden Amarantha nach ihrem Tod den Sieg nicht doch noch überlassen, indem wir uns eingestanden, dass sie uns heimsuchte. Bei Nacht und bei Tag.
Es war ohnehin leichter, ihm nichts erklären zu müssen. Ihm nicht sagen zu müssen, dass ich ihn, die Fae und ganz Prythian von Amarantha zwar befreit, mich selbst damit aber zugleich in Stücke gerissen hatte.
Und nicht einmal die Ewigkeit würde ausreichen, um mich wieder zu heilen.
»Ich will hingehen.«
»Nein.«
Ich verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust, meine tätowierte Hand rechts untergeschoben, und stellte mich breitbeinig mitten in den Stall. »Es ist jetzt drei Monate her. Nichts ist passiert und das Dorf ist keine fünf Meilen …«
»Nein.« Tamlins blondes Haar glänzte golden in der Vormittagssonne, die durch die Stalltür hereinfiel. Er schnallte gerade sein Bandelier mit den Dolchen quer über der Brust fest. Ein entschlossener Ausdruck lag in seinem Gesicht, das genauso wild und schön war, wie ich es mir in all den Monaten vorgestellt hatte, als ich ihn nur mit Maske kannte.
Lucien saß bereits auf seinem Apfelschimmel, zusammen mit drei weiteren Soldaten des Hofs, und schüttelte warnend den Kopf. Sein Metallauge wurde schmal. Dränge ihn nicht, wollte sein Blick mir sagen.
Doch ich achtete nicht darauf. Ich presste die Lippen zusammen und stürmte hinter Tamlin her, der jetzt zu seinem schwarzen Hengst ging. »Im Dorf brauchen sie alle Hilfe, die sie kriegen können.«
»Und wir sind immer noch auf der Jagd nach Amaranthas Monstern«, gab er zurück und stieg mit einer einzigen fließenden Bewegung in den Sattel. Manchmal fragte ich mich, ob er nur den schönen Schein von Normalität wahren wollte, denn er konnte doch mindestens doppelt so schnell laufen wie ein Pferd und war in der Wildnis zu Hause. Seine grünen Augen glitzerten wie Eissplitter, als er seinen Hengst in Bewegung setzte. »Ich habe keine Soldaten übrig, die ich dir als Eskorte mitgeben könnte.«
Ich fasste ihm in die Zügel. »Ich brauche keine Eskorte.« Mein Griff war so fest, dass das Pferd stehen blieb. Der goldene Ring mit dem quadratischen Smaragd an meinem Finger funkelte in der Sonne.
Vor zwei Monaten hatte mir Tamlin einen Antrag gemacht und seitdem drehte sich alles nur noch um die Hochzeitsvorbereitungen: um die Blumen und das passende Kleid, um die Sitzordnung und die Mahlzeiten. Vor einer Woche gab es zwischendurch eine kurze Abwechslung, als ich für die Wintersonnenwende Immergrün und Girlanden auswählen musste, statt mir über Spitze und Seide den Kopf zu zerbrechen. Immerhin.
Die Feierlichkeiten zur Wintersonnenwende hatten drei Tage gedauert, an denen ausgiebig gegessen und getrunken wurde und sich alle gegenseitig Geschenke machten. Und in der längsten Nacht des Jahres wurde dann auf einem Hügel ein langes zügelloses Fest gefeiert, das uns von einem Jahr ins nächste begleitete, weil die Sonne abends starb und morgens wiedergeboren wurde. Oder so was in der Art. Ein Winterfest zu feiern an einem Ort, wo das ganze Jahr über Frühling herrschte, war mir allerdings irgendwie sinnlos vorgekommen. Zumal ich nicht in festlicher Stimmung gewesen war.
Ich hatte nicht richtig zugehört, als man mir die Ursprünge der Feierlichkeiten erklärte, und die Fae selbst stritten offenbar darüber, ob das Fest nun vom Winterhof oder vom Hof des Tages stammte. Mir war das ziemlich egal gewesen. Mich hatte nur interessiert, dass ich zwei Zeremonien durchstehen musste: eine in der Abenddämmerung vor einer endlosen Nacht voller Geschenke, Tänze und Trinkgelage zu Ehren der alten, sterbenden Sonne und eine am folgenden Morgen bei Tagesanbruch, mit verquollenen Augen und schmerzenden Füßen, zur Feier der neuen, wiedergeborenen Sonne.
Und weil es schon schlimm genug gewesen war, dass ich vor dem versammelten Hof stehen musste, während Tamlin seine Trinksprüche und Segenswünsche sprach, hatte ich gar nicht mehr erwähnt, dass auch mein Geburtstag auf die längste Nacht des Jahres fiel. Ich wurde ja sowieso schon mit Geschenken überhäuft – und am Tag meiner Hochzeit würden noch viel mehr hinzukommen. Was sollte ich bloß mit all den Sachen anfangen?
Noch zwei Wochen bis zur Vermählungszeremonie. Wenn ich noch einen Tag länger im Haus hocken musste und nicht endlich mal etwas anderes tun konnte, als Tamlins Geld auszugeben und mich von allen Seiten umschmeicheln zu lassen, dann …
»Bitte. Der Wiederaufbau geht nur langsam voran. Ich könnte für die Leute im Dorf auf die Jagd gehen, könnte Nahrung für sie beschaffen …«
»Das ist zu gefährlich«, sagte Tamlin und setzte seinen Hengst wieder in Bewegung. Das Fell des Tiers glänzte wie ein schwarzer Spiegel, selbst in dem dämmrigen Stall. »Vor allem für dich.«
Das sagte er jedes Mal, wenn wir diese Diskussion führten. Jedes Mal, wenn ich ihn darum bat, den High Fae in dem nahe gelegenen Dorf beim Wiederaufbau ihrer Häuser helfen zu dürfen, die Amarantha vor Jahren zerstört hatte.
Ich folgte ihm in den strahlenden, wolkenlosen Tag hinaus. Auf den Hügeln jenseits der Ställe wiegte sich das Gras in der sanften Brise. »Die Leute wollen zurückkehren, sie brauchen einen Ort, an dem sie leben können …«
»Genau diese Leute sehen in dir eine Segensgestalt, einen Garanten für Stabilität. Wenn dir etwas zustoßen würde …« Er sprach nicht weiter und zügelte sein Pferd am Rande des Feldwegs zum Ostwald noch einmal. Lucien war schon langsam vorausgeritten. »Es hat keinen Sinn, irgendetwas aufzubauen, solange Amaranthas Ungeheuer noch durchs Land streifen und es wieder zerstören.«
»Aber der Schutzwall …«
»Vor der Reparatur des Schutzwalls konnten noch einige durchschlüpfen. Erst gestern hat Lucien fünf Naga niedergestreckt.«
Ich drehte mich zu Lucien um, der sichtlich zusammenzuckte. Das hatte er mir gestern beim Abendessen nicht erzählt. Im Gegenteil: Er hatte gelogen, als ich ihn fragte, warum er humpelte. Mir drehte sich der Magen um, nicht nur wegen der Lüge. Naga. Manchmal sah ich in meinen Albträumen noch, wie sie mich mit ihrem Blut besudelten, als ich sie tötete, wie sie mir ihre gierigen, schlangengleichen Gesichter mit aufgerissenem Mund entgegenreckten, um mich zu verschlingen.
»Ich kann nicht tun, was ich tun muss, wenn ich mir Sorgen um dich mache«, sagte Tamlin leise.
»Aber du musst dir keine Sorgen um mich machen.« Ich besaß die Kraft und die Stärke einer High Fae und bezweifelte, dass mir irgendetwas ernsthaft gefährlich werden konnte.
»Bitte. Bitte tu es für mich«, sagte Tamlin und tätschelte das Pferd, das allmählich ungeduldig wurde. Ein Teil seines Gefolges hatte bereits den Waldrand erreicht. Mit einer Kopfbewegung wies er zu der alabasterweißen Fassade des Hauses hinüber. »Du kannst bestimmt drinnen helfen. Oder setz dich an deine Malerei. Wie wäre es, wenn du die neuen Farben ausprobierst, die ich dir zur Wintersonnenwende geschenkt habe?«
Im Haus erwarteten mich nichts als Hochzeitsvorbereitungen. Alis weigerte sich nämlich rundheraus, mir irgendwelche Arbeiten zu übertragen. Nicht weil Tamlin mich vergötterte oder weil ich Tamlins Gemahlin werden würde, sondern wegen dem, was ich für sie und ihre Neffen getan hatte, für ganz Prythian. Alle Dienstboten dachten so wie sie. Manche brachen vor Dankbarkeit immer noch in Tränen aus, wenn sie mir im Flur begegneten. Und was das Malen betraf …
»Also schön«, sagte ich leise. Ich hob den Blick, schaute ihm in die Augen und verzog den Mund zu einem Lächeln. »Sei vorsichtig«, fügte ich hinzu und das meinte ich ernst. Der Gedanke, dass er dort draußen Jagd auf die Monster machen würde, die Amarantha gedient hatten …
»Ich liebe dich«, sagte Tamlin leise.
Ich nickte und murmelte dieselben Worte vor mich hin, während er zu Lucien aufschloss, der leicht die Stirn runzelte. Ich schaute ihnen nicht nach und ließ mir Zeit auf dem Weg zwischen den Hecken des Gartens hindurch. Die Vögel zwitscherten fröhlich und unter meinen dünnen Sohlen knirschte der Kies.
Ich hasste die bunten Kleider, die ich Tag für Tag trug, aber ich brachte es nicht über mich, Tamlin reinen Wein einzuschenken. Er hatte mir Unmengen davon gekauft und machte ein so glückliches Gesicht, wenn er mich darin sah. Und er hatte ja recht. Würde ich in Hose und Tunika herumlaufen und statt kostbarer Edelsteine meine Waffen anlegen, würde ganz Prythian davon erfahren. Also streifte ich die bunten Gewänder über und ließ mir von Alis die Haare frisieren – und sei es auch nur, um für die Bewohner von Prythian ein Bild des Friedens und des Wohlstands abzugeben.
Wenigstens hatte Tamlin nichts gegen den Dolch, den ich an einem juwelenbesetzten Gürtel bei mir trug. Lucien hatte mir beides geschenkt, den Dolch, kurz nachdem Tamlin mich an den Frühlingshof gebracht hatte, und den Gürtel nach Amaranthas Sturz. Damals hatte ich mich keinen Moment von diesem Dolch – und all den anderen – trennen wollen. Wenn du dich schon bis an die Zähne bewaffnest, hatte Lucien gesagt, dann sollst du wenigstens gut dabei aussehen.
Seither war viel Zeit vergangen. Aber ich bezweifelte, dass ich je den Tag erleben würde, an dem ich morgens nicht den Gürtel anlegen und den Dolch einstecken würde, selbst wenn wir hundert Jahre lang Frieden gehabt hätten.
Hundert Jahre.
Einhundert, zweihundert, dreihundert Jahre. Das alles lag vor mir. Jahrhunderte mit Tamlin. Jahrhunderte an diesem wunderschönen, friedvollen Ort. Vielleicht würde es mir mit der Zeit sogar gelingen, wieder zu mir zu finden. Vielleicht.
Am Fuß der Marmortreppe, die zu dem mit Rosen und Efeu bewachsenen Haus hinaufführte, blieb ich stehen und schaute nach rechts zum Rosengarten hinüber. Die Fenster dahinter gehörten zu dem Raum, der einst mein Atelier gewesen war. Ich hatte ihn seit meiner Rückkehr erst ein einziges Mal betreten. All die Gemälde, die Farben und Pinsel, die leeren Leinwände, die nur darauf warteten, dass ich sie mit Geschichten, Gefühlen und Träumen bevölkerte – wie sehr ich das alles jetzt hasste. Schon nach wenigen Minuten war ich wieder gegangen und seitdem nicht mehr dort gewesen. Früher hatte ich Farben wahrgenommen, hatte sie in Gedanken benannt und sortiert, hatte Oberflächen und Formen studiert. Heute nicht mehr. Es war mir nicht mehr wichtig. Auch den Gemälden im Haus schenkte ich kaum noch einen Blick.
Eine liebliche Frauenstimme rief mich ins Haus und meine angespannten Schultern lockerten sich ein wenig. Es war Ianthe, die Hohepriesterin, eine High Fae und Kindheitsgefährtin von Tamlin, die gekommen war, um die Hochzeit vorzubereiten. Und sie betete mich und Tamlin an, als wären wir die neuen Götter, erwählt und gesegnet vom Großen Kessel.
Ich beklagte mich nicht, denn Ianthe kannte jeden Einzelnen am Hof. Und fast jeden in ganz Prythian. Bei offiziellen Empfängen und Feierlichkeiten blieb sie stets an meiner Seite und versorgte mich mit Einzelheiten über die Gäste. Nur dank ihrer Hilfe hatte ich das fröhlich ausgelassene Treiben der Feiern zur Wintersonnenwende einigermaßen unbeschadet überstanden. Sie hatte die verschiedenen Zeremonien überwacht und ich hatte ihr freudig das Zepter überlassen: Sie durfte entscheiden, welche Girlanden und Dekorationen angemessen waren, welches Geschirr und Besteck zu den jeweiligen Mahlzeiten passten.
Tamlin war es, der meine Kleider bezahlte, aber Ianthe wählte sie aus. Sie war das Herz ihres Volkes, zur Hohepriesterin geweiht von der Hand der Göttin, um die Fae aus der Verzweiflung und der Dunkelheit zum Licht zu führen. Und ich hatte keinen Grund, an ihr zu zweifeln. Sie hatte mich noch nicht ein einziges Mal im Stich gelassen, und mittlerweile fürchtete ich die Tage, an denen sie in ihren eigenen Tempel zurückkehren musste, um sich um Pilger und ihre Jünger zu kümmern. Aber heute, ja heute war sie für mich da. Den heutigen Tag würde ich mit Ianthe verbringen. Mir blieb auch kaum etwas anderes übrig, und so raffte ich den zarten Stoff meines rosa Kleides und stieg die Marmorstufen zum Haus hinauf.
Beim nächsten Mal, versprach ich mir. Beim nächsten Mal würde ich Tamlin überreden, mich ins Dorf gehen zu lassen.
»Oje, sie darf auf keinen Fall neben ihm sitzen. Die beiden würden sich in der Luft zerreißen und die schöne Tischdecke ruinieren.« Ianthe runzelte die Stirn unter ihrer blaugrauen Kapuze, und die Tätowierung über ihren Augen, die den Mondzyklus beschrieb, legte sich in Falten. Sie strich den Namen, den sie gerade auf einen Sitzplan geschrieben hatte, wieder aus.
Es war warm geworden und im Raum war es etwas stickig, obwohl eine leichte Brise durch das Fenster hereinwehte. Trotzdem legte Ianthe ihre schwere Robe nicht ab. Alle Hohepriesterinnen trugen diese wallenden und kunstvoll gewickelten Gewänder, die sie sehr vorteilhaft kleideten. Ianthes schmale Taille wurde von einem schönen Gürtel aus himmelblauen, durchsichtigen Edelsteinen betont, die alle oval geschliffen und in glänzendes Silber gefasst waren. Auf ihrer Kapuze saß ein passendes Diadem, ein zierlicher Reif aus Silber mit einem großen Stein in der Mitte. Unter dem Reif steckte ein zarter Schleier, der über Stirn und Augen gezogen werden konnte, wenn sie beten, den Kessel oder die Große Mutter um etwas bitten oder einfach nur nachdenken wollte.
Nur Nase und Mund waren zu sehen, wenn sie den Schleier senkte. Dann war sie die Stimme des Kessels. Sie hatte mir einmal vorgeführt, wie sie dann aussah, und dieser Anblick hatte für mich etwas Beunruhigendes an sich gehabt: als hätte die schöne, kluge Frau sich völlig verwandelt, als wäre sie nur noch ein Abbild ihrer selbst. Zum Glück ging sie meistens unverschleiert. Gelegentlich schlug sie sogar die Kapuze zurück und dann glänzte die Sonne in ihren langen, gewellten blonden Haaren.
Die Silberringe an Ianthes gepflegten Händen funkelten, während sie einen weiteren Namen aufschrieb. »Das ist nichts weiter als ein Spiel«, sagte sie seufzend. »Mit Figuren, die um Macht und Vorherrschaft ringen. Für beides ist man unter Umständen auch bereit, Blut zu vergießen. Das alles muss Euch sehr fremdartig vorkommen.«
All die Eleganz und der Reichtum konnten die unterschwellige Brutalität der High Fae nicht vergessen machen, die mit den amüsiert plaudernden Aristokraten der Menschenwelt nicht zu vergleichen waren. Denn wenn sie in Streit gerieten, dann rissen sie sich gegenseitig in Stücke. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
Früher hatte mich allein ihre Gegenwart erzittern lassen. Jetzt war ich eine von ihnen. Ich ballte meine Hand zur Faust und streckte die Finger dann wieder, wobei die Tätowierung auf meiner Haut ein Eigenleben zu entwickeln schien.
»Die Menschen sind nicht viel besser«, sagte ich zu ihr. Und weil Ianthe die einzige Person war, die in meiner Nähe nicht vor Ehrfurcht erstarrte, versuchte ich, mit ihr ins Gespräch zu kommen. »Meine Schwester Nesta würde gut hierherpassen.«
Ianthe legte den Kopf schräg, sodass die Strahlen der Sonne den blauen Edelstein über ihrer Stirn zum Funkeln brachte. »Wird Eure sterbliche Verwandtschaft uns bei der Feier mit ihrer Anwesenheit beehren?«
»Nein.« Ich hatte sie nicht eingeladen, weil ich sie nicht nach Prythian holen wollte. Ich wollte sie nicht bloßstellen. Oder sie wissen lassen, was aus mir geworden war.
Ianthe tippte mit einem langen, schlanken Finger auf den Tisch. »Aber sie wohnen doch ganz in der Nähe der Mauer, nicht wahr? Wenn es Euch wichtig ist, sie dabeizuhaben, könnten Tamlin und ich für eine sichere Reise sorgen.« Ich hatte ihr von dem Dorf erzählt, von dem Haus, in dem meine Familie jetzt lebte, von Isaac Hale und Tomas Mandray. Clare Beddor oder ihre Familie zu erwähnen hatte ich nicht über mich gebracht.
»Meine Schwester Nesta«, sagte ich, während ich gegen die Erinnerung an Clare ankämpfte, gegen das, was ich ihr angetan hatte, »verabscheut Eure Art von ganzem Herzen.«
»Unsere Art«, verbesserte mich Ianthe ruhig. »Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
Ich nickte bloß.
Sie aber fuhr fort: »Jedes Wort aus Eurem Mund wird gehört, jede Redewendung von allen Seiten begutachtet und unter Umständen gegen Euch verwendet.« Und dann setzte sie noch hinzu, wie um ihre Warnung zu unterstreichen: »Seid auf der Hut, Lady.«
Lady. Ein Titel, kein Name. Niemand wusste, wie man mich ansprechen sollte. Ich war keine gebürtige High Fae.
Ich war erschaffen worden, wiedergeboren in diesem neuen Körper, dank der Güte der sieben High Lords von Prythian. Ich war nicht Tamlins Seelengefährtin, jedenfalls nicht, soweit ich wusste. Es gab kein Band zwischen uns. Noch nicht.
Im Grunde genommen sah Ianthe mit ihrem strahlend goldblonden Haar, den seegrünen Augen, ihren edlen Gesichtszügen und dem wohlgeformten Körper viel mehr wie Tamlins Seelenverwandte aus. Sie war ihm ebenbürtig. Eine Vereinigung mit Tamlin – von High Lord und Hohepriesterin – würde eine klare Botschaft an alle aussenden, die unserem Land schaden wollten. Und Ianthe war gewiss nicht abgeneigt, ihre Macht zu mehren.
Die Hohepriesterinnen der High Fae beaufsichtigten die Zeremonien und Rituale, schrieben die Geschichte ihres Volkes auf, bewahrten seine Legenden und standen der herrschenden Klasse als Ratgeber zur Seite, im Kleinen wie im Großen. Ich hatte noch nie erlebt, dass Ianthe Magie eingesetzt hätte. Als ich Lucien danach fragte, runzelte er die Stirn und sagte, dass die Magie der Hohepriesterinnen den Zeremonien entspringe, die sie vollzogen, und tödlich sein könne, wenn sie es darauf anlegten. Ich hatte Ianthe bei dem Fest zur Wintersonnenwende beobachtet. Sie hatte sich genau so positioniert, dass die neu aufgehende Sonne sich in ihre ausgebreiteten Arme schmiegte. Aber es war kein Kräuseln der Luft, kein Erschauern der Macht zu spüren gewesen. Weder von ihr noch vom Erdboden unter unseren Füßen.
Ich wusste nicht genau, was ich von Ianthe halten sollte. Sie war eine der zwölf Hohepriesterinnen, die gemeinsam allen Priesterinnen von Prythian vorstanden. Als Tamlin mir eröffnete, dass bald eine alte Freundin von ihm die verfallene Tempelanlage auf unserem Land wieder herrichten und bewohnen wollte, hatte ich eine keusche und stille alte Frau erwartet. Doch am nächsten Morgen kam Ianthe wie eine Frühlingsbrise in unser Haus geweht und fegte diese Erwartungen davon. Vor allem die Sache mit der Keuschheit.
Priesterinnen durften heiraten, Kinder bekommen und nach Belieben mit Männern flirten. Ihre Instinkte und Bedürfnisse zu unterdrücken, so hatte mir Ianthe erklärt, würde bedeuten, das Geschenk des Großen Kessels mit Füßen zu treten: das Geschenk der Fruchtbarkeit, die ureigene weibliche Gabe, Leben zu schenken.
Während also die sieben High Lords Prythian von ihren Thronen aus regierten, regierten die Hohepriesterinnen von ihren Altären aus. Ihre Kinder waren genauso mächtig und respektiert wie die Abkömmlinge der Lords. Und Ianthe, seit dreihundert Jahren die jüngste Hohepriesterin, war noch unverheiratet, kinderlos und fest entschlossen, »die schönsten Männer zu genießen, die das Land zu bieten hat«.
Ich fragte mich oft, wie es wohl war, so frei und gleichzeitig so mit sich selbst im Reinen zu sein.
Als ich nicht auf ihren sanften Tadel reagierte, fragte sie: »Habt Ihr Euch überlegt, welche Farbe die Rosen haben sollen? Weiß? Rosa? Gelb? Rot …?«
»Nicht Rot.«
Ich hasste diese Farbe. Mehr als alle anderen Farben auf der Welt. Amaranthas Haar. All das Blut. Die Striemen auf Clare Beddors geschändetem Körper, der in Amaranthas Reich unter dem Berg an die Felswand genagelt worden war …
»Rotbraun wäre auch hübsch, ein schöner Kontrast zu Grün. Aber das erinnert vielleicht zu sehr an den Herbsthof.« Wieder klopfte sie mit dem Finger auf die Tischplatte.
»Wählt Ihr die Farbe doch aus.« Wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass Ianthe mir eine wertvolle Stütze geworden war. Und sie schien ganz in ihrer Aufgabe aufzugehen und kümmerte sich um all die Dinge, die mir gleichgültig waren.
Sie war zusammen mit ihrer Familie dem Schrecken unter dem Berg entkommen. Ianthes Vater, einer von Tamlins treuesten Gefährten und ein Hauptmann seiner Truppen, erkannte die Gefahr und floh mit Ianthe, ihrer Mutter und zwei jüngeren Schwestern vom Frühlingshof nach Vallahan, ein Reich der Fae jenseits des Meeres. Fünfzig Jahre lang hatten sie in diesem fremden Land gelebt und ausgeharrt, während ihr Volk abgeschlachtet und versklavt worden war.
Sie selbst hatte diese Tatsache nie erwähnt. Und mir war klar, dass ich nicht fragen durfte.
»Jedes Detail dieser Vermählung setzt ein Signal, nicht nur für Prythian, sondern auch für die Welt jenseits unseres Reichs«, sagte sie jetzt und zog angesichts meiner Unentschlossenheit die Augenbrauen hoch. Ich unterdrückte ein Seufzen. Das wusste ich, sie hatte es schon mehrmals erklärt. »Ich weiß, dass Ihr nicht begeistert seid von dem Kleid …«
Eine wahre Untertreibung. Ich hasste dieses Monstrum aus Tüll, das Ianthe ausgesucht hatte. Tamlin hatte sich heiser gelacht, als er mich darin sah, mir dann aber versichert, dass die Priesterin schon wisse, was sie tue. Ich hätte ihm am liebsten widersprochen, nur weil er sich auf ihre Seite stellte, auch wenn ich seiner Meinung war. Aber dazu fehlte mir die Energie.
»Dieses Kleid setzt das richtige Signal«, fuhr Ianthe fort. »Ich habe genug Zeit an den verschiedenen Höfen verbracht, um zu wissen, wie das alles funktioniert. Vertraut mir.«
»Ich vertraue Euch«, sagte ich und deutete auf die Papiere auf dem Tisch. »Ihr wisst, wie man diese Dinge handhabt. Ich nicht.«
An Ianthes Handgelenk klimperte Silberschmuck, ganz so wie bei den Kindern der Gesegneten auf der anderen Seite der Mauer. Ich fragte mich, ob diese närrischen, sterblichen Anhänger der Fae sich die Idee mit den Armbändern bei den Hohepriesterinnen von Prythian abgeschaut hatten, ob es Priesterinnen wie Ianthe gewesen waren, die diese naiven Menschenkinder in ihren Bann gezogen hatten.
»Das ist auch für mich ein wichtiges Ereignis«, sagte Ianthe zögernd und rückte den Reif auf ihrem Kopf zurecht. Ihr aquamarinblauer Blick traf meinen. »Wir beide sind uns so ähnlich. Jung, unerfahren, eine vermeintlich leichte Beute für diese … Wölfe. Ich bin dankbar, dass Ihr und Tamlin mir gestattet, die Zeremonie zu vollziehen, dass ich an diesem Hof tätig und ein Teil davon sein darf. Die anderen Hohepriesterinnen haben nicht viel für mich übrig, genauso wenig wie ich für sie, aber …« Sie schüttelte den Kopf und die Kapuze wippte leicht. »Gemeinsam«, murmelte sie, »bilden wir ein großartiges Trio. Ein Quartett, wenn man Lucien mitzählt.« Sie schnaubte. »Allerdings hat auch er nicht viel für mich übrig.«
Wie recht sie hatte.
Sie brachte auffällig oft die Sprache auf ihn. Bei Festlichkeiten fand sie immer einen Grund, um in seiner Nähe zu sein und ihn wie zufällig am Ellbogen oder an der Schulter zu berühren. Er dagegen ignorierte sie. Vergangene Woche hatte ich ihn schließlich gefragt, ob sie ein Auge auf ihn geworfen habe. Lucien blickte mich wütend an und schnaubte leise, ehe er wortlos davonstapfte. Das sollte wohl »Ja« heißen.
Eine Verbindung mit Lucien wäre fast genauso vorteilhaft wie mit Tamlin. Lucien war nicht nur die rechte Hand eines High Lords, sondern auch der Sohn eines High Lords. Seine Abkömmlinge würden über große Macht verfügen.
»Ihr wisst doch, wie schwer er sich tut, wenn … wenn eine Frau im Spiel ist«, sagte ich unbestimmt.
»Er war seit dem Tod seiner Geliebten schon mit vielen Frauen zusammen.«
»Vielleicht ist es bei Euch etwas anderes. Vielleicht wäre das eine Sache, für die er noch nicht bereit ist.« Ich suchte nach Worten. »Vielleicht hält er sich deswegen von Euch fern.«
Sie dachte nach, und ich hoffte, dass sie meine Lüge schlucken würde. Ianthe war ehrgeizig, klug, wunderschön und kühn. Aber Lucien würde ihr wohl nie verzeihen, dass sie sich Amaranthas Tyrannei durch Flucht entzogen hatte. Manchmal hatte ich fast Angst, er würde ihr deswegen an die Gurgel gehen.
Schließlich nickte Ianthe. »Seid Ihr wenigstens ein bisschen aufgeregt wegen der Vermählung?«
Ich fummelte an meinem Smaragdring herum. »Es wird der glücklichste Tag meines Lebens sein.«
Davon war ich fest überzeugt gewesen, als Tamlin mich gefragt hatte, ob ich seine Frau werden wollte. Vor Glück und Freude schluchzend, hatte ich eingewilligt, hatte »Ja« gesagt, wieder und wieder. Und dann hatten wir uns auf der Blumenwiese geliebt, die er sich für seinen Antrag ausgesucht hatte.
Ianthe nickte. »Die Verbindung ist vom Großen Kessel gesegnet. Dass Ihr die Schrecken unter dem Berg überlebt habt, ist der beste Beweis dafür.«
Ich bemerkte, wie sie meine linke Hand betrachtete – die Hand mit der Tätowierung –, und musste an mich halten, um sie nicht unter dem Tisch zu verstecken.
Die Tätowierung auf ihrer Stirn war mitternachtsblau. Trotzdem passte sie zu ihr, unterstrich das weich fallende, weibliche Gewand und ihren glänzenden Silberschmuck. Ganz anders als die kunstvolle Ungezähmtheit meiner Tätowierung.
»Wir können Handschuhe besorgen«, sagte sie wie beiläufig.
Und das würde ebenfalls ein Signal aussenden – nicht zuletzt an die Person, von der ich inständig hoffte, sie möge mich vergessen haben.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte ich mit einem mühsamen Lächeln und wäre am liebsten ungestüm aufgesprungen, noch ehe die Stunde mit Ianthe vorbei war und sie sich in ihren Gebetsraum zurückzog. Den hatte Tamlin bei ihrer Ankunft am Frühlingshof für sie eingerichtet, damit sie dort Mittagsgebete mit Danksagungen für die Befreiung des Landes, meinen Triumph und Tamlins erneute Herrschaft über sein Reich sprechen konnte.
Manchmal fragte ich mich, ob ich sie bitten sollte, auch für mich zu beten. Damit ich lernen würde, das Kleid und die Feier zu lieben und mich in meine Rolle als errötende, jungfräuliche Braut zu ergeben.
Ich lag schon im Bett, als Tamlin, so leise wie ein Hirsch im Wald, hereinkam. Im ersten Moment wollte ich nach dem Dolch greifen, den ich immer auf dem Nachttisch liegen hatte. Beim Anblick seiner breiten Schultern entspannte ich mich wieder. Das Kerzenlicht in seiner Hand ließ seine gebräunte Haut golden schimmern, hüllte sein Gesicht jedoch in Schatten.
»Du bist noch wach?«, hörte ich ihn überrascht murmeln. Er war nach dem Abendessen in sein Arbeitszimmer gegangen, wo er noch irgendwelche Papiere durchsehen wollte, die Lucien auf seinem Schreibtisch abgeladen hatte.
»Ich konnte nicht schlafen«, sagte ich und betrachtete das Spiel seiner Muskeln, als er ins Badezimmer ging. Ich hatte versucht einzuschlafen, aber jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, verkrampfte sich mein Körper und mir war, als würden die Wände auf mich zurücken. Ich hatte sogar die Fenster geöffnet, aber vergebens.
Es würde eine lange Nacht werden.
Ich lauschte auf die leisen, vertrauten Geräusche, mit denen Tamlin sich für die Nacht fertig machte. Er hatte ein eigenes Schlafgemach, weil er es für wichtig hielt, dass ich meinen Freiraum hatte.
Trotzdem schlief er jede Nacht bei mir. Ich war noch nie in seinem Schlafzimmer gewesen. Vielleicht würde sich das in der Hochzeitsnacht ändern. Ich hoffte inständig, dass ich in der Nacht dann nicht wild um mich schlagend aufwachen und mich auf das Laken erbrechen würde, weil ich nicht wusste, wo ich war und die Dunkelheit für die ewige Schwärze des Grabes hielt. Vielleicht war das der Grund, warum er immer zu mir kam, mich aber nie zu sich mitnahm.
Er kam aus dem Badezimmer und zog Tunika und Hemd aus. Ich stützte mich auf die Ellbogen und schaute ihm entgegen, als er ans Bett trat. Meine Aufmerksamkeit richtete sich unwillkürlich auf seine starken, geschickten Finger, die seine Gürtelschnalle lösten.
Tamlin stieß ein sinnliches Knurren aus, als er seine Hosen abstreifte, und ich biss mir auf die Lippe angesichts seiner mächtigen männlichen Pracht. Mein Mund wurde trocken und ich ließ den Blick über seinen kraftvollen Körper gleiten, die gewölbte Brust, die vollen Lippen, die glühenden Augen.
»Komm her«, sagte er rau.
Ich stieß die Decke weg und entblößte meinen nackten Körper. Sein Knurren wurde dumpfer, grollender, und in seine Augen trat ein gieriger Ausdruck, während ich mich aufreizend langsam hinkniete. Ich nahm sein Gesicht in meine Hände, umfing seine goldene Haut mit den elfenbeinfarbenen Fingern der einen und mit den schwarz tätowierten Wirbeln der anderen und küsste ihn.
Er ließ die Augen offen, während ich ihn küsste. Ich drängte mich näher an ihn und keuchte, als sein Glied meinen Bauch streifte.
Seine Hände fuhren über meine Hüfte und meine Taille und hielten mich fest, als er den Kopf senkte und sich einen weiteren Kuss von meinem Mund holte. Seine Zunge fuhr fordernd über meine Lippen, die sich für ihn öffneten, und er drang ein, nahm mich in Besitz.
Ich stöhnte auf und hob den Kopf. Seine Hände gruben sich in meine Hüften und wanderten dann weiter, die eine zu meinem Hintern, die andere zwischen uns. Dieser Moment, wenn es nur noch ihn und mich gab und uns nichts trennte …
Seine Zunge strich über meinen Gaumen, während seine Finger mein Innerstes erkundeten. »Feyre«, raunte er. Mein Name war ein Gebet, andächtiger und inbrünstiger als die Worte, die Ianthe beim Fest der Wintersonnenwende zu Ehren des Großen Kessels gesprochen hatte. Und wieder fuhr seine Zunge in meinen Mund, im Gleichklang mit den Fingern, die meinen Schoß liebkosten. Meine Hüften schoben sich vor, wollten mehr, wollten ihn, ganz und gar. Er gab mir, was ich verlangte.
Ich bewegte mich rhythmisch, seine starken Finger in mir. Blitze zuckten durch meine Adern, und ich nahm nichts mehr wahr außer seinen Händen, seinem Mund, seinem Körper. Sein Daumen reizte meine empfindlichste Stelle, und keuchend stieß ich seinen Namen hervor, als ich verging.
Ich warf den Kopf in den Nacken und sog tief die kühle Nachtluft ein. Dann legte er mich sanft und liebevoll auf das Bett und streckte sich behutsam über mir aus. Sein Kopf senkte sich zu meinen Brüsten, und als ich seine Zähne an den Brustwarzen spürte, krallte ich die Hände in seinen Rücken und schlang die Beine um ihn.
Das … das war es, was ich brauchte.
Er hielt inne und betrachtete mich, aufgestützt auf seinen starken Armen.
»Bitte«, hauchte ich.
Zärtlich fuhr er mit den Lippen über meine Wangen, meinen Hals, meinen Mund.
»Tamlin«, flehte ich. Er legte eine Hand auf meine Brust und fuhr mit dem Daumen über die Brustwarze. Als ich aufschrie, drang er mit einem kräftigen Stoß in mich ein.
In diesem Moment war ich nichts. Ich war niemand.
Dann verschmolzen wir, zwei Herzen im Gleichklang, und ich schwor mir, dass es immer so sein würde. Als er sich zurückzog, spürte ich, wie sich sein Körper unter meinen Händen anspannte. Dann stieß er wieder vor. Wieder. Und wieder.
Er raunte meinen Namen, sagte mir, wie sehr er mich liebte. Und als die Blitze wieder durch meinen Leib zuckten, durch meine Adern und mein ganzes Sein, als ich wieder seinen Namen keuchte, ließ auch er sich gehen. Ich hielt ihn fest, während er erschauerte, genoss das Gewicht seines Leibes auf mir, das Gefühl seiner Haut auf meiner, seine Kraft und Stärke.
Eine Weile lang war nichts zu hören außer unserem keuchenden Atem.
Unwillig runzelte ich die Stirn, als er sich von mir löste. Aber er ging nicht. Er streckte sich lang neben mir aus, den Kopf aufgestützt, und fuhr mit einem Finger langsam kreisend über meinen Bauch und meine Brüste.
»Es tut mir leid wegen heute Vormittag«, murmelte er.
»Schon gut«, flüsterte ich. »Ich verstehe dich.«
Nicht wirklich eine Lüge, aber auch nicht die Wahrheit.
Seine Finger streiften rund um meinen Bauchnabel. »Du … du bist alles für mich«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich muss … sicher sein, dass es dir gut geht. Ich muss wissen, dass sie dich nicht kriegen, dass sie … dir nicht mehr wehtun.«
»Ich weiß.« Seine Finger wanderten tiefer. Ich schluckte schwer und sagte noch einmal: »Ich weiß.« Sanft strich ich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Aber was ist mit dir? Wer sorgt für deine Sicherheit?«
Er verzog den Mund. Jetzt, da er seine volle Macht wiederhatte, brauchte er niemanden, der ihn beschützte. Ich spürte buchstäblich, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, nicht meinetwegen, sondern weil er sich daran erinnerte, wie hilfsbedürftig er noch vor Kurzem gewesen war: schwach und nicht in der Lage, Amaranthas Schikanen Einhalt zu gebieten. Damals war seine Macht ein kleines Rinnsal gewesen im Vergleich zu dem, was ihn jetzt durchströmte. Er holte tief Luft, beugte sich vor und küsste mich direkt über dem Herzen.
»Bald«, murmelte er und ließ seine Finger zu meiner Taille wandern. Ich unterdrückte ein Stöhnen. »Bald schon bist du meine Frau und dann ist alles gut. Dann lassen wir all das hinter uns.«
Ich bog den Rücken durch und bewegte mich, damit seine Hand tiefer glitt, und er lachte heiser. Ich hörte meine eigene Stimme kaum, weil ich mich so auf seine Finger konzentrierte, die meinem stummen Befehl Folge leisteten. »Wie werden mich die Leute nennen?« Er streichelte meinen Bauchnabel, während er eine Brustwarze mit seinen Lippen liebkoste.
»Hmm?«, murmelte er und die Vibration seiner Stimme ließ mich erzittern.
»Na ja, werden die Leute mich einfach ›Tamlins Frau‹ nennen? Oder bekomme ich einen … einen Titel?«
Er hob kurz den Kopf und schaute mich an. »Möchtest du einen Titel?«
Ehe ich antworten konnte, biss er mir leicht in die Brustwarze, leckte den sanften Schmerz weg und fuhr dann langsam mit seiner Hand zu meinem Schoß. Mit trägen, lockenden Bewegungen streichelte er die Innenseite meiner Schenkel. »Nein«, keuchte ich. »Aber ich will nicht, dass …« Beim brodelnden Großen Kessel, diese Finger! »Ich … weiß nicht, ob … ich es gut finde, wenn man … mich High Lady … nennt.«
Seine Finger glitten in mich hinein, und er grinste genießerisch, weil es so feucht war zwischen meinen Schenkeln. »Das werden sie nicht«, raunte er mir ins Ohr und bewegte sich mit einer Spur von Küssen langsam an meinem Körper hinab nach unten. »So was wie eine High Lady gibt es nicht.« Und jetzt schob er meine Beine auseinander und senkte den Kopf und …
»Was meinst du damit, es gibt keine High Lady?« Die Hitze, seine Berührung – alles war auf einmal weg.
Er schaute auf und allein bei seinem Anblick schlug eine Woge aus Lust über mir zusammen. Aber was er da gesagt hatte, was er damit gemeint hatte … Er küsste die Innenseite meiner Schenkel. »High Lords nehmen sich Gemahlinnen. Gefährtinnen. Es gab noch nie eine High Lady.«
»Aber Luciens Mutter …«