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Elena und Lila sind inzwischen erwachsene Frauen. Lila hat einen Sohn bekommen und sich von allem befreit, von der Ehe, von ihrem neuen Namen, vom Wohlstand. Sie hat ihrem alten Viertel den Rücken gekehrt, arbeitet unter entwürdigenden Bedingungen in einer Wurstfabrik und befindet sich unversehens im Zentrum politischer Tumulte. Elena hat Neapel ganz verlassen, das Studium beendet und ihren ersten Roman veröffentlicht. Als sie in eine angesehene norditalienische Familie einheiratet und ihrerseits ein Kind bekommt, hält sie Ihren gesellschaftlichen Aufstieg für vollendet. Doch schon bald muss sie feststellen, dass sie ständig an Grenzen gerät.

 

 

Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga besteht aus Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes. Diese Bücher erscheinen in 50 Ländern und haben sich millionenfach verkauft.

 

Karin Krieger übersetzt aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.

 

Im Februar 2018 erscheint:

Band 4: Die Geschichte des Verlorenen Kindes

 

#FerranteFever

www.elenaferrante.de

 

 

Elena Ferrante

Die Geschichte der
getrennten Wege

Erwachsenenjahre

Band 3
der Neapolitanischen Saga

Roman

Aus dem Italienischen
von Karin Krieger

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Storia di chi fugge e di chi resta bei Edizioni e/o, Rom.

 

Dieses Buch ist dank einer Übersetzungsförderung seitens
des Italienischen Außenministeriums und der
Cooperazione Internazionale Italiana erschienen.

 

 

Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes
sowie alle darin enthaltenen Namen und Dialoge sind erfunden
und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin.
Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen
und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.
Auch die Erwähnung real existierender Institutionen, Zeitungen,
Zeitschriften und Bücher unterliegt der rein fiktionalen
Gestaltung des Werkes.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2017.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© 2013 by Edizioni e/o

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagillustration: © Emiliano Ponzi / 2agenten

Umschlaggestaltung: Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin

eISBN 978-3-518-76797-9

www.suhrkamp.de

Die handelnden Personen und was in den vorhergehenden Bänden geschah

 

Familie Cerullo
(die Familie des Schuhmachers)

 

Fernando Cerullo, Schuster, Lilas Vater. Er erlaubte seiner Tochter nach der Grundschule keinen weiteren Schulbesuch.

Nunzia Cerullo, Lilas Mutter. Sie steht ihrer Tochter zwar nahe, hat aber nicht genügend Autorität, um sich für Lila gegen ihren Mann durchzusetzen.

Ihre Kinder:

Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, ist im August 1944 geboren. Mit sechsundsechzig Jahren verschwindet sie spurlos aus Neapel. Sie ist eine hervorragende Schülerin und schreibt im Alter von zehn Jahren die Erzählung Die blaue Fee. Nach Abschluss der Grundschule erlernt sie das Schuhmacherhandwerk. Sehr jung heiratet sie Stefano Carracci und führt erfolgreich zunächst die Salumeria im neuen Viertel und später das Schuhgeschäft an der Piazza dei Martiri. Während eines Ferienaufenthalts auf Ischia verliebt sie sich in Nino Sarratore und verlässt seinetwegen ihren Ehemann. Nach dem Scheitern der wilden Ehe mit Nino und nach der Geburt ihres Sohnes Gennaro verlässt Lila Stefano endgültig, als sie erfährt, dass Ada Cappuccio ein Kind von ihm erwartet. Sie zieht mit Enzo Scanno nach San Giovanni a Teduccio und nimmt eine Arbeit in der Wurstfabrik von Bruno Soccavo an.

Rino Cerullo, Lilas großer Bruder, ebenfalls Schuhmacher. Auf Lilas Anregung und mit dem Geld von Stefano Carracci gründet er gemeinsam mit seinem Vater Fernando die Schuhmacherei Cerullo. Er ist mit Stefanos Schwester Pinuccia Carracci verheiratet, ihr gemeinsamer Sohn heißt Ferdinando, genannt Dino. Lilas erstes Kind wird den Namen ihres Bruders – Rino – tragen.

Weitere Kinder

 

 

Familie Greco
(die Familie des Pförtners)

 

Elena Greco, genannt Lenuccia oder Lenù, ist im August 1944 geboren und die Autorin der langen Geschichte, die wir hier lesen. Elena beginnt sie zu schreiben, als sie erfährt, dass Lina Cerullo, ihre Freundin seit Kindertagen, die nur von ihr Lila genannt wird, verschwunden ist. Nach der Grundschule geht Elena mit wachsendem Erfolg weiter zur Schule. Dank ihrer guten Leistungen und der Protektion durch ihre Lehrerin, Professoressa Galiani, übersteht sie auf dem Gymnasium unbeschadet eine Auseinandersetzung mit dem Religionslehrer über die Rolle des Heiligen Geistes. Ermuntert durch Nino Sarratore, in den sie seit ihrer Kindheit heimlich verliebt ist, und mit Lilas wertvoller Hilfe wird sie einen Artikel über diesen Streit schreiben, der aber von der Zeitschrift, für die Nino arbeitet, am Ende doch nicht veröffentlicht wird. Elenas brillante schulische Laufbahn wird zum einen mit einem Diplom der Scuola Normale gekrönt, einer Eliteuniversität in Pisa, wo sie Pietro Airota kennenlernt und sich mit ihm verlobt, und zum anderen mit einem Roman, in dem sie das Leben im Rione und ihre Jugenderlebnisse auf Ischia verarbeitet.

Peppe, Gianni und Elisa, Elenas jüngere Geschwister

Der Vater ist Pförtner in der Stadtverwaltung.

Die Mutter ist Hausfrau. Ihr Hinken ist für Elena eine große Belastung.

 

 

Familie Carracci
(die Familie von Don Achille)

 

Don Achille Carracci, der Unhold aus den Märchen, Schwarzhändler und Halsabschneider. Er wurde ermordet.

Maria Carracci, seine Frau. Sie arbeitet in der familieneigenen Salumeria.

Ihre Kinder:

Stefano Carracci, Lilas Ehemann. Er verwaltet das von seinem Vater angehäufte Vermögen und wird mit der Zeit ein erfolgreicher Geschäftsmann, dank der zwei gut gehenden Salumerias und des Schuhgeschäfts an der Piazza dei Martiri, das er gemeinsam mit den Solara-Brüdern eröffnet hat. Unzufrieden in der turbulenten Ehe mit Lila, beginnt er eine Affäre mit Ada Cappuccio, mit der er zusammenzieht, als sie schwanger wird und Lila nach San Giovanni a Teduccio geht.

Pinuccia Carracci, sie arbeitet zunächst in der familieneigenen Salumeria und später im Schuhgeschäft. Sie ist mit Lilas Bruder Rino verheiratet und hat einen Sohn mit ihm, Ferdinando, genannt Dino.

Alfonso Carracci, er ist Elenas Banknachbar auf dem Gymnasium und mit Marisa Sarratore liiert. Er wird das Schuhgeschäft an der Piazza dei Martiri leiten.

 

 

Familie Peluso
(die Familie des Tischlers)

 

Alfredo Peluso, Tischler. Kommunist. Des Mordes an Don Achille angeklagt und verurteilt, muss er ins Gefängnis, wo er stirbt.

Giuseppina Peluso, seine Frau. Arbeiterin in der Tabakfabrik. Als ihr Mann stirbt, nimmt sie sich das Leben.

Ihre Kinder:

Pasquale Peluso, der älteste Sohn. Maurer, militanter Kommunist. Er ist der erste Junge, der Lilas Schönheit erkennt und ihr eine Liebeserklärung macht. Er verabscheut die Solaras und war mit Ada Cappuccio verlobt.

Carmela Peluso, nennt sich auch Carmen. Verkäuferin in einem Kurzwarengeschäft. Durch Lilas Vermittlung wird sie in Stefanos neuer Salumeria angestellt. Sie war lange mit Enzo Scanno zusammen, doch nach seinem Militärdienst verlässt er sie ohne eine Erklärung. Später verlobt sie sich mit dem Tankwart des Stradone.

Weitere Kinder

 

 

Familie Cappuccio
(die Familie der verrückten Witwe)

 

Melina, Witwe, verwandt mit Nunzia Cerullo. Sie putzt die Treppen in den Wohnblocks des Rione und war die Geliebte von Donato Sarratore, Ninos Vater. Wegen dieser Liebschaft zogen die Sarratores weg aus dem Rione, und Melina verliert den Verstand.

Melinas Mann schleppte Kisten auf dem Obst- und Gemüsemarkt und starb unter ungeklärten Umständen.

Ihre Kinder:

Ada Cappuccio, von klein auf musste sie ihrer Mutter beim Treppenputzen helfen. Mit Lilas Hilfe wird sie als Verkäuferin in der Salumeria im Rione angestellt. Nachdem sie lange mit Pasquale Peluso verlobt war, wird sie Stefano Carraccis Geliebte. Als sie schwanger wird, zieht sie zu ihm. Aus ihrer Beziehung geht eine Tochter hervor, Maria.

Antonio Cappuccio, Automechaniker. Er war Elenas Freund und ist extrem eifersüchtig auf Nino Sarratore. Seine mögliche Einberufung zum Militärdienst beunruhigt ihn sehr, aber als Elena sich an die Solara-Brüder wendet, um ihn davor zu bewahren, ist er zutiefst gekränkt und setzt ihrer Beziehung ein Ende. Während seiner Armeezeit bekommt er eine schwere Nervenkrankheit und wird vorzeitig entlassen. Von Armut getrieben, begibt er sich nach seiner Rückkehr in die Dienste Michele Solaras, der ihn für einen langen, undurchsichtigen Auftrag nach Deutschland schickt.

Weitere Kinder

 

 

Familie Sarratore
(die Familie des dichtenden Eisenbahners)

 

Donato Sarratore, Zugschaffner, Dichter, Journalist. Ein Frauenheld, der der Geliebte von Melina Cappuccio war. Als Elena auf Ischia Ferien macht und im selben Haus wie die Sarratores zu Gast ist, muss sie die Insel überstürzt verlassen, um sich Donatos sexuellen Belästigungen zu entziehen. Sie gibt sich ihm allerdings im darauffolgenden Sommer aus Kummer über die Affäre zwischen Nino und Lila am Strand hin. Um dieses erniedrigende Erlebnis zu bannen, schreibt Elena in ihrem Buch darüber, das später veröffentlicht wird.

Lidia Sarratore, Donatos Frau

Ihre Kinder:

Nino Sarratore, der älteste Sohn, hasst seinen Vater. Er ist ein ausgezeichneter Schüler und hat mit Lila eine lange, heimliche Affäre, die nach einem extrem kurzen Zusammenleben endet, als Lila schwanger wird.

Marisa Sarratore, sie ist mit Alfonso Carracci zusammen.

Pino, Clelia und Ciro Sarratore, die jüngeren Kinder

 

 

Familie Scanno
(die Familie des Gemüsehändlers)

 

Nicola Scanno, Gemüsehändler, stirbt an einer Lungenentzündung.

Assunta Scanno, seine Frau, stirbt an Krebs.

Ihre Kinder:

Enzo Scanno, ebenfalls Gemüsehändler. Lina hat ihn seit ihrer Kindheit sehr gern. Enzo war lange mit Carmen Peluso verlobt, die er nach Abschluss seines Militärdienstes aber ohne eine Erklärung verlässt. Bei der Armee beginnt er sich weiterzubilden und erwirbt im Fernstudium einen Abschluss als Techniker. Als Lila beschließt, Stefano endgültig zu verlassen, kümmert Enzo sich um sie und ihren Sohn Gennaro und bringt sie in eine Wohnung in San Giovanni a Teduccio.

Weitere Kinder

 

 

Familie Solara
(die Familie des Besitzers der gleichnamigen Bar-Pasticceria)

 

Silvio Solara, Besitzer der Solara-Bar, Monarchist und Faschist. Als Camorra-Mitglied ist er in illegale Geschäfte im Rione verwickelt. Er stellt sich gegen die Gründung der Schuhmacherei Cerullo.

Manuela Solara, seine Frau, Wucherin. Ihr rotes Buch ist im Rione sehr gefürchtet.

Ihre Kinder:

Marcello und Michele Solara. Obwohl sie großspurig und rücksichtslos auftreten, sind sie der Schwarm aller Mädchen im Rione, Lila natürlich ausgenommen. Marcello verliebt sich in Lila, aber sie weist ihn ab. Michele ist etwas jünger als Marcello, doch kaltblütiger, intelligenter und brutaler. Er ist mit Gigliola Spagnuolo, der Tochter des Konditors, verlobt, doch im Laufe der Jahre entwickelt er eine krankhafte Obsession für Lila.

 

 

Familie Spagnuolo
(die Familie des Konditors)

 

Signor Spagnuolo, Konditor in der Solara-Bar

Rosa Spagnuolo, seine Frau

Ihre Kinder:

Gigliola Spagnuolo, verlobt mit Michele Solara

Weitere Kinder

 

 

Familie Airota

 

Guido Airota, Professor für griechische Literatur

Adele Airota, seine Frau. Sie arbeitet für den Mailänder Verlag, in dem Elenas Roman veröffentlicht wird.

Ihre Kinder:

Mariarosa Airota, die älteste Tochter, Dozentin für Kunstgeschichte in Mailand

Pietro Airota, Elenas Kommilitone und ihr Verlobter, er hat eine glänzende Universitätslaufbahn vor sich.

 

 

Die Lehrer

 

Maestro Ferraro, Grundschullehrer und Bibliothekar. Er verleiht Lila und Elena in der Grundschule einen Preis für eifriges Lesen.

Maestra Oliviero, Grundschullehrerin. Sie erkennt Lilas und Elenas Fähigkeiten als Erste. Elena, der Lilas Erzählung Die blaue Fee sehr gefallen hat, gibt sie Maestra Oliviero zur Lektüre. Verärgert darüber, dass Lilas Eltern sich geweigert haben, ihre Tochter auf die Mittelschule zu schicken, äußert sich die Lehrerin nie zu der Erzählung und hört sogar auf, sich um Lila zu kümmern. Sie konzentriert sich nur noch auf Elenas Werdegang. Nach langer Krankheit stirbt sie kurz nach Elenas Studienabschluss.

Professor Gerace, Gymnasiallehrer in der Unterstufe

Professoressa Galiani, Gymnasiallehrerin in der Oberstufe, hochgebildet, Kommunistin. Sie ist sofort von Elenas Intelligenz beeindruckt, leiht ihr Bücher, nimmt sie bei einem Streit gegen den Religionslehrer in Schutz und lädt sie zu einer Party ihrer Kinder zu sich nach Hause ein. Das Verhältnis zwischen ihr und Elena kühlt sich ab, als der leidenschaftlich für Lila schwärmende Nino ihre Tochter Nadia verlässt.

 

 

Weitere Personen

 

Gino, der Sohn des Apothekers. Er war Elenas erster Freund.

Nella Incardo, Maestra Olivieros Cousine. Sie wohnt in Barano auf Ischia und vermietet im Sommer einige Zimmer ihres Hauses an Familie Sarratore. Sie beherbergt auch Elena während eines Ferienaufenthaltes am Meer.

Armando Galiani, Medizinstudent, Sohn von Professoressa Galiani

Nadia Galiani, Studentin, Tochter von Professoressa Galiani und die Freundin Ninos, der ihr einen Abschiedsbrief schreibt, als er sich in Lila verliebt

Bruno Soccavo, ein Freund Nino Sarratores und der Sohn eines reichen Industriellen aus San Giovanni a Teduccio. Er gibt Lila Arbeit in der Wurstfabrik seiner Familie.

Franco Mari, Student und in den ersten Universitätsjahren Elenas Freund

ERWACHSENENJAHRE

 

1

Das letzte Mal habe ich Lila vor fünf Jahren gesehen, im Winter 2005. Wir schlenderten früh am Morgen unsere Straße, den Stradone, entlang, und wie nun schon seit Jahren gelang es uns nicht, uns miteinander wohlzufühlen. Nur ich redete, das weiß ich noch. Sie sang vor sich hin, grüßte die Leute, die aber nicht zurückgrüßten, und die wenigen Male, da sie mich unterbrach, gab sie nur Ausrufe von sich, die keinen erkennbaren Zusammenhang mit dem hatten, was ich sagte. Im Laufe der Zeit war zu viel Schlimmes, teils auch Entsetzliches, geschehen, und um wieder Vertrauen fassen zu können, hätten wir uns verschwiegene Gedanken erzählen müssen, aber mir fehlte die Kraft, um sie zu formulieren, und Lila, die diese Kraft vielleicht besaß, hatte keine Lust dazu, sah keinen Sinn darin.

Ich hatte sie jedenfalls sehr gern, und immer wenn ich nach Neapel kam, wollte ich mich mit ihr treffen, auch wenn ich zugegebenermaßen etwas Angst davor hatte. Sie hatte sich sehr verändert. Das Alter hatte uns beide besiegt, aber während ich nun gegen einen Hang zum Übergewicht ankämpfte, war sie nach wie vor nur Haut und Knochen. Sie hatte kurzes Haar, das sie sich selbst schnitt, schlohweiß nicht weil sie sich bewusst dafür entschieden hätte, sondern aus Nachlässigkeit. Ihr stark gezeichnetes Gesicht erinnerte immer mehr an das ihres Vaters. Sie lachte überdreht, fast kreischend, und sprach zu laut. Sie gestikulierte in einem fort, mit einer so wilden Entschlossenheit, dass es aussah, als wollte sie die Wohnblocks zerhacken, die Straße, die Passanten, mich.

Wir waren auf der Höhe unserer Grundschule, als uns ein junger Mann, den ich nicht kannte, atemlos überholte und Lila zurief, man habe in den Grünanlagen neben der Kirche eine Frauenleiche gefunden. Wir liefen zu dem kleinen Park, und sich grob den Weg bahnend zog Lila mich in die Ansammlung von Schaulustigen hinein. Die Frau lag auf der Seite, war außerordentlich dick und trug einen unmodernen, dunkelgrünen Regenmantel. Lila erkannte sie sofort, ich nicht. Es war unsere Freundin aus Kindertagen Gigliola Spagnuolo, Michele Solaras Exfrau.

Ich hatte sie jahrzehntelang nicht gesehen. Ihr schönes Gesicht war entstellt, ihre Fußgelenke waren stark geschwollen. Die ehemals braunen Haare waren nun feuerrot und so lang, wie sie sie als junges Mädchen getragen hatte, jedoch dünn, auf der lockeren Erde ausgebreitet. Nur an einem Fuß trug sie einen flachen, stark abgenutzten Schuh; der andere Fuß steckte in einem grauen, am großen Zeh durchlöcherten Wollstrumpf, und der Schuh lag einen Meter weiter, als hätte sie ihn verloren, als sie nach einem Schmerz oder nach einem Schrecken getreten hatte. Ich brach in Tränen aus, Lila sah mich ärgerlich an.

Auf einer Bank in der Nähe warteten wir schweigend, bis man Gigliola wegbrachte. Was ihr passiert war, wie sie gestorben war, wusste man zunächst nicht. Wir gingen zu Lila, in die alte, kleine Wohnung ihrer Eltern, in der sie nun mit ihrem Sohn Rino lebte. Wir redeten über unsere Freundin, Lila sprach schlecht über sie, über das Leben, das sie geführt hatte, über ihre Anmaßungen, über ihre Gemeinheiten. Diesmal war ich es, die nicht zuhören konnte, ich musste an dieses zur Seite gedrehte Gesicht auf der Erde denken, daran, wie schütter das lange Haar gewesen war, an die Flecken weißlicher Kopfhaut. Wie viele Frauen, damals kleine Mädchen wie wir, lebten nun nicht mehr, waren von der Erde verschwunden, weil sie krank geworden waren, weil ihre Nerven dem Schleifpapier der Qualen nicht standgehalten hatten, weil ihr Blut vergossen worden war. Wir blieben eine kurze Weile in der Küche sitzen, ohne dass sich eine von uns dazu aufraffte, das Geschirr abzuräumen, dann gingen wir erneut aus dem Haus.

Die Sonne dieses schönen Wintertages ließ die Dinge heiter erscheinen. Der Rione hatte sich im Gegensatz zu uns überhaupt nicht verändert. Die niedrigen, grauen Häuser, der Hof unserer Kinderspiele, der Stradone, die dunklen Öffnungen des Tunnels und die Gewalt hatten die Zeit überdauert. Aber die Landschaft ringsumher war nun eine andere. Das grünliche Areal der Teiche existierte nicht mehr, die alte Konservenfabrik war verschwunden. Stattdessen gab es funkelnde Wolkenkratzer aus Glas, einst das Sinnbild einer strahlenden Zukunft, an die kein Mensch je geglaubt hatte. Ich hatte alle diese Veränderungen im Laufe der Jahre bemerkt, manchmal neugierig, doch meistens unaufmerksam. Als kleines Mädchen hatte ich mir vorgestellt, dass Neapel jenseits des Rione Wunder für mich bereithielt. So hatte es mich vor Jahrzehnten stark beeindruckt, wie der Wolkenkratzer am Hauptbahnhof Stockwerk für Stockwerk in die Höhe gewachsen war, ein Rohbau neben dem kühnen Bahnhof, der uns damals himmelhoch vorkam. Wie erstaunt ich gewesen war, als ich an der Piazza Garibaldi vorübergekommen war: »Sieh doch nur, wie hoch der ist«, sagte ich zu Lila, zu Carmen, zu Pasquale, zu Ada, zu Antonio, zu allen meinen damaligen Gefährten, mit denen ich mich zum Meer aufmachte, zu den Randgebieten der reichen Viertel. ›Da oben‹, dachte ich, ›wohnen die Engel, und bestimmt genießen sie den Blick über die ganze Stadt.‹ Dort hinaufzuklettern, bis ganz nach oben, das hätte mir sehr gefallen. Das war unser Wolkenkratzer, obwohl er nicht im Rione stand, ein Gebilde, das wir von Tag zu Tag wachsen sahen. Doch dann wurden die Arbeiten eingestellt. Als ich aus Pisa nach Hause zurückkam, schien mir der Wolkenkratzer am Bahnhof weniger das Symbol einer sich erneuernden Gemeinschaft zu sein als vielmehr ein weiterer Herd mangelnder Effizienz.

Damals erkannte ich, dass es keinen großen Unterschied zwischen unserem Rione und Neapel gab, das Unbehagen fand sich unterschiedslos hier wie dort. Bei jeder Rückkehr fand ich eine morschere Stadt vor, die dem Wechsel der Jahreszeiten, der Hitze, der Kälte und vor allem den Unwettern nicht standhielt. Mal war der Bahnhof an der Piazza Garibaldi überschwemmt, mal war die Galleria gegenüber dem Museum eingestürzt, mal gab es einen Erdrutsch, und das elektrische Licht kam nicht wieder. In meiner Erinnerung gab es dunkle Straßen voller Gefahren, einen immer chaotischeren Verkehr, Schlaglöcher, große Pfützen. Die vollen Gullys sprudelten und liefen über. Von den mit neuen, hingepfuschten Bauten überladenen Hügeln ergossen sich Ströme von Wasser, Jauche, Abfall und Bakterien ins Meer oder erodierten die unterirdische Welt. Man starb durch Fahrlässigkeit, Korruption und Gewalt, und doch unterstützten die Leute bei jeder Wahl begeistert die Politiker, die ihnen das Leben unerträglich machten. Sowie ich aus dem Zug gestiegen war, bewegte ich mich an den Orten, an denen ich aufgewachsen war, mit Vorsicht und achtete darauf, stets Dialekt zu sprechen, wie um zu signalisieren: Tut mir nichts, ich bin eine von euch.

In der Zeit, als ich mein Studium absolvierte, als ich eine Erzählung wie aus einem Guss schrieb, die nach wenigen Monaten völlig unerwartet zu einem Buch wurde, schienen sich die Dinge in der Welt, aus der ich kam, weiter zu verschlechtern. Während ich mich in Pisa, in Mailand wohlfühlte und manchmal sogar glücklich war, fürchtete ich bei jeder Rückkehr in meine Heimatstadt, dass ein unvorhergesehener Zwischenfall mich daran hindern könnte, sie wieder zu verlassen, dass mir alles, was ich mir erobert hatte, weggenommen werden könnte. Dann hätte ich nicht zu Pietro zurückgekonnt, den ich schon bald heiraten sollte; mir wäre ein so hübscher Ort wie der Verlag verwehrt geblieben; ich hätte nicht mehr von der vornehmen Art Adeles profitieren können, meiner künftigen Schwiegermutter, einer Mutter, wie meine nie gewesen war. Die Stadt war mir schon früher überfüllt erschienen, ein einziges Gedrängel von der Piazza Garibaldi bis nach Forcella, nach Duchesca, nach Lavinaio, bis zum Rettifilo. Ende der sechziger Jahre hatte ich den Eindruck, dass das Gewühl noch dichter geworden war und Ungeduld und Aggressivität ausuferten. Eines Morgens hatte ich mich zur Via Mezzocannone aufgemacht, dorthin, wo ich einige Jahre zuvor in einem Buchladen Verkäuferin gewesen war. Ich war aus Neugier hingefahren, um den Ort wiederzusehen, an dem ich so hart gearbeitet hatte, vor allem aber, um einen Blick auf die Universität zu werfen, die ich nie betreten hatte. Ich wollte sie mit der von Pisa vergleichen, mit der Scuola Normale, und hoffte sogar, zufällig den Kindern von Professoressa Galiani – Armando und Nadia – zu begegnen und mich mit dem brüsten zu können, was ich erreicht hatte. Aber der Weg und das Universitätsgelände hatten mich eingeschüchtert, alles war voller Studenten aus Neapel und dem gesamten Süden, gutgekleidete, laute, selbstbewusste junge Menschen und dazu Jugendliche mit ungehobelten und zugleich unterwürfigen Manieren. Sie drängten sich vor den Eingängen, in den Hörsälen und vor den Sekretariaten, wo sich lange und nicht selten rauflustige Schlangen bildeten. Wenige Schritte von mir entfernt hatten drei, vier Studenten ohne Vorwarnung angefangen sich zu prügeln, als genügte es ihnen schon, sich zu sehen, um mit Beschimpfungen und Schlägen aufeinander loszugehen, ein männliches Wüten, das seinen Blutdurst in einem Dialekt herausschrie, den nicht einmal ich ohne weiteres verstand. Ich war schnell davongelaufen, als hätte mich an einem Ort, den ich für sicher und ausschließlich von Vernunft bewohnt gehalten hatte, etwas Gefährliches gestreift.

Kurz, mit jedem Jahr hatte ich einen schlimmeren Eindruck. In der regnerischen Zeit damals hatte die Stadt neue Risse bekommen, ein ganzer Palazzo hatte sich zur Seite geneigt wie ein Mensch, der sich auf die wurmstichige Armlehne eines alten Sessels stützt, woraufhin sie nachgibt. Tote, Verletzte. Und Schreie, Schlägereien, Knallkörper. Es schien, als hegte die Stadt eine Wut, die keinen Weg hinaus fand und sie deshalb innerlich zerfraß oder auf ihrer Oberfläche Pusteln bildete, prall von Gift gegen alle, gegen Kinder, Erwachsene, Leute aus anderen Städten, NATO-Amerikaner, Touristen aus aller Herren Länder und gegen die Neapolitaner selbst. Wie konnte man es an diesem chaotischen, gefährlichen Ort nur aushalten, am Stadtrand, im Zentrum, auf den Hügeln, unterhalb des Vesuvs? Was für einen hässlichen Eindruck hatte San Giovanni a Teduccio auf mich gemacht, auch die Fahrt dorthin. Was für einen hässlichen Eindruck hatte die Fabrik, in der Lila arbeitete, auf mich gemacht, und Lila selbst auch, Lila mit ihrem kleinen Sohn, Lila, die in einem heruntergekommenen Neubau mit Enzo zusammenwohnte, obwohl sie nicht mit ihm schlief. Sie hatte gesagt, er wolle die Funktionsweise elektronischer Rechner studieren und sie wolle ihm dabei helfen. Ihre Stimme hatte sich mir eingeprägt, mit der sie versucht hatte, San Giovanni, die Würste, den Gestank der Fabrik und ihren eigenen Zustand wegzuwischen, indem sie mir mit gespielter Sachkunde Begriffe aufzählte wie: Kybernetisches Zentrum der Mailänder Statale und Sowjetisches Zentrum für die Anwendung von Rechnern in den Gesellschaftswissenschaften. Sie wollte mir weismachen, dass demnächst auch in Neapel ein solches Zentrum entstehen würde. Ich hatte gedacht: in Mailand vielleicht, in der Sowjetunion bestimmt, aber nicht hier, hier sind das die fixen Ideen deines unkontrollierbaren Hirns, in die du jetzt auch noch den armen, zutiefst ergebenen Enzo hineinziehst. Stattdessen lieber weggehen. Für immer abhauen, weit weg aus dem Leben, das wir von Geburt an geführt hatten. Sich in einer gut entwickelten Gegend niederlassen, wo wirklich alles möglich war. Ich hatte mich tatsächlich davongemacht. Aber nur, um in den darauffolgenden Jahrzehnten festzustellen, dass ich mich geirrt hatte, dass dies nur eine Kette mit immer größeren Gliedern war: Der Rione verwies auf die Stadt, die Stadt auf Italien, Italien auf Europa, Europa auf den ganzen Planeten. Und heute sehe ich das so: Nicht der Rione ist krank, nicht Neapel, die ganze Erde ist es, das Universum ist es, oder die Universen. Und die Kunst besteht darin, den wahren Zustand der Dinge vor anderen und vor sich selbst zu verbergen.

Darüber sprach ich an jenem Nachmittag im Winter 2005 mit Lila, eindringlich und wie um Abbitte zu leisten. Ich wollte anerkennen, dass sie schon von klein auf alles begriffen hatte, ohne Neapel je zu verlassen. Aber ich schämte mich fast sofort, merkte meinen Worten den mürrischen Pessimismus eines alternden Menschen an, den Ton, den sie nicht ausstehen konnte. Und wirklich zeigte sie mir ihre altgewordenen Zähne mit einem Lächeln, das eher eine gereizte Grimasse war, und sagte:

»Du spielst hier die Schlaue, wirfst mit klugen Sprüchen um dich? Was hast du vor? Willst du über uns schreiben? Willst du über mich schreiben?«

»Nein.«

»Sei ehrlich.«

»Das wäre viel zu kompliziert.«

»Aber du hast mit dem Gedanken gespielt, du tust es noch.«

»Ein bisschen, ja.«

»Du musst mich in Ruhe lassen, Lenù. Du musst uns alle in Ruhe lassen. Wir müssen verschwinden, wir sind das nicht wert, weder Gigliola noch ich, niemand.«

»Das ist nicht wahr.«

Unzufrieden verzog sie das Gesicht und musterte mich mit kaum sichtbaren Augen und mit leicht geöffneten Lippen.

»Na gut«, sagte sie. »Schreib, wenn du unbedingt willst, schreib über Gigliola oder sonst wen. Aber nicht über mich, wag es ja nicht, versprich es mir.«

»Ich werde über niemanden schreiben, auch über dich nicht.«

»Vorsicht, ich behalte dich im Auge.«

»Ach ja?«

»Ich komme und durchforste deinen Computer, ich lese deine Dateien und lösche sie.«

»Na, na.«

»Du glaubst, ich kann das nicht?«

»Ich weiß, dass du das kannst. Aber ich weiß mich zu schützen.«

Sie lachte auf ihre alte, boshafte Art.

»Nicht vor mir.«

2

Diese drei Worte habe ich nicht mehr vergessen, es war das Letzte, was sie zu mir gesagt hat: Nicht vor mir. Seit Wochen schreibe ich nun schon fieberhaft, ohne Zeit damit zu verlieren, meine Sätze erneut durchzulesen. Wenn Lila noch lebt – überlege ich gerade, während ich an meinem Kaffee nippe und auf das Wasser des Po schaue, das gegen die Pfeiler des Ponte Principessa Isabella stößt –, wird sie nicht widerstehen können und kommen, um in meinem Computer herumzuschnüffeln, sie wird lesen und sich als die schrullige, alte Frau, die sie ist, über meinen Ungehorsam aufregen, sie wird sich einmischen wollen, wird korrigieren, wird ergänzen und wird ihren Drang vergessen, sich aufzulösen. Ich spüle die Tasse ab, gehe zum Schreibtisch und schreibe weiter, mit jenem kalten Frühling in Mailand beginnend, als an einem Abend vor über vierzig Jahren ein Mann mit einer starken Brille vor der ganzen Versammlung voller Sarkasmus über mich und mein Buch sprach und ich verwirrt und zitternd antwortete. Bis plötzlich Nino Sarratore aufstand, der mit seinem ungepflegten, tiefschwarzen Bart fast nicht wiederzuerkennen war, und meinen Widersacher heftig attackierte. Von da an schrie mein ganzes Ich im Stillen seinen Namen – wie lange hatte ich ihn nicht gesehen, vier Jahre oder fünf –, und obwohl ich vor Anspannung wie eingefroren war, stieg mir eine heiße Röte ins Gesicht.

Kaum hatte Nino seine Rede beendet, bat der Mann mit einer knappen Geste ums Wort. Es war klar, dass er verärgert war, aber ich war viel zu aufgewühlt, um sofort zu begreifen, warum. Natürlich war mir aufgefallen, dass Ninos Beitrag die Diskussion von der Literatur auf die Politik verlagert hatte, und dies in einer aggressiven, beinahe schon respektlosen Weise. Doch ich maß dem zunächst keine Bedeutung bei, ich konnte mir nicht verzeihen, dass ich mich in der Auseinandersetzung nicht hatte behaupten können, dass ich vor einem hochgebildeten Publikum unzusammenhängendes Zeug geredet hatte. Dabei war ich doch sehr gut. Am Gymnasium hatte ich in schwierigen Situationen reagiert, indem ich versucht hatte, wie Professoressa Galiani zu sein, ich hatte mir ihren Ton und ihre Sprache angeeignet. Für Pisa hatte dieses weibliche Vorbild nicht ausgereicht, dort hatte ich es mit wirklich versierten Leuten zu tun. Franco, Pietro, alle hervorragenden Studenten und natürlich die renommierten Dozenten an der Normale drückten sich hochkompliziert aus, schrieben mit ausgefeilter Kunstfertigkeit und verfügten über eine Methodik, über eine logische Klarheit, die Professoressa Galiani nicht besaß. Aber ich hatte geübt, wie sie alle zu sein. Und häufig war es mir auch gelungen, ich hatte das Gefühl gehabt, die Worte so zu beherrschen, dass ich die Unstimmigkeiten des Daseins, das Auftreten heftiger Gemütsbewegungen und atemlose Reden ein für alle Mal hatte wegfegen können. Ich beherrschte nun einen Rede- und Schreibstil, der mit einer ausgesuchten Wortwahl, mit weit ausholenden, wohldurchdachten Ausführungen, mit einer zwingenden Anordnung der Argumente und mit einer Klarheit der Form, die nie nachlassen durfte, darauf abzielte, den Gesprächspartner so zu vernichten, dass ihm die Lust zum Widerspruch verging. Doch an jenem Abend hatten sich die Dinge nicht so gefügt, wie sie sollten. Zunächst hatten mich Adele und ihre in meinen Augen sehr belesenen Freunde und dann der Mann mit der starken Brille eingeschüchtert. Ich war wieder zu dem eifrigen Mädelchen aus dem Rione geworden, zu der Pförtnertochter mit dem Akzent aus dem Süden, die selbst erstaunt war, dass sie an diesem Ort gelandet war, um die junge, gebildete Schriftstellerin zu spielen. Und so hatte ich mein Selbstvertrauen verloren und ohne Überzeugung und zusammenhanglos gesprochen. Dazu auch noch Nino. Sein Auftritt hatte mir das Heft aus der Hand genommen, und seine vorzügliche Fürsprache zu meinen Gunsten hatte mir bestätigt, dass ich mein ganzes Können schlagartig eingebüßt hatte. Wir kamen aus ähnlichen Verhältnissen, hatten beide darum gekämpft, diese Sprache zu erwerben. Aber er hatte sie nicht nur wie selbstverständlich angewandt und mühelos gegen seinen Gesprächspartner gerichtet, sondern es sich manchmal, wenn er es für nötig gehalten hatte, auch erlaubt, gezielt etwas Unordnung in dieses elegante Italienisch zu bringen, und dies mit einer unverschämten Geringschätzung, durch die es ihm schnell gelungen war, den schulmeisterlichen Tonfall des Mannes mit der starken Brille veraltet und vielleicht auch ein wenig lächerlich wirken zu lassen. Folglich dachte ich, als ich sah, dass dieser erneut das Wort ergreifen wollte: ›Er ist wütend, und wenn er vorhin schon schlecht über mein Buch gesprochen hat, wird er jetzt noch schlechter darüber sprechen, um Nino, der es in Schutz genommen hat, zu blamieren.‹

Aber den Mann schien etwas anderes zu beschäftigen: Er kam nicht noch einmal auf meinen Roman zurück und erwähnte auch mich nicht mehr. Stattdessen konzentrierte er sich auf einige Formulierungen, die Nino beiläufig gebraucht, aber mehrfach wiederholt hatte: elitäre Arroganz, antiautoritäre Literatur. Erst da begriff ich, dass ihn besonders die politische Wendung der Diskussion verärgert hatte. Dieser Sprachgebrauch hatte ihm nicht gefallen, und das betonte er, indem er seine tiefe Stimme plötzlich mit einem sarkastischen Falsett durchsetzte (demnach wird der Stolz auf Wissen heutzutage als Arroganz bezeichnet, demnach ist jetzt auch schon die Literatur antiautoritär?). Dann begann er auf dem Wort Autorität herumzureiten, »Gott sei Dank« – sagte er – »ein Schutzwall gegen die ungezogenen jungen Kerle, die sich aufs Geratewohl zu jeder Frage äußern und dabei auf den Unsinn irgendwelcher Gegenvorlesungen der Mailänder Statale zurückgreifen.« Er sprach lange über dieses Thema, wobei er sich ans Publikum wandte, nie unmittelbar an Nino oder an mich. Doch zum Schluss nahm er zunächst den alten Kritiker, der neben mir saß, ins Visier und dann direkt Adele, die vielleicht von Anfang an das eigentliche Ziel seiner Polemik gewesen war. »Ich habe nichts gegen die jungen Leute« – sagte er – »aber gegen die promovierten Erwachsenen, die stets bereit sind, eigennützig jede neue Mode der Dummheit mitzumachen.« Dann war er endlich still, und mit leisen, aber energischen »Gestatten Sie«, »Verzeihung«, »Danke« wandte er sich zum Gehen.

Die Anwesenden standen auf, um ihn vorbeizulassen, feindselig und doch willfährig. Da wurde mir endgültig klar, dass er hohes Ansehen genoss, ein so hohes Ansehen, dass sogar Adele auf einen verärgerten Abschiedsgruß seinerseits mit einem herzlichen »Danke, auf Wiedersehen« antwortete. Vielleicht deshalb überraschte Nino alle ein wenig, als er ihn in einem Befehlston, der zugleich spöttisch klang, bei seinem Professorentitel rief, womit er zeigte, dass er wusste, mit wem er es zu tun hatte – Professore, wo wollen Sie denn hin, nicht weglaufen –, und ihm dann dank der Behändigkeit seiner langen Beine den Weg abschnitt, sich vor ihm aufbaute und ihm in seiner neuen Sprache Dinge sagte, die ich dort, wo ich saß, teils nicht hören konnte und teils nicht verstand, die aber gesessen haben mussten. Der Mann hörte ihm reglos zu, ohne Ungeduld, wedelte dann kurz mit der Hand, was »mach Platz« bedeutete, und steuerte auf den Ausgang zu.

3

Benommen stand ich vom Tisch auf, ich konnte kaum fassen, dass Nino wirklich hier war, in Mailand, in diesem Raum. Aber da war er und kam lächelnd, doch mit beherrschten Schritten ohne Eile bereits auf mich zu. Wir gaben uns die Hand, seine war heiß, meine kalt, und sagten uns, wie sehr wir uns freuten, uns nach so langer Zeit wiederzusehen. Zu wissen, dass der schlimmste Teil des Abends endlich vorüber war und dass nun er leibhaftig vor mir stand, dämpfte meine schlechte Laune, aber nicht meine Aufregung. Ich stellte ihn dem Kritiker vor, der mein Buch so großzügig gelobt hatte, sagte, Nino sei ein Freund aus Neapel, wir seien zusammen aufs Gymnasium gegangen. Der Kritiker war freundlich, obwohl auch er einige Hiebe von Nino abbekommen hatte, lobte, wie er mit dem Professor umgegangen war, sprach wohlwollend über Neapel und unterhielt sich mit ihm wie mit einem hervorragenden Studenten, der ermutigt werden musste. Nino erzählte, er wohne seit Jahren in Mailand, beschäftige sich mit ökonomischer Geographie und gehöre – er lächelte – zur armseligsten Kategorie in der akademischen Hierarchie, nämlich zu den Assistenten. Er sagte es auf eine gewinnende Art, ohne das etwas mürrische Benehmen, das er als Junge gehabt hatte, und er schien sich eine leichtere Rüstung als die zugelegt zu haben, die mich auf dem Gymnasium fasziniert hatte, ganz als hätte er sich von zu schweren Gewichten befreit, um sich im Turnier schneller und mit Eleganz durchwinden zu können. Erleichtert stellte ich fest, dass er keinen Ehering trug.

Inzwischen waren einige von Adeles Freundinnen herangekommen, um sich mein Buch signieren zu lassen, was mich sehr bewegte, es war das erste Mal, dass mir das geschah. Ich zögerte, wollte Nino keinen Moment aus den Augen verlieren, wollte aber auch den Eindruck, ich sei ein unbeholfenes Mädchen, abschwächen. Also ließ ich ihn mit dem alten Kritiker – er hieß Tarratano – allein und widmete mich zuvorkommend meinen Leserinnen. Ich nahm mir vor, mich schnell loszueisen, doch die Bücher waren neu, rochen druckfrisch, ganz anders als die zerlesenen, muffigen Exemplare, die Lila und ich uns aus der Bibliothek im Rione ausgeliehen hatten, und ich brachte es nicht fertig, sie mit dem Kugelschreiber in Eile vollzuschmieren. Ich stellte meine schönste Schrift aus Maestra Olivieros Zeiten zur Schau und dachte mir ausgefeilte Widmungen aus, was bei den wartenden Damen zu einiger Ungeduld führte. Ich tat es mit stark klopfendem Herzen und ließ Nino nicht aus den Augen. Ich zitterte bei dem Gedanken, er könnte gehen.

Er ging nicht. Zu ihm und Tarratano hatte sich Adele gesellt, und Nino wandte sich ehrerbietig und zugleich zwanglos an sie. Ich erinnerte mich daran, wie er auf dem Flur des Gymnasiums mit Professoressa Galiani gesprochen hatte, und es fiel mir nicht schwer, den brillanten Gymnasialschüler von damals und den jungen Mann von heute in meinem Kopf zusammenzubringen. Allerdings schob ich wie eine unnötige Verirrung, die uns allen Leid zugefügt hatte, heftig den Studenten auf Ischia beiseite, den Liebhaber meiner verheirateten Freundin, den verstörten jungen Kerl, der sich in der Toilette des Schuhgeschäfts an der Piazza dei Martiri versteckt hatte und der Gennaros Vater war, eines Kindes, das er nie gesehen hatte. Gewiss hatte ihn Lilas Überfall ins Schleudern gebracht, aber – das schien mir auf der Hand zu liegen – es hatte sich nur um eine flüchtige Affäre gehandelt. So intensiv diese Geschichte auch gewesen sein mochte, so tief die Spuren auch waren, die sie bei ihm hinterlassen hatte, war sie doch nun vorbei. Nino hatte sich wieder gefangen, und ich war froh darüber. Ich dachte: ›Ich muss Lila erzählen, dass ich ihn getroffen habe, dass es ihm gut geht.‹ Dann überlegte ich es mir anders: ›Nein, das erzähle ich ihr nicht.‹

Als ich mit den Widmungen fertig war, hatte sich der Raum geleert. Adele nahm sanft meine Hand und lobte mich sehr dafür, wie ich über mein Buch gesprochen und auf den miesen Einwurf – so nannte sie es – des Mannes mit der starken Brille geantwortet hatte. Da ich widersprach (ich wusste nur zu gut, dass es nicht stimmte), bat sie Nino und Tarratano um ihre Meinung, und natürlich ergingen sich die beiden in Komplimenten. Nino, der mich ernst ansah, sagte sogar: »Sie ahnen ja nicht, wie dieses Mädchen schon auf dem Gymnasium war, hochintelligent, hochgebildet, sehr mutig, sehr schön.« Und während mir die Röte im Gesicht brannte, begann er mit freundlicher Ironie von meinem Jahre zurückliegenden Streit mit dem Religionslehrer zu erzählen. Adele hörte zu, lachte häufig. »Unsere Familie«, sagte sie, »hat Elenas Qualitäten sofort erkannt.« Dann verkündete sie, dass sie in einem nahegelegenen Lokal Plätze fürs Abendessen reserviert habe. Ich wurde unruhig, murmelte verlegen, ich sei müde und hätte keinen Hunger, und gab zu verstehen, dass ich vor dem Schlafengehen gern noch ein paar Schritte mit Nino gehen würde, da wir uns lange nicht gesehen hatten. Ich wusste, dass das unhöflich war, das Essen sollte mir zu Ehren und als Dank an Tarratano stattfinden, weil er sich so für mein Buch eingesetzt hatte, aber ich konnte mich nicht beherrschen. Adele musterte mich kurz mit spöttischer Miene, antwortete, selbstverständlich sei auch mein Freund eingeladen, und fügte, wie um mich für das Opfer, das ich brachte, zu entschädigen, geheimnisvoll hinzu: »Ich habe eine schöne Überraschung für dich.« Besorgt sah ich Nino an: Würde er die Einladung annehmen? Er sagte, er wolle nicht stören, schaute auf die Uhr und nahm an.

4

Wir verließen die Buchhandlung. Adele ging mit Tarratano taktvoll voraus, Nino und ich folgten ihnen. Doch ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, ich fürchtete, jedes Wort könnte falsch sein. Er war es, der keine Stille aufkommen ließ. Erneut lobte er mein Buch, sprach dann mit großer Hochachtung von den Airotas (er bezeichnete sie als »die kulturvollste aller Familien, die in Italien etwas zählen«), erwähnte, dass er Mariarosa kannte (»Sie ist immer in vorderster Front. Vor zwei Wochen hatten wir einen heftigen Streit.«), gratulierte mir, weil er gerade von Adele erfahren hatte, dass ich mit Pietro verlobt sei, dessen Buch über den Bacchus-Kult er zu meiner Überraschung kannte, sprach jedoch vor allem voller Ehrerbietung über das Familienoberhaupt, Professor Guido Airota, »einen wahrhaft außergewöhnlichen Mann«. Ich ärgerte mich etwas, weil er bereits von meiner Verlobung wusste, und es verstimmte mich, dass das Lob meines Buches nur als Einleitung zu dem weitaus beharrlicheren Lob von Pietros ganzer Familie und von Pietros Buch diente. Ich unterbrach Nino, erkundigte mich nach ihm, aber er blieb vage, nur einige Andeutungen über ein kleines Buch, das demnächst veröffentlicht werde und das er als langweilig, doch notwendig bezeichnete. Ich ließ nicht locker, fragte ihn, ob er in Mailand anfangs Schwierigkeiten gehabt habe. Er antwortete mit ein paar allgemeinen Bemerkungen über die Probleme, die man habe, wenn man ohne einen Centesimo in der Tasche aus dem Süden komme. Dann fragte er mich aus heiterem Himmel:

»Du wohnst jetzt wieder in Neapel?«

»Im Moment ja.«

»Im Rione?«

»Ja.«

»Ich habe den Kontakt zu meinem Vater endgültig abgebrochen und sehe keinen aus meiner Familie mehr.«

»Wie schade.«

»Es ist gut so. Mir tut es nur leid, dass ich nichts von Lina höre.«

Für einen kurzen Augenblick dachte ich, ich hätte mich getäuscht und Lila sei nie aus seinem Leben verschwunden, er sei nicht meinetwegen in die Buchhandlung gekommen, sondern nur, um zu erfahren, wie es ihr gehe. Dann sagte ich mir: ›Wenn er sich wirklich nach Lila hätte erkundigen wollen, hätte er in all den Jahren schon einen Weg gefunden, um sich zu informieren‹, und ich antwortete impulsiv, mit der Deutlichkeit eines Menschen, der ein Thema schnell beenden will:

»Sie hat ihren Mann verlassen und lebt jetzt mit einem anderen zusammen.«

»Hat sie ein Mädchen oder einen Jungen bekommen?«

»Einen Jungen.«

Missmutig verzog er das Gesicht, sagte:

»Lina hat Mut, zu viel sogar. Aber sie kann sich den Realitäten nicht unterordnen, sie ist nicht in der Lage, andere und sich selbst zu akzeptieren. Sie zu lieben war eine schwierige Erfahrung.«

»Inwiefern?«

»Sie weiß nicht, was Hingabe ist.«

»Vielleicht übertreibst du da.«

»Nein, sie ist wirklich verkorkst, im Kopf und insgesamt, auch sexuell.«

Diese Worte – auch sexuell – verstörten mich mehr als alles andere. Also gab Nino ein negatives Urteil über seine Beziehung zu Lila ab? Also hatte er mir soeben gesagt, dass dieses Urteil sich auch auf Sexuelles bezog? Einige Sekunden starrte ich die vor uns gehenden dunklen Gestalten von Adele und ihrem Freund an. Aus meiner Betroffenheit wurde Angst, ich bemerkte, dass auch sexuell erst der Anfang war, dass er noch deutlicher werden wollte. Jahre zuvor hatte sich Stefano mir nach seiner Heirat anvertraut, hatte mir von seinen Problemen mit Lila erzählt, hatte dies aber getan, ohne Sexuelles zu erwähnen, kein Mann im Rione hätte das getan, wenn er über die Frau sprach, die er liebte. Es wäre undenkbar gewesen, dass Pasquale mir von Adas Sexualität erzählt hätte, oder schlimmer noch, dass Antonio mit Carmen oder Gigliola über meine Sexualität gesprochen hätte. Die Jungen taten das untereinander – und auf vulgäre Art, wenn ihnen nichts oder nichts mehr an uns Mädchen lag –, aber nie den Mädchen gegenüber. Doch ich ahnte, dass Nino, der neue Nino, es vollkommen normal fand, mir von der sexuellen Beziehung zu erzählen, die er mit meiner Freundin gehabt hatte. Ich wurde verlegen, zog mich zurück. ›Auch das‹, dachte ich, ›darf ich Lila nie erzählen‹, und sagte währenddessen mit gespielter Unbefangenheit: »Schnee von gestern, das soll uns nicht die Laune verderben, reden wir lieber von dir, woran arbeitest du, was hast du für Perspektiven an der Universität, wo wohnst du, lebst du allein?« Aber ich war garantiert zu hitzig, er musste gemerkt haben, dass ich schnell das Thema gewechselt hatte. Er grinste spöttisch und setzte zu einer Antwort an. Aber wir waren am Restaurant angekommen und gingen hinein.