Sarah Dunant

Die letzte Borgia

Roman

Aus dem Englischen von Peter Knecht

Insel Verlag

Die letzte Borgia

Für Professor Roy Porter, 1946-2002

Denn seine Art, Geschichte zu denken, zu lehren
und zu schreiben, machte sie so aufregend,
wie nur je ein Roman sein kann.

… wie ein Adler in die Lüfte steigt …

wie er eine Schildkröte in die Höhe emporträgt,

damit ihr Fall sie zerschmettere.

Niccolò Machiavelli über die Launen des Glücks

Prolog

FLORENZ, JANUAR 1502

Man konnte ihn nicht groß nennen, er war kaum eine Handbreit größer als sie und von drahtiger Statur. Sein pechschwarzes Haar war unmodisch kurz geschnitten, sein Gesicht, breit in Höhe der Augen, lief über eine schmale Nase bis zu dem glattrasierten Kinn spitz zu. Bei ihrer ersten Begegnung war ihr das Wort »Wiesel« in den Sinn gekommen, aber seltsamerweise hatte sie das nicht abgestoßen. Natürlich hatte Marietta Corsini bereits gewusst, dass ihr künftiger Ehemann klug war (er hatte ein Amt in der Regierung der Stadt inne), und innerhalb weniger Minuten hatte er sie zum Lachen gebracht. Sie war auch errötet, denn dieser Mann mit seiner fast animalischen Ausstrahlung schien sie mit seinen konzentrierten Blicken halb auszuziehen. Als sie sich voneinander verabschiedeten, war sie von ihm hingerissen, und sie ist es jetzt, nach sechs Monaten Ehe, immer noch.

Er geht jeden Morgen, sobald es hell wird, zur Arbeit. Anfangs hat sie gehofft, ihr empfänglicher Körper würde ihn verlocken, länger zu bleiben. Die Stadt ist voll von Geschichten über Ehemänner, die früh aufstehen, um ihre Mätressen zu besuchen, und er gilt als einer, der das Leben zu genießen weiß. Aber selbst wenn es wahr ist, kann sie nichts dagegen tun, nicht zuletzt deswegen, weil ihr Mann, wohin immer er auch gehen mag, in Gedanken bereits fort ist, noch ehe er durch die Tür tritt.

In Wahrheit verlässt Niccolò Machiavelli das warme eheliche Bett nicht wegen einer anderen Frau (dafür ist am Abend, bevor er nach Hause geht, immer noch genügend Zeit), sondern weil es sein Vergnügen wie auch seine Pflicht ist, die Nachrichten, die am späten Abend zuvor und am frühen Morgen eingetroffen sind, als einer der Ersten zu lesen.

Nachdem ausnahmsweise einmal ein bisschen Schnee gefallen war, ist es frostig kalt geworden, der Boden unter seinen Füßen knirscht, als ginge er über ganz feine Tierknöchelchen. Sein Weg führt durch die Via Guicciardini auf der südlichen Seite der Stadt und weiter über den Ponte Vecchio. Auf der Brücke wird bei den Verkaufsständen der Metzger gerade frisches Fleisch abgeladen. Durch die offenen Läden sieht man hinunter auf den Arno, dessen Wasser im Licht der aufgehenden Sonne silbern-orange schimmert. Ein streunender Hund, der seinen Weg kreuzt, schnappt sich einen Knochen von einem der Karren. Es trägt ihm einen Tritt in die Rippen ein, aber seine Zähne lassen seine Beute nicht los. Opportunistischer Aasfresser, denkt Machiavelli nicht ohne einen gewissen Respekt. Das Land ist voll von ihnen — nur tragen die meisten dieser Typen einen Federhut auf dem Kopf und einen Degen an der Seite. Es ist kaum drei Wochen her, da hat der Neffe eines der führenden Männer von Fermo seinen Onkel und andere Honoratioren zu einem Festmahl eingeladen und sie dann alle umbringen lassen, um die Macht über die Stadt an sich zu reißen. Als die Nachricht davon in Florenz eintraf, haben Machiavelli und seine Kollegen Wetten abgeschlossen, wie lange es dauern wird, bis das nächste Fest dieser Art stattfinden wird. Aber was die Erfolgsaussichten des neuen Herrschers von Fermo betrifft, so scheinen diese gar nicht schlecht zu sein, denn der Mann ist zwar ein Schurke, aber er ist auch ein Söldnerführer in Cesare Borgias Armee und somit ein Schurke mit mächtigen Verbündeten.

Auf der anderen Seite des Flusses geht er an der Kirche San Pier Scheraggio vorbei und gelangt auf die Piazza della Signoria, die von dem mit Zinnen bewehrten Palast der Regierung dominiert wird. Auf einem Sockel links vom Eingang steht eine Bronzestatue: die Figur zeigt Judith, die ruhig und konzentriert ihr Schwert erhoben hat, um Holofernes, der ängstlich verkrümmt zu ihren Füßen sitzt, die Kehle durchzuschneiden. In der Regierung gibt es einige, die es beklommen macht, jeden Tag von einer Frau begrüßt zu werden, die einen Mann hinrichtet, aber die Botschaft dieser Judith ist eine andere. Die von Donatello geschaffene Statue, die vor acht Jahren nach der Vertreibung der Medici aus deren Palast hierhergebracht wurde, erinnert den Betrachter drastisch daran, dass die Republik Florenz nie wieder die Alleinherrschaft einer einzelnen Familie dulden wird.

Er schickt Judith einen stummen Gruß. Ach, die Kluft zwischen dem Ideal und der Realität ist in der Politik so tief, dass den meisten davon schwindlig wird. Wenn die alttestamentarische Heldin aufblicken würde, sähe sie vor sich die Stelle auf dem Platz, wo man den Dominikaner Savonarola verbrannt hat, einen Mann, der in seinem fanatischen religiösen Eifer eine Diktatur ganz anderer Art errichtet hatte. Jedes Mal wenn Machiavelli an einer Taverne vorbeigeht, in der eine unaufmerksame Köchin das Fleisch hat anbrennen lassen, erinnert der Geruch ihn an jenen Tag, als er hier auf dem Platz in der Menge stand und den Hals reckte, um über die Schultern der Menschen vor ihm schauen zu können. Er war noch nie dabei gewesen, wenn jemand öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde — die Florentiner haben für solch barbarische Spektakel wenig übrig —, und Savonarola war erwürgt worden, bevor man die Reisigbündel anzündete, aber es hat Machiavelli trotzdem den Magen umgedreht. Die Menge war unheimlich still. Er hat sich gezwungen, bis zum bitteren Ende dazubleiben, und hat zugesehen, wie die Soldaten, als es vorbei war, Asche und Knochen aufsammelten, um sie in den Arno zu werfen, damit nichts übrigblieb, was als Reliquie verwendet werden konnte.

Ihm war klar, dass es keine leichte Aufgabe sein würde, nach so viel Irrsinn wieder eine funktionierende Republik aufzubauen. Und wenn er sich auch nach außen hin zuversichtlich gibt, dass es gelingen wird — schließlich bekleidet er ein hohes Amt im Staat —, so hat er doch insgeheim ernste Zweifel.

Durch eine Seitenpforte betritt er den Palazzo, wechselt ein paar scherzhafte Worte mit einem verschlafen dreinblickenden Wachposten und steigt dann eine gewundene Treppe hinauf zu den Sälen und Dienstzimmern im zweiten Obergeschoss. Sein Schreibtisch steht in einem Vorzimmer des großen Versammlungssaals, der mit viel Gold und Lilienornamenten prächtig verziert ist. Es ist hier fast genauso kalt wie draußen. Wenn die gewählten Mitglieder des Rats sich versammeln, werden Feuer angezündet und Kohlebecken aufgestellt, aber Machiavelli hat in seinem Dienstzimmer keine Heizung, sondern nur eine Wärmflasche aus Ton, die er mit heißem Wasser befüllen muss, damit seine Füße nicht zu Eis erstarren. Er verschiebt es auf später: Sobald er die Siegel der Depeschen, die heute angekommen sind, gebrochen hat, wird er die Kälte vergessen, zumindest für eine Weile.

Als Sekretär des Rats der Zehn für Frieden und Freiheit muss er ein immer aktuelles Bild von Italien im Kopf haben, muss jede Verschiebung und Veränderung in der politischen Landschaft bemerken. Solche Dinge haben ihn immer schon fasziniert. Er war gerade dreizehn, als sein Vater eine frisch gedruckte Ausgabe der Römischen Geschichte des Livius vor ihn hinlegte, ein Buch, das als die erste große Liebe seines Lebens seine Sicht der Welt prägen sollte.

»Das ist das Wertvollste, was es in diesem Haus gibt. Wenn es brennt, musst du selbst zusehen, dass du mit dem Leben davonkommst, denn ich werde zuerst das hier retten.« Von dieser Art war der trockene Humor seines Vaters gewesen.

Manchmal fragt sich Machiavelli, was Livius wohl von dem modernen Italien halten würde. Er selbst sieht im Geist die Halbinsel als einen großen Stiefel von den Alpen herabhängen, das Leder gefleckt und verblichen im Lauf der Geschichte und ihrer Widrigkeiten. Den Norden hält, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts, eine französische Armee besetzt; sie beherrscht Mailand und wirft einen dunklen Schatten über ein Dutzend kleinerer Staaten in der Nachbarschaft. An der Adria ist Venedig vollauf damit beschäftigt, seinen Reichtum zu mehren und sich mit den Türken herumzuschlagen, während der wilde Süden, von einigen alten Festungen der Franzosen einmal abgesehen, in spanischer Hand ist.

Aber am meisten hätte Livius sicher das interessiert, was sich in der Mitte abspielte.

Die Geschwindigkeit und die wilde Entschlossenheit, mit der die Familie Borgia aufgestiegen ist, hat alle überrascht. Es hat natürlich auch früher schon skrupellose Päpste in Rom gegeben, die in aller Heimlichkeit ihren »Neffen« oder »Nichten« zu Reichtum und Macht verhalfen, aber das hier ist etwas anderes. Papst Alexander VI. benutzt ganz offen seine illegitimen Kinder als Werkzeuge, um eine neue dynastische Macht zu schaffen. Sein ältester Sohn Cesare, früher Kardinal, marschiert jetzt an der Spitze einer Söldnerarmee durch Italien und nimmt eine ganze Reihe von Stadtstaaten in Besitz, die von alters her der Kirche gehörten. Und seine skandalumwitterte Tochter Lucrezia hat der Pontifex schon mehrmals auf dem Heiratsmarkt verhökert.

Zwei der Depeschen, die heute Morgen eingetroffen sind, enthalten Nachrichten über die Fortschritte, die die Borgia machen. Die Tochter des Papstes befindet sich mit einem Gefolge, das so zahlreich ist wie eine kleine Armee, auf der Reise durch halb Italien zu ihrem dritten Ehemann, dem Erbprinzen von Ferrara, während der Papst und sein Sohn, die ihre jüngsten Eroberungen Piombino und Elba besucht haben, per Schiff zurück nach Rom aufgebrochen sind. Wann werden sie dort ankommen? Wenn der Wind ihnen günstig ist, werden Vater und Sohn schneller reisen, als es auf den winterlichen Straßen möglich wäre, wenn auch Machiavelli für seinen Teil den Landweg vorziehen würde. Wie auch immer — die Toskana kann aufatmen, denn offenbar hat Cesare Borgia fürs Erste nicht vor, mit seinen Truppen dort einzumarschieren.

Während Machiavelli die aktuellen Nachrichten in einem kurzen Bericht zusammenfasst, dringt durch die vereisten Fensterscheiben der Schall der Glocken von Santa Maria del Fiore herein, die den Tag einläuten. Seine Gedanken schweifen kurz ab zu der Werkstatt beim Dom, in der ein Bildhauer seit neun Monaten an einem Marmorblock meißelt. Der Mann heißt Michelangelo Buonarroti und hat den Auftrag bekommen, eine Figur des David zu schaffen, die an der Fassade der Kathedrale angebracht werden soll. Bis jetzt hat niemand seine Arbeit besichtigen dürfen, aber es wird davon geredet, dass die Statue ungeheuer groß und schön werden soll. Nun ja, man wird sehen, ob dieser David groß genug sein wird, um die Stadt vor dem Goliath Borgia zu schützen.

Als die letzten Glockenschläge verhallen, klingen von irgendwo in der Nähe mehrere heiser gepresste Schreie an Machiavellis Ohr. Ein Paar, das sich immer noch im Bett wälzt? Eine Messerstecherei am frühen Morgen? Er lächelt. Das sind die Geräusche seiner geliebten Heimatstadt, ja, die Geräusche ganz Italiens.

Winter
1501/1502

Es gibt kein Laster oder Verbrechen, das im Vatikan nicht ganz offen praktiziert würde. Der Papst ist ein Abgrund der Gräuel, ein Übeltäter, der alles Recht umstürzt … Alle fürchten ihn und seinen Sohn Cesare, der von einem Kardinal zu einem Mörder geworden ist, der Männer töten und in den Tiber werfen lässt und sich an ihrem Besitz bereichert.

Aus einem anonymen Brief,
der im Dezember 1501 in Rom zirkulierte