Historischer Roman
von Claudia Speer
Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe
ISBN 978-3-943531-22-0
ISBN 978-3-943531-21-3 (Kindle E-Book)
ISBN 978-3-943531-17-6 (Print Ausgabe)
© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke
Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat, Korrektorat: Juliane Stadler
Umschlaggestaltung | Coverillustration: Esther Bieback
Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke
Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen
Guy schrie vor Wut auf und stemmte den bewusstlosen Schreiberling von seiner Brust. Berge von Herbstlaub versuchten ihn zu ersticken. Er kletterte unter Anstrengung aus dem Fenster des umgestürzten Wagens. »Soll‘s der Teufel holen!« Voller Zorn trat er gegen den Kasten und hörte erst auf, als sein Fuß schmerzte.
Die rechte Hand gegen den Kopf gepresst, tauchte Jakob in einem der Fenster auf. »Was ist passiert, Herr?«
»Was ist passiert, Herr? Was ist passiert?«, äffte Guy ihn mit Fistelstimme nach und trat noch einmal gegen den Wagen. Das hätte er lassen sollen, denn als nächstes sank er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die gebrochene Deichsel, um seine Zehe zu reiben. Wie immer gaffte Jakob ihn mit seinen Rehaugen verständnislos an. Ein Wagenrad drehte sich quietschend im Wind, der durch das vielfarbige Herbstlaub blies. Vereinzelt stießen Vögel Warnrufe aus. Ringsum war Wildnis. Vom Knecht und den Pferden fehlte jede Spur.
Der Schreiberling kletterte umständlich aus dem Wrack und sah sich verblüfft um. Mit seinem Ärmel tupfte er das Blut einer kleinen Platzwunde aus seinem braunen Haarschopf.
Zwanzig Schritt die Böschung hinauf lag die Straße, von der sie abgekommen waren. Plötzlich hatte es geknackt, der Wagenlenker hatte geschrien und dann war es auch schon den Hang hinab gegangen. Rechts und Links wirbelte Wald an ihnen vorbei. Mit Getöse mähten sie junge Bäume um und der Wagen legte sich fast sanft auf die Seite. Wie durch ein Wunder zerschellten sie nicht an einem der dickeren Stämme.
Warum hatte der Knecht die Pferde nicht zum Stehen gebracht? Hoffentlich lag er nicht irgendwo mit gebrochenem Genick. Das hätte Guy gerade noch gefehlt. Sein Schädel brummte, sein Rücken fühlte sich aufgeschürft an und vermutlich hatte er sich eine Zehe gebrochen.
Er hasste große, ausufernde Wälder! Und wie er sie hasste! Nie hatten sie ihm etwas Gutes eingebracht. Er musste nur an Sherwood denken oder an diesen Locksley, den er darin jahrelang erfolglos gejagt hatte. Die Erinnerung an den Triumph, als er den Burschen endlich am Wickel gehabt hatte, und an die Qual, als King Richard zurückkam, diesen Verbrecher beschenkte und ihn, Guy of Gisborne, zum Teufel jagte.
Eine verflucht schwierige Zeit lag hinter ihm. Es hatte gedauert, bis man sich von königlicher Seite erinnerte, dass es ihn gab. Erstaunlicherweise war es Eleonore, die Königin Mutter gewesen, die ihn zu einem Gespräch unter vier Augen zu sich rief, und nicht sein bisheriger Mentor Prinz John. Er sah ihre dunklen tiefgründigen Augen vor sich, das feine Lächeln, mit dem sie ihn begrüßte. »Es ist, wie es immer ist, Sir Guy, die Krone bedarf ihres treuesten Dieners für heikle Aufgaben.«
Das Rufen seines Schreiberlings Jakob, der die Böschung hochkletterte, riss ihn aus seinen Gedanken. »Sir Gisborne, ich kann weder die Pferde noch den Wagenlenker finden«, teilte er unnützerweise mit. Flehentlich, den Blick seiner grauen Augen zum Himmel gerichtet, erhob sich Guy und kletterte ebenfalls die Böschung hoch.
Wie weit waren sie von ihrem Ziel entfernt? Er hatte das Geruckel des Wagens endgültig satt. Seit sie von Mainz aufgebrochen waren, spürte er jeden Stein und jede Kuhle auf der Strecke in den Knochen. Jakob stierte abwechselnd in beide Richtungen der Straße und wirkte so verzweifelt wie ein Jagdhund, der nicht weiß, welchem Fuchs er nachrennen soll. Guy hätte ihn prügeln mögen! Leider war Jakob seine einzige Hoffnung auf Verständigung in diesem von Barbaren bevölkerten Flickenteppich verschiedenster Besitztümer.
Die Sonne beschien einen Felsbrocken am Rand des Weges und Guy ließ sich darauf niedersinken. Er schob die schwarzen, glatten Haare hinter die Ohren und betaste vorsichtig die Zehe. »Hol das Gepäck hoch, du Tölpel!«, rief er Jakob halb resigniert zu.
Waren sie näher an diesem Phorzein oder noch an den paar Höfen des letzten Dorfes? Wenn er sich vorstellte, laufen zu müssen, wurde ihm schlecht.
Jakob mühte sich mit zwei Ledertaschen ab und krabbelte gerade auf die Straße zurück. »Sir, die großen Kleiderkisten kann ich allein nicht schaffen. Gibt es etwas Bestimmtes, was ich daraus bergen soll?«
Guy rollte mit den Augen. Hoffentlich sah er nicht so verdreckt und zerlumpt aus wie sein Schreiberling, der sich verschwitzt neben ihn auf den Stein sinken ließ und die Taschen abstellte. Guys lange lederne Beinlinge hatten sich schon immer als praktisch erwiesen, aber sein weißes Seidenhemd sah ramponiert aus. Er kontrollierte, was Jakob in den Taschen mitgebracht hatte und kramte ein rotes Hemd zum Wechseln hervor. Danach zog er sein schwarzes, oberschenkellanges Lederwams und den Gürtel mit dem Jagdmesser wieder darüber. Er kam um vor Durst und Hunger, also jagte er Jakob erneut den Hang hinunter, um nach dem Wein zu sehen, der ihm als Proviant auf der Fahrt gedient hatte. Die Weine aus dem Rhinthal waren gar nicht übel, aber, wie das Zeug, das sie hier Bier nannten, schwankend in Qualität und Gehalt: Ein Gebräu, das die Bauern hinter Mainz als Ochsensaft bezeichnet hatten, war tatsächlich dazu fähig ein solches Tier zu betäuben, mancher Wein hingegen so sauer, dass es einem das Gemächt zusammenzog.
Auf der Straße tönte dumpfes Getrappel. Es war der Knecht, der mit erleichterter Miene stehen blieb und etwas in seiner Landessprache von sich gab.
»Sir, der Krug ist leider zerbrochen«, rief Jakob hoch.
»Jakob!«, schrie Guy den Hang hinunter. Den Namen sprach er grundsätzlich englisch aus.
Sein Schreiberling reckte den Kopf aus dem Wrack und sah den Knecht. Erfreut beeilte er sich, wieder auf die Straße zu kommen. »Ja, Herr?«
Ungehalten breitete Gisborne die Arme aus. »Der Mann da faselt etwas«, tobte er. »Bist du nun mein Übersetzer oder bist du es nicht? Herrje, muss ich dir sagen, was du zu tun hast?« Erschöpft ließ er sich auf den Stein zurücksinken.
Jakob redete mit dem gedrungenen Mann. Nicht dass Guy sich Mühe gab, die ungehobelten Worte zu verstehen. Die Frohnatur Jakob lachte und scherzte mit dem Knecht. Das trieb ihn fast zum Wahnsinn. Er wollte gerade ein weiteres Donnerwetter loslassen, als Jakob sich ihm endlich zuwandte. »Er hat die Männer eines Gutshofs gebeten ein Ochsengespann herzuschicken, damit wir den Wagen heute noch heraufziehen können. Die Pferde haben sich Blessuren geholt als die Lenkstange gebrochen ist. Er will sie schonen.« Dabei lächelte er vollkommen unbekümmert, als sei das eine gute Nachricht.
Guy biss die Zähne zusammen, was schon so mancher mit einem Lächeln verwechselt hatte.
»Wie schön. Dann bekommen wir den Wagen also heute noch frei.« Nur weise Männer erkannten Sarkasmus, wenn er sie traf.
Jakob war vollauf mit sich zufrieden, weshalb er auch zusammenfuhr, als Gisborne anfing zu schreien. »Was glaubst du eigentlich, wie ich zur nächsten Herberge komme? Hast du mal darüber nachgedacht? Soll ich den Knechten bei der Arbeit zusehen?«
Der Schreiber beeilte sich verdattert ihn zu beschwichtigen. »Äh, nein, Herr. Selbstverständlich wird man Euch ein Ross zu Verfügung stellen, mit dem Ihr den nächsten Ort erreichen könnt.«
In Guys Schädel hämmerte es wie in einer Schmiede. Er musste sich den Kopf härter angeschlagen haben als gedacht – oder Jakobs Dummheit machte ihn krank. Mit beiden Händen an den Schläfen, sank er auf den Stein nieder und stöhnte.
»Ich besorge Euch Wasser«, Jakob huschte davon und überließ Guy sich selbst.
Während der Knecht nach der havarierten Kutsche sah und sein Schreiber irgendwohin verschwand, schloss Guy die Augen. Eigentlich hatten sie verdammtes Glück gehabt. Gott musste seine schützende Hand über ihn gehalten haben. Wie leicht hätten sie tot sein können! War das Ganze wirklich ein Unfall gewesen? Oder bestätigte der Vorfall das ungute Gefühl, seit Mainz einen Schatten zu haben? Wenn ihnen jemand gefolgt war und nicht wollte, dass sie in Phorzein ankamen, dann war dieser jemand äußerst geschickt vorgegangen. Oder er kannte sich in dieser Gegend viel besser aus. Oder er hatte den Knecht bestochen. Guy beobachtete den Mann eine Weile misstrauisch.
Eine wilde Gegend, dieser Rand des Swarzwaldes. Und möglicherweise bedeutete Phorzein nicht das Ende seiner Suche und er musste in den Wald hinein.
Und wenn schon! Er würde alles tun, um das Lehen seines Vaters wiederzubekommen. Der Landsitz bei Nottingham lag ihm sehr viel weniger am Herzen.
Geräuschvoll rutschte Jakob hinter ihm den Waldhang herunter. »Herr, ich habe verwilderte Weinreben gefunden.« Aufgeregt packte er seine Beute aus seinem hochgeschlagenen Unterhemd auf den Stein und hielt Guy einen Wasserschlauch hin.
Das wurde aber auch Zeit! Seine Kehle war vollkommen ausgedörrt. Das Wasser schmeckte kühl und frisch. Es ergoss sich wie Balsam über seine geschwollene Zunge und die kleinen Trauben besaßen eine angenehme Süße.
Müde, aber besänftigt, hörte er endlich Hufklappern auf dem Waldweg. Kurz darauf erschienen Männer mit zwei Ochsen und kleinen stämmigen Ackergäulen. Guy konnte allerdings kein Reitpferd entdecken. Die Knechte des Gutsbesitzers führten die trittsicheren Tiere den Hang hinunter und befestigten Seile am Wagen. Die Pferde reagierten auf Zurufen ihrer Knechte, was Ochsen niemals getan hätten. Mit geballter Kraft stemmten sie sich in ihre Kummets und richteten den Wagen mit einem Ruck auf. Die Knechte schirrten die Tiere um und sie zogen das Wrack fast spielerisch den Hang herauf.
»Mit diesen Pferden holen sie die Stämme aus den Wäldern und ziehen sie zu den Flößern«, erklärte Jakob gut gelaunt.
Als sie den Wagen zurück auf die Straße befördert hatten, war klar, dass es noch einige Zeit brauchen würde, bis er wieder rollte: Ein Rad war gebrochen, die Achse angeknackst, etliche Bretter des Reisewagens mussten ausgetauscht werden. Vermutlich benötigten die Männer noch Stunden, ehe sie die Ochsen anschirren konnten, um das Gefährt in die Stadt zu bringen.
Das dauerte Guy viel zu lange. Langsam versank die Sonne hinter dem Hügel und es wurde kühler. Er kramte seinen Mantel aus der Tasche und verschloss ihn an der rechten Schulter mit einer silbernen Falkenfibel, bevor er sich den Knechten zuwandte. Wie ein Bauer ohne Sattel zu reiten, war eine Zumutung, aber besser als zu laufen.
»Sag den Burschen, dass sie ihre Pferde in Phorzein abholen können, wenn sie den Wagen gebracht haben.« Er händigte jedem der Männer einen Pfennig aus – was ohnehin überbezahlt war – und winkte Jakob den Oberschenkel zu beugen.
Der Schreiberling presste die Lippen aufeinander, kniete sich aber mit einem Bein hin, um mit dem anderen eine Steighilfe zu bilden. Er übersetzte den Knechten Guys herrische Forderung. Die Burschen sahen sich an und entschieden, lieber das Geld zu nehmen, als mit einem Edelmann zu streiten. Guy stieg auf Jakobs Schenkel und schwang sich hinter dem Kummet auf das Pferd. Jakob erkletterte mühevoll das zweite.
Wenigstens erreichten sie die Stadt in der Talmulde auf diese Weise mit einfallender Dämmerung. Ringsum erhoben sich bewaldete Hügel, die nach Süden hin anzuwachsen schienen. Das bunte Herbstlaub der Eichen, Buchen und Ahornbäume lieferte in der Abendsonne ein feuriges Schauspiel, das zur Bezeichnung Swarzwald nicht so recht passen wollte. Von hohen dunklen Tannen, die pfeilgerade in den Himmel wuchsen und die Masten für so manches Schiff auf der See des Nordens lieferten, war nur wenig zu sehen.
Zwischen vielen abgeernteten Feldern und Obstwiesen hindurch näherten sie sich der Stadt von Norden. Etwas weiter flussaufwärts wurden neue Stadtmauern hochgezogen, ein Zeichen dafür, dass die alte Stadt allmählich zu klein für die Zahl ihrer Bewohner wurde. Sie passierten das von Wächtern gesicherte Stadttor und erreichten auf der Hauptstraße, vorbei an Küfer, Hufschmied, Bäcker und Metzger, ein respektables Gut, dessen Haupthaus aus Stein errichtet war. Geruch und Rauschschwaden nach zu schließen, befand sich in einem aus Flusssteinen gemauerten Gebäude in der nordwestlichen Ecke die Küche.
Ein kleiner, dicklicher Benediktiner stürzte auf sie zu. Jakob bat um Unterkunft und übersetzte dann seinen Redeschwall. Bruder Radulf begrüßte sie als Vorstand des klostereigenen Gutshofes und führte sie persönlich auf eines der wenigen Gästezimmer. Es enthielt ein Bett, ein Tischchen und eine Waschschüssel mit Wasserkrug.
Guy verspürte mehr denn je den Hunger eines Wolfes, hatte aber keine Lust bei einem kärglichen Essen neben den Mönchen zu sitzen. Der Vespergottesdienst und das anschließende Mahl waren ohnehin vorbei.
»Jakob, frag ihn nach einem Bader. Barbier und Dirnen wären auch nicht schlecht.« Wenig angetan musterte Guy das kleine Holzbett mit Strohsack in dem kargen Raum und gab sich keine Mühe, seine schlechte Laune zu verbergen.
Nach wie vor die Freundlichkeit in Person, erkundigte sich sein Schreiber nach dem Bader, vermutlich aber nicht nach den Dirnen, denn der kleine Bruder verabschiedete sich lächelnd, um das Komplet vorzubereiten.
»Der Bader hat seine Stube erst in diesem Sommer neu hergerichtet, ein Barbier ist benachbart. Es befindet sich am anderen Ende der Straße zum Fluss hin«, erklärte Jakob verdrießlich.
Sie verließen das Klostergut und folgten der Straße. Im Dunkeln glommen die Herdfeuer in den Häusern der Handwerker und Bauern. Eine Frau scheuchte die Hühner in den Stall, Hunde und Schweine suchten nach Fressbarem in den Gräben, die mit dem täglichen Abfall der Städter gefüllt waren. Sie passierten eine Schänke, auf deren Schild ein Floß abgebildet war. Die Zechenden grölten bis auf die Straße. Zum Fluss hin überquerten sie einen kleinen Kanal, dessen Wasser eine Mühle versorgte und fanden das Haus des Baders, kenntlich am Schild mit Zuber und Badenden über der Tür.
Als sie eintraten, wurden sie von einer wohligen Wärme und einem kräftigen Mann, lediglich mit Tuch um die Lenden, empfangen. Es roch nach Rosenblüten und frischen Kiefernnadeln.
Gisborne sah sich um, während Jakob seine Wünsche vortrug. Auf einer Bank wurden gerade ein Mann und seine Frau von einem Gehilfen abgeschrubbt. Sie hatten ein Kleinkind bei sich, das in einem kleinen Kübel saß und vergnügt mit den Füßen strampelte. Im Hintergrund standen fünf Zuber, die mit großen Tüchern voneinander getrennt wurden, ein sehr ausladender Bottich für mehrere Personen und vier kleinere, in die ein bis zwei Menschen hinein passten. Der große Zuber war voll besetzt mit Männern, die Humpen stemmten, und ein weiterer daneben dampfte in Erwartung der Familie.
Der Bader stellte sich mit »I ben dr Hannes« vor, gab ein Brüllen von sich und zwei Burschen füllten sofort einen weiteren Bottich für Guy. Die Wangen des Baders leuchteten rosig. In seinem breiten Lächeln standen die Zähne etwas schief, aber immerhin besaß er sie noch. Gisborne wertete das als gutes Zeichen und legte seine Kleider ab.
Hinter ihm trat Jakob unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Herr, wenn Ihr erlaubt, werde ich in der Schänke etwas zu Essen besorgen. Der Barbier sollte gleich da sein.«
Badehäuser machten Jakob nervös. Wenn sich Gisborne richtig erinnerte, hatte Jakob erzählt, in einem Kloster erzogen worden zu sein. Die Nacktheit der Leute ließ seine Wangen glühen, während er sich mühte, nirgends hinzusehen, wo es unschicklich sein könnte. Guy nickte. »Geh! Und vergiss die Dirne nicht«, rief er ihm nach, nur um ihn zu ärgern.
Der Bader seifte Guy ein und schwatzte dabei pausenlos. An einigen Stellen brannte Guys Rücken wie Feuer. Sicher war es interessant, was so ein Bader zu erzählen hatte, immerhin war seine Stube den ganzen Tag voll mit Leuten. Doch Gisborne verstand ihn erstens nicht und zweitens zeigte er seine zusammengebissenen Zähne nur, damit er nicht vor Schmerz stöhnte. Der Bader hielt es wohl für ein Lächeln.
Dann kam der Barbier, ein kleiner, drahtiger Mann mit Glatze namens Veit. Flink seifte er die Wangen ein und schabte sie mit dem Messer gründlich ab. Danach legte er ihm ein warmes Tuch auf zur Entspannung der Haut. Die erste Wohltat des Tages.
Unvermittelt ging die Tür auf und trug einen kühlen Hauch Nachtluft herein. »Ein frisch gebratenes Hähnchen, Herr«, verkündete Jakob stolz und balancierte ein großes Tablett herein.
Die Güte der Rasur prüfend, liefen Guy schon sämtliche Säfte im Munde zusammen. Er stieg in den Zuber und ließ sich das Tablett aufdecken. Das Hähnchen duftete köstlich nach einem Gewürz, das er nicht kannte, dazu gab es Erbsen und einen ordentlichen Kanten Brot. Herzhaft grub er seine Zähne in das Fleisch und trank von dem säuerlichen Wein. »Bezahl den Barbier!«, befahl er seinem Schreiber kauend und Jakob beeilte sich, dem nachzukommen.
Guy überlegte kurz. »Wenn du heute Nacht im gleichen Raum mit mir schlafen sollst, dann wirst du um ein Bad nicht herumkommen. Du stinkst wie ein Eber.« Amüsiert beobachtete Guy den Schrecken in Jakobs Gesicht.
»Herr, ich habe mich erst vor der Abreise in Mainz gewaschen«, quiekte er wie ein Kastrat.
Aber Gisborne ließ ihm keine Wahl.
»Vorwärts, du Stinker!«
Widerwillig zog Jakob seine knielange Tunika aus, das Unterkleid, löste die Schnüre seiner Hosen und duldete das Einseifen und Abspülen. Danach stieg er zu seinem Herrn in den Zuber. Das angenehme Bad hatte Guys Laune gehoben. Die Abschürfungen auf seinem Rücken brannten nicht mehr und das hochrote Gesicht seines Schreibers bereitete ihm Vergnügen. »Greif zu!«, lud er ihn ein. »Die Dirne hast du wohl vergessen?«
Um die Nase seines Schreibers bildete sich ein weißer Kringel – ein eindeutiges Zeichen, dass er Jakobs Gutmütigkeit ausgeschöpft hatte. »Schon gut, Schreiberling. Nicht so wichtig. Hast du dich umhören können?« Darin bestand eine von Jakobs Hauptaufgaben. Da Guy der Landessprache nicht mächtig war und die wenigsten Leute Französisch sprachen, war Jakob sein Ohr. Es war merkwürdig, der Fremde zu sein, nicht zu verstehen, wovon die Menschen sprachen. Ob sie über ihn lästerten oder sich unziemlich betrugen?
»In der Flößerschänke sind nur einfache Menschen unterwegs, Herr. Sie sprachen von den Vorbereitungen für das winterliche Fällen der Bäume. Einige der Männer sind erst vor Kurzem wieder aus den Hollanden zurückgekehrt. Die anderen berichten von den Machenschaften des Ritters Ullf, der bei einer seiner Burgen eine Floßzollstelle eingerichtet hat, was ihnen natürlich Kummer bereitet. Wie es aussieht, erhebt der Ritter Wegezölle aller Art, wenn man über sein Land reitet. Es liegt südwestlich von hier. Eigentlich gehört das Gebiet dem Markgrafen Heinrich von Braunschweig, aber der scheint nicht so interessiert an seinem Land zu sein, solange die Bewirtschaftung stimmt. Die Stadt gehört zum Besitz des Klosters St. Peter und Paul, das sich südlich tiefer im Wald befindet.«
Was für ein Wirrwarr! Bei diesem Ullf schien es sich um einen Raubritter zu handeln. Hoffentlich machte er ihnen keine Schwierigkeiten.
»Morgen ist Markttag in der Altstadt. Dort könnten wir uns kundig machen, Herr.«
Das war keine dumme Idee.
Die Tür schlug auf. Wieder wehte ein Schwall kühler Luft herein. Ein Mann mittleren Alters betrat das Badehaus. Er hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kiefer. Eine Zahnbehandlung! Der Raum würde sich mit Schaulustigen füllen, die dem armen Teufel beim Leiden zusahen. »Lass uns zum Klostergut zurückkehren«, meinte Guy müde.
Natürlich gingen die Mönche in der Nacht zur Vigil, das verschlief Guy zum Glück. Aber das Invatorium-Gebimmel kurz vor Anbruch des Tages weckte ihn auf. Die Mönche machten sich bereit zu den Laudes, während die Knechte und Mägde des Gutshofes sich um das Vieh kümmerten, die Küchenöfen anwarfen und an die Zubereitung der Mahlzeiten gingen.
Guy streckte sich. Dank des Bades am Vorabend, fühlte er sich heute nicht so verbeult, wie nach dem Unfall befürchtet. Mit einem leichten Tritt weckte er Jakob, der auf dem Boden vor seinem Bett genächtigt hatte. »Aufwachen, Schreiberling! Hol mir Wasser!«
Stöhnend rappelte sich sein Schreiber auf und stolperte aus dem Zimmer. »Hab dich nicht so! Du bist doch noch jung, was greinst du wie ein alter Mann?«, rief er ihm nach. Er zog sich den Pisspott unter dem Bett hervor und entleerte seine Blase. Dann stieß er den Holzladen auf und besah sich das Treiben auf dem Hof. Links stand eine kleine Kapelle, in der die Brüder ihre Gebete verrichteten. Man konnte sie singen hören. Da er Gast des Ordens war, ließ sich kaum umgehen, die eine oder andere Messe zu besuchen. Aber da gab es ja Auswahl genug.
Ein dicker Hahn krähte lautstark auf dem Misthaufen und scharte seine gackernden Hühner um sich, ein Junge trieb schwarzborstige Schweine auf die Weide, während eine Magd das Butterfass stampfte. Gerade kam Jakob mit einem Krug über den Hof zurückgestolpert. Auf der anderen Seite des Gutes stand außerhalb des Geländes ein größerer Steinbau. Es war eine Basilika aus rotem Buntsandstein.
Guy schob den Pisspott mit dem Fuß unter das Bett zurück und setzte sich. Jakob trat ein, stellte den Krug ab und zauberte einen Tonbecher, ein Stück Brot – herrlich frisch gebacken – und zwei Äpfel aus seinen Taschen.
Was würde er nur ohne ihn machen? Guy löschte seinen Durst, nahm sich das Brot und warf seinem Schreiber einen der rotbackigen Äpfel zu. Jakob fing ihn lächelnd auf. Dann machte er große Augen und reckte den Zeigefinger, als habe er etwas vergessen, griff abermals in seine Tasche und förderte eine Wurst zu Tage. Jede Wette, die hatte die Küche ohne Zustimmung des Kochs verlassen!
Guy schnappte sich die Wurst und roch daran. Mit Buchenholz geräuchert. Herrlich! War es nicht erstaunlich, dass die strenge Moral in den Klöstern die schlaueren Zöglingen nicht zwangsläufig zu anständigen Menschen machte? Jakob jedenfalls hatte das ständige Hungern als Novize findig werden lassen.
Nach dem Frühstück und dem Besuch des Abtritts, gingen sie gemeinsam in die Basilika zu einem morgendlichen Gebet. Sie war St. Martin geweiht, wie Jakob einem Relief entnahm, das neben dem Eingang angebracht war. Ein Tympanon über dem Türrahmen zeigte hingegen, wie das Böse in Gestalt eines Löwen die Seelen der Menschen fraß, dargestellt als kleiner Vogel. In der Mitte befand sich ein Abbild Adams mit einem etwas aus der Mode gekommenen langen Schnauzbart. Auf der anderen Seite des Sinnbilds der Menschheit, bedrohte der gekrönte Hahn das christliche Kreuz. Die Erlösung von diesen Schrecken, der besiegte und gefesselte Löwe, fiel klein aus, und den bezwungenen Hahn hatte der Bildhauer vergessen.
Das Bild wirkte ungeschickt und wenig durchdacht. In Nottingham gab es jede Menge besserer Arbeiten, aber darauf kam es nicht an. Wichtig war nur, dass die Menschen verstanden, wo sie die Erlösung finden konnten: Nämlich hinter diesen Türen, im christlichen Glauben an Gott. Bilder sagten so viel mehr als lateinische Schriften, die ohnehin fast kein Mensch lesen konnte.
Das Gebäude besaß ein flaches Dach und drei Schiffe. Guy entzündete eine Kerze für den Sheriff von Nottingham, der bei der Sache mit Locksley damals vor drei Jahren ums Leben gekommen war – mehr als ärgerlich, denn er war ein fähiger Sheriff gewesen. Außerdem bat er um Beistand bei seiner Suche nach dem Kind.
Nach angemessener Zeit schlenderten sie zur Neustadt, die von Bautätigkeit erfüllt war, vorbei an den Händlern, die ihre Stände aufbauten.
Die Neustadt lag ein Stück flussaufwärts und schmiegte sich an einen Hügel. Ein erster Befestigungsring umschloss einen Teil des Hanges. Weitere Häuser lagen an der Straße zum Fluss hinunter. Aufgeworfene Erdwälle umfassten ein viel größeres Areal, als das der Altstadt. Die Neustadt würde ihre Vorgängerin bald an Größe und Bedeutung übertreffen. Möglich, dass die Bewohner Sicherheit vor den jährlichen Hochwassern des Flusses suchten, der das Tal von West nach Ost durchfloss. Aber es war auch eine strategische Verbesserung, denn gegenüber der Stadt mündete ein zweiter, von Süden kommender Fluss in den vielarmigen mit Schilf umwucherten Wasserlauf. Von hier oben, nahe der Baustelle einer weiteren Kirche, genoss man einen herrlichen Ausblick.
Nach dem kleinen Spaziergang kehrten sie in die Altstadt zurück. Bei Tageslicht besehen, war sie von einer Schutzmauer umgeben, über die sich jeder Bewohner Nottinghams totgelacht hätte.
Der Markt füllte nicht nur den kleinen Platz, sondern auch die Gassen ringsum, wo Bauern aus den Dörfern der Umgebung einen Teil ihrer Ernte zu verkaufen trachteten. Korbflechter und Töpfer, Besenbinder und Färber, Werkzeugmacher und Knochenschnitzer und viele andere Handwerker feilschten mit den Kunden. Dazwischen fand sich ein Goldschmied, der sein Geschmeide auf einem samtenen Tuch anbot. Und die gesuchte Kräuterfrau.
Etliche Frauen, die Kräuter zum Kochen oder für andere Verwendungszwecke kauften, tratschten an ihrem Stand. Ihr Haar war ordentlich unter einem Tuch verborgen, das Leinenunterkleid mit einem Leibchen und mit einem grünen Rock geschnürt, darüber trug sie eine Schürze. Die Ärmel des Unterkleids hatte sie mit Lederschnüren eng um die Unterarme gebunden. Guy schätzte sie auf Mitte vierzig. Ein junges Mädchen, ebenso gekleidet wie sie, ging ihr zur Hand.
Er nickte Jakob zu, der sich mit einem Seufzer zwischen den Kundinnen hindurchdrängte. »Heda,Weib! Bist du die Hebamme der Stadt?« Die Frau heftete ihre braunen Augen auf seinen Schreiber. »Mein Name ist Magda, Herr. Seid ihr es, der darnieder kommt?« Die umstehenden Frauen brüllten vor Lachen.
Auch wenn Guy die Unterhaltung nicht verstand, sah er an den hochroten Ohren seines Schreibers, dass der Witz auf Jakobs Kosten ging. Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Magda indes blickte zu ihm herüber.
»Mein Herr möchte Euch auf ein Bier einladen. Er hat ein paar Fragen an Euch«, versuchte Jakob die Haltung zu wahren und den Witz zu ignorieren.
Magda stemmte die Hände in die Hüften. »Und warum fragt dein Herr nicht selbst? Ist er zu fein, um mit einer Frau zu sprechen?«
Alle Frauen warfen Guy kokette Blicke zu. Es reizte ihn mitzuspielen und er verbeugte sich, die Hand auf der Brust, als stünden holde Damen vor ihm. Die Weiber kicherten und drehten sich verschämt weg.
Genug damit! Wenn er nicht aufpasste, packte ihn ein Handwerker oder gar Flößer am Wickel. Und die trugen Äxte am Gürtel!
»Er spricht unsere Sprache nicht, Frau Magda. Er ist ein Landsmann des großen König Richards, der unserem Kaiser die Treue geschworen hat«, erklärte er.
Sie nickte und wischte sich gleichzeitig die Hände an ihrer Schürze ab. Dann überließ sie den Stand ihrer Tochter und machte eine angedeutete Verbeugung vor Guy. »Lieber gehe ich ein paar Schritte mit Euch am Fluss, Herr Gisborne«, erklärte sie nicht wenig neugierig, was ein Fremder von ihr wollte.
Sie kam gleich zur Sache, kaum dass sie das südliche Tor passiert hatten. »Geht es um ein Männerleiden, bei dem ich helfen soll? Brennt das Wasserlassen?« Jakob schüttelte vehement den roten Kopf.
»Was will sie wissen?«, insistierte Guy.
Doch Jakob ignorierte seine Frage. »Nein, Frau Magda.«
»Eine Krankheit, die seine Frau befallen hat?«
»Verdammt, Jakob! Willst du mir antworten?«
»Nein!«, rief Jakob mit weißem Kringel um die Nase. »Wenn Ihr mir die Sache überlassen wollt, Herr! Ich kann nicht gleichzeitig zwei unterschiedliche Fragen beantworten.«