Es sind die achtziger Jahre, Elena ist schließlich doch nach Neapel zurückgekehrt, aus Liebe. Die beste Entscheidung ihres ganzen Lebens, glaubt sie, doch als sich ihr nach und nach die ganze Wahrheit über den geliebten Mann offenbart, fällt sie ins Bodenlose. Lila, die ihren Schicksalsort nie verlassen hat, ist eine erfolgreiche Unternehmerin geworden, aber dieser Erfolg kommt sie teuer zu stehen. Denn sie gerät zusehends in die grausame, chauvinistische Welt des verbrecherischen Neapels, eine Welt, die sie zeit ihres Lebens verabscheut und bekämpft hat.
Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga erscheint in 50 Ländern und hat sich millionenfach verkauft.
Karin Krieger übersetzt aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.
Bereits erschienen:
Band 1: Meine geniale Freundin
Band 2: Die Geschichte eines neuen Namens
Band 3: Die Geschichte der getrennten Wege
#FerranteFever
www.elenaferrante.de
Elena Ferrante
Die Geschichte des
verlorenen Kindes
Reife und Alter
Band 4
der Neapolitanischen Saga
Roman
Aus dem Italienischen
von Karin Krieger
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Storia della bambina perduta bei Edizioni e/o, Rom.
Dieses Buch ist dank einer Übersetzungsförderung seitens
des Italienischen Außenministeriums und der
Cooperazione Internazionale Italiana erschienen.
Die Personen und die Handlung des vorliegenden Werkes sowie alle darin enthaltenen Namen und Dialoge sind erfunden und Ausdruck der künstlerischen Freiheit der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit realen Begebenheiten, Personen, Namen und Orten wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt. Auch die Erwähnung real existierender Institutionen unterliegt der rein fiktionalen Gestaltung des Werkes.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2018.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2018
© 2014 by Edizioni e/o
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie
der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlagillustration: © Emiliano Ponzi / 2agenten
Umschlaggestaltung: Schimmelpenninck.Gestaltung, Berlin
eISBN 978-3-518-77797-8
www.suhrkamp.de
Familie Cerullo
(die Familie des Schuhmachers):
Fernando Cerullo, Schuster, Lilas Vater.
Nunzia Cerullo, Lilas Mutter.
Raffaella Cerullo, genannt Lina oder Lila, ist im August 1944 geboren. Mit sechsundsechzig Jahren verschwindet sie spurlos aus Neapel. Blutjung hat sie Stefano Carracci geheiratet, verliebt sich aber während eines Ferienaufenthalts auf Ischia in Nino Sarratore und verlässt seinetwegen ihren Mann. Nach dem Scheitern der wilden Ehe mit Nino und nach der Geburt ihres Sohnes Gennaro, genannt Rino, trennt sich Lila endgültig von Stefano, als sie erfährt, dass Ada Cappuccio ein Kind von ihm erwartet. Sie zieht mit Enzo Scanno nach San Giovanni a Teduccio und kehrt einige Jahre später mit Enzo und Gennaro zurück in den Rione.
Rino Cerullo, Lilas großer Bruder. Er ist mit Stefanos Schwester Pinuccia Carracci verheiratet und hat zwei Kinder mit ihr. Lilas Sohn – Rino – trägt den Namen ihres Bruders.
Weitere Kinder
Familie Greco
(die Familie des Pförtners):
Elena Greco, genannt Lenuccia oder Lenù, ist im August 1944 geboren und die Erzählerin der langen Geschichte, die wir hier lesen. Nach der Grundschule geht Elena mit wachsendem Erfolg weiter zur Schule und studiert dann an der Scuola Normale in Pisa, wo sie ihr Diplom macht und Pietro Airota kennenlernt, den sie einige Jahre später heiratet. Die beiden ziehen nach Florenz und bekommen zwei Kinder, Adele, genannt Dede, und Elsa, doch von der Ehe enttäuscht, verlässt Elena die Mädchen und Pietro, nachdem sie eine Affäre mit Nino Sarratore begonnen hat, ihrer großen Liebe seit Kindertagen.
Peppe, Gianni und Elisa, Elenas jüngere Geschwister. Trotz Elenas Missbilligung zieht Elisa mit Marcello Solara zusammen.
Der Vater ist Pförtner in der Stadtverwaltung.
Die Mutter ist Hausfrau.
Familie Carracci
(die Familie von Don Achille):
Don Achille Carracci, Schwarzhändler und Halsabschneider. Er wurde ermordet.
Maria Carracci, seine Frau. Ihr Sohn Stefano und Ada Cappuccio haben ihr gemeinsames Kind nach ihr benannt.
Stefano Carracci, Lebensmittelhändler und Lilas Ehemann. Unzufrieden in der turbulenten Ehe mit Lila, beginnt er eine Affäre mit Ada Cappuccio, mit der er zusammenzieht. Er ist der Vater von Lilas Sohn Gennaro und von Maria, die aus seiner Verbindung mit Ada hervorgegangen ist.
Pinuccia Carracci, sie heiratet Lilas Bruder Rino und hat zwei Söhne mit ihm.
Alfonso Carracci, er findet sich damit ab, nach einer langen Verlobungszeit Marisa Sarratore heiraten zu müssen.
Familie Peluso
(die Familie des Tischlers):
Alfredo Peluso, Tischler und Kommunist. Er stirbt im Gefängnis.
Giuseppina Peluso, seine ihm treu ergebene Frau. Als ihr Mann stirbt, nimmt sie sich das Leben.
Pasquale Peluso, der älteste Sohn. Maurer, militanter Kommunist.
Carmela Peluso, genannt Carmen. Sie war lange mit Enzo Scanno zusammen. Später heiratet sie den Tankwart vom Stradone und hat zwei Kinder mit ihm.
Weitere Kinder
Familie Cappuccio
(die Familie der verrückten Witwe):
Melina, Witwe, verwandt mit Nunzia Cerullo. Nach dem Ende ihrer Beziehung mit Donato Sarratore, dessen Geliebte sie war, verliert sie den Verstand.
Melinas Mann, stirbt unter ungeklärten Umständen.
Ada Cappuccio, nachdem sie lange mit Pasquale Peluso verlobt war, wird sie Stefano Carraccis Geliebte und zieht mit ihm zusammen. Aus ihrer Verbindung geht eine Tochter, Maria, hervor.
Antonio Cappuccio, Automechaniker. Er war früher mit Elena liiert.
Weitere Kinder
Familie Sarratore
(die Familie des dichtenden Eisenbahners):
Donato Sarratore, Frauenheld, er war der Geliebte von Melina Cappuccio. Ihm gibt sich die sehr junge Elena am Strand von Ischia aus Kummer über die Affäre zwischen Nino und Lila hin.
Lidia Sarratore, Donatos Frau.
Nino Sarratore, der älteste Sohn, hat eine lange, heimliche Affäre mit Lila. Nachdem er Eleonora geheiratet und zusammen mit ihr einen Sohn, Albertino, bekommen hat, beginnt er ein Verhältnis mit Elena, die ebenfalls verheiratet ist und Kinder hat.
Marisa Sarratore, Ninos Schwester. Verheiratet mit Alfonso Carracci. Sie wird die Geliebte von Michele Solara, von dem sie zwei Kinder bekommt.
Pino, Clelia und Ciro Sarratore, die jüngeren Kinder.
Familie Scanno
(die Familie des Gemüsehändlers):
Nicola Scanno, Gemüsehändler, stirbt an einer Lungenentzündung.
Assunta Scanno, seine Frau, stirbt an Krebs.
Enzo Scanno, er war lange mit Carmen Peluso zusammen. Als Lila Stefano Carracci endgültig verlässt, kümmert Enzo sich um sie und ihren Sohn Gennaro und zieht mit ihnen nach San Giovanni a Teduccio.
Weitere Kinder
Familie Solara
(die Familie des Besitzers der gleichnamigen
Bar-Pasticceria):
Silvio Solara, Besitzer der Solara-Bar.
Manuela Solara, seine Frau, Wucherin. In vorgerücktem Alter wird sie an ihrer Wohnungstür ermordet.
Ihre Kinder:
Marcello und Michele Solara. Marcello, der in seiner Jugend von Lila abgewiesen worden war, zieht viele Jahre später mit Elisa zusammen, Elenas kleiner Schwester.
Michele, der mit Gigliola, der Tochter des Konditors, verheiratet ist und zwei Kinder mit ihr hat, nimmt sich Marisa Sarratore als Geliebte und hat auch mit ihr zwei Kinder. Trotzdem hält seine Obsession für Lila an.
Familie Spagnuolo (die Familie des Konditors):
Signor Spagnuolo, Konditor in der Solara-Bar
Rosa Spagnuolo, seine Frau
Gigliola Spagnuolo, verheiratet mit Michele Solara und die Mutter seiner zwei Kinder
Weitere Kinder
Familie Airota:
Guido Airota, Professor für griechische Literatur
Adele Airota, seine Frau
Mariarosa Airota, die älteste Tochter, Dozentin für Kunstgeschichte in Mailand
Pietro Airota, Universitätsprofessor schon in sehr jungen Jahren. Er ist Elenas Mann und der Vater von Dede und Elsa.
Die Lehrer:
Maestro Ferraro, Grundschullehrer und Bibliothekar
Maestra Oliviero, Grundschullehrerin
Professor Gerace, Gymnasiallehrer in der Unterstufe
Professoressa Galiani, Gymnasiallehrerin in der Oberstufe
Weitere Personen:
Gino, der Sohn des Apothekers. Er war Elenas erster Freund. Als Anführer der Faschisten im Rione wird er vor der Apotheke ermordet.
Nella Incardo, Maestra Olivieros Cousine
Armando, Arzt, Sohn von Professoressa Galiani. Er ist mit Isabella verheiratet und hat einen Sohn, Marco, mit ihr.
Nadia, Studentin, Tochter von Professoressa Galiani. Sie war mit Nino liiert. Während des militanten politischen Kampfes wird sie Pasquale Pelusos Freundin.
Bruno Soccavo, Nino Sarratores Freund und der Erbe der familieneigenen Wurstfabrik. Er wird in der Fabrik ermordet.
Franco Mari, Elenas Freund in ihren ersten Universitätsjahren. Als militanter Linker wird er von Faschisten überfallen und zusammengeschlagen, wodurch er ein Auge verliert.
Silvia, Studentin und politische Aktivistin. Ihr Sohn Mirko ging aus einer kurzen Verbindung mit Nino Sarratore hervor.
Von Oktober 1976 bis zu der Zeit, als ich, 1979, nach Neapel zurückzog, vermied ich es, wieder feste Beziehungen zu Lila aufzubauen. Das war nicht leicht. Sie versuchte fast sofort, erneut in mein Leben einzubrechen, und ich ignorierte sie, tolerierte sie, ertrug sie. Obwohl sie sich so verhielt, als wollte sie mir lediglich in einer schweren Zeit nahe sein, konnte ich nicht vergessen, mit welcher Geringschätzung sie mich behandelt hatte.
Heute denke ich, wenn mich nur die Beschimpfung gekränkt hätte – »du bist eine dumme Gans«, hatte sie am Telefon geschrien, als ich ihr von Nino erzählt hatte, und nie zuvor hatte sie so mit mir gesprochen –, dann hätte ich mich schnell wieder beruhigt. Doch schwerer als diese Beleidigung wog der Hinweis auf Dede und Elsa. »Denk daran, was du deinen Töchtern damit antust«, hatte sie mich zurechtgewiesen, und ich hatte das zunächst nicht weiter beachtet. Aber mit der Zeit bekamen diese Worte immer mehr Gewicht, sie fielen mir häufig ein. Lila hatte nie das geringste Interesse für Dede und Elsa gezeigt, mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit erinnerte sie sich nicht einmal an ihre Namen. Wenn ich am Telefon einen klugen Spruch von ihnen wiedergegeben hatte, war sie mir stets ins Wort gefallen und hatte das Thema gewechselt. Und als sie die beiden in der Wohnung von Marcello Solara zum ersten Mal sah, hatte sie sich auf einen flüchtigen Blick und auf ein paar allgemeine Bemerkungen beschränkt, sie hatte nicht im mindesten darauf geachtet, wie hübsch angezogen und gekämmt sie waren und wie gut sie sich ausdrücken konnten, obwohl sie noch so klein waren. Dabei hatte ich sie zur Welt gebracht, ich hatte sie aufgezogen, sie waren ein Teil von mir, ihrer langjährigen Freundin. Sie hätte – wenn schon nicht aus Zuneigung, so doch zumindest aus Höflichkeit – meinem mütterlichen Stolz Raum lassen müssen. Stattdessen hatte sie nicht einmal etwas gutmütigen Spott aufgebracht, sie hatte Gleichgültigkeit gezeigt, mehr nicht. Nun erst – garantiert aus Eifersucht, weil ich mir Nino geangelt hatte – waren ihr die Mädchen wieder eingefallen, und sie hatte unterstreichen wollen, was für eine schlechte Mutter ich war, die nur für ihr eigenes Glück deren Unglück verursachte. Immer wenn ich daran dachte, wurde ich nervös. Hatte Lila sich etwa um Gennaro gekümmert, als sie Stefano verlassen hatte, als sie den Jungen wegen ihrer Arbeit in der Fabrik zur Nachbarin gebracht und als sie ihn zu mir geschickt hatte, als ob sie ihn loswerden wollte? Ja doch, ich hatte meine Fehler, aber ich war unzweifelhaft eine bessere Mutter als sie.
In jenen Jahren wurden solche Gedanken zur Gewohnheit. Es war, als wäre Lila, die letztlich nur diesen einen hässlichen Satz über Dede und Elsa gesagt hatte, zum Anwalt ihrer kindlichen Bedürfnisse geworden und als fühlte ich mich jedes Mal, wenn ich die Mädchen vernachlässigte, um mich mir selbst zu widmen, verpflichtet, ihr zu beweisen, dass sie im Unrecht war. Aber das war nur eine Stimme, die mein Unmut erfunden hatte, was Lila wirklich über mein Verhalten als Mutter dachte, weiß ich nicht. Sie ist die Einzige, die das erzählen könnte, falls es ihr tatsächlich gelungen sein sollte, in diese lange Kette von Wörtern einzudringen, um meinen Text zu verändern, um fehlende Glieder geschickt einzufügen, um andere unauffällig herauszulösen, um mehr, als mir lieb ist, von mir zu erzählen, mehr, als ich erzählen kann. Ich sehne mich nach ihrer Einmischung, wünsche sie mir, seit ich angefangen habe, unsere Geschichte aufzuschreiben, doch ich muss erst zum Ende kommen, um alle diese Seiten einer Prüfung unterziehen zu können. Wollte ich das jetzt versuchen, würde ich sicherlich steckenbleiben. Ich schreibe schon zu lange und bin müde, es wird immer schwerer, im Chaos der Jahre, der kleinen und großen Ereignisse und auch der Launen den roten Faden nicht zu verlieren. Daher neige ich dazu, entweder über meine Angelegenheiten hinwegzugehen, um sofort wieder zu Lila und zu allen Komplikationen zu kommen, die sie mit sich bringt, oder aber, schlimmer noch, mich von den Ereignissen meines Lebens mitreißen zu lassen, nur weil ich sie leichter aufschreiben kann. Aber ich muss mich dieser Entscheidung entziehen. Den ersten Weg darf ich nicht gehen, weil ich – da das Wesen unserer Beziehung es gebietet, dass ich nur durch den Weg über mich zu ihr gelangen kann – schließlich immer weniger Spuren von Lila finden würde, wenn ich mich selbst außer Acht ließe. Und den zweiten Weg auch nicht. Denn dass ich immer ausführlicher über meine Erfahrungen spreche, ist genau das, was sie garantiert unterstützen würde. »Komm schon«, würde sie fordern, »lass uns wissen, welche Wendung dein Leben genommen hat, wen interessiert denn meins, gib's doch zu, nicht einmal dich.« Und am Ende würde sie sagen: »Ich bin ein Klecks auf einem Gekleckse, absolut ungeeignet für eins deiner Bücher. Lass mich in Ruhe, Lenù, etwas Gelöschtes erzählt man nicht.«
Was also tun? Ihr wieder einmal recht geben? Akzeptieren, dass Erwachsensein heißt, nicht mehr in Erscheinung zu treten, zu lernen, sich zu verstecken bis hin zum völligen Verschwinden? Eingestehen, dass ich, je mehr Jahre vergehen, immer weniger von Lila weiß?
Heute Morgen halte ich meine Müdigkeit im Zaum und setze mich wieder an den Schreibtisch. Jetzt, da ich kurz vor dem schmerzhaftesten Punkt unserer Geschichte bin, möchte ich auf dem Papier ein Gleichgewicht zwischen mir und ihr suchen, das ich im wahren Leben nicht einmal mit mir selbst gefunden habe.
Von den Tagen in Montpellier weiß ich noch alles, nur nicht, wie die Stadt aussah, es ist, als wäre ich nie dort gewesen. Außerhalb des Hotels, außerhalb des gewaltigen Audimax, in dem die wissenschaftliche Tagung stattfand, an der Nino teilnahm, sehe ich heute nur noch einen windigen Herbst und einen hellblauen, auf weißen Wolken liegenden Himmel. Trotzdem ist mir der Name Montpellier aus vielen Gründen wie ein Signal der Flucht im Gedächtnis geblieben. Ich war schon einmal im Ausland gewesen, mit Franco in Paris, und meine eigene Kühnheit hatte mich elektrisiert. Doch damals war es mir so vorgekommen, als wären der Rione und Neapel für immer meine Welt und würden es auch immer bleiben, während alles andere wie ein kurzer Ausflug war, eine Ausnahmesituation, in der ich mich fühlen konnte, wie ich in Wahrheit nie sein würde. Dagegen war mir in Montpellier, obwohl es bei weitem nicht so aufregend wie Paris war, als wären alle meine Dämme gebrochen und als würde ich über die Ufer treten. Schon allein die Tatsache, dass ich mich in dieser Stadt befand, war in meinen Augen der Beweis dafür, dass der Rione, Neapel, Pisa, Florenz, Mailand, ja ganz Italien nur winzige Splitter der Welt waren und dass ich gut daran tat, mich nicht mehr mit diesen Splittern zu begnügen. In Montpellier wurde mir die Begrenztheit meines Blicks und auch der Sprache bewusst, in der ich mich ausdrückte und in der ich geschrieben hatte. In Montpellier wurde mir klar, wie einengend es sein konnte, mit zweiunddreißig Jahren Hausfrau und Mutter zu sein. In diesen Tagen voller Liebe fühlte ich mich erstmals frei von den Fesseln, die im Laufe der Jahre entstanden waren, von den Fesseln, die aus meiner Herkunft erwuchsen, von denen, die sich aus meinen Studienerfolgen ergaben, und von denen, die sich aus meinen Lebensentscheidungen ableiteten, vor allem aus meiner Heirat. In Montpellier konnte ich auch besser nachvollziehen, warum ich mich so gefreut hatte, als ich erfahren hatte, dass mein erstes Buch in andere Sprachen übersetzt worden war, und warum ich so niedergeschlagen gewesen war, nachdem ich außerhalb von Italien nur wenige Leser gefunden hatte. Es war wunderbar, Grenzen zu überschreiten, sich in anderen Kulturen treiben zu lassen, die Vorläufigkeit dessen zu entdecken, was ich für endgültig gehalten hatte. Wenn ich den Umstand, dass Lila nie aus Neapel herausgekommen war – sogar San Giovanni a Teduccio hatte ihr schon Angst gemacht –, früher für eine fragwürdige Entscheidung gehalten hatte, die sie allerdings für gewöhnlich in ein vorteilhaftes Licht zu setzen verstand, so schien er mir jetzt nur ein Zeichen geistiger Enge zu sein. Ich reagierte, wie man auf jemanden, der einen beleidigt, reagiert, indem man dieselben Worte verwendet, die einen beleidigt haben. »Du hast dich in mir getäuscht? Nein, meine Liebe, ich bin es, ich, die sich in dir getäuscht hat: Du wirst dein Leben lang den vorbeifahrenden Lastwagen auf dem Stradone nachschauen.«
Die Tage verflogen. Die Organisatoren der Tagung hatten für Nino schon vor geraumer Zeit ein Einzelzimmer im Hotel gebucht, und da ich mich zu spät entschlossen hatte, ihn zu begleiten, war es nicht mehr möglich gewesen, stattdessen ein Doppelzimmer zu bekommen. Wir waren getrennt untergebracht, aber jeden Abend nahm ich eine Dusche, machte mich für die Nacht fertig und schlüpfte mit einigem Herzklopfen in sein Zimmer. Wir schliefen zusammen, eng aneinandergeschmiegt, als fürchteten wir, eine feindliche Macht könnte uns im Schlaf trennen. Morgens ließen wir uns das Frühstück ans Bett bringen, wir genossen diesen Luxus, den ich nur aus dem Kino kannte, lachten viel, waren glücklich. Tagsüber leistete ich ihm in dem großen Sitzungssaal Gesellschaft, doch obgleich die gelangweilten Redner Seite um Seite herunterleierten, war ich begeistert, denn ich war mit ihm zusammen, saß neben ihm, doch ohne ihn zu stören. Nino verfolgte die Beiträge aufmerksam, machte sich Notizen und flüsterte mir hin und wieder eine ironische Bemerkung oder Liebesworte ins Ohr. Zum Mittag und zum Abendessen gesellten wir uns zu den Gelehrten aus aller Welt, fremde Namen, fremde Sprachen. Natürlich hatten die angesehensten Redner einen separaten Tisch, wir saßen mit jüngeren Wissenschaftlern zusammen an einer langen Tafel. Ninos Gewandtheit beeindruckte mich, sowohl während der Arbeit als auch im Restaurant. Wie anders als der Student von damals er war und auch als der junge Mann, der mich vor fast zehn Jahren in der Mailänder Buchhandlung verteidigt hatte. Seinen polemischen Ton hatte er abgelegt, taktvoll überwand er die akademischen Barrieren und knüpfte mit ernster und zugleich gewinnender Miene Kontakte. Mal auf Englisch (ausgezeichnet), mal auf Französisch (gut) führte er geistreiche Gespräche und tat sich mit seiner alten Vorliebe für Statistiken hervor. Ich war stolz darauf, dass er so viel Beifall fand. Nach wenigen Stunden war er bei allen beliebt, man zog ihn hierhin und dorthin.
Nur einmal veränderte er sich plötzlich, das war am Abend vor seiner Rede auf der Tagung. Er wurde abweisend und unfreundlich, er schien mir sehr aufgeregt zu sein. Er begann seinen vorbereiteten Text schlechtzumachen, wiederholte mehrmals, dass ihm das Schreiben nicht so leichtfalle wie mir, ärgerte sich, weil er keine Zeit gehabt hatte, um gründlich zu arbeiten. Ich bekam ein schlechtes Gewissen – hatte unsere komplizierte Geschichte ihn abgelenkt? – und wollte es wiedergutmachen, indem ich ihn umarmte, küsste und drängte, mir seine Rede vorzulesen. Er tat es, und seine Miene eines ängstlichen Schuljungen rührte mich an. Sein Beitrag klang für mich nicht weniger langweilig als die der anderen, die ich auf der Tagung gehört hatte, doch ich lobte ihn sehr, und Nino beruhigte sich. Am folgenden Vormittag trat er mit gespieltem Eifer auf, man applaudierte ihm. Am Abend lud ihn einer der renommierten Tagungsteilnehmer, ein Amerikaner, an seinen Tisch ein. Ich blieb allein zurück, aber das störte mich nicht. Wenn Nino bei mir war, redete ich mit niemandem, während ich ohne ihn gezwungen war, mich mit meinem kümmerlichen Französisch zu behelfen. Ich kam mit einem Paar aus Paris ins Gespräch. Die beiden gefielen mir, denn ich hatte schnell bemerkt, dass sie in einer ganz ähnlichen Situation waren wie wir. Für sie hatte die Institution der Familie etwas Bedrückendes, beide hatten, wenn auch mit großem Bedauern, ihren Ehepartner und ihre Kinder verlassen, beide wirkten glücklich. Er, Augustin, war um die fünfzig, hatte ein rotes Gesicht, sehr lebhafte, hellblaue Augen und einen großen, ins Blonde spielenden Schnauzbart. Sie, Colombe, war kaum über dreißig wie ich, hatte sehr kurzes, schwarzes Haar, ein kleines Gesicht mit stark geschminkten Augen und Lippen und war von einer bezaubernden Eleganz. Ich unterhielt mich vor allem mit ihr, sie hatte einen siebenjährigen Sohn.
»Meine Älteste wird erst in ein paar Monaten sieben«, sagte ich, »aber sie kommt dieses Jahr schon in die zweite Klasse, sie ist sehr gut in der Schule.«
»Mein Sohn ist äußerst aufgeweckt und phantasievoll.«
»Wie hat er denn die Trennung verkraftet?«
»Gut.«
»Hat er gar nicht darunter gelitten?«
»Kinder sind nicht so festgefahren wie wir, sie sind anpassungsfähig.«
Sie kam immer wieder auf die Anpassungsfähigkeit zurück, die sie den Kindern zuschrieb, es schien sie zu beruhigen. Sie sagte weiter: »In unserem Bekanntenkreis kommt es ziemlich oft vor, dass Eltern sich trennen, die Kinder wissen, dass das passieren kann.« Aber als ich ihr erzählte, dass ich keine weiteren getrennt lebenden Frauen kannte außer meiner Freundin, schlug sie plötzlich einen anderen Ton an, sie beklagte sich über ihr Kind: »Er ist gut in der Schule, aber langsam«, platzte sie heraus. »Die Lehrer sagen, er ist unordentlich.« Ich war betroffen, weil sie nun ohne jede Zärtlichkeit sprach, beinahe mit Groll, als wollte ihr Sohn sie mit diesem Verhalten ärgern, und das beunruhigte mich. Ihr Freund bemerkte das offenbar und schaltete sich ein, er prahlte mit seinen zwei Söhnen, vierzehn und achtzehn Jahre alt, und erzählte lachend, dass sie sowohl bei den jungen als auch bei den reiferen Frauen großen Anklang fanden. Als Nino wieder zu mir kam, begannen die beiden Männer – und Augustin besonders – auf üble Weise über viele der Redner herzuziehen. Mit einer etwas aufgesetzten Heiterkeit tat Colombe es ihnen kurz darauf nach. Die Lästerei wirkte sofort verbindend, Augustin redete und trank den ganzen Abend viel, seine Freundin lachte, sobald es Nino gelang, etwas zu sagen. Sie luden uns ein, in ihrem Auto nach Paris mitzufahren.
Die Gespräche über die Kinder und diese Einladung, die wir weder annahmen noch ablehnten, brachten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Bis dahin waren mir Dede und Elsa ständig in den Sinn gekommen, und auch Pietro, doch wie in einem Paralleluniversum angehalten, reglos am Küchentisch in Florenz, vor dem Fernseher oder in ihren Betten. Plötzlich traten meine und ihre Welt miteinander in Verbindung. Mir wurde bewusst, dass die Tage in Montpellier fast vorbei waren, dass Nino und ich unweigerlich zu unseren Familien zurückkehren würden, dass wir unsere jeweilige Ehekrise würden durchstehen müssen, ich in Florenz, er in Neapel. Die Körper meiner Mädchen verbanden sich wieder mit meinem, diese Berührung war heftig. Seit fünf Tagen hatte ich nichts von ihnen gehört, und als mir das bewusst wurde, überkam mich eine starke Übelkeit, und meine Sehnsucht wurde unerträglich. Ich hatte keine Angst vor der Zukunft im Allgemeinen, die nunmehr unweigerlich von Nino besetzt zu sein schien, sondern vor den nächsten Stunden, vor dem Morgen, dem Übermorgen. Ich konnte nicht an mich halten und versuchte anzurufen, obwohl es fast Mitternacht war. ›Na wenn schon‹, dachte ich, ›Pietro ist sowieso immer wach‹.
Es war ziemlich mühsam, aber schließlich kam ich durch. »Hallo«, sagte ich. »Hallo«, sagte ich noch einmal. Ich wusste, dass Pietro am Apparat war, ich sagte seinen Namen: »Pietro, ich bin's, Elena, wie geht es den Mädchen.« Das Gespräch wurde unterbrochen. Ich wartete ein paar Minuten, dann bat ich die Vermittlung um eine neue Verbindung. Ich war entschlossen, es die ganze Nacht zu versuchen, aber diesmal antwortete Pietro.
»Was willst du.«
»Wie geht es den Kindern.«
»Sie schlafen.«
»Das weiß ich, aber wie geht es ihnen.«
»Was kümmert dich das.«
»Es sind meine Töchter.«
»Du hast sie verlassen, sie wollen nicht mehr deine Töchter sein.«
»Haben sie dir das gesagt?«
»Sie haben es meiner Mutter gesagt.«
»Du hast Adele zu uns geholt?«
»Ja.«
»Sag ihnen, dass ich in ein paar Tagen zurückkomme.«
»Nein, komm nicht. Weder ich noch die Mädchen, noch meine Mutter wollen dich wiedersehen.«
Ich weinte, beruhigte mich wieder und ging zu Nino. Ich wollte ihm von dem Anruf erzählen, wollte, dass er mich tröstete. Aber als ich an seine Zimmertür klopfen wollte, hörte ich ihn mit jemandem sprechen. Ich zögerte. Er telefonierte, ich verstand nicht, was er sagte, und auch nicht, in welcher Sprache er redete, doch ich vermutete sofort, dass er sich mit seiner Frau unterhielt. Geschah das demnach jeden Abend? Telefonierte er immer mit Eleonora, wenn ich mich in meinem Zimmer für die Nacht fertig machte und er allein war? Suchten sie nach einem Weg, um sich friedlich zu trennen? Oder versöhnten sie sich gerade, und sie würde ihn sich nach dem Intermezzo in Montpellier zurückholen?
Ich entschloss mich, zu klopfen. Nino unterbrach das Gespräch, Stille, dann redete er weiter, diesmal noch leiser. Ich wurde nervös, klopfte erneut, nichts geschah. Ich musste ein drittes Mal und laut klopfen, bevor er mir öffnete. Als er es tat, stellte ich ihn sofort zur Rede, warf ihm vor, dass er seiner Frau nichts von mir erzählte, schrie, dass ich mit Pietro gesprochen hätte, dass mein Mann mich daran hindern wolle, die Mädchen wiederzusehen, dass ich mein ganzes Leben in Frage stellte, während er am Telefon mit Eleonora flirtete. Es war eine schlimme Nacht voller Streit, und es fiel uns schwer, uns wieder zu vertragen. Nino versuchte alles mögliche, um mich zu beruhigen. Er lachte nervös, regte sich darüber auf, wie Pietro mich behandelt hatte, küsste mich, ich stieß ihn zurück, er flüsterte, ich sei ja verrückt. Aber sosehr ich ihn auch bedrängte, gab er doch nicht zu, dass er gerade mit seiner Frau gesprochen hatte, im Gegenteil, er schwor bei seinem Sohn, dass er seit seiner Abreise aus Neapel nichts mehr von ihr gehört habe.
»Und mit wem hast du dann gesprochen?«
»Mit einem Kollegen hier im Hotel.«
»Um Mitternacht?«
»Um Mitternacht.«
»Du lügst.«
»Das ist die Wahrheit.«
Ich weigerte mich lange, mit ihm zu schlafen, ich konnte es nicht, hatte Angst, dass er mich nicht mehr liebte. Dann gab ich nach, um nicht denken zu müssen, dass schon alles zu Ende war.
Am nächsten Morgen wachte ich nach fünf Tagen Zusammensein erstmals schlechtgelaunt auf. Wir mussten abreisen, die Tagung war so gut wie vorbei. Doch ich wollte nicht, dass Montpellier nur ein Intermezzo war, fürchtete mich davor, nach Hause zu fahren, fürchtete mich davor, dass Nino nach Hause fuhr, fürchtete, meine Mädchen für immer zu verlieren. Als Augustin und Colombe uns erneut anboten, uns im Auto nach Paris mitzunehmen und uns sogar zu beherbergen, wandte ich mich fragend an Nino, ich hoffte, auch er würde sich nichts sehnlicher wünschen, als diese Zeit zu verlängern und die Heimkehr hinauszuzögern. Aber er schüttelte düster den Kopf, sagte: »Unmöglich, wir müssen zurück nach Italien«, und sprach von Flugzeugen, Tickets, Zügen, Geld. Ich war sehr empfindlich, spürte Enttäuschung und Wut. ›Wusste ich's doch‹, dachte ich, ›er hat mich angelogen, die Trennung von seiner Frau ist nicht endgültig.‹ Er hatte wirklich jeden Abend mit ihr telefoniert, hatte versprochen, nach der Tagung nach Hause zu kommen, und konnte das nicht mal ein paar Tage hinausschieben. Und ich?
Mir fiel der Verlag in Nanterre wieder ein und mein kleiner, gelehrter Text über die Erfindung der Frau durch den Mann. Bislang hatte ich mit niemandem über mich gesprochen, auch nicht mit Nino. Ich war die lächelnde, aber weitgehend stumme Frau gewesen, die mit dem brillanten Professor aus Neapel schlief, die Frau, die stets an ihm klebte und auf seine Bedürfnisse, seine Gedanken einging. Doch nun sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit: »Nino muss zwar zurück, aber ich habe noch einen Termin in Nanterre; demnächst erscheint ein Buch von mir – vielleicht ist es auch schon erschienen –, ein Mittelding zwischen einem Essay und einer Erzählung; ich fahre sehr gern bei euch mit, dann kann ich einen Abstecher zum Verlag machen.« Die beiden sahen mich an, als hätte ich erst in diesem Moment begonnen, real zu existieren, und erkundigten sich nach meiner Arbeit. Ich erzählte ihnen davon, und es stellte sich heraus, dass Colombe mit der Chefin des kleinen, doch, wie ich nun erfuhr, angesehenen Verlags gut bekannt war. Ich kam in Fahrt, redete überschwenglich und bauschte meine literarischen Erfolge vielleicht ein wenig auf. Doch das tat ich nicht für die beiden Franzosen, sondern für Nino. Ich wollte ihn daran erinnern, dass auch ich ein befriedigendes Leben hatte und dass ich, wenn ich fähig war, meine Töchter und Pietro zu verlassen, auch auf ihn verzichten konnte, und zwar nicht in einer Woche, nicht in zehn Tagen, sondern gleich.
Er hörte mir zu, dann sagte er ernst zu Colombe und Augustin: »Gut, wenn es euch keine Umstände macht, kommen wir gern mit.« Aber als wir allein waren, erklärte er mir der Form nach gereizt und dem Inhalt nach leidenschaftlich, dass ich ihm vertrauen müsse, dass wir unsere Lage, so schwierig sie auch sei, sicherlich meistern würden, dass wir dazu aber nach Hause zurückkehren müssten, wir dürften nicht von Montpellier nach Paris und danach in wer weiß welche Stadt flüchten, wir müssten uns mit unseren Ehepartnern auseinandersetzen und ein gemeinsames Leben beginnen. Plötzlich schien er mir nicht nur vernünftig, sondern auch aufrichtig zu sein. Ich war verwirrt, umarmte ihn und flüsterte: »Ist gut.« Trotzdem fuhren wir nach Paris, ich wollte nur noch ein paar weitere Tage.
Die Reise war lang, es war sehr windig, manchmal regnete es. Die blasse Landschaft war wie mit Rost überzogen, doch hin und wieder brach der Himmel auf, und alles begann zu glitzern, zuallererst der Regen. Ich schmiegte mich die ganze Zeit eng an Nino, manchmal schlief ich an seiner Schulter ein, und wieder hatte ich das Gefühl, weit über meine Grenzen hinausgegangen zu sein, und das voller Genuss. Mir gefiel die fremde Sprache, die im Auto erklang, mir gefiel, dass ich auf dem Weg zu einem Buch war, das ich auf Italienisch geschrieben hatte, das aber durch Mariarosa zunächst in einer anderen Sprache erschien. Wie ungewöhnlich das war, und was für erstaunliche Dinge ich erlebte. Mein Buch kam mir vor wie ein Stein, den ich auf eine unberechenbare Flugbahn geschickt hatte, mit einer Geschwindigkeit, die nicht mit der der Steine vergleichbar war, mit denen Lila und ich in unserer Kindheit die Jungsbande beworfen hatten.
Doch die Reise war nicht nur angenehm, manchmal wurde ich traurig. Außerdem hatte ich schon bald den Eindruck, dass Nino in einem Ton mit Colombe sprach, den er bei Augustin nicht hatte, ganz zu schweigen davon, dass seine Fingerspitzen zu oft ihre Schulter berührten. Meine schlechte Laune wuchs, ich sah, dass die beiden zunehmend vertraut miteinander wurden. Als wir in Paris ankamen, verstanden sie sich bereits bestens und redeten angeregt miteinander, Colombe lachte häufig, wobei sie sich mit einer unbewussten Geste ihr Haar zurechtzupfte.
Augustin hatte eine schöne Wohnung am Canal Saint-Martin, Colombe war vor kurzem zu ihm gezogen. Sie zeigten uns unser Zimmer, ließen uns dann aber noch nicht ins Bett gehen. Sie schienen nicht gern allein bleiben zu wollen, sie redeten und redeten. Ich war müde und nervös, die Fahrt nach Paris hatte ich mir gewünscht, und nun fand ich es absurd, mit Nino, der mich kaum beachtete, und weit entfernt von meinen Töchtern, bei fremden Leuten in dieser Wohnung zu sein. Später, in unserem Zimmer, fragte ich ihn:
»Gefällt dir Colombe?«
»Sie ist nett.«
»Ich habe gefragt, ob sie dir gefällt.«
»Suchst du Streit?«
»Nein.«
»Dann denk doch mal nach: Wie kann mir denn Colombe gefallen, wenn ich dich liebe?«
Ich erschrak, sobald sein Ton auch nur ein bisschen schroffer wurde, fürchtete, einsehen zu müssen, dass etwas zwischen uns nicht so gut lief. ›Er ist bloß freundlich zu jemandem, der freundlich zu uns war‹, sagte ich mir und schlief ein. Doch ich schlief schlecht. Irgendwann hatte ich das Gefühl, allein im Bett zu sein, ich versuchte, wach zu werden, sank aber erneut in den Schlaf. Nach einer Weile fuhr ich wieder auf. Diesmal stand Nino im Dunkeln, so schien es mir jedenfalls. »Schlaf«, sagte er. Und ich schlief wieder ein.
Tags darauf brachten uns unsere Gastgeber nach Nanterre. Die ganze Fahrt über alberte Nino anspielungsreich mit Colombe herum. Ich zwang mich, nicht darauf zu achten. Wie konnte ich daran denken, mit ihm zu leben, wenn ich meine Zeit damit verbringen musste, ihn zu kontrollieren? Als wir unser Ziel erreichten und er auch zu Mariarosas Freundin, der der Verlag gehörte, und zu deren Geschäftspartnerin charmant und verführerisch war – die eine um die vierzig, die andere um die sechzig und beide bei weitem nicht so attraktiv wie Augustins Freundin –, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. ›Es ist nichts dabei‹, sagte ich mir schließlich, ›er ist zu allen Frauen so.‹ Und endlich fühlte ich mich wieder wohl.
Die zwei Frauen empfingen mich mit viel Wertschätzung und erkundigten sich nach Mariarosa. Ich erfuhr, dass mein Text erst seit kurzem in den Buchhandlungen war, aber schon einige Rezensionen erschienen waren. Die ältere der beiden zeigte sie mir, offenbar erstaunt, wie gut ich besprochen wurde, und wies Colombe, Augustin und Nino darauf hin. Ich überflog die Artikel, mal zwei Zeilen hier, mal vier Zeilen dort. Sie stammten von Frauen – im Gegensatz zu Colombe und den beiden Verlegerinnen hatte ich ihre Namen noch nie gehört – und lobten mein Buch wirklich vorbehaltlos. Ich hätte zufrieden sein müssen, noch am Vortag hatte ich mich gezwungen gesehen, mich selbst zu beweihräuchern, nun war das nicht mehr nötig. Trotzdem konnte ich mich nicht freuen. Seit ich Nino liebte und er mich, war es, als ließe diese Liebe alles Gute, was mir geschah und noch geschehen würde, lediglich zu einem angenehmen Nebeneffekt werden. Ich zeigte mich maßvoll erfreut und äußerte mich mit matter Zustimmung zu den von meinen Verlegerinnen geplanten Werbemaßnahmen. »Sie müssen bald wiederkommen«, rief die ältere der zwei Frauen, »jedenfalls wünschen wir uns das.« Die jüngere fügte hinzu: »Mariarosa hat uns von Ihrer Ehekrise erzählt, hoffentlich überstehen Sie sie ohne allzu großen Kummer.«
Auf diese Weise erfuhr ich, dass die Nachricht vom Bruch zwischen Pietro und mir nicht nur zu Adele gedrungen war, sondern auch Mailand und sogar Frankreich erreicht hatte. ›Umso besser‹, dachte ich, ›so wird es leichter, die Trennung zu besiegeln.‹ Ich sagte mir: ›Ich werde mir nehmen, was mir zusteht, und darf nicht in der Angst leben, Nino zu verlieren, darf mir keine Sorgen wegen Dede und Elsa machen. Ich bin ein Glückspilz, er wird mich immer lieben, meine Töchter sind meine Töchter, alles wird gut.‹
Wir flogen nach Rom zurück. Beim Abschied schworen wir uns alles mögliche, wir schworen unablässig. Dann fuhr Nino nach Neapel und ich nach Florenz.
Ich kam geradezu auf Zehenspitzen nach Hause, davon überzeugt, dass mich eine der schwersten Prüfungen meines Lebens erwartete. Stattdessen begrüßten mich die Mädchen mit erschreckter Freude, und beide folgten mir in der Wohnung überallhin, als fürchteten sie, ich könnte erneut verschwinden, sobald sie mich aus den Augen verloren; Adele war freundlich und erwähnte den Grund, der sie zu uns geführt hatte, mit keiner Silbe; Pietro, kreidebleich, beschränkte sich darauf, mir eine Liste mit den Anrufen zu geben, die für mich eingegangen waren (Lilas Name tauchte nicht weniger als vier Mal auf), murmelte, er müsse dienstlich verreisen, und war bereits zwei Stunden später weg, ohne sich auch nur von seiner Mutter und den Mädchen verabschiedet zu haben.
Es dauerte einige Tage, bis Adele ihre Meinung deutlich zum Ausdruck brachte: Sie wollte, dass ich wieder zur Besinnung kam und an die Seite meines Mannes zurückkehrte. Und es dauerte einige Wochen, bis sie einsah, dass ich weder das eine noch das andere wollte. In dieser Zeit wurde sie nie laut, verlor nie die Ruhe und machte nicht eine ironische Bemerkung über meine häufigen und langen Telefongespräche mit Nino. Sie interessierte sich mehr für die Anrufe der zwei Frauen aus Nanterre, die mich über die Erfolge meines Buches und über eine Lesereise informierten, die mich durch Frankreich führen würde. Sie wunderte sich nicht über die positiven Rezensionen in den französischen Zeitungen, war sich sicher, dass mein Buch in Italien schon bald die gleiche Aufmerksamkeit erhalten würde, und sagte, was unsere Zeitungen anging, würde sie noch mehr erreichen können. Beharrlich lobte sie vor allem meine Intelligenz, meine Bildung, meinen Mut und nahm kein einziges Mal ihren Sohn in Schutz, der sich übrigens nie blicken ließ.
Ich hielt es für ausgeschlossen, dass Pietro wirklich berufliche Verpflichtungen außerhalb von Florenz hatte. Aber wütend und mit einem Anflug von Verachtung musste ich feststellen, dass er seine Mutter mit der Beilegung unserer Krise betraut und sich irgendwo verkrochen hatte, um an seinem nicht enden wollenden Buch zu arbeiten. Einmal konnte ich mich nicht beherrschen und sagte zu Adele:
»Es war wirklich nicht einfach, mit deinem Sohn zusammenzuleben.«
»Das ist mit keinem Mann einfach.«
»Glaub mir, mit ihm war es besonders schwer.«
»Meinst du, mit Nino wird es besser?«
»Ja.«
»Ich habe mich erkundigt. Was man in Mailand über ihn redet, ist wirklich schlimm.«
»Das Mailänder Gerede brauche ich nicht. Ich liebe ihn seit zwei Jahrzehnten, verschone mich mit Klatsch und Tratsch. Ich weiß mehr über ihn als alle anderen.«
»Wie gern du sagst, dass du ihn liebst.«
»Warum auch nicht?«
»Du hast recht, warum nicht. Ich habe mich geirrt: Einem verliebten Menschen kann man nicht die Augen öffnen.«
Von nun an erwähnten wir Nino nicht mehr. Und als ich ihr die Mädchen anvertraute, um nach Neapel zu hasten, zuckte sie mit keiner Wimper. Und das tat sie auch nicht, als ich ihr sagte, dass ich nach meiner Rückkehr aus Neapel für eine Woche nach Frankreich fahren würde. Sie fragte mich nur mit einem leicht ironischen Unterton:
»Und was ist mit Weihnachten? Wirst du dann bei den Mädchen sein?«
Diese Frage war geradezu beleidigend, ich antwortete:
»Selbstverständlich.«
Ich packte vor allem Unterwäsche und elegante Kleider ein. Dede und Elsa, die übrigens nie nach ihrem Vater fragten, obwohl sie ihn nun schon eine Weile nicht gesehen hatten, nahmen die Ankündigung, dass ich wieder wegfahren würde, sehr schlecht auf. Dede schleuderte mir Worte entgegen, die garantiert nicht ihre waren, sie schrie: »Ja, hau bloß ab, du bist widerlich!« Fragend sah ich Adele an, ich hoffte, sie würde die Aufgabe übernehmen, die Kinder abzulenken und mit ihnen zu spielen, doch sie tat nichts. Als die zwei mich zur Tür gehen sahen, fingen sie an zu weinen. Zunächst Elsa, sie brüllte: »Ich will mitkommen!« Dede widerstand, sie bemühte sich, mir ihre ganze Gleichgültigkeit und vielleicht sogar Verachtung zu zeigen, aber am Ende hielt sie es nicht mehr aus und jammerte noch mehr als ihre Schwester. Ich musste mich von ihnen losreißen, sie hielten mich am Kleid fest, wollten, dass ich den Koffer abstellte. Ihr Weinen verfolgte mich bis auf die Straße.
Die Fahrt nach Neapel schien mir endlos zu sein. Kurz vor dem Ziel sah ich aus dem Fenster. Je langsamer der Zug auf seinem Weg ins Stadtgebiet wurde, umso stärker erfassten mich Unruhe und Erschöpfung. Mir fiel die Hässlichkeit der Außenbezirke mit ihren grauen Häusern hinter den Gleisen auf, mit den Gittermasten, den Signallichtern, den steinernen Brüstungen. Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, hatte ich den Eindruck, dass das Neapel, mit dem ich mich verbunden fühlte, das Neapel, in das ich nun zurückkehrte, nur noch Nino beinhaltete. Ich wusste, dass er in größeren Schwierigkeiten steckte als ich. Eleonora hatte ihn rausgeworfen, auch für ihn war alles provisorisch geworden. Er wohnte seit einigen Wochen bei einem Kollegen von der Universität, nur ein paar Schritte vom Dom entfernt. Wohin würde er mich bringen, was würden wir tun? Und vor allem, welche Entscheidungen würden wir treffen, hatten wir doch nicht einmal eine leise Ahnung davon, in welche Richtung unsere Geschichte gehen sollte. Ich wusste nur, dass ich vor Verlangen brannte, ich musste ihn unbedingt wiedersehen. Mit der Befürchtung, er könnte verhindert sein und mich nicht am Bahnsteig abholen, stieg ich aus dem Zug. Aber da stand er: Hochgewachsen, wie er war, ragte er aus dem Strom der Reisenden heraus.
Das beruhigte mich, und noch mehr beruhigte mich, dass er ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Mergellina reserviert hatte und damit zu erkennen gab, dass er nicht die geringste Absicht hatte, mich in der Wohnung seines Freundes zu verstecken. Wir waren verrückt vor Liebe, die Zeit flog davon. Am Abend spazierten wir eng aneinandergeschmiegt die Uferstraße entlang, er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt und beugte sich hin und wieder zu mir, um mir einen Kuss zu geben. Ich versuchte auf jede erdenkliche Weise, ihn zu überreden, nach Frankreich mitzukommen. Er hätte es gern getan, doch dann machte er einen Rückzieher und verschanzte sich hinter seiner Arbeit an der Universität. Über Eleonora und Albertino sprach er nie, als könnte ihre bloße Erwähnung uns die Freude des Zusammenseins verderben. Ich dagegen erzählte ihm von der Verzweiflung meiner Mädchen, sagte, wir müssten so schnell wie möglich eine Lösung finden. Ich merkte, dass er nervös war, ich reagierte auf jede noch so leichte Spannung und fürchtete, er könnte von einem Augenblick zum anderen sagen: Ich kann nicht mehr, ich kehre nach Hause zurück. Aber ich irrte mich. Als wir essen gingen, erzählte er mir, wo das Problem lag. Plötzlich ernst geworden, sagte er, es gebe eine unerfreuliche Neuigkeit.
»Schieß los«, brummte ich.
»Heute Morgen hat mich Lina angerufen.«
»Aha.«
»Sie will uns sehen.«
Der Abend war gelaufen. Nino sagte, meine Schwiegermutter habe Lila verraten, dass ich in Neapel war. Er sprach mit großer Verlegenheit, wählte seine Worte sorgfältig und betonte Informationen wie: »Sie hatte keine Adresse von mir; sie hat meine Schwester nach der Privatnummer meines Kollegen gefragt; kurz bevor ich mich auf den Weg zum Bahnhof gemacht habe, hat sie angerufen; ich habe es dir nicht gleich gesagt, weil ich Angst hatte, du würdest dich aufregen, und das würde uns den Tag ruinieren.« Zum Schluss sagte er düster:
»Du weißt doch, wie sie ist, ich konnte einfach nicht nein sagen. Wir sind morgen um elf mit ihr verabredet, sie wartet an der U-Bahn-Station Piazza Amedeo auf uns.«
Ich konnte mich nicht beherrschen:
»Seit wann seid ihr wieder in Kontakt? Habt ihr euch getroffen?«
»Wie kommst du denn darauf? Natürlich nicht.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Elena, ich schwöre dir, dass ich seit 1963 nichts mehr von Lina gehört und gesehen habe.«
»Weißt du, dass das Kind nicht von dir ist?«
»Sie hat es mir heute Morgen gesagt.«
»Also habt ihr euch ausführlich über sehr persönliche Dinge unterhalten.«
»Sie hat doch von dem Kind angefangen.«
»Und in der ganzen Zeit hattest du nie den Wunsch, mehr über es zu erfahren?«
»Das ist mein Problem, ich sehe keine Notwendigkeit, das zu erörtern.«
»Deine Probleme sind jetzt auch meine. Wir haben viel zu bereden, unsere Zeit ist kurz, und ich habe meine Töchter nicht zurückgelassen, um diese Zeit mit Lina zu vergeuden. Wie konntest du dich nur mit ihr verabreden?«
»Ich dachte, du freust dich. Und außerdem: Da ist ein Telefon. Ruf deine Freundin an, sag ihr, dass wir zu tun haben und du sie nicht treffen kannst.«
Da hatten wir's, plötzlich hatte er die Geduld verloren, ich schwieg. Ja, ich wusste, wie Lila war. Seit ich aus Frankreich nach Florenz zurückgekehrt war, hatte sie häufig angerufen, aber ich hatte andere Dinge im Kopf gehabt, hatte jedes Mal aufgelegt und zudem Adele gebeten – falls sie es war, die das Gespräch entgegennahm –, ihr zu sagen, dass ich nicht zu Hause sei. Aber Lila hatte nicht aufgegeben. Es konnte also durchaus sein, dass Adele ihr von meinem Aufenthalt in Neapel erzählt hatte, es konnte sein, dass sie davon ausgegangen war, ich würde nicht in den Rione kommen, und es konnte sein, dass sie nach einem Weg gesucht hatte, mit Nino Kontakt aufzunehmen, nur um mich zu treffen. Was war schon dabei? Und vor allem, was erwartete ich? Ich wusste doch bereits, dass er Lila geliebt hatte und sie ihn. Na und? Das war lange her, jetzt noch eifersüchtig zu sein, war unangebracht. Ich streichelte seine Hand, flüsterte: »Ist gut, wir gehen morgen zur Piazza Amedeo.«
Beim Essen redete Nino ausführlich über unsere Zukunft. Er nahm mir das Versprechen ab, gleich nach meiner Rückkehr aus Frankreich die Trennung zu verlangen. Zugleich versicherte er mir, dass er bereits Kontakt zu einem befreundeten Anwalt aufgenommen habe und er, auch wenn alles kompliziert sei und Eleonora und ihre Eltern ihm garantiert das Leben schwermachen würden, entschlossen sei, die Sache durchzuziehen. »Du weißt ja«, sagte er, »dass so was in Neapel schwieriger ist. Was rückständiges Denken und schlechtes Benehmen angehen, sind die Eltern meiner Frau nicht besser als meine oder deine, obwohl sie Geld und hochangesehene Berufe haben.« Wie um dies zu erläutern, begann er meine Schwiegereltern zu loben. »Anders als du habe ich es leider nicht mit so anständigen Leuten wie den Airotas zu tun«, rief er aus und bezeichnete sie als Familie mit einer großen kulturellen Tradition und Menschen mit bewundernswertem Anstand.