© Georg Zepke, 2016
Verlag: T.S.O. Texte zur Systemischen Organisationsforschung, Wien
Grafische Gestaltung: Nele Steinborn, Wien
Lektorat: Helmut Gutbrunner, Wien
Herstellung: BoD – Books on Demand GmbH, Noderstedt
ISBN: 978-3-9504160-1-5
www.organisationsforschung.at
Im vorliegenden Einführungsband werden Sie eingeladen, sich mit qualitativen Forschungsstrategien zu befassen. Nach der Lektüre sollten Sie in der Lage sein, eine qualitative Studie – von der Konzeption über die Datenerhebung bis hin zur Auswertung – durchzuführen bzw. Klarheit darüber erlangt haben, an welchen Punkten Sie sich noch vertiefend mit der zugrunde gelegten Literatur befassen müssen.
Sie werden bei der Lektüre Erfahrungen mit einer Form der Forschung machen, die sehr nahe an alltäglichen Formen menschlicher Kommunikation angesiedelt ist:
Damit ist qualitative Forschung einerseits alltagsnäher und weniger abstrakt als manche anderen wissenschaftlichen Forschungszugänge. Andererseits ist die Grenze zwischen Alltagserkenntnis und Wissenschaft fließender, was zu Akzeptanzproblemen der qualitativen Forschung in der Wissenschaft führt.
Die Zielgruppe des Buches sind einerseits Studierende sozialwissenschaftlicher und betriebswirtschaftlicher, aber auch angrenzender Fächer, die in einem überschaubaren Rahmen erste Versuche mit qualitativen Methoden machen möchten. Andererseits richtet sich die Einführung aber auch an PraktikerInnen wie Personal- und Organisationsentwicklerlnnen, die in ihrem Berufsfeld qualitative Erhebungen durchführen wollen.
Im Buch werden immer wieder Praxisbeispiele aus meinen Forschungsprojekten angeführt. Da der Schwerpunkt meiner Arbeit1 in der Organisationsforschung, insbesondere auch in der Evaluierung von Veränderungsprojekten in Unternehmen liegt, sind Beispiele aus diesem Bereich überrepräsentiert: Ich bin aber zuversichtlich, dass LeserInnen mit anderen thematischen Interessen die Praxisbeispiele auch gut auf ihren Bereich umlegen können.
In Abschnitt 1 werden Sie in die Grundlagen qualitativer Forschung und in deren spezifische Gütekriterien eingeführt. Hier ist der Theoriebezug am stärksten, wobei auch einige wissenschaftstheoretische Überlegungen enthalten sind. Es ist mir klar, dass praxisorientierte LeserInnen versucht sein könnten, dieses Kapitel schnell zu überfliegen. Da aber viele praktische Fragen in den späteren Teilen des Buches viel besser zu verstehen sind, wenn die grundlegende Herangehensweise der qualitativen Forschung und die anzuwendenden Qualitätskriterien einmal gründlich durchgedacht wurden, möchte ich zu einer aufmerksame Lektüre auch dieses Kapitels anregen.
Abschnitt 2 stellt das Prozessverständnis von qualitativer Forschung dar und bietet einen idealtypischen Ablauf eines Forschungsprozesses an. In diesem Kapitel werden die ersten planerischen Entscheidungen wie Zielfestlegung und Grobplanung, insbesondere die Auswahl von passenden „Forschungsobjekten“ (Samplingstrategie), erläutert.
In Abschnitt 3 werden die wichtigsten qualitativen Erhebungsverfahren, nämlich Einzel- und Gruppeninterviews, Beobachtungsverfahren sowie „nonreaktive Verfahren“ (Dokumentenanalyse) vorgestellt. Im Zentrum dabei steht die in der Sozialforschung am häufigsten angewandte Form: das Interview. Dabei werden auch einige in der Sozialforschung eher unübliche Fragetechniken, die aus der systemischen Beratung kommen, hinsichtlich ihrer Nützlichkeit für Interviews in der Sozialforschung diskutiert.
Praktische Anwendungsprobleme der Datensicherung werden im kurzen Abschnitt 4 diskutiert.
Wie mit qualitativen Daten dann konkret auswertend umzugehen ist, lässt sich aus der Fachliteratur oft nur schwer ableiten. Qualitativen Auswertungsverfahren haftet oft der Nimbus des Geheimnisvollen und Mysteriösen an. In Abschnitt 5 werden Ihnen zwei verbreitete und sich in wesentlichen konzeptionellen und praktischen Aspekten deutlich unterscheidende Ansätze (Qualitative Inhaltsanalyse und Grounded Theory) exemplarisch vorgestellt.
Daran anschließend wird ein mögliches praxisnahes und pragmatisches Vorgehen der Auswertung („eklektische Auswertung“) skizziert (Abschnitt 6). Gerade dieser Abschnitt ist oft für Studierende, die sich unsicher fühlen, wie sie nun ganz konkret das erhobene Datenmaterial auswerten sollen, hilfreich. Dabei soll kein neuer, in sich geschlossener Ansatz vorgestellt werden. Vielmehr sollen die LeserInnen ermutigt werden, sich bei der Suche nach einer zum Forschungsgegenstand passenden Auswertungsstrategie verschiedener Konzepte, Ansätze und Stile zu bedienen („Eklektizismus“).
Nach einigen Hinweisen auf die oft unterschätzten Herausforderungen beim Abschließen des Forschungsprozesses (Abschnitt 7) folgen in Abschnitt 8 noch einige abschließende Gedanken.
Der Aufbau des Buches folgt einer an pragmatischen Anforderungen orientierten Systematik, was der prozesshaften und reflexiven Anlage von qualitativer Forschung nur beschränkt entspricht. Denn qualitativ forschen heißt auch, sich auf eine gewisse Forschungslogik, auf einen offenen Prozess mit letztlich ungewissem Ausgang und auf ein zuweilen mühevolles Ringen um ein angemessenes Verständnis des Forschungsgegenstandes einzulassen. Dennoch ist eine „Schritt auf Schritt“Abfolge ein hilfreicher Orientierungsrahmen, der es – speziell bei der ersten Befassung mit qualitativer Forschungspraxis – erleichtert sich zurechtzufinden und eine passende Forschungsstrategie, die zum Forschungsgegenstand, aber auch zum eigenen Forschungsstil passt, zu entwickeln.
ExpertInnen der qualitativen Forschung werden möglicherweise die Kürze und Saloppheit mancher Darstellungen kritisieren. Dazu ist zu sagen, dass der vorliegende schmale Band die Befassung mit vertiefender Literatur zu einzelnen Ansätzen natürlich nicht ersetzen kann, wenn es um wissenschaftliche Arbeiten geht (Masterarbeiten, Doktorarbeiten etc.). Als gute Grundlage für eine eingehendere Auseinandersetzung möchte ich daher etwa folgende Bücher empfehlen: Flick (2009), Flick, Kardorff & Steinke (2009), Kühl & Strodtholz (2002), Lamnek (2005), Mayring (2002), Mey & Mruck (2010), Przyborski & Wohlrab-Sahr (2010).
Das Anliegen des vorliegenden Bandes ist, einen knappen Überblick über die Grundlogik von qualitativer Forschung zu geben, es will ermutigen, Verfahren auszuprobieren, und Wege zeigen, wie auch mit einem überschaubaren Aufwand sinnvolle qualitative Forschungsbeiträge entwickelt werden können.
Ich hoffe, es gelingt mit dieser Einführung, Lust auf qualitative Forschung zu wecken und Sie zu ermutigen, neugierig und mit einem gewissen hemdsärmeligen Pragmatismus an diese Forschungsmethode heranzugehen, ohne dabei den Respekt vor dem wissenschaftlichen Arbeiten zu verlieren.
Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Befassung mit der Thematik!
1 Im Kontext des Instituts für Systemische Organisationsforschung (I.S.O.) www.organisationsforschung.at
Die Wurzeln der qualitativen Forschung lassen sich letztlich bis zu Aristoteles (384–322 v. Chr.) zurückverfolgen, der die Induktion (die Ableitung des Allgemeinen aus dem Besonderen) als gleichberechtigtes und sinnvolles Vorgehen der Erkenntnisgewinnung gegenüber der Deduktion (der Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen) erlaubt und dem die Idee der Erkenntnisgewinnung durch Einzelfallanalysen zugeschrieben werden kann.
Spätestens seit der Aufklärung hat sich allerdings die rein deduktive Logik, die Suche nach Kausalerklärungen auf Basis allgemein gültiger Naturgesetze, durchgesetzt.
Auch die Sozialwissenschaften versuchten sich an dem Ideal und dem Paradigma naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung zu orientieren. Dabei ist in der Geschichte der Fachdisziplin Psychologie eine wissenschaftsgeschichtlich wesentliche Entscheidung gefällt worden: Indem die Psychologie sich als eigenständige Disziplin etablierte, grenzte sie sich sehr stark von den Geisteswissenschaften – insbesondere von der Philosophie – ab und betonte als Wissenschaft lange Zeit ein an den Naturwissenschaften angelehntes, rein quantitativ forschendes Vorgehen. Das führte dazu, dass erst seit den späten Achtzigerjahren qualitative Methoden auch in der Psychologie diskutiert wurden und zunehmend auch einen eigenständigen Stellenwert im wissenschaftlichen Methodenkanon erhielten. Auch wenn die Bedeutung qualitativer Methoden in der Arbeitspraxis sehr hoch ist – dieselbe wissenschaftliche Akzeptanz wie quantitatives Vorgehen genießen sie dennoch nicht. Das ist im Übrigen in der Soziologie, die weitaus länger sowohl qualitative als auch quantitative Methoden, Denktraditionen und Schulen hervorgebracht hat, anders. Dort ist das Spannungsfeld zwischen quantitativ orientierter empirischer Sozialforschung und eher geisteswissenschaftlich orientierter qualitativer Forschung präsenter. Auch wenn es hier kontroversielle Diskussionen zwischen den Denkrichtungen gibt, ist qualitative Forschung wissenschaftlich durchaus „salonfähig“.
Nicht zuletzt durch die wachsende Bedeutung des Themas „Evaluation“ wurde die Methodendiskussion wieder belebt und gleichzeitig auch pragmatischer und weniger ideologisch geführt. Gerade in der Praxis wurde schnell deutlich, dass für unterschiedliche Fragen unterschiedliche methodische Zugänge notwendig sind. Auch in der Marktforschung besteht eine lange Tradition an produktivem, pragmatischem Nebeneinander von breit angelegten quantitativen Studien und qualitativen Vorgehensweisen (etwa bei der Motivforschung).
Um qualitative Forschung zu betreiben, ist es wichtig, die Besonderheit von qualitativer Forschung zu verstehen. Diese erschöpft sich nicht in einer einfachen methodischen Andersartigkeit (etwa in der Frage, ob man nun einen Fragebogen verwendet oder ein Interview führt). Qualitative Forschung unterscheidet sich von quantitativen Zugängen durch ein anderes Wissenschaftsverständnis und einen grundsätzlich anderen Zugang zum Forschungsgegenstand. Auch wenn hier zunehmend ein pragmatischerer Umgang zwischen den beiden Zugängen besteht, erschweren diese letztlich erkenntnistheoretischen Unterschiede die Kommunikation zwischen den beiden Ansätzen.
Folgende Charakteristika lassen sich für qualitative Forschung formulieren:
Während das typische Vorgehen in klassischen empirischen Studien darin besteht, Hypothesen im Vorfeld theoriebasiert zu formulieren und diese dann in der Empirie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, ist der Zugang von qualitativen ForscherInnen in der Regel durch eine größere Offenheit gekennzeichnet. Sie gehen von der Grundannahme aus, dass komplexe Phänomene erst verstanden und ausgeleuchtet werden müssen und dass sie nicht durch von außen herangetragene Theorien „schubladisiert“ werden können. Dementsprechend ist das Verhältnis qualitativer ForscherInnen gegenüber ihren Forschungsgegenständen in der Regel „demütiger“. Es wird versucht, Phänomene von innen heraus zu verstehen und sich auf Überraschungen und unvorhersehbare Gesichtspunkte, die erst im Laufe des Feldkontaktes deutlich werden, einzulassen. Die methodische Anlage von qualitativen Forschungsprojekten ist deswegen offener und flexibler.
Qualitative Forschung dient also in aller Regel nicht der Hypothesenprüfung, sondern der Hypothesengenerierung. Es werden nicht vorab formulierte Hypothesen hinsichtlich ihres Zutreffens in der Empirie überprüft – das geht mit großen Stichproben und quantitativen Designs besser –, sondern im Gegenteil: das Endergebnis einer qualitativen Untersuchung können ausdifferenzierte, aus der Empirie abgeleitete Hypothesen sein.
Der Forschungsprozess muss so offen dem Gegenstand gegenüber gehalten werden, dass Revisionen der Vorannahmen und Methoden laufend möglich sind, wenn der Gegenstand dies erfordert (Mayring 2002, S. 28).
Barney Glaser (gem. mit Anselm Strauss Mitbegründer der Grounded Theory, vgl. Abschnitt 5, Punkt 2 ) postuliert sogar einen „theoriefreien Zugang“ ins Feld. Es soll mit möglichst unvoreingenommenem Blick und ohne theoretisches Vorverständnis versucht werden, das Phänomen in seiner Eigenlogik zu verstehen. Allerdings ist hier einzuwenden, dass echte „Theoriefreiheit“ nicht möglich ist, da ForscherInnen immer ein theoretisches Vorverständnis haben und es vielmehr darum geht, mit diesem bewusst umzugehen und es dem Gegenstand nicht unreflektiert überzustülpen.
In den postmodernen Beschreibungen von Gesellschaft besteht eine wachsende Skepsis gegenüber „großen Erzählungen“, also gegenüber umfassenden Welterklärungsentwürfen mit Universalitätsanspruch. Aber auch die wachsende Dynamisierung und Beschleunigung der Gesellschaft und der technischen Entwicklungen machen deutlich, dass Erklärungsmodelle nur mehr selten von unbegrenzter Geltungsdauer sind.
In der qualitativen Forschung wird daher eher versucht, lokal gültige Theorien, die keinen universellen Geltungsanspruch haben, die aber praktische Erkenntnisse in einem spezifischen Kontext ermöglichen, zu entwickeln. Qualitative Forschung versucht eher in die Tiefe zu gehen und „empirisch begründete Formulierungen von subjekt- und situationsspezifischen Aussagen“ (Flick 2009, S. 26) zu machen. So haben auch Einzelfallanalysen einen vergleichsweise hohen Stellwert.
Während der an naturwissenschaftlichen Paradigmen angelegte Forschungszugang zwar zu verallgemeinerbaren Erkenntnissen führen kann, ist für diesen Erkenntnisfortschritt allerdings oft ein hoher Preis zu zahlen: Die Komplexität des Untersuchungsgegenstandes wird den Forschungsmethoden untergeordnet und damit in eine Form gebracht, in der die empirische formale Richtigkeit mit einer Trivialisierung des Forschungsgegenstandes erkauft wird. Demgegenüber kommt der subjektiven Perspektive der Beteiligten bei der qualitativen Forschung ein besonders hoher Stellenwert zu. Häufig geht es darum, die subjektiven Theorien von Personen zu einer Frage oder einem Forschungsgegenstand in all ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität vertiefend auszuleuchten.
Gleichzeitig wird auch in der qualitativen Forschung immer versucht werden, verallgemeinerbare Hypothesen und Erkenntnisse aus den Einzelfällen abzuleiten und als Erklärungsmuster anzubieten (Induktion). Es wird davon ausgegangen, dass sich im Einzelfall oft verallgemeinerbare Strukturen und Erkenntnisse manifestieren.
Qualitative Einzelfallanalysen können aber etwa auch zur Überprüfung von Allgemeingültigkeit beanspruchenden Theorien herangezogen werden. Sie können als Korrektiv verwendet werden oder dazu, Theorien auszudifferenzieren und zu verfeinern.
Bei komplexen Gegenständen ist es zuweilen nicht sinnvoll oder überhaupt möglich, einzelne Variable so zu isolieren, wie es für eine klassisch angelegte hypothesenprüfende Untersuchung nötig wäre. Dadurch würde es der Komplexität und zum Teil auch der Widersprüchlichkeit des Gegenstandes nicht gerecht. Hier kritisieren qualitative ForscherInnen, dass in der klassischen empirischen Sozialforschung oft der Untersuchungsgegenstand der Methode angepasst wird und nicht umgekehrt die Methode dem Untersuchungsgegenstand. Deswegen wird dafür plädiert, je nach Gegenstand und Fragestellung zu überlegen, welches methodische Vorgehen passend erscheint.
Der an naturwissenschaftlichen Paradigmen orientierte sozialforscherische Zugang versucht, ForscherInnen als möglichst objektiv außen stehend, den Forschungsgegenstand nicht beeinflussend zu konzipieren (Gütekriterium der Objektivität). So plausibel das auch erscheinen mag, ist es dennoch unübersehbar, dass die Beziehung zwischen Forschung und Forschungsgegenstand in der Sozialforschung, wo die Gegenstände Personen oder soziale Systeme sind, eine Interaktion ist.
Während einfache naturwissenschaftliche Messvorgänge, wie etwa das Messen der Temperatur mit einem Thermometer, das Forschungsobjekt nicht – oder nur minimal – beeinflussen, ist das Messen in den Sozialwissenschaften weitaus komplexer: Der „Forschungsgegenstand“ denkt über das Befragte nach und verändert vielleicht dadurch seine Einstellung, er reflektiert und interpretiert die Erhebungssituation und verhält sich dementsprechend unterschiedlich etc.
In der qualitativen Forschung wird versucht, diese Interaktion zwischen ForscherInnen und Beforschten offensiv zu nutzen und die Kommunikation und Interaktion zwischen ihnen nicht als Störvariable zu begreifen, sondern mitzureflektieren. Forschung ist damit auch immer eine Intervention in ein Praxisfeld. Indem Interviews oder Gruppendiskussionen geführt werden, verändern sich die beteiligten Subjekte in ihrer Einstellung und ihren Wahrnehmungen. Diesen Veränderungsprozess gilt es in der qualitativen Sozialforschung aktiv aufzugreifen und in der Anlage zu nutzen.
Deswegen sind in der qualitativen Forschung soziale Kompetenzen noch weitaus wichtiger als bei quantitativen Forschungsstrategien, da die Gestaltung von sozialen Prozessen, die Moderation von Gesprächen – hier in der Datenerhebung, aber auch etwa bei Ergebnisrückkoppelungen –, kommunikative Validierung etc. von hoher Bedeutung sind.
Wenn ForscherInnen nicht als objektiv außen stehend verstanden werden, können auch ihre Emotionen und Befindlichkeiten, die der Forschungsgegenstand bei ihnen auslöst, eine Bedeutung erhalten. George Devereux beschreibt in seinem Klassiker „Angst und Methode in den Verhaltensschaften“ (Devereux 1984) die hohe Bedeutung von Emotionen, die Forschungsgegenstände bei ForscherInnen auslösen, und macht deutlich, dass viele wissenschaftliche Techniken und Methoden häufig primär die latente Funktion der Angstabwehr der ForscherInnen erfüllen. Das heißt, dass distanzierende Methoden angewandt werden, die es ForscherInnen ermöglichen, nicht von den Gefühlen, die ein Forschungsgegenstand bei ihnen auslöst, berührt zu werden. Gerade bei Forschungsthemen wie Prekarisierung, Geschlechtsunterschiede, Diversity etc. können auch persönliche Themen berührt und Emotionen mobilisiert werden. Ein Forschungsverständnis, das Emotionalität bei ForscherInnen tabuisiert, führt dazu, dass diese Affekte andere, unbewusste Kanäle finden müssen, um sich auszudrücken. Sinnvoller, wissenschaftlich redlicher und produktiver ist es daher, im Forschungsprozess Orte einzurichten, wo die Emotionalität der ForscherInnen thematisiert und reflektiert wird.
Bei der konstruktivistischen Herangehensweise (etwa Foerster 1999) wird davon ausgegangen, dass wir die Realität nicht objektiv erkennen können, sondern uns letztlich subjektive Konstruktionen von der Realität machen. In qualitativen Forschungsprozessen wird versucht, diese individuellen Konstruktionen nachzuvollziehen. Die ForscherInnen versuchen, die Welt aus der Perspektive des Subjekts zu sehen und mit Neugierde und Akzeptanz deren Gegenstandskonstruktionen besser kennen zu lernen.
Das Ergebnis von qualitativer Forschung ist insofern nicht „Wahrheit“, sondern eine „dichte Beschreibung“ von unterschiedlichen Realitätskonstruktionen. Hier gilt es nicht, eine richtige Realitätsbeschreibung zu begründen, sondern Unterschiede in den Realitätsbeschreibungen deutlich zu machen.
Im Rahmen einer Analyse der Führungskultur eines Unternehmens etwa werden die unterschiedlichen Bewertungen und Wahrnehmungen von Führungskräften auf verschiedenen Hierarchieebenen und MitarbeiterInnen ohne Führungsfunktion erhoben und in der Auswertung hinsichtlich Gemeinsamkeiten v. a. aber auch Unterschieden in der Beschreibung einander gegenübergestellt. Der Erkenntnisgewinn liegt v. a. in einer Ausdifferenzierung des Realitätsverständnisses.
Eine augenfällige Besonderheit qualitativer Forschung ist, dass das Grunddatenmaterial, auf das es sich beruft, in aller Regel Texte (z. B. Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle etc.) sind. Uwe Flick beschreibt den qualitativen Forschungsprozess als einen Weg von der Theorie zum Text und wieder zurück (Flick 2009): Auf Basis eines theoretischen Vorverständnisses werden Interviews geführt und die Interviewtranskripte dann interpretativ ausgewertet und wieder zu neuen, differenzierteren Theorien verdichtet. Der Umgang mit Texten erfordert eine andere Form von wissenschaftlicher Professionalität als der Umgang mit Zahlenmaterial. Während bei Letzterem methodische Exaktheit und richtige Anwendung der passenden Rechenoperationen im Vordergrund stehen, bilden Sprachgefühl und Interpretationsgeschick bei der wissenschaftlichen Arbeit mit Texten das Zentrum.
Sprache ist eher in der Lage, komplexe Zusammenhänge darzustellen. In der qualitativen Forschung wird versucht, auch dem Auswerten dieser Komplexität Rechnung zu tragen und die Daten nicht etwa auf das Auszählen der Häufigkeit bestimmter Aussagen zu reduzieren. Gleichzeitig haben Texte immer eine gewisse Mehrdeutigkeit; während bei quantitativen Verfahren die Mehrdeutigkeit des Phänomens durch gut überlegte Operationalisierungen geeigneter Indikatoren vor der Untersuchung auszuschließen versucht wird, gilt es bei qualitativen Forschungsstrategien, diese Mehrdeutigkeit im ersten Schritt – der Erhebung – bewusst zuzulassen, um dieses umfangreiche und komplexe Datenmaterial dann erst im Rahmen der Auswertung systematisch zu verdichten.
Ein wesentlicher Faktor empirischer Forschung ist die Einschätzung der Ergebnisse auf Basis von Gütekriterien, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse eines Forschungsprozesses bestimmten Qualitätskriterien entsprechen und damit für sich beanspruchen können, verallgemeinerbare Erkenntnisse zum Vorschein gebracht zu haben. Gütekriterien sind Maßstäbe, mit denen die Qualität der Forschungsergebnisse überprüft werden kann. Dabei sind in der Sozialforschung drei Gütekriterien zentral:
Es zeigt sich allerdings, dass die Gütekriterien der quantitativen Forschung auf qualitative Forschungsprozesse nur bedingt anwendbar sind, da sie für andere Methoden, die auf anderen Methodologien basieren, beruhen. Sie stellen zwar eine wichtige Anregung für die Formulierung qualitativer Kriterien dar, sind aber nicht eins zu eins zu übernehmen.