Martin Geiser
Pultstar
Roman
Dies ist ein Roman, auch wenn die darin beschriebenen Orte tatsächlich existieren und von mir zum Teil für die Geschichte angepasst worden sind. Auch die eine oder andere im Buch auftretende Persönlichkeit hat wirklich gelebt – oder tut das immer noch – und wurde von mir mit bestem Wissen und Gewissen in den Plot eingebaut.
Dennoch ist der Roman reine Fiktion und von der Wirklichkeit losgelöst. Ereignisse, Handlungen und Gespräche sind frei erfunden.
Das Zitat von Max Frisch auf Seite 370 wurde entnommen aus dem
»Tagebuch 1946 – 1949«
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1950
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Auszüge aus »Tristan und Isolde« Seiten 556 / 557:
Aus dem Libretto von Richard Wagner (Originaltext)
Titelbild:
Karajan in Aktion
Karikatur von Bernhard Leitner
Autorenfoto: © Bernhard Jörg
Pultstar
Martin Geiser
Copyright: © 2015 Martin Geiser
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7418-0690-2
www.martin-geiser.com
www.facebook.com/martingeiser.autor
info@martin-geiser.com
Für Mario Venzago und
das Berner Symphonieorchester,
denen ich zahlreiche musikalische Sternstunden
im Kultur Casino Bern verdanke.
»Jeder Dirigent ist ein verkappter Diktator,
der sich glücklicherweise mit der Musik begnügt.«
Sergiu Celibidache
»Der ideale Dirigent sollte hochgewachsen sein,
schön, bleich und gebieterisch,
ein großer Schauspieler, geheimnisvoll, magnetisch,
das Antlitz geprägt von edlem Leid.«
Federico Fellini
»Für mich fängt die Musik dort an, wo das Wort aufhört.«
Jean Sibelius
»Maestro Steinmann, beschreiben Sie doch bitte den Moment, wenn der Dirigent den Taktstock hebt.«
»Mein werter Johansson, es ist der Augenblick des absoluten Nichts. Im Saal herrscht völlige Stille, die Erwartungen an den bevorstehenden Klang sind hochgeschraubt, sind spürbar, ja beinahe greifbar. Sämtliche Bewegungen und jeglicher Fluss sind in diesem Moment angehalten. Man könnte durchaus sagen, das Leben steht für einen Moment still.«
»Und dann bewegen Sie Ihr Arbeitsgerät – und Musik erklingt.«
»Es ist wie eine Geburt, ein schöpferischer Akt, der aus dem Nichts emporsteigt. Das Publikum seufzt erleichtert auf, der Herzschlag setzt wieder ein. Die Welt hat uns wieder.«
»Dieser Augenblick der Stille, diese Fixierung auf den Dirigenten, gepaart mit einer beinahe unerträglichen Spannung, muss auf denjenigen, der vor dem Orchester steht, ein unglaubliches Kribbeln verursachen.«
»Nennen Sie es den Moment der völligen Kontrolle über das Nichts. Der Dirigent ist in diesem Augenblick der Einzige, der diese Leere aufheben kann. Er entscheidet darüber, wann das Leben weitergeht.«
»Würden Sie mir zustimmen, wenn ich behaupte, dass dies ein Moment grenzenloser Macht ist?«
»Wenn Sie so wollen ...«
Gestern habe ich meinem Vater das Leben genommen.
Noch jetzt, in diesem Moment, da ich das Vergangene niederschreibe und damit versuche, für den Leser eine Erklärung und für mich eine Rechtfertigung zu finden, sehe ich seine weit geöffneten und blau glitzernden Augen, die mich anblicken, anstarren, nicht erstaunt oder fragend, nicht verständnislos oder gar ängstlich, sondern auch in seinen letzten Atemzügen herrisch und gebieterisch. Immer wieder taucht das Bild vor meinen Augen auf: Vater, die Hosenträger bereits über die Schultern gestreift und den Kleiderbügel, an dem sein Frackoberteil hängt, in der Hand. Vater, der den Kopf in meine Richtung dreht, sichtlich verärgert über die unerwartete Störung und gerade den Mund öffnen will, wohl um mir Einhalt zu gebieten. Dann aber senkt er seinen Blick, betrachtet erstaunt die Mündung meiner Waffe und die Worte bleiben ihm im Hals stecken.
Was ist ihm da wohl durch den Kopf gegangen? Hat er die Situation einschätzen können, herausgerissen aus seiner Welt, aus der Musik, aus den Harmonien, die vor der Pause verklungen und von tosendem Applaus abgelöst worden waren, und aus den Klängen, welche er in wenigen Augenblicken aus dem Nichts hervorzaubern würde, und die ihm zweifellos jetzt schon in seinem Kopf umhergeschwirrt sind?
Konnte er sich wohl noch an unsere letzte Begegnung erinnern, ein Zusammentreffen, bei welchem ich wutentbrannt die Türe seiner Suite in Wien ins Schloss warf, nachdem ich vergeblich versucht hatte, ihn aus der Reserve zu locken? War ihm klar, dass ich hier in seine Dirigentengarderobe, in sein Heiligtum, gekommen war, um zu vollenden, was ich jahrelang tief in meinem Innern durch mein Leben geschleppt und keine andere Möglichkeit mehr gesehen hatte, als diese Tat hier zu begehen?
Ich habe zu Beginn meines Berichtes von Rechtfertigung geschrieben, welche ich mit dem Verfassen dieser Zeilen zu finden versuche. Doch muss man sich nicht erst dann rechtfertigen, wenn man selber von seiner Schuld überzeugt ist? In den Augen des Gesetzes bin ich sehr wohl schuldig, doch fühle ich mich ebenso?
Ich blicke von meinem Laptop auf, lasse meinen Blick in die Weite schweifen und versuche, mich auf den Horizont zu fokussieren, dort, wo sich das Meer mit dem stahlblauen Himmel trifft. Gab es wirklich keinen anderen Ausweg?
Meine Gedanken überschlagen sich in Anbetracht der vielen Fragen, die plötzlich aus mir herausgeströmt sind. Zweifle ich etwa?
Vater hat immer gesagt: »Wenn alle Schritte wohlüberlegt sind und es keinen Zweifel an der Richtigkeit des Handels für mich gibt, so schulde ich keinem Menschen eine Rechtfertigung – höchstens mir selber. Und wenn ich das tun muss, so habe ich in der Vorbereitung, in der ich Schritt für Schritt den Sinn und die unbedingte Logik meiner Intention durchgegangen bin, entscheidende Fehler gemacht. Und diese Fehler muss ich finden. Aber ich frage mich: Hat das etwas mit Rechtfertigung zu tun?«
Ich schärfe meinen Blick wieder auf den Bildschirm und rufe mir erneut die Bilder des gestrigen Abends ins Gedächtnis.
Der Finger an meinem Abzug zögerte keinen Moment, als hätte mein Gehirn ausgesetzt und meinen Körper einem fest programmierten Ablauf überlassen. Ich feuerte mein ganzes Magazin ab; vom vierten Schuss an schloss ich die Augen, war mir sicher, dass eine der vorherigen Kugeln bestimmt ihr Ziel erreicht und damit den Zweck erfüllt hatte. Der Rest war Zugabe; es war mir nicht mehr möglich, ihn anzublicken, selbst in dem Moment seines Todes diesem Blick stand zu halten, der stechend und durchbohrend Zeit seines Lebens so manchen Musiker in die Knie gezwungen hatte.
Ob die restlichen Kugeln ihr Ziel verfehlt oder getroffen hatten, wusste ich nicht. In diesem Moment hörte und sah ich nichts mehr, hatte die Augen geschlossen und vernahm in den Ohren eine Art Summen wie das brummende Tremolo der Kontrabässe.
Nachdem ich die letzte Kugel verschossen hatte, blieb ich unbeweglich stehen, die Augen geschlossen, meine Hand mit der Pistole nach vorne gestreckt und sah vor mir immer noch Vaters Augen, weit geöffnet, in dem Moment, als er die Waffe mit dem Schalldämpfer wahrgenommen und realisiert hatte, was gleich geschehen würde. Dann hörte ich den Aufprall eines Körpers, der zu Boden fiel. Kein Geräusch, kein Röcheln oder Stöhnen, keine letzten Worte, keine Frage, keine gebieterische Bemerkung mehr. Es war still, und ich öffnete meine Augen.
Vater lag auf dem Boden vor seinem Sofa, die Hände auf der Brust, als hätte er sie noch schützend vor seinen Körper halten wollen. Der Kleiderbügel mit dem Frackoberteil säumte sich zu seinen Füssen. Er wollte mich wohl anherrschen, was ich hier zu suchen habe und ob ich eigentlich nicht wisse, dass er in den Pausen nicht gestört werden wolle. Wie immer, selbst in den letzten Atemzügen, sein Wunsch nach Ordnung, Struktur und Klarheit, so wie es immer in seinem Leben gewesen war.
Ich zünde mir eine Zigarette an und fülle mein Glas erneut mit Wodka. Was mache ich eigentlich hier? Ich weiß: Eigentlich sollte ein Musiker nicht schreiben, das ist nicht seine Berufung. Er kennt andere Kommunikationsmittel – deshalb ist er ja Musiker, und somit sollte es ihm ein Anliegen sein, die Welt mit Tönen zu erklären und nicht mit Worten. Und trotzdem sitze ich hier nicht am Flügel, gebeugt über die Tasten, vor mir ein Blatt mit Notenlinien oder eine Partitur, die es zu erforschen gilt, nein, ich sitze vor dem Computer und tippe meine Gedanken in den Rechner.
Doch eigentlich – wenn man es genau nimmt – komponiere ich jetzt trotzdem. Ich setze Worte zu Sätzen zusammen und überprüfe deren Wohlklang, genau wie ich sonst Partituren zerpflücke und deren Aufbau studiere, Noten zu Phrasen aneinanderfüge und die Harmonien und Zusammenhänge suche. Doch das kann ich nicht mehr. Ich bin leer. Mein ganzes Leben habe ich der Musik gegeben, in der Hoffnung, darin meine Erfüllung zu finden, Anerkennung zu erhalten und vielleicht gar den Sinn des Lebens zu entdecken. Jetzt bin ich einsamer als je zuvor und habe nur noch die Musik, von der ich jetzt aber nicht mehr abhängig sein will. Zu oft hat sie mich enttäuscht, indem sie mich mit süßen Versprechungen in ihren Bann gezogen hat, um mich dann nach dem leidenschaftlichen Rausch wieder in den öden Alltag zurückzuwerfen. Fast mein ganzes Leben lang habe ich sie in mich eingesogen, wie ein Baby die Muttermilch, auch nachdem ich festgestellt habe, dass sie für mich reines Gift ist.
Ich töne wie ein Süchtiger – und das bin ich ja eigentlich auch. Meine Drogen sind aber nicht der Alkohol oder das Nikotin, denen ich allerdings beiden nie abgeneigt gewesen bin – auch zu einer Nase voll Kokain sage ich nicht nein –, sondern ich bin abhängig von Klängen und Rhythmen.
Ich leere meinen Wodka in einem Zug, drücke die Zigarette im überquellenden Aschenbecher aus und kehre in Gedanken zu Vater und zu der von mir begangenen Tat zurück.
Er hatte zuvor das zweite Violinkonzert von Sergej Prokofjew gegeben, ein Werk, das Vater häufig aufs Programm setzte und das er wegen der »Neuen Einfachheit«, welche vom Komponisten selbst attestiert worden war, sehr mochte. Zusammen mit einem jungen, viel umjubelten Geiger aus der Ukraine namens Tadeusz Mowtschan hatte er sein Jubiläumskonzert im Berner Casino mit diesem Stück begonnen. Er hatte sich gerühmt, das »goldene Talent«, wie er ihn bezeichnete, entdeckt und geformt zu haben und pflegte mit ihm vor allem das russische Repertoire.
Wichtig in meinen Überlegungen war vor allem die Tatsache gewesen, dass Vaters mit einem Mann konzertierte. Dadurch konnte ich nämlich sicher sein, dass er in der Pause allein sein würde. Bei einer Frau hätte durchaus die Gefahr bestanden, dass ich ihn bei einer seiner amourösen Eskapaden überrascht hätte, die er auch in seinem hohen Alter noch häufig gepflegt hatte.
In dem Fall hätte sich die Ausführung meiner Tat als ziemlich schwierig erwiesen, es sei denn, ich wäre bereit gewesen, zwei Menschen umzubringen.
Mein Vater war mächtig, das wusste er, und er verstand es auch vortrefflich, seine Macht auszuspielen. Er war sich bewusst, welche gottähnliche Erscheinung er mit seinem Auftritt als Dirigent für einen Konzertbesucher darstellte.
»Es ist ein merkwürdiges Gefühl, das jeder eigentlich einmal erleben sollte: Sie vollführen eine Geste in der Luft – und es entsteht Klang«, pflegte er gerne in Gesellschaft zu sagen, wenn er von jemandem auf das Wunder des Dirigierens angesprochen wurde, und weiter meinte er: »Es ist vollkommenes Glück, vor dem Orchester zu stehen und von den Musikern das zu hören zu bekommen, was ich in den Vorbereitungen tief in mir drin gespürt habe. Jeder sollte solch ein Glücksgefühl selber einmal spüren dürfen.«
Ich wusste in solchen Situationen genau, dass er damit bloß kokettierte und sich volksnah geben wollte. Nie und nimmer hätte er einem anderen Menschen den Triumph gegönnt, den er Mal für Mal in Form von tosendem Applaus entgegennehmen durfte.
Jetzt lag er vor mir, in seiner Dirigentengarderobe, und war tot. Umgebracht von seinem Sohn, dem einzigen, der ihn wahrscheinlich verstanden und begriffen hatte, durch welch einsames und isoliertes Leben der tote Mann am Boden gewandelt war. Gefangen in seiner eigenen Welt, in der Welt der Musik, ein Suchender. Aber auch jemand, der gefunden hatte, der die Einmaligkeit des musikalischen Aktes erlebt hatte, dem sein ganzes Leben lang nichts als Klänge im Kopf herum geschwirrt waren, der in der Sprache der Musik gelebt und sich dadurch nicht mehr im Stande gesehen hatte, den Außenstehenden sein Erlebtes mit Worten mitzuteilen.
Der Mann, der vor mir auf dem Boden lag, hatte mich auf wundersame Weise in die Welt der Musik eingeführt, er war mein einflussreichster Lehrer, mein abgöttisch geliebtes Vorbild. Er hatte mich gelehrt, dass man Musik nicht erklären, sondern nur erleben kann, dass Musik hinter unserem Denken liegt und eigentlich nichts anderes ist als die Wirklichkeit und die Wahrheit selbst.
Wie ist es nach der Pause wohl weitergegangen?
Die Zuhörer nehmen ihre Plätze ein, die Orchestermusiker sind aufs Podium zurückgekehrt, üben die schwierigen Passagen von Sibelius’ Erster ein letztes Mal – denn Vaters Blicke bei Unzufriedenheit konnten so eisig sein, dass man am liebsten im Boden versinken oder tot umfallen möchte –, nehmen das A der Oboe ab, stimmen ihre Instrumente und warten auf den Maestro.
Wann würde festgestellt werden, dass der große Victor Steinmann nie mehr seinen Taktstock wird heben können?
Niemand würde es wagen, den großen Maestro aus seiner Garderobe zu holen, bevor das Orchester eingestimmt ist. Das weiß man. Vater will nicht vor der geschlossenen Türe des Konzertsaals warten. Er will direkt von seinem Dirigentenzimmer auf die Bühne schreiten. Also wartet man, bis die Musiker bereit sind, bevor man ihn holt.
Die Szene ist zu grotesk – alle warten und niemand kommt. Ein Raunen geht durchs Publikum, die Musikerinnen und Musiker stecken die Köpfe zusammen, recken die Hälse, schütteln ungläubig die Köpfe – Was ist bloß los? –, bis endlich der Intendant das Podium betritt – Was will denn der hier? – und zuerst dem Konzertmeister etwas ins Ohr flüstert. Dieser schaut den Intendanten ungläubig an, als ob er nichts verstanden hätte, und so muss sich der Unglücksbote noch einmal bücken und, sichtlich noch nervöser und mit eindringlichen Worten, dem Konzertmeister die Anweisungen erteilen.
Der Lärm im Saal unten nimmt orkanartig zu – Gibt’s jetzt Sibelius, oder was? –, ein paar Männer stehen auf und versuchen, aus dieser Höhe mehr Informationen zu erhaschen, ihre Frauen ziehen sie am Revers, um sie zum einen wieder zum Absitzen zu zwingen – Mein Gott, ist das peinlich! – und zum andern, um ins Bild gesetzt zu werden, was denn da vorne vor sich geht.
Der Konzertmeister dreht sich nach hinten und informiert die ersten Violinen, die anderen Musiker stehen in großer Erregung auf, um endlich auch zu erfahren, ob jetzt gespielt werden kann oder nicht – Ist der alte Tyrann etwa einer Herzattacke erlegen? –, und der Lärmpegel nimmt bedenkliche Frequenzen an.
Dann dreht sich der Intendant gegen das Publikum und gibt irgendeine harmlose Version der Tatsachen bekannt – Es darf ja keine Panik ausbrechen –, vielleicht etwas wie: Dem Maestro ist gar nicht gut oder: Es hat einen bedauernswerten Zwischenfall gegeben oder was auch immer, aber auf jedem Fall mit der finalen Konsequenz, dass Sibelius’ Erste nicht gespielt werde, dass das Konzert damit beendet sei und dass kein Anspruch auf Rückvergütung der Eintrittskosten erhoben werden könne und so weiter und so fort.
Die Vorstellung kostet mich tatsächlich ein Lächeln.
In der Garderobe trifft mittlerweile der Notarzt ein, während das Publikum den Saal verlässt, kopfschüttelnd, ungläubig, Voten wie »Das ist doch eine Frechheit« und »So etwas habe ich ja noch nie erlebt« von sich gebend, da sie ja über die wahren Ereignisse nicht informiert worden sind. Es ist in den letzten Jahren nämlich häufig vorgekommen, dass Vater einen Auftritt kurzfristig und ohne große Erklärung einfach sausen lässt.
Niemand im Saal weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie die letzten Menschen gewesen sind, die Victor Steinmann musizieren gehört haben, ja, dass die Coda des Prokofjew-Violinkonzertes der letzte musikalische Akt meines Vaters gewesen ist.
Wenn ich so darüber nachdenke: Ich hätte es natürlich auch noch melodramatischer machen können.
Vaters Frack anziehen, das Ende der Pause abwarten, und dann – als ob nichts gewesen wäre – aufs Podest laufen und mich vors Orchester stellen, verwunderte und ungläubige Blicke auf mich ziehend. Dem Konzertmeister gönnerisch zunicken, den Taktstock heben und den Einsatz geben, damit die Unruhe im Publikum zum Schweigen bringen.
Meine Gedanken schlagen Purzelbäume.
Und dann hätte vielleicht auch noch ein anderes Werk auf dem Programm stehen sollen. Man stelle sich vor: Hector Berlioz’ Symphonie fantastique! Nach den letzten Klängen des Hexensabbats würde ich mich umdrehen, der Applaus setzt gerade ein, und dann die Pistole hervornehmen und mir eine Kugel in den Kopf schießen.
Großartig! Das wär’s doch gewesen!
Aber das hebe ich mir für später auf.
Denn nun sitze ich hier in La Croix Valmer, in unserem wunderschönen Ferienhaus am Plage de Gigaro an der Côte d’Azur und lächle, während ich mir meine todernsten Fantasien durch den Kopf gehen lasse.
Ich blicke wieder zum Fenster hinaus, lehne mich in meinen Stuhl zurück und lasse meinen Blick durchs Zimmer schweifen. Meine Augen schmerzen von der flackernden Helligkeit des Bildschirms, doch noch gönne ich mir keine Ruhe. Mein Blick fällt auf eine zusammengefaltete Seite einer Zeitung, die in der Ablage auf dem Schreibtisch liegt und die Vater wohl von einer Konzertreise mit nach Hause genommen hat. Es handelt sich um das herausgerissene Feuilleton des Boston Globe, und ich entdecke darin einen Artikel, unter dem ein Bild von Vater abgedruckt ist.
Merkwürdig, gewöhnlich scherte er sich keinen Deut um die Meinung der Musikkritiker. Es musste sich also um einen äußerst positiv verfassten Artikel handeln, der auf seine starke Zustimmung gestoßen war, sonst hätte er ihn nicht aufbewahrt.
Ich greife nach der Seite und beginne zu lesen:
»Nie zuvor habe ich Brahms so musiziert gehört. Victor Steinmann ist es gelungen, seiner Zuhörerschaft einen Brahms zu präsentieren, der noch für sehr viel Gesprächsstoff sorgen wird und der uns den immer wieder falsch schubladisierten Romantiker in einem neuen Licht sehen lässt.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, blicke von der Zeitung auf und erinnere mich: Vater ist anfangs dieses Jahres in den Vereinigten Staaten unterwegs gewesen, wo er mit einem amerikanischen Orchester in verschiedenen Städten einen Brahms-Zyklus zum Besten gegeben hat.
Der Musikkritiker der vor mir liegenden Zeitung ist ein großer Bewunderer von Vaters Arbeit. Er ist mir bestens bekannt und hat vor Jahren einen grässlichen Verriss über mich verfasst. Ich schlage die Augen nieder und starre erneut auf den Titel des Artikels.
Entromantisierter Brahms.
Ich schlucke leer und lese weiter:
»Maestro Steinmann verstand es, das Publikum mit viel Feingefühl und absoluter Transparenz durch die Partitur zu führen. Er vermied jeden Anflug von Sentimentalität und war fest gewillt, dem Auditorium zu zeigen, wo Brahms seiner Meinung nach hingehört – nämlich in die Sparte der Klassik. Es war unglaublich, mit anhören zu dürfen, wie Steinmann mit dem Orchester vom ersten Ton an in eine ganz andere Welt eintauchte, als wir es uns bisher von einem Brahmswerk gewöhnt waren. Zuweilen spröde, oft hart und absolut strikt dem klassischen Ton untergeordnet. Das Orchester folgte dem Maestro auf beinahe wundersame Weise und setzte zu einer Leistung an, wie wir sie schon lange nicht mehr von dieser Formation hören durften.«
Wieder blicke ich auf und starre ins Leere. Nun habe ich Klarheit über den Grund, weshalb der Artikel aufbewahrt worden ist.
Entromantisierter Brahms – genau, was Vater immer vorgeschwebt hat. Ich erinnere mich gut an seine Wutausbrüche, wenn er etwas über den Romantiker Brahms gelesen oder gehört hat.
»Alles Dilettanten!«, tobte er in solchen Augenblicken. »Jedes Kind weiß doch, dass Brahms nichts mit Romantik zu tun hat. Jeder, der eine Partitur lesen und Strukturen erfassen kann, muss doch den Klassiker in diesem Komponisten erkennen. Die Architektur, die Strenge, die Ökonomie, der Aufbau, mein Gott, was soll das mit Romantik zu tun haben? Und dann vor allem der Ton, der vorherrscht. Man kann doch nicht so verbohrt sein und ihn nur aufgrund seiner Lebensdaten einer Epoche zuschreiben, mit der er nur am Rande etwas zu tun hat!«
Ich war jeweils nicht gewillt, auf solche Wutausbrüche zu reagieren, auch wenn ich mit ihm nicht einer Meinung war. Meine Argumente hätten auf keine Art und Weise ausgereicht, um ihn auch nur ansatzweise in die Schranken weisen zu können. Zu überlegen war sein Fachwissen, zu mächtig seine Persönlichkeit und zu raffiniert seine Rhetorik.
Scheinbar hatte er es während seiner USA-Tournee also wieder einmal geschafft, das Publikum, oder zumindest die Kritiker, von seinen Ansichten, was Brahms betrifft, zu überzeugen.
Keiner kann ihn wohl besser verstehen als ich.
Ich erinnere mich, etwa zwanzig Jahre ist es wohl her, an die Vorbereitungen zu einem Auftritt, einem unserer letzten gemeinsamen, an dem Brahms‘ erstes Klavierkonzert auf dem Programm gestanden hatte.
Wir probten damals hier in unserem Ferienhaus in Gigaro und beschäftigten uns intensiv mit dem zweiten Satz. Vater spielte mir am Flügel vor, wie er die Orchestereinleitung des Adagios zu gestalten gedachte: ein fließendes Tempo, sehr streng und straff aufgebaut, ohne jegliche Schnörkel. Ich erschrak, als ich diese wunderbare Musik hörte, die für mich plötzlich so kalt und schroff klang.
Nach seinem Vorspiel sah er zu mir hoch und bemerkte wahrscheinlich mein Erstaunen über seine Auffassung der Partitur. Er runzelte die Stirn und stellte fest, dass er mich überfordert hatte. Da lächelte er leicht und erhob sich von seinem Hocker.
»Vergiss, was du soeben gehört hast«, meinte er. »Mache das, was du für richtig hältst und lasse dich von dem, was du soeben gehört hast, nicht beeinflussen.«
Als ich am Flügel saß, legte er seine Hand auf meine Schulter und flüsterte in bedeutungsschwangerem Tonfall, kaum hörbar: »Aber denk immer daran: Es ist Brahms.«
Damit machte er es mir enorm schwierig. Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Flügel und lehnte sich zurück. Ich sah ihn nicht an, wusste aber, dass er jetzt die Augen geschlossen und die rechte Hand leicht erhoben hatte, bereit zum Mitdirigieren.
Ich beugte mich vor und begann mit dem ersten Klaviereinsatz. Ruhevoll, gleichmäßig schreitend, sehr ausdrucksvoll, darauf bemüht, die vom Orchester vorgegebenen Klangfarben weiterzutragen und voll zum Ausdruck zu bringen.
Ich bemerkte, dass Vater die Hand gesenkt hatte und nicht mehr mitdirigierte. Da brach ich ab und blickte ihn an. Er saß aufrecht da, die Arme verschränkt und die Lippen fest zusammen gepresst.
Er blickte mir direkt in die Augen und sagte dann: »Das war wunderschön, mein Junge.«
Ich wusste nicht, wann er mich das letzte Mal so genannt hatte. Auf jeden Fall lief es mir eiskalt den Rücken runter. Zugleich fühlte ich mich aber völlig hilflos, da ich mit seiner Bemerkung nichts anzufangen wusste.
Er holte tief Luft, beugte sich vor zu mir und wiederholte noch einmal: »Das war wunderschön, aber es war nicht Brahms.«
Ich blickte ihn erstaunt an.
»Es war alles, was die Romantik ausmacht«, fuhr er fort. »Es war ausdrucksvoll, molto espressivo, mit großer Sensibilität vorgetragen. Ich konnte beinahe den Flügel weinen hören.«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Ich verstand nicht, was er denn aufgrund seiner Beschreibung an meinem Spiel auszusetzen hatte.
Dann meinte er: »Bitte, lass mich mal an den Flügel. Ich möchte dir zeigen, was ich meine.«
Ich erhob mich und stellte mich hinter ihn. Er ließ sich seufzend auf den Klavierstuhl nieder und blieb wie versteinert sitzen. Dann hob er den Zeigfinger und ließ ihn ganz leicht kreisen. Seine Lippen waren leicht gespitzt, und er blickte zur Decke. Er drehte sich gegen mich und suchte meinen Blick.
»Hörst du das Orchester?«, fragte er. »Du musst zuerst das Orchester hören: das herrliche fallende Thema des Fagotts, welches diesen Satz mit einer Melodie beginnt, die danach von den Streichern weitergetragen wird. Hörst du’s?«
Er blickte mich fragend an. Wahrscheinlich fand er in meinem Gesicht nicht die Bestätigung, die er sich gewünscht hatte, denn er lächelte milde und schüttelte den Kopf. Dann griff er nach meiner Hand und zwang mich sanft, neben ihm auf dem Klavierstuhl Platz zu nehmen.
»Schau, wir müssen uns zuerst die Orchestereinleitung anschauen. Ich habe sie dir vorher vorgespielt. Aber da gibt es noch mehr darüber zu sagen, noch viel mehr. Hör gut zu!«
Und dann spielte er den Orchesterpart nochmals, sang dazu einzelne Stimmen mit, brach ab, wiederholte und wechselte die Stimmen, sang einmal die Celli, dann die Flöte, stellte das Ganze nach und nach zusammen, erklärte, analysierte, ohne Hast, geduldig, aber eindringlich, und mit einer Logik, die mir den Mund offenstehen ließ. Diesen Orchesterteil, der lediglich etwa zwei Minuten dauert, hatte er mir nach einer Stunde fertig erklärt und dargelegt. Die Kälte, die ich zu Beginn empfunden hatte, war verschwunden und hatte Raum für eine einleuchtende und unabdingbare Musik geschaffen. Er strahlte mich an, da er merkte, dass wir gleich fühlten und dass ich seine Welt verstanden hatte. Dann erhob er sich und sagte:
»Und jetzt dein Klaviereinsatz. Kein Angst, er wird perfekt klingen.«
Ich setzte mich an den Flügel und ließ mir die Einleitung nochmals durch den Kopf gehen. Er stand daneben, eine Hand auf den Flügel gelegt, mir den Rücken zugewandt, und ich wusste, auch wenn ich sein Gesicht nicht sehen konnte, dass er in diesem Moment das Gleiche wie ich fühlte. Wir hörten es in uns. Wir waren eins.
Ich ließ den Kopf leicht nach vorne fallen, hob die Hände, berührte die Tasten und begann.
Als ich geendet hatte, blieb ich sitzen, starrte die Steinway-Aufschrift vor mir an und kam langsam wieder in die Welt jenseits der Musik zurück. Ich suchte Vaters Blick, er schaute mir in die Augen. Es brauchte keine Worte, wir hatten es erlebt, und es war richtig so.
Das war mein Vater.
Ich glaube, das war einer der wenigen Momente gewesen, in dem ich mir seinen aufrichtigen und uneingeschränkten Respekt verdient hatte. Ich wünschte, wir hätten uns noch häufig so blind verstehen können.
Niemand würde je wieder den grauenvollen Aufschrei zu Beginn des letzten Satzes von Sibelius’ Erster mehr hören. Vater hatte diese Symphonie zu einem seiner wenigen Schlüsselwerke außerhalb der deutsch-österreichischen Musikliteratur gemacht, das er häufig aufs Programm setzte. »Eine Aufführung von Sibelius’ E-Moll-Symphonie mit Victor Steinmann ist ein Erlebnis, ein Ereignis; wer immer ihm auch beigewohnt haben mag, er wird es nie mehr aus seiner Erinnerung bringen; dem Maestro gelingt es, eine Tragik ohnegleichen aufzutürmen, die im letzten Satz kumuliert und den ganzen Weltschmerz unverhohlen und mit einer eruptiven Kraft zum Ausdruck bringt«, hatte irgendein Kritiker in irgendeiner sich für wertvoll und aussagekräftig haltenden Musikzeitschrift zum Besten gegeben. Jedes Wort habe ich mir gemerkt.
Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Vater mit diesem Werk auf der Bühne erlebt habe: Es war in einer Probe, und ich durfte als kleiner Bub von sechs oder sieben Jahren im Parterre anwesend sein.
Ich saß also in einem Sessel, die Beine, die noch nicht bis zum Boden reichten, baumelten in der Luft, und ich hatte ein Comicheftchen vor mir auf den Knien, das ich aber bereits von vorne nach hinten und von hinten nach vorne ausgiebig studiert hatte und langweilte mich dementsprechend, da mich das, was vorne auf dem Podest geboten wurde, nicht wirklich interessierte. Ich war noch zu klein. Manchmal blickte ich auf, besonders wenn Vater eine harsche Anweisung gab.
»Kann ich die Oboe noch einmal hören, oder haben Sie sie etwa gehört?«
»Meine Herren, Vibrato zu spielen ist keine Kunst, sondern ein Handwerk, also versuchen Sie doch bitte nicht, kunstvoll zu wirken.«
»Bässe! Mein Gott! Haben Sie etwa Minderwertigkeitskomplexe? Ihr Ding ist doch groß genug oder etwa nicht?«
So etwa könnte es geklungen haben, so habe ich Vater oft erlebt. Mit einem verklärten Lächeln lasse ich mir solche Anweisungen wieder durch den Kopf gehen.
Damals war niemandem zum Lachen zumute gewesen, weder mir noch den Musikern – und dann kam dieser letzte Satz von Sibelius’ erster Symphonie. Forte-Einsatz der Violinen, gefolgt vom Blech.
Ich blickte auf, doch wohl mehr aus Langeweile, weil Micky Maus und Donald Duck beim x-ten Male wirklich nicht mehr interessant waren und registrierte, wie Vater den Stock senkte, nach unten auf seine Schuhspitzen starrte und den Kopf schüttelte. Er war aufgestanden, um diesen Einsatz zu geben – sonst probte er eigentlich meistens sitzend – und setzte sich jetzt wieder auf seinen Stuhl, den Kopf immer noch gesenkt.
Es war mucksmäuschenstill im Orchester, und ich sank in meinen Stuhl zurück, den nächsten Wutausbruch meines Vaters erwartend. Doch er blieb still. Wie hypnotisiert starrte ich auf Vater, der seinen Kopf langsam hob und ins Orchester blickte. Sein Blick war verändert, ich wusste nicht, ob er ins Leere starrte oder ob er einen bestimmten Musiker fixierte. Da hob sich sein Kopf noch ein wenig, und ich stellte fest, dass er jetzt einen Blick in die Runde warf, wahrscheinlich jeden Musiker von kurz anblickend, die Augen dämonisch flackernd, nicht von dieser Welt. Es war nach wie vor kein Pieps zu hören, wie gebannt studierte ich Vaters Gesicht und merkte, dass er seine Lippen nun leicht gespitzt hatte und den Mund kaum bemerkbar öffnete.
Er blieb sitzen und hob erneut seinen Taktstock. In Sekundenschnelle machten sich die Musiker bereit. Mit einer leichten Aufwärtsbewegung gab er den Einsatz. Es war fast nur das Zucken in seinem Handgelenk zu beobachten gewesen. Ein Nichts für einen Forte-Einsatz.
Doch was dann kam ...
Ein Aufschrei, wie ich ihn noch nie in meinem Leben gehört hatte. Sämtliche Nackenhaare stellten sich mir auf. Die Welt um mich herum schien sich zu verändern, bis sie schließlich inexistent wurde, und vor mir öffnete sich eine Türe, die mich in eine andere Dimension führte, in der ein kräftiger Sog mich packte, von mir Besitz ergriff und mich nicht mehr losließ. Während der ersten paar Takte starrte ich zunächst noch auf das Podest, dann schloss ich die Augen und lauschte mit großer Faszination dem, was sich vor mir abspielte. Nie hatte ich zuvor eine solch gewaltige Kraft aus der Musik vernehmen können.
Vater brach nicht mehr ab, er ließ den ganzen Satz durchspielen. Wenn ich von Zeit zu Zeit die Augen wieder öffnete, konnte ich feststellen, dass seine Dirigierbewegungen sehr klein, fast unerkennbar waren, und trotzdem schienen diese dem Orchester voll und ganz zu genügen. Nachdem das letzte Pizzicato verklungen war, herrschte lange Stille. Gebannt starrte ich auf meinen Vater.
Er senkte seinen Stock, reichte ihn dem Konzertmeister, stand auf und lief zum Ausgang, ohne ein Wort zu verlieren. Dabei blickte er mich kurz an und deutete mit einer Kopfbewegung, dass ich ihm folgen sollte. Ich kletterte von meinem Stuhl runter, ließ meinen Comic vor lauter Aufregung auf dem Boden liegen und rannte ihm nach, konnte ihn jedoch nicht vor seiner Garderobe einholen.
Dort fand ich ihn auf seinem Ledersofa sitzend, völlig in sich zusammengesunken. Das lange, dunkle Haar fiel ihm wie ein Vorhang in die Stirn. Er schien auf eine merkwürdige Art und Weise völlig entrückt zu sein und beachtete mich zunächst überhaupt nicht, als ich im Türrahmen auftauchte. Nichts mehr war von dem stolzen Maestro übriggeblieben, der noch vor wenigen Augenblicken im Stechschritt und mit erhobenem Haupt die Bühne verlassen hatte.
Er blickte auf, als ich in die Garderobe trat, und ich wusste nicht, ob ich weitergehen durfte. Es herrschte völlige Stille, was mich zusätzlich verunsicherte. Da breitete er die Arme aus, und ich rannte auf ihn zu, ließ mich von ihm umarmen und setzte mich auf seinen Schoss. Er drückte meinen Kopf an seine Brust, ich vernahm eine Art Keuchen, das stoßweise aus ihm herauskam, gleichzeitig hob und senkte sich seine Brust. Ich wusste nicht, ob er so außer Atem war oder ob er weinte. Als ich aufblickte und in seine feuchten Augen sah, wusste ich, dass er Tränen vergossen hatte.
»Fabrice«, flüsterte er, »Fabrice. Du bist ja auch noch da. Ich habe dich ganz vergessen.«
»Papa«, erwiderte ich, »ich hab dich lieb.«
»Und ich dich. Wenn ich nur in Worte fassen könnte, wie viel du mir bedeutest. Fabrice, mein Sohn.«
»Papa, warum weinst du?«
»Weil es so sein muss, Fabrice. Weißt du, manchmal müssen die Menschen einfach weinen, manchmal brechen die Tränen einfach so aus einem heraus. Es muss nicht sein, dass man traurig ist, weißt du. Glaube nicht, dass ich immer unglücklich bin, wenn du mich weinen siehst. Schau, ich weine häufig auch, wenn ich sehr, sehr glücklich bin, wenn mich Freude überkommt, wenn ich, wie vorher in der Probe, in der Musik die Wirklichkeit erlebt habe.«
Ich zog die Nase kraus. »Papa, was ist das: die Wirklichkeit erleben?«
»Die Wirklichkeit, Fabrice, die Wirklichkeit. Hat dir die Musik vorher gefallen?«
»Oh ja, Papa. Ich habe ganz aufmerksam zugehört, und es war irgendwie unheimlich und geheimnisvoll. Irgendwie habe ich mich gefürchtet. Aber es war sehr schön.«
»Es war schön. Ja, siehst du, Fabrice. Ich glaube, du hast vorher auch die Wirklichkeit erlebt. Die Musik hat dich gefangen genommen und dich nicht mehr los gelassen. Du hast alles rund um dich herum vergessen und warst drin.«
»Wo drin war ich denn, Papa?«
»In der Musik, mein Sohn, in der Musik.« Und da wurde Vater wieder von einem Weinkrampf überfallen. Er schlug die Hände vors Gesicht, und sein ganzer Körper schüttelte sich, so dass ich damals wirklich Angst um ihn hatte.
»Papa, bist du krank? Hast du Schmerzen?«
»Ich liebe dich, Fabrice. Glaub mir, einmal wirst du mich verstehen, und du wirst dich an meine Worte erinnern.« Er wischte sich eine Träne aus den Augenwinkeln und erhob sich. »Komm, lass uns ein Eis essen gehen.«
Natürlich erinnerte ich mich an seine Worte. Immer wieder. Auch jetzt, wenn ich hier in Gigaro sitze, einen Wodka trinke und mir diese Bilder aus der Vergangenheit wieder in Erinnerung rufe. Immer wieder sehe ich Vater vor mir auf dem schwarzen Ledersofa, nach vorne gebeugt, in sich hinein schluchzend. Er wird nie wieder weinen können.
Eine Träne läuft über mein Gesicht.
Und ist es nicht gerade das Unaussprechliche, das uns einander näher bringt und zugleich so fremd macht? Sind es nicht die Augenblicke, in denen uns die Worte fehlen, wo wir uns am meisten sagen?
Die Sprachlosigkeit ist ein ungeheuer wirksames Instrument, weit weg von unserem rationalen Denken, weit weg von dem beschränkten Wortschatz, mit dem wir dieses ohnehin schon beschränkte Denken ausdrücken wollen.
In der Sprachlosigkeit liegt die Freiheit, das Unermessliche, vielleicht sogar die Antwort und somit die Einsicht.
Keine Blicke, die mehr sagen als tausend Worte, keine Berührungen, weil einem die Worte fehlen, nein, schlichtweg Sprachlosigkeit als Ausdruck der Grenzen, die uns Menschen gesetzt sind.
Ein Zeichen dafür, wie wenig wir uns doch ausdrücken und anderen mitteilen können.
Vielleicht wäre die Menschheit besser, wenn wir alle stumm wären.
»Wer aus dem Tonsatz nicht erkennt, ob er ein Adagio
oder ein Allegro vor sich hat, soll es lieber bleiben lassen.«
Johann Sebastian Bach
»Ist Ihnen bewusst, dass es Zuschauer im Publikum gibt, die während eines ganzen Konzerts nur den Dirigenten beobachten?«
»Das ist ihr gutes Recht. Sie haben schließlich für die Karte bezahlt. Es steht ihnen frei, was sie während der Aufführung tun – solange sie ruhig sind.«
»Es ist Ihnen also bewusst?«
»Ich denke während meiner Arbeit nicht daran.«
»Sind die Bewegungen des Dirigenten, seien sie geschmeidig, energisch oder manchmal fast gar nicht erkennbar, denn nicht einstudiert?«
»Ich übe nicht vor dem Spiegel, wenn Sie das meinen. Aber natürlich gibt es auch einen optischen Aspekt. Ich möchte nicht nur, dass es schön klingt, es soll auch schön aussehen. Musik ist doch unter anderem eine Verkörperung der Schönheit. Aber worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
»Ich frage mich, ob der Dirigent bewusst die Blicke des Publikums anzieht und sich von ihm bestaunen lässt, um ihm zu suggerieren: Seht her, folgt mir, ohne mich läuft nichts.«
»Ich habe selten so einen Blödsinn gehört.«