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Übersetzung aus dem Englischen
von Sonja Hagemann

ISBN 978-3-492-97877-4
© Jenny Colgan 2016
Titel der englischen Originalausgabe:
»Christmas at Little Beach Street Bakery«, Sphere Books, London 2016

© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: FinePic®, München
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Für euch Träumer und eure großen und kleinen Träume.
Selbst wenn sie nur die Ausmaße eines Papageientauchers haben.

»Frieden findet man nicht durch Hass, mein Junge. Das wird dich nur noch mehr von der Welt abschließen. Und verflucht ist unser Dorf nur, wenn du es dazu machst. Für uns hier ist dieser Ort gesegnet.«

Brigadoon

Liebe Leser,

vielen Dank, dass ihr euch für dieses Buch entschieden habt, den (vermutlich) letzten Band der Bäckerei-Trilogie. Ich fand es so wunderbar, über die Abenteuer von Polly, Huckle und dem frechen Papageientaucher Neil zu schreiben.

Wenn ihr gerade erst neu dazugekommen seid, braucht ihr eigentlich gar nicht viel zu wissen: Vor einiger Zeit ist Polly nach der Pleite ihrer Firma auf die Gezeiteninsel Mount Polbearne gezogen und hat sich dort ein neues Leben aufgebaut.

Sie wohnt in einem Leuchtturm, weil sie die Vorstellung romantisch fand (Anmerkung: In Wirklichkeit nervt es tierisch!), und zwar zusammen mit Huckle, ihrem lässigen amerikanischen Freund, und natürlich ihrem zahmen Papageientaucher. Polly backt jeden Tag Brot für die Einwohner von Mount Polbearne und die Besucher der Insel, und damit seid ihr jetzt auch schon auf dem Laufenden!

Noch eine Bemerkung zum Schauplatz:

Da ich als Kind viel Zeit in Cornwall verbracht habe, ist es für mich nicht nur ein echter Ort mit richtigen Menschen, sondern auch eine Art Märchenland aus meiner Fantasie. Es kommt mir vor wie meine Version von Narnia oder einem der anderen Zauberreiche, die ich früher so gern besucht habe – ich war völlig besessen von Bevor die Flut kommt und natürlich von den Fünf Freunden oder der Dolly-Reihe.

In meiner Kindheit haben wir bei unseren Cornwall-Aufenthalten immer ein altes Häuschen in der Nähe von Polperro gemietet, in dem früher Zinnbergleute gelebt hatten. Meine Mutter war ein großer Fan von Daphne du Maurier und erzählte meinen beiden Brüdern und mir gerne schaurige Geschichten über Schiffbrüche, Piraten, Gold und Plünderer, wenn sie abends an unseren schmalen Betten saß. Wir waren begeistert, haben uns aber auch so sehr gegruselt, dass immer einer von uns die halbe Nacht aus Albträumen hochgeschreckt ist. Meiner Meinung nach war das normalerweise mein kleiner Bruder, obwohl der das wohl anders sehen würde.

Im Vergleich zum kalten Schottland war das sonnige Cornwall für mich das reinste Paradies. Es war jedes Jahr etwas Besonderes, wenn unsere Eltern uns diese Bodysurfbretter aus dickem Styropor gekauft haben. Damit rannten wir morgens früh ins Wasser, um den ganzen Tag auf den Wellen zu reiten, immer und immer wieder, bis wir fix und fertig waren und sich an den Rändern meiner überkreuzten Badeanzugträger der Sonnenbrand bemerkbar machte. Dann zogen wir uns auf das Handtuch zurück, um ein in Frischhaltefolie eingeschlagenes Butterbrot zu essen, wobei immer auch etwas Sand zwischen den Zähnen knirschte.

Später briet mein Vater Fisch auf einem kleinen Grill, den er jedes Jahr eigenhändig aus Ziegeln und einem Rost baute, und ich saß im hohen Gras, las Bücher und wurde von Insekten gestochen.

Und weil man in den Ferien abends lange aufbleiben darf, fuhren wir danach noch nach Mousehole oder St Ives, kauften uns ein Eis und spazierten damit vor den Schaufenstern der Kunstgalerien im Hafen entlang. Manchmal verspeisten wir auch heiße, salzige Pommes oder kauften uns Buttertoffee, von dem ich völlig besessen war, obwohl mir davon immer schlecht wurde.

Das waren glückliche Zeiten, und es war mir so eine Freude, sie mir für mein erstes Buch über Mount Polbearne wieder in Erinnerung zu rufen. Damals unternahmen wir auch einen Tagesausflug nach St Michael’s Mount – wie es sich für Cornwallbesucher eben so gehört –, und ich weiß noch, wie gruselig und zugleich faszinierend ich es fand, als die Pflastersteine der alten Straße dorthin langsam in den Wellen verschwanden. Das war der romantischste und magischste Moment in meinem Leben, darum fand ich es auch so toll, an diesem Ort später meine Bücher spielen zu lassen. Wenn ich durch sie auch nur einen Bruchteil des Glücks weitergeben kann, das Cornwall in mein Leben gebracht hat … tja, dann wäre ich wirklich froh.

Jenny XXX

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KAPITEL 1

In dieser Geschichte geht es um ein bestimmtes Weihnachtsfest, eigentlich fing aber alles mit etwas wirklich Schlimmem an, was schon im Frühling passierte. Diesen verdammten Vorfall im Frühling werden wir nur kurz beleuchten, denn die Gezeiteninsel Mount Polbearne in Cornwall ist zu dieser Jahreszeit ein viel zu schönes Fleckchen Erde, um nicht davon zu erzählen.

Dort führt ein Fahrdamm zu einem uralten Örtchen, das früher mal mit dem Festland verbunden war, bis der Meeresspiegel anstieg. Jetzt verschlingt die Flut zweimal am Tag das alte Kopfsteinpflaster, was die kleine Stadt zu einem sowohl sehr romantischen als auch äußerst unpraktischen Wohnort macht.

Rund um einen Hafen mit einem kleinen Strand drängen sich Häuschen und Geschäfte, darunter Pollys kleine Bäckerei am Strandweg, die zur Unterscheidung von der ursprünglichen Inselbäckerei so genannt wird. Vielleicht fragt ihr euch jetzt, wie sich denn in so einem kleinen Ort gleich zwei Bäckereien halten können, aber dann habt ihr da offensichtlich noch nicht eingekauft. Polly ist unter den Bäckern nämlich so was wie Phil Collins unter den Schlagzeugern. Nee, Moment, das ist vielleicht nicht der passendste Vergleich. Na ja, auf jeden Fall kann ich euch versichern, dass sie wirklich toll backt.

Ihr Sauerteigbrot ist nussig und knackig und hat die allertollste Kruste, ihre Baguettes sind leicht und luftig. Sie macht köstliche, reichhaltige Focaccias mit Olivenöl und zarte, leicht herbe Käsescones. Neue Sachen probiert sie erst einmal zu Hause in der Leuchtturmküche aus, in der Bäckerei hat sie jedoch beeindruckende Industriebacköfen, darunter einen tollen Holzofen. Wenn der Duft ihrer Backwaren durch das kleine Städtchen wabert, zieht er Hungrige und Neugierige von nah und fern an.

Im Hafen gibt es außer der Bäckerei noch Andys Pub Red Lion. Dort nimmt man es mit den offiziellen Öffnungszeiten nicht immer so genau, vor allem, wenn der Biergarten mit den funkelnden Lichterketten an warmen Abenden voll ist und vom Wasser her der Duft der See herüberweht. Auch der supertolle, aber teure Fish-and-Chips-Wagen nebenan gehört Andy, der deshalb ein viel beschäftigter Mann ist. Im Hafen selbst klimpern und klappern die Kutter der Fischereiflotte, die früher den Menschen auf Mount Polbearne ihr Auskommen gesichert hat. Heute wird die Arbeit auf den Booten allerdings durch Jobs in der Tourismusbranche auf Platz zwei verwiesen.

Auf der Insel schlängeln sich kleine Kopfsteinpflasterstraßen den Hügel hinauf, der schon seit Generationen von denselben Familien bewohnt wird. Noch vor einiger Zeit plagte die Menschen hier die Angst, ihre Gemeinschaft würde nach und nach aussterben. Dann ist jedoch Polly hergezogen und hat die Bäckerei übernommen, nachdem ihr Grafikdesign-Unternehmen pleitegegangen war. Das fiel mit einer neuen Beliebtheit der Insel zusammen, in deren Zug auch ein schickes Fischrestaurant eröffnet hat, und manche halten Polly sogar für den Grund all dieser Veränderungen. Inzwischen werden auf der Insel auch wieder Kinder geboren, und man hat einfach das Gefühl, dass es bergauf geht.

Jetzt müssen nur alle gucken, wie sie ihre eigentlich zauberhaften, aber ziemlich heruntergekommenen Häuschen irgendwie renovieren können, ohne sie dafür an reiche Leute aus London und Exeter zu verscherbeln. Die würden sich nämlich unter der Woche hier nicht blicken lassen, auf Dauer allerdings die Preise so sehr in die Höhe treiben, dass die Menschen aus der Gegend sich hier nichts mehr leisten könnten.

Aber mal abgesehen von ein oder zwei Ausnahmen haben die Gezeiten und der Mangel an vernünftigem WLAN den Ort bislang mehr oder weniger vor einer Invasion bewahrt. Noch ist alles weitgehend so, wie es seit Hunderten von Jahren war, es könnte also schlimmer sein.

Der Sommer ist hier allerdings ein wenig verrückt, weil es immer voll ist und alle viel zu tun haben. Dann versucht nämlich jeder, in kurzer Zeit so viel Geld wie möglich zu verdienen, um damit durch den langen, kalten Winter zu kommen. Im Frühling läuft das Geschäft mit den Touristen nur langsam an, obwohl es um Ostern herum normalerweise einen kleinen Ansturm gibt. Erste Ausflügler reisen mit großer Hoffnung an und verbergen ihre Enttäuschung, wenn der Wind, der an diesem trügerischen Küstenabschnitt schon viele Schiffe zum Kentern gebracht hat, ihnen die Zuckerwatte ins Gesicht bläst. Sie müssen sich eingestehen, dass die Fischkutter im Hafen nicht nur für ihre Videokameras so beeindruckend auf und ab tanzen, sondern tatsächlich von Wellen mit weißer Schaumkrone hin und her geworfen werden. An Bord flicken immer noch Fischer mit roten Fingern Netze oder brüten heutzutage öfter mit gerunzelter Stirn über Computerausdrucken, um mit Informationen über Fischschwärme und ihre Bewegungen den möglichen Fang zu errechnen.

Dann verschwinden die enttäuschten Osterurlauber irgendwann wieder. (Aber die Triumphierenden, die bis zum Dienstag geblieben sind und dafür mit einem perfekten und zauberhaften goldenen Tag belohnt wurden, werden den ihren Freunden die nächsten fünf Jahre unter die Nase reiben.) Jetzt kann Mount Polbearne kurz verschnaufen, bevor die Menschenflut des Sommers über den Ort hereinbricht: Kinder mit Keschern und ihre Eltern, die von den Urlauben ihrer Kindheit träumen, als sie an breiten goldenen Stränden frei herumtollen durften. Die Erwachsenen merken dann aber rasch, dass der Fahrdamm links und rechts ja gar nicht abgesichert ist und die Flut unglaublich schnell kommt. Außerdem erfüllt das, was 1985 völlig okay war und von ihren Eltern erlaubt wurde, sie heute mit Entsetzen. Na ja, und darüber hinaus brauchen sie auch vernünftiges WLAN, was Mount Polbearne nun wirklich nicht bieten kann. Aber jetzt müssen sie eben das Beste daraus machen.

Im April atmet Mount Polbearne also einmal tief durch, und man kann beim Blick bis zum Festland sehen, wie die Bäume zu blühen beginnen und sich mit riesigen Girlanden in Weiß und Rosa schmücken. Tage, die kühl und unbeständig anbrechen, werden plötzlich mit strahlendem Sonnenschein belohnt. Wenn die Sonne den Morgennebel vertrieben hat, wird es langsam warm, und die sprießenden Pflanzen fangen zu duften an. Emsig bauen Vögel ihre Nester, und generell zeigt sich England im Frühling mit dem hellen Grün der knospenden Bäume und allgemein zauberhafter Stimmung einfach von seiner besten Seite.

Aber leider wird unsere Geschichte nicht lange hier verweilen, sondern beginnt nur in diesem Moment. Es ist generell eine Zeit des Neuanfangs, in der man Fleecepulli und Fernseher hinter sich lässt und ins frische Morgenlicht blinzelt.

Allerdings wurde die Idylle an diesem Apriltag nun davon unterbrochen, dass Polly Waterfords beste Freundin, die mit Huckles bestem Freund verheiratete blonde und schicke Kerensa, laut ins Telefon fluchte.

»Jetzt hör mal mit dem Geschimpfe auf«, bat Polly vernünftig und rieb sich die Augen. »Ich versteh ja kein Wort.«

Aber dann war die Verbindung zwischen Polbearne und dem Festland, wo Kerensa in einer riesigen und lächerlich prunkvollen Villa mit ihrem genialen (und ziemlich lauten) amerikanischen Ehemann Reuben lebte, mal wieder unterbrochen.

»Wer war das denn?«, fragte Huckle, der in der sonnigen Küche des von ihnen bewohnten Leuchtturms vor dem Toaster auf sein Brot wartete. Obwohl es für so spärliche Bekleidung eigentlich nicht warm genug war, trug er nur Boxershorts und ein verblichenes graues T-Shirt. Polly störte sich nicht daran. Heute war Sonntag, und damit ihr einzig freier Tag in der Woche. Und hier saß sie nun und überlegte, ob sie sich etwas von der gesalzenen Butter aus der Gegend aufs Brot schmieren sollte oder etwas von Huckles Produkten, zum Beispiel einen süßen Orangenblütenhonig, der gut zum sanften Wetter an diesem Morgen passte.

»Das war Kerensa«, erklärte Polly. »Und sie hat geschimpft wie ein Rohrspatz.«

»Tja, das klingt nach ihr. Worum ging es denn?«

Während Polly erfolglos ihre Freundin zurückzurufen versuchte, antwortete sie: »Ach, das könnte bei ihr doch alles Mögliche sein. Vermutlich hat sich Reuben mal wieder wie ein Arschloch benommen.«

»Davon können wir wohl ausgehen«, bemerkte Huckle mit gerunzelter Stirn, während er den Toaster nicht eine Sekunde aus den Augen ließ. »Mensch, es sollte wirklich mal jemand einen Hochgeschwindigkeitstoaster erfinden«, fügte er dann hinzu.

»Was?«, fragte Polly. »Einen Hochgeschwindigkeitstoaster?«

»Das Brot braucht viel zu lange«, beklagte sich Huckle.

»Wovon redest du da nur?«

»Ich hatte wirklich Lust auf Toast und wollte was von deinem Sauerteigbrot rösten, weil das ja den besten Toast der Welt ergibt.«

»Dann weiß ich jetzt endlich den Grund, warum du mit mir zusammen bist«, grinste Polly.

»O mein Gott, das duftet einfach so gut, ich kann es kaum erwarten, meine Zähne in diese tolle Sauerteigbrotscheibe zu schlagen.«

Als er auf den Knopf drückte, sprangen zwei noch nicht ganz fertig getoastete Scheiben goldgelbes Brot heraus. »Siehst du?« Er bearbeitete sie mit dem Messer. Die Butter war immer noch hart, weil sie direkt aus dem Kühlschrank kam, und riss ein Loch in die weiche Krume. Finster starrte Huckle auf seinen Teller. »Ich gerate jedes Mal in Panik und hole die Scheiben zu früh raus, und das versaut mir dann das ganze Toasterlebnis.«

»Dann mach doch einfach noch welchen.«

»Hab ich ja schon versucht, aber es funktioniert einfach nicht.«

Huckle schob trotzdem zwei weitere Scheiben in den Toaster. »Das Problem besteht darin, dass ich die erste Fuhre schon aufgegessen habe, bevor die zweite fertig ist. Es passiert jedes Mal dasselbe, das ist der reinste Teufelskreis.«

»Und wenn du dich einfach mit geöffnetem Mund über den Toaster beugst und wartest, bis dir das Brot in den Mund springt?«, schlug Polly vor.

»Ja, das hab ich mir auch schon überlegt«, nickte Huckle. »Vielleicht sollte ich mich dafür mit einer Sprühdose bewaffnen, um die Scheiben im Flug zu buttern. Dann muss ich sie nicht mit dem Messer malträtieren.«

»Dass ich mal jemanden treffen würde, der noch besessener von Brot ist als ich, hätte ich nicht gedacht. Und ich kann kaum glauben, dass ich das jetzt wirklich ausspreche, aber ich fürchte, dass du dir vielleicht zu viele Gedanken über das Thema Toast machst.«

»Wenn ich doch nur diesen Hochgeschwindigkeitstoaster erfinden könnte«, seufzte Huckle, »dann würde ich bestimmt mehr Geld verdienen als Reuben.«

Die getoasteten Scheiben sprangen nach oben. »Mund auf! SCHNELL! SCHNELL!«, rief Polly.

Danach gingen sie einfach wieder ins Bett, weil Polly als Bäckerin, im Gegensatz zu Huckle als Honigverkäufer, an allen anderen Tagen furchtbar früh aufstehen musste, sodass ihre Arbeitszeiten nur selten zusammenfielen.

Polly schickte Kerensa eine Nachricht, dass sie sich beruhigen sollte und sicher alles gut werden würde. Sie versprach außerdem, ihre Freundin später zurückzurufen, und stellte dann ihr Handy aus.

Und das würde sich als schrecklicher, schrecklicher Fehler herausstellen.

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KAPITEL 2

Eins sollten wir vielleicht klarstellen: Die ganze Angelegenheit war weder Pollys noch Huckles Schuld, sondern Kerensas, wie wir noch sehen werden. Ein kleines bisschen hatte es auch mit Selina zu tun, die es in einer Million Jahren nicht zugeben würde, aber Verrücktes tatsächlich noch unterstützte. (Manche Menschen sind einfach so, oder? Sie mischen die Dinge gern auf.)

Aber es war auch ein kleines bisschen Reubens Schuld, weil er – und das kann ich gar nicht oft genug betonen – selbst für seine Verhältnisse an diesem Tag ein echtes Arschloch war.

Er hatte nämlich ihren Hochzeitstag vergessen, ihren ersten Hochzeitstag! Und als Kerensa ihn darauf aufmerksam machte, meinte er nur, na ja, dass er in der Vergangenheit doch genug von diesem ganzen Romantikscheiß mitgemacht hätte. Seiner Meinung nach wäre es damit jetzt, wo sie verheiratet waren, nun aber wirklich gut, oder? Er hätte das schließlich alles brav erledigt, außerdem lief es doch super, und Handtaschen hätte sie inzwischen ja wohl genug, nicht wahr? Und jetzt müsse er sowieso ein Flugzeug nach San Francisco nehmen und Wichtiges mit seinem Börsenteam besprechen – was nur persönlich ging.

Kerensa beschwerte sich, weil sie von seiner Reise keine Ahnung gehabt hatte. Da entgegnete er nur, dass sie sich eben seinen Terminkalender hätte ansehen sollen, den ihr sein Assistent gemailt hatte. Als er erklärte, dass er in zwei Stunden losmusste, fragte Kerensa, ob sie nicht mitkommen könnte, weil sie gehört hatte, dass es in San Francisco im Frühling wirklich schön sei. Und da sagte Reuben nur, nein, das ginge wirklich nicht, weil er furchtbar beschäftigt sein würde. Dann küsste er sie zum Abschied und schlug ihr vor, vielleicht ein Stündchen in den Fitnessraum zu gehen, dafür hätten sie ihn doch schließlich eingerichtet.

Also, ihr seht wohl schon, was ich meine. Reuben hatte gar keine bösen Absichten, aber so war er nun mal: Wenn er arbeitete, dann verwandelte er sich in eine Art Steve Jobs und dachte eigentlich an niemanden mehr außer sich selbst. Und deshalb war er eben auch so reich wie Steve Jobs, zumindest mehr oder weniger. Auf jeden Fall war er eine ziemlich große Nummer.

Und da stand Kerensa nun mutterseelenallein im riesigen luxuriösen Flur ihres enormen, unglaublichen Hauses mit seinem eigenen Strand an der Nordküste von Cornwall und zog in Erwägung, erst einmal eine Runde zu heulen. Aber dann beschloss sie, doch lieber wütend zu werden. In letzter Zeit lief das nämlich immer öfter so, und Reuben schien einfach nicht zu verstehen, dass Kerensa nicht an Reubens persönlichen Assistenten verwiesen werden wollte. Der war nämlich Amerikaner und supercool und trug teure Klamotten, und Kerensa fühlte sich durch ihn ein wenig eingeschüchtert, obwohl ihr doch sonst wenig imponierte. Außerdem bekam sie Reuben ja kaum noch zu Gesicht, seitdem er letztes Jahr nach seiner Beinahepleite wieder voll durchgestartet war.

Kerensa beschloss also, wütend zu werden, und rief stinksauer Polly an. Die hatte an ihrem freien Tag aber erstens schlechten Empfang, zweitens wichtige Fragen zum Thema Toast mit Huckle zu erörtern und zeigte vor allem nicht das Mitgefühl, das Kerensa unter diesen Umständen gebraucht hätte. Dies sollte Polly später bitter bereuen.

Also rief Kerensa ihre andere Freundin an, Selina, die vor zwei Jahren selbst eine schlimme Zeit durchgemacht hatte, als sie Witwe geworden war. Deshalb wurde sie gelegentlich immer noch ein wenig weinerlich. Selina hatte früher auf dem Festland gelebt und war beruflich erfolgreich gewesen, bevor sie sich aus Versehen in einen Fischer verliebt hatte.

Und jetzt hatte sie eine tolle Idee: Da ihr auch furchtbar langweilig war, schlug sie einen Trip nach Plymouth vor, um dort ins schickste Restaurant zu gehen und die teuersten Sachen von der Karte zu bestellen. Die Rechnung könnte Kerensa dann an Reuben schicken und ihm für das schöne Geschenk zum Hochzeitstag danken, wenn sie ihn das nächste Mal sah.

Kerensa fand den Vorschlag toll, also machten sie genau das. Was mit einem Mittagessen und weitschweifigen, endlosen Klagen über die Männer in ihrem Leben losging, lief allerdings ein wenig aus dem Ruder. Sie trafen eine Gruppe junger Frauen bei einem Junggesellinnenabschied, die sie sofort in ihre Runde aufnahmen, und schauten sich mit ihnen zusammen dann eine »Tanzshow« an. Ich überlasse es mal eurer Fantasie, um was für eine Art von Spektakel es sich dabei handelte, auf jeden Fall kam dabei ziemlich viel Babyöl zum Einsatz. Außerdem gab es in diesem »Tanzlokal« eindrucksvolle Männer mit brasilianischem Akzent und flambierten Sambuca, und danach begann in Kerensas Gedächtnis alles zu verschwimmen. Als sie am nächsten Morgen in einem unglaublich schicken Hotel aufwachte, konnte sie sich noch vage daran erinnern, dass sie zu unchristlicher Zeit an die Rezeption gewankt war und mit einer Platinum-Kreditkarte gewedelt hatte. Und sie erinnerte sich auch noch an etwas anderes, und zwar so genau, dass sie sich die Szenen am liebsten hätte rausoperieren lassen, wenn das denn möglich gewesen wäre.

Er war bereits weg, in der Dusche entdeckte sie jedoch ein langes schwarzes Haar.

Ich weiß, übel, oder? Ich hatte euch ja gewarnt.

Oh, und es kommt noch schlimmer. Denkt mal an etwas Bedauernswertes, was ihr irgendwann in einer wilden Partynacht angestellt habt, und multipliziert es mit einer Million.

Kerensa kehrte mit einer kichernden, nur leicht katergeschädigten Selina nach Hause zurück, die das alles zum Schreien fand. Sie war aber offenbar auch geistesgegenwärtig genug gewesen, selbst immer schön viel Wasser zu trinken, so eine Art von Freundin war die nämlich. Jedenfalls erkannte Kerensa dann, dass Polly ein furchtbar schlechtes Gewissen gehabt haben musste, weil sie sich nicht um ihre Freundin gekümmert hatte. Deshalb hatte sie Reuben angerufen und ihm quasi befohlen, nach Hause zu fliegen und nett zu seiner Frau zu sein.

Also hatte Reuben seine Termine in San Francisco verschoben, sich auf den Rückweg gemacht und im Duty-Free-Shop jedes einzelne Parfüm gekauft, weil er nicht mehr wusste, welches seiner Frau gefiel. Nun marschierte er ins Haus, wo eine unglückliche Kerensa sich den ganzen Morgen übergeben hatte und mit einer Mischung aus Katerstimmung und schlechtem Gewissen die Kacheln im Badezimmer entlanggekrochen war. Er zog Kerensa in seine Arme, schwor ihr seine unsterbliche Liebe und versuchte dann, sie dramatisch die Treppe hinaufzutragen. Das klappte allerdings nicht, weil er die ganze Nacht im Flugzeug gesessen hatte und weil Kerensa nicht nur fünf Zentimeter größer war als er, sondern auch gerade am liebsten gestorben wäre. Aber sie taten zusammen trotzdem ihr Bestes, während die frühe Aprilsonne durch die riesigen, vom Fußboden bis zur Decke reichenden Fenster in ihr weitläufiges, kreisrundes Schlafzimmer fiel auf ihr groteskes/spektakuläres Bett (bitte je nach persönlicher Vorliebe streichen). Und danach nahm Reuben Kerensa während der nächsten sechs Monate überallhin mit.

Das war also diese furchtbare Sache, die im April passiert ist. Und wenn das hier ein Film wäre, dann würde an dieser Stelle zu unheilvoller Musik der Vorspann beginnen …