
Deutsche Erstausgabe
Copyright © 2016 Jürgen Weiske
M & M FUCHS ENTERPRISE CORP. INC.
Naples, Florida, USA
Mail: fuchs.enterprise@gmail.com
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Jürgen Weiske Herausgeber
Thomas Weiske Marketing, Cover-Gestaltung
Marko Milovanovic Recherche, Vorlektorat
Pia Goden dramaturgische Beratung
Felicitas Blanck Lektorat, Endkorrektur
Schriftart Garamond
www.epubli.de
nach einer Idee von
Kay Mierendorff † Fluchthelfer, Manager und Geschäftsmann
und
Jürgen Weiske Sales Manager – Event und Marketing
(langjähriger Freund und Geschäftspartner
von Kay Mierendorff)
„Mein lieber Freund, es ist vollbracht. Wir haben Dein Vermächtnis umgesetzt und wissen, Du wärst darum sehr stolz und glücklich. Du lebst in unseren Herzen weiter.“
Dein Freund Jürgen
gewidmet all jenen, die es nicht geschafft haben
I
In der Onkel-Tom
Eine junge Frau läuft zornig die Straße entlang, dann die Treppe zur U-Bahn hinunter, während ein junger Mann sich die BZ vom 18. Dezember 1966 unter den Arm klemmt und im nächsten Schaufenster sein Spiegelbild findet: Max Weidendorf, mittelgroß, Haare gewellt, Gesicht breit, Nase kräftig, Kinn ebenso, Mantel, Anzug, Hut. Dann steigt er in eine der Taxen ein, die in der Schöneberger Hauptstraße parken. Er ist es nicht gewohnt, chauffiert zu werden. „Nach Zehlendorf, Onkel-Tom, bitte.“ – „Geht mir ja nüscht an, junger Mann, hamse im Lotto jewonn?“, fragt der Fahrer und startet den Motor. – „Warum?“ – „Ick weeß nich. Hab’s so im Urin, wenn eener wie Sie rinkommt wien Goldklümpchen zu de Horizontaln.“ – Max antwortet nicht, blickt hinaus, denkt daran, dass er den Regenschirm vergessen hat. Während das Wetter in Schöneberg trübe ist und der Fahrer deswegen jammert, zeigt sich kurz darauf in Zehlendorf ein wenig die Sonne. Dann sind sie in der Onkel-Tom, „dree-fuffzich“, sagt der Fahrer, Max gibt ihm vier Mark, steigt aus, geht auf den weißen, dreistöckigen Häuserblock zu und auf den Haupteingang, der sich von den anderen Eingängen durch einen mannshohen, mit vielen bunten Päckchen verzierten Weihnachtsbaum unterscheidet. Direkt daneben, rauchend, ein amerikanischer Militärpolizist, leicht zu erkennen an dem Helm mit dem weißen Aufdruck MP. „Hi“, sagt der, als Max näher kommt. „Schönes Wetter“, antwortet Max auf Englisch. „Kann nicht besser sein“, antwortet der Amerikaner. „Ob’s Schnee geben wird an Heiligabend?“, fragt Max. „Ich liebe Schnee“, sagt der Amerikaner. – „Ist Heinz Semnet da?“, fragt Max. „Ist da“, sagt der Amerikaner und fügt hinzu: „Heinz ist sehr beschäftigt, man geht ihm besser aus dem Weg.“ – „Ich werde ihn unterstützen“, sagt Max. „Zigarette?“, fragt der Amerikaner. „Marlboro?“, fragt Max. „Marlboro“, sagt der Amerikaner, zieht die Packung aus seiner Brusttasche, reicht sie Max und im selben Moment klickt ein Feuerzeug. Max nimmt den ersten Zug, der Amerikaner sagt: „Feuer aus Heidelberg.“ – „Heidelberg ist schön“, sagt Max. „Ich liebe old Germany“, sagt der Amerikaner, reicht seinem neuen Freund die Hand und stellt sich vor: „Sergeant Frank Miller.“ – „Max Weidendorf“, sagt Max. „Geschäftsmann?“, fragt der Amerikaner. – „Immer“, antwortet Max. „West-Berlin ist gut für Geschäfte“, sagt der Amerikaner. „Besser als Ost-Berlin“, sagt Max. „Darum sind wir hier“, sagt der Amerikaner. „Hoffentlich noch lange“, sagt Max. – „Bis sieben Uhr“, antwortet der Amerikaner und Max muss lachen.
Als der neue Leiter der Alliierten-Apartments das Haus betritt, hat er den selten anzutreffenden Geruch einer Ölheizung in der Nase und Semnets Stimme im Ohr, die ungewohnt klingt, weil der Mann Englisch spricht – Max hat ihn so noch nicht gehört. Geradeaus eine Glastür mit der Aufschrift Office – Büro, rechts ein Flur mit einigen Türen, die geschlossen sind, links ein kurzes Flurstück mit einer geöffneten Tür, aus der weibliche Stimmen zu hören sind, ausnahmslos englische. Max nimmt seinen Hut ab, klopft an das Glas, tritt ein, ohne auf eine Antwort zu warten. Der alte Semnet sitzt an einem schlichten Holztisch, hat eine Schirmmütze auf dem Kopf, drückt einen Telefonhörer ans Ohr, sieht kurz auf, notiert etwas in ein Heft und spricht Englisch wie jemand, der seit Stunden schweigen möchte. Hinter ihm an der Wand hängt ein gerahmtes Foto von John F. Kennedy mit einem Trauerband. An der linken Wand ein Foto von Ernst Reuter. „Ihr Völker der Welt“, fällt Max spontan ein. An der rechten eins von General Lucius D. Clay. Noch während Semnet spricht, klingelt ein zweites Telefon, das Max jetzt neben einigen schwarzen Aktenordnern entdeckt. Über Semnets Kopf, an der Decke, hängt ein riesiger Ventilator, den Max einschalten möchte, weil es im Büro nach Schweißfüßen riecht. Als er sich auf den Stuhl setzt, der vor dem Tisch steht, stößt er versehentlich gegen Semnets Winterschuhe, die umgekippt auf dem Stragulaboden neben den Strümpfen liegen, und sieht dessen nackte, krampfadernblaue Füße.
Semnet legt den Hörer auf, greift zum nächsten und spricht wieder Englisch, während er eine Schublade aufzieht, zwei Lappen herausfischt und sie über den Tisch reicht. Max nimmt sie an sich, Semnet sagt: „One moment, please!“, dann zu Max: „Kannste gleich mit Putzen anfangen. JFK is staubig!“ Max zieht seinen Mantel aus, hängt ihn über den Stuhl, geht zur Wand, wischt über den Kennedy, setzt sich wieder. Da gestikuliert Semnet in Richtung der beiden anderen Bilder. Max erledigt auch die Aufgabe, sieht sich vergeblich nach einem vierten Bild um, setzt sich, schiebt seinen Stuhl wegen der Schweißfüße zurück, während Semnet weiterspricht. Da sagt der Chef wieder „One moment, please!“, wirft Max eine Kladde auf den Schoß, die mit Hausordnung beschriftet ist. Max blättert darin, findet nichts, die Seiten sind leer. Jemand klopft, tritt ein, eine junge Frau. „Hi, I’m Lisa“, sagt sie, schreitet zur rückseitigen Wand und hängt ein Schlüsselbund an ein Brett mit mehreren Dutzend nummerierter Haken, von denen die meisten besetzt sind. „Bist du der Neue?“, fragt sie auf Englisch. Eine pausbäckige Frau, langes blondes Haar, gelockt, Sommersprossen, hellblaue Augen. „Bin ich“, antwortet Max. – „Wir essen Kekse. Amerikanische. Willst du welche?“, fragt sie nun auf Deutsch mit starkem Akzent. Max nickt. – „Dann komm!“, sagt sie wieder auf Deutsch. Er folgt der Frau in den Flur und weiter in das Zimmer, aus dem er vorhin die Stimmen hörte. Hier sitzt man beisammen, sieben Frauen am Tisch, es duftet nach Kaffee und Gebackenem, aus einem großen Radio ist Weihnachtsmusik zu hören, Jingle Bells. Max nimmt Platz. „Ich bin ein Berliner“, sagt eine der Frauen so gut sie kann auf Deutsch. „Ich bin Kitty aus Iowa“, sagt eine auf Englisch, und so stellen sich auch die anderen vor: Kim aus Texas, Mary aus Wyoming, Liz aus Kansas, Carrie aus New Jersey, Ella aus Pennsylvania, und als eine dicke Frau „Lily aus Alaska!“ ruft, stehen alle auf und rufen: „Heute ist Lily-aus-Alaska-Tag!“
Eine halbe Stunde später weiß Max von jeder Frau den Namen des dazugehörigen Soldaten und dessen Dienstgrad, die Funktion und das Ankunftsdatum in Berlin, die Dauer und den Ort der Stationierung: McNair, Andrews, Roosevelt oder Turner Barracks. „Ist kein General dabei?“, fragt Max und tut so, als wäre er enttäuscht. Lily ruft: „Chef ist jeder, auch wenn man’s nicht gleich sieht!“ Alle klatschen Beifall und Carrie ruft: „Max ist unser neuer General-Chef-Boss!“ Mary: „Das müssen wir erst noch testen!“ Kim: „Also los!“ Liz: „Runter mit der Hose!“ Max zögert, besinnt sich. Dann stellt er sich auf den Stuhl, zieht sein Jackett aus, das Oberhemd, es wird geklatscht, aber als er sein Unterhemd über den Kopf zieht und den Gürtel öffnet, ist es plötzlich still im Zimmer. „Macht der Ernst?“, fragt Mary leise. „Der macht’s“, flüstert Liz kaum hörbar. Max knöpft seine Hose auf, die Frauen schreien: „Nein, nein, nicht weiter!“ Lily aber befiehlt so laut sie kann: „Weidendorf, sofort wieder anziehen, sonst schmilzt der Schnee!“ – „Wo ist denn welcher?“, antwortet Max. „Siehste, schon weg“, ruft Kim, und die Frauen schlagen sich vor Lachen auf die Knie. Heinz Semnet kommt zum falschen Moment herein, lässt sich von Liz und Mary an den Tisch ziehen und sagt auf Deutsch, ohne dass zu erkennen ist, ob er es freundlich meint: „Det steht aber nich in meener Hausordnung.“
„Du hast Humor, det mögen die Amis“, sagt Semnet im Flur. „Hat sich gerade ergeben.“ – „Ick erklär dir jetzt allet schön der Reihe nach. Und wenn de Fragen hast, kannste se bis Weihnachten stelln, danach fragste den lieben Jott. Du glaubst doch an den da oben, aber is ja egal. Ick glaub nich mehr dran, sage ick den Amis aber nich, denn die sind heiliger als der Jesus zu Ostern, und wenn du denen sagst, det is Unfug, dann kündigense dir die Wohnung – wennse dir nicht androhen, ihre Truppen abzuziehen, wat den Russen so jefallen würde. Tu also immer so, als kämst du grad aus de Kirche, dann is der Weltfrieden jesichert, in West-Berlin jedenfalls, der Osten is mir eh Schnuppe. Det Wichtigste – außer der Kasse natürlich – is der JFK. Der muss immer spiegelblank aussehn. Und wenn de schon mal dabei bist, kannste die andern Nasen gleich mitwischn. Ansonsten habn wa ‘ne Putzkolonne, bestehend aus vier Damen mittleren Datums und eene alte. Die putzen dir allet und wat de willst, sieh dich also vor! Wie alt biste jetzt, eenundzwanzig wirste, jetzt fällt’s mir ein. Zieh deinen Mantel an, wir drehen ‘ne Runde.“
Sie spazieren die Onkel-Tom entlang, die Sonne hält sich hinter einer grauen Wolkendecke versteckt, der Wind ist kalt geworden. Max fragt sich, warum der alte Mann die Ruhe weg hat, obwohl es bis eben hektisch zuging. „Haste mitjeklatscht, als der Kennedy vom Rathaus guckte? Na, du bist nicht dabei jewesn, denk ick, konnte man ja nich wissn, wat daraus wird, wenn der Mann vom Balkon herunter spricht. Ick hab jezittert, aber vor Freude – und vor Angst jezittert hab ick in meinem Leben mehr als mir lieb war. Ick hab auch mehr falsch jemacht als mir lieb war, und wenn ick jetzt den Kennedy putze wie nüscht andret, dann weeß ick wenigstens, dat et richtig is, wat ick mache, aber nun zum Kern. Kernaussage vom Janzen, mehr brauchste eigentlich nicht zu wissen, bis uff die Tatsache, dass ick deinen Vorgänger rausgeschmissen habe, aber dat weeßt du – ick verlange, und das schreib dir hinter die Ohren: bestmögliche Ehrlichkeit. Allet andere wär übertrieben, wo war ick?“ – „Kernaussage.“ – „Der Ami, det sag ick dir, und behalt det für dich, der hat hier nüscht zu tun, der langweilt sich, darum steht der auch überall rum oder putzt den janzen Tag seene Nobelkarosse oder fährt mit m Jeep durch die Jegend oder macht mal ‘ne Übung und, weil’s so lustig is, noch eene. Jedenfalls hat der ordentlich viel Energie, wenn der abends nach Hause kommt, und braucht so allerhand: Fernseher, Kühlschrank, Waschmaschine, Frau. Für die Frau sorgt der alleene, aber bei dem Rest sind wir behilflich – nee du! Und deene Angetraute natürlich, wie heißt sie noch, Carola. Dabei wären wir schon bei der nächsten Uffjabe, und mehr fällt mir wirklich nich ein: Der zieht irgendwann mal aus, der Ami. Wenn sein Dienst zu Ende ist, will der nach Florida zurück, dann wird de Wohnung frei und die steht dann für den nächsten bereit, der aus Florida kommt, und weil der det nich selber orjanisiert, der Ami – raus – rein – mach ick det, ick meene: du, verstandn?“
Heinz Semnet grüßt hier und da einen Uniformierten oder eine der Ehefrauen oder Freundinnen, plauscht mit ihnen und stellt bei der Gelegenheit seinen neuen Mitarbeiter vor. Max zeigt er die beiden Reihenhäuser, die er besitzt und um die es geht, jedes drei Stockwerke hoch mit vier Eingängen, und sechs Wohnungen pro Eingang, also vierundzwanzig Wohnungen pro Haus, achtundvierzig insgesamt. „Deene erste Aufgabe wird sein, die Hausordnung … na durchsetzen geht so schnell nich, da brauchste ‘ne zweite Blockade. Aber bekanntgeben. Det reicht erstmal. Weil wir noch keene Hausordnung haben – die eene, die wir hatten, war n Witz – weil wir also eene brauchen, schreibst du se, und die hängen wa dann in alle Treppenhäuser, aber mit nem Weihnachtsstern druff und n bisschen Lametta, sonst wird der fuchsig, der Ami, der hasst nichts so sehr wie ‘ne Reglementierung. Ick weeß jar nich, wie der mit dieser Einstellung zurechtkommt, eigentlich sollten wir Deutsche uns davon ‘ne Scheibe abschneidn, von seener Lässigkeit, aber lässig biste ja ooch, kommen wir also zu den wichtigen Nebensachen.“
***
Am Abend besucht Max Carola in ihrem Tempelhofer Zimmer und erwartet, dass sie immer noch angesäuert ist, denn Semnet hatte ihn postalisch gebeten, mit der Arbeit zwei Wochen früher als vertraglich vereinbart zu beginnen, und Max hatte spontan zugesagt, obwohl er heute mit Carola zu einem Ausflug nach Lübars, dem einzigen Dorf West-Berlins, verabredet war – letzte Gelegenheit, um das dortige Adventsliedsingen zu erleben. Doch zu seiner Überraschung schnurrt sie, und dann schnurrt sie so stark, dass sie die eben angezündete Kerze versehentlich wieder auspustet. Sie zündet sie erneut an, sagt: „Letztes Mal Weihnachtszeit in Alt-Tempelhof. Die Raschke wird sich wundern.“ – „Hast du es ihr noch nicht gesagt?“ – „Wollte ich vorhin. Sie klopfte und glotzte rein, ob ich einen Adventskranz habe. Darf ich ja nicht. Ich war auf hundertachtzig, Max, ich konnte mich kaum beherrschen. Und da hat sie mir doch Kekse in die Hand gedrückt, die da! Hat sogar gelächelt, ich dachte, was ist nun los und au weia, wenn die Alte so ist, kann ich doch nicht mit ner Kündigung kommen! Ich werde ihr morgen früh sagen, dass ich ausziehe, morgens ist sie garantiert unausstehlich. – Wie ist denn die Wohnung?“ – „Groß. Im ersten Haus, in dem auch das Büro untergebracht ist. Haus A. Aber unser Eingang ist ein anderer, weiter links, der erste in dem Block überhaupt. Dritter Stock, fünf Zimmer, zwei nach vorne, drei nach hinten. Schätze, es sind so hundertzwanzig Quadratmeter. Größere Wohnungen gibt’s da nicht. Dafür ist die nebenan ein Stück kleiner. Parkettboden wie im Film, Carola, überall Ölheizung und eine amerikanische Küche, amerikanischer Herd, ganz bunt, riesiger Kühlschrank, der hat nicht übertrieben, der Semnet. Zum Schluss sagte er, ich solle ihn Heinz nennen. Der hat zu allem keine Lust mehr, will endlich Rentner sein. Dass er’s darf, dafür lässt er was springen, und er kann’s ja auch. Rechne mal mit: zwanzig Wohnungen pro Haus, weil ja nicht alle vermietet sind, macht vierzig – mal vierhundert Mark Miete im Schnitt, es sind sicher mehr, die Zahlen kenne ich noch nicht. Macht sechzehntausend Mark im Monat. Lass sechstausend an fixen Kosten weggehen, bleiben noch zehntausend für ihn. Abzüglich Steuern wird er siebentausend verdienen. Pro Monat! Er zahlt selber keine Miete, wohnt im eigenen Häuschen, hat ein Auto und zwei Dienstwagen, aber die werden ja oben eingerechnet, hörst du mir zu?“ – „Max, lass uns tiefer anfangen.“ – „Was meinst du?“ – „Hat er nicht eine Zweizimmer-Kellerwohnung?“ – „Was soll das, Carola?“ – „Ich will in keinen Keller ziehen, natürlich nicht, Max, aber die Sache ist mir insgesamt zu groß. Die Wohnung, das Auto … als ich meiner Freundin erzählte, was wir beide zusammen verdienen, hat sie geweint. Sie gönnt es mir ja, aber ich bin klettern gewohnt, nicht springen, fliegen schon gar nicht.“ – „In Düsseldorf wäre dir nichts zu groß gewesen.“ – „Dort fliegt jeder, Max.“
Blaugraue Augen, Grübchen, das Haar gelockt, mittelgroß – eine schöne Frau, die vor jeder Abzweigung die Richtung weiß und wenn nicht, sofort entscheidet, welche die bessere ist. „Warum hier lang, Spatz?“, fragt er am nächsten Tag im grauen Grunewald. – „Nenn mich nicht Spatz.“ – „Krokodil.“ – „Was dazwischen.“ – „Mir fällt nichts ein. Wurm.“ – „Dazwischen, Max!“ – Am Grunewaldsee balanciert Carola auf einem Baumstamm, er patscht im nassen Laub. „Was machen wir beim nächsten Mal“, fragt sie, „wenn du hier hinwillst, ich da hin?“ – „Winkelhalbierende.“ – „So einfach.“ – „Hast recht, Gerechtigkeit gibt‘s nur in der Geometrie.“ – „Wir wechseln uns ab. Erst in deine Richtung, wie jetzt. Dann in meine … da geht’s ins Wasser, mein Lieber.“ – Er tritt ans Ufer, nimmt einen Stock, streicht damit langsam durch die Wellen, sagt: „Hier haust Max. Der größte Wels Berlins. Willst du ihn kennenlernen?“ – „Warum nicht?“ – „Musst schon näher kommen, aber pssst! Zwei Meter lang, frisst Hunde, wartet im Schlamm, unsichtbar, endlos geduldig – hinterlistig, sagen die einen, intelligent sage ich. Der erreicht mit einem Minimum an Arbeit ein Maximum an Erfolg. Ein Wels, sage ich Dir, hat nur zwei Probleme: dass er auffallen könnte und dass seine Beute zu groß ist. Denn dann erstickt er dran. Der wächst sein Leben lang, solange die Verhältnisse sich nicht ändern.“ – „Dann lass uns mal schnell weggehen.“
An der nächsten Weggabel bleibt sie stehen. „Eine praktische Frage, Max: Was erwartest du vom Leben? Nicht dass du glaubst, ich grüble zu viel, gestern fragte das der Sprecher von AFN.“ – „Geld.“ – „Geld also.“ – „Ja.“ – „Und?“ – „Was und?“ – „Willst du nicht wissen, was deine frisch Angetraute vom Leben erwartet?“ – „Geld nicht. Das erwarte ich ja schon. Bleibt dir also der Rest.“ – „Und was meinst du, was das ist?“ – „Viel Geld.“ – „Spaßvogel. Ich erwarte Liebe.“ – „Ach, das Übliche, natürlich, hätte ich mir denken können. Aber eigentlich, was mich betrifft: Fleisch. Ich will immer Fleisch haben. Und dich natürlich.“ – „Also wieder Fleisch. Dann komm!“
***
Carola versucht sich über Weihnachten und Silvester an die neue Situation zu gewöhnen, jedenfalls theoretisch, im „Deetz“, wie sie sagt. Am Morgen des zweiten Januar 1967, ihres ersten regulären und gemeinsamen Arbeitstags, sitzt sie still auf dem Beifahrersitz seines Dienstwagens. Max versucht, sich seinen Ärger darüber nicht anmerken zu lassen, dass sie sich nicht ein bisschen freut. „Ist was?“, fragt er. „Lass mich“, antwortet sie. Nach einer Weile sagt sie: „Annegret ist schwanger.“ – „Wer?“ – „Max, meine Freundin Annegret, der du eine Vase …“ – „Ich weiß.“ – „Sie ist schwanger, Max.“ – „Schön für sie. Grüß sie von mir.“ – „Sie wollte das Kind.“ – „Sonst wäre sie nicht schwanger – im Normalfall, meine ich.“ – „Ja, Normalfall.“ – „Pass auf, wenn dich gleich ein Frank Miller anspricht, Sergeant Frank Miller, wegen eines VW-Käfers, ich habe ihm den besorgt, war ein Wahnsinnszufall, verdiene fünfhundert daran. Wenn er die Kiste erwähnt, dann tu so, als wüsstest du davon. Ich habe ihm gesagt, dass meine Frau den Wagen am liebsten selber gekauft hätte, verstehst du?“ – „Sie will unbedingt ein Mädchen. Mir wär’s egal.“ – „Unglaublich.“ – „Ich versteh’s, Max.“ – „Ich verstehe nicht, warum die Amis für ihre Autos jeden Preis bezahlen, wenn man denen was vom Pferd erzählt. Aber vielleicht ist Frank ja eine Ausnahme.“
7.30 Uhr in der Onkel-Tom. Max parkt vor der Haustür. Auf dem Parkplatz stehen ein Käfer, ein Jeep, ein alter Ford und ein paar amerikanische Limousinen. Eine junge Frau läuft ihnen entgegen, ruft auf Englisch: „Sorry, Max, es ist etwas passiert. Frank ist gestürzt, hat die Kanne fallen lassen, wir haben alles im Flur aufgewischt. Und Frank stinkt nach Heizöl. Der kann so nicht los und drüben bei Andrews haben sie Nato-Alarm.“ – „Wo ist Heinz?“ – „Zu Hause. Gleich holen sie Frank ab und er sitzt in der Wanne. Das ist nicht gut …“ Da fährt ein Jeep vor, und während das Fahrzeug noch bremst, steigt einer der Uniformierten aus, läuft herbei. Max stellt sich dem Mann in den Weg: „Hi. Ich bin Max Weidendorf von der Apartment-Verwaltung. Wir haben ein Problem.“ – „Ja?“ – „Sergeant Miller hat mir bei der Ölheizung geholfen. Ich dachte, die explodiert. Miller hat alles repariert, nun kommt er zu spät … Zigarette?“ – „Danke.“ – „Marlboro?“ – „Ja.“ – Max steckt sich ebenfalls eine an und während sie rauchen, versucht er, Zeit zu gewinnen, fragt er den Mann nach dem Weihnachtsfest und dem Jahreswechsel in Amerika. Es dauert eine Viertelstunde, bis Sergeant Miller auftaucht, vor seinem Vorgesetzten eine Meldung macht und – ohne dass ein böses Wort fällt – zum Nato-Alarm der Andrews Barracks gefahren wird.
Die Frauen haben für Carola einen Apple Pie gebacken, den sie im Aufenthaltsraum essen. „Wo kommst du her?“ – „Düsseldorf.“ – „Oh, Düsseldorf ist eine wunderschöne Stadt.“ – „Und du?“ – „Aus dem wunderschönen Kentucky.“ – „Ach, wirklich? Ich war dort Austauschschülerin. Zweiundsechzig in Hopkinsville. Violet City, Cumberland River, wunderschön.“
Max zeigt ihr anschließend das Gebäude: Büro, Technikraum, Abstellräume im Keller, Mieterkeller und eines der wenigen Apartments, die zurzeit nicht vermietet sind. Dann ihre Fünf-Zimmer-Wohnung. „Augen zu!“, befiehlt er. Carola hält sich die Hand vors Gesicht, Max führt sie hinein und als sie die Hand fortnimmt und ein bisschen Deckenlicht das weite Eichenparkett wie Bernstein glänzen lässt, fällt sie ihm um den Hals und flüstert: „Einverstanden.“ Dann hüpft sie, als wolle sie Schmetterlinge fangen, von einem leeren Zimmer ins nächste und weiß in jedem, wo welches Möbelstück stehen wird, wie groß es sein und wie viel es kosten wird, einschließlich des Schirmständers. Aus einem der Fenster schauend sagt Max: „Dort geht’s zum Grunewald und dort, auf dem Teufelsberg, steht die Fernmeldeanlage der Amis. Der Nachteil, das muss ich dir jetzt sagen: Es handelt sich bei dem Ding um eine hochmoderne Abhöranlage. Die kriegen alles mit – bis tief nach Sibirien hinein und hier bei uns natürlich auch. Grad jetzt bei dem Probealarm, da üben die das. Wir werden uns daran gewöhnen, Carola, jeder im Haus hat sich dran gewöhnt. Aber die haben mir versprochen, abends, wenn wir im Bett liegen und ich ein gewisses Kennwort sage, ihre Technik für zwei Stunden abzuschalten.“ – „Max! Du Doofmann!“
***
Heinz Semnet lässt sich nicht blicken, Max macht die Arbeit, wie er es bei seinem Chef abgeguckt hat, aber mehr und mehr erledigt er sie auf seine Art. Das Wichtigste außer einer simplen Hausordnung, die er formuliert und aushängt, sind zwei Abgänge in Haus B, ein Umzug von A nach B wegen der besseren Lage und Schadensmeldungen in A und B: Waschmaschinen und Fernseher vor allem. Carola sitzt die meiste Zeit im Aufenthaltsraum, in dem pausenlos AFN zu hören ist, und lernt die Probleme und Sorgen amerikanischer Soldatenfrauen kennen. Mittags kommt eine alte Frau herein, die gebückt geht und ein Kopftuch umgebunden hat. Sie sieht so grau und traurig aus, dass man glauben könnte, es wäre 1945, und sie käme gerade von einem Trümmerberg. Max steht von seinem Platz auf, reicht ihr über dem Tisch die Hand und sagt: „Sie sind sicher Frau Mischke.“ – Die Frau sieht dem jungen Mann in die Augen, sagt „och“, und nimmt auf dem Besucherstuhl Platz. „Herr Semnet hat mir von Ihnen erzählt. Sie waren krank. Geht es Ihnen besser?“, fragt Max. – Die alte Frau zieht ein Taschentuch aus ihrem grauen Mantel, schnäuzt sich und sagt: „Schlecht ging’s im Krieg. Jetzt ist alles wie Urlaub. Leider ist meinen Knochen auch der Urlaub zu viel.“ – „Sind Sie denn wieder gesund?“ – „Ach, was für eine Frage.“ – „Herr Semnet sagte, dass Sie das Büro und den Eingang putzen.“ – „Bis auf den Kennedy, den putzt er selber.“ – „Jetzt ich.“ – „Sie machen seinen Kennedy sauber?“ – „Alles andere auch, ich meine: Ich übernehme Herrn Semnets Arbeit komplett.“ – „Der Emil Bensch ist raus, ja?“ – „Der kommt nicht mehr.“ – „Der Emil war kein schlechter Mensch, aber auch die guten klauen mal was.“ – „Ich habe ihn nicht kennengelernt. Wie wär’s, wenn Sie wieder nach Hause gehen und sich noch ein paar Tage ausruhen?“ – „Und die fünfzig Mark? Wenn ich nichts mache, krieg ich die nicht.“ – „Fünfzig im Monat?“ – „Für Dezember hab ich’s, aber für Januar … ich krieg’s immer gleich, bevor der Monat anfängt, woanders gibt man es dir am Ende.“ Max geht zum Schrank, schließt auf, nimmt eine Geldkassette heraus, öffnet sie, zählt fünf Zehn-Mark-Scheine ab und reicht sie der Frau mit den Worten: „Ich habe die Liste noch nicht gefunden.“ – „Was für eine Liste?“, fragt die Frau und steckt das Geld in ihre Manteltasche. „Verlieren Sie es nicht“, sagt Max und fügt hinzu: „Die Liste, auf der Sie unterschreiben.“ – „Unterschreiben? Ich hab noch nie unterschrieben. Warum soll ich denn?“ Max überlegt einen Moment und sagt: „Gut, dann lassen wir alles so wie es ist.“ Die Frau sieht ihn mit müden Augen an, scheint über etwas nachzudenken. Dann fragt sie: „Sind Sie wirklich der neue Chef?“ – „Ja, wie ich sagte, ich erledige alles, was Herr Semnet getan hat und der Emil Bensch.“ – „Sie sind noch ein Kind.“ – „Ich? Nein.“ – „Wie alt sind Sie denn?“ – „Einundzwanzig.“ – „Dann kennen Sie nichts. Gefällt Ihnen die moderne Musik?“ – „Moderne Musik? Ja, warum?“ – „Ich muss doch mal fragen. Man muss sich ja interessieren für die Jungen. Meinem Enkel hat sie auch gefallen, nun hört er sich‘s im Himmel an.“ – „Das tut mir leid.“ – „Ich habe noch Schallplatten zu Hause. Können Sie alle haben. Sie entlassen mich doch nicht?“ – „Sie? Nein. Wie kommen Sie darauf? Machen Sie sich keine Sorgen.“
Eine halbe Stunde vor Feierabend, um 16.30 Uhr. Vom Aufenthaltsraum dröhnt Like A Rolling Stone von Bob Dylan herüber. Carola sitzt auf Max‘ Schoß und blättert mit ihm in einem amerikanischen Magazin. Heinz Semnet kommt herein, bleibt aber kaum eine Viertelstunde. – Am nächsten Tag sagt er, dass er ab sofort wohl nur für fünf Minuten zu kommen brauche, denn er bezahle die Weidendorfs ja dafür, dass er zu Hause bleiben könne. Und wenn etwas schief laufe, würden die beiden daraus lernen, außerdem sei er aus dem Alter heraus, in dem man sich andauernd darüber Gedanken mache, was alles für schlimme Dinge passieren könnten. Am Donnerstag und Freitag kommt er gar nicht und am Montag ruft er an, um sich für den nächsten Tag anzukündigen, den wichtigsten des Monats, wie er sagt. An diesem Dienstag, den zehnten Januar, betritt er das Büro schon um acht Uhr, sagt: „Morjen!“ wie üblich mit Blick auf den Kennedy an der Wand. Max erhebt sich, gibt seinem Chef die Hand, sagt ebenfalls „Morjen“, und weil die Tür jetzt aufsteht, ist vom Aufenthaltsraum Be My Baby von den Ronettes zu hören. Max hat den Anzeigenteil der BZ aufgeklappt, links dampft ein weißer Becher voller Kaffee, rechts steht ein leerer blauer, der seiner Frau gehört, dazwischen die Kanne. Carola besucht seit einer halben Stunde Lily, die mit hohem Fieber im Bett liegt, während ihr Sergeant zum Wachdienst in den Turner Barracks eingeteilt ist. Semnet legt eine große, prallgefüllte Papiertüte auf den Tisch, nimmt auf dem zweiten Bürostuhl Platz, schnappt sich seinen angestoßenen Emaillebecher aus der rückseitigen Schublade, gießt sich etwas Kaffee ein, lehnt sich entspannt zurück, als wäre Feierabend und sagt: „Keene Krawatte heute? Aber ‘ne frische Unterböx wirst du doch wohl anhaben. Is wichtig, Junge, dat du es keenen Moment vergisst: Heute is Zahltag!“ Im Laufe des Vormittags trudeln dann auch knapp dreißig Soldaten oder stellvertretend ihre Frauen ein und bezahlen die Wohnungsmiete für Januar – abhängig von der Wohnungsgröße zwischen zweihundert und fünfhundert Dollar. Die ersten zwanzig bekommen im Gegenzug einen der Pfannkuchen, die sich in der Tüte befinden, in die Hand gedrückt. Max protokolliert alles im Mietheft und gibt die Quittungen aus. Zur Mittagspause liegen über zwölftausend Dollar in der Kasse. „Schwindlig?“, fragt Semnet. „Neidisch“, antwortet Max. „Kommste och noch hin“, sagt Semnet. „Weiß ich“, sagt Max. Carola schneit herein, begrüßt ihren Chef, sieht die Scheine, sagt: „Uiuiui!“ und ist gleich wieder fort.
„Damit kannst du dir ‘ne schöne Reise nach Timbuktu gönnen und beim zweiten Mal reicht‘s sogar bis Plötzensee“, sagt Semnet. – „Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen“, antwortet Max. „Vertrauen? Ick verlange, dat du dir zusammenreißt, mehr nich. Is ja auch nicht eenfach, bei sowat nicht an die eigene Tasche zu denken. Ick wäre in deinem Alter schlicht überfordert jewesn, un jetzt los, wech mit dem Zeuch!“ Max begleitet seinen Chef im Auto nach Zehlendorf, wo Semnet das Geld bei der Commerzbank einzahlt und bei der Gelegenheit seinen neuen Mitarbeiter vorstellt, der diese Formalität in Zukunft selbst erledigen soll. „Sag mal, Junge“, sagt er auf dem Weg zurück, „deene Zeugnisse sind mir Wurscht, dabei bleib ick, aber warum biste nich uff dem Gymnasium jewesn? Bist pfiffig.“ – „Keine Lust.“ – „Kann ja noch kommen, es jibt diese Abendgymnasiums.“ – „Nee, danke, was ich brauche, bringe ich mir selbst bei.“
II
Rolling-Stones-Liste
An manchen Tagen passiert schlichtweg zu viel. Die Weidendorfs arbeiten seit sechs Uhr in der Frühe pausenlos, in Haus B ist ein Abflussrohr verstopft, vier Apartments sind betroffen, der Handwerker, den Carola anhand der „Aufstellung auswärtiger Mitarbeiter“ telefonisch gerufen hat, lässt sich Zeit, obwohl er sofort vorbeikommen wollte. Außerdem haben Tom und Joanne Smith, die zwei Jahre in Haus A, dritter Stock gewohnt haben, bei ihrem Auszug ihre Wohnungsschlüssel mitgenommen, und das Ersatzpaar hängt nicht am Haken – niemand weiß, wo es geblieben ist. „Das geht so nicht, wir brauchen einen Tresor“, sagt Max und sieht es Carola an, dass sie aufgeregt ist: „Joe Carter kommt morgen mit seinem Kram und wir kriegen die Tür nicht auf!“ Max wirft einen Blick auf den amerikanischen Abreißkalender an der Wand, der eine Aufnahme vom Grand Canyon zeigt und das heutige Datum: Freitag, 20. Januar 1967. Zwei Soldaten treten ein: Frank Miller – und Jim Baker, dem Max einen Ford vermittelt hatte. Die Lichtmaschine ist kaputt und Max hat Jim versprochen, beim Verkäufer zu reklamieren. Jim trägt ein Kofferradio auf der Schulter, bewegt sich im Takt von Good Vibrations der Beach Boys, während vom Aufenthaltsraum California Dreamin’ herüberschallt. Lutz, der Handwerker, der endlich da ist, drückt sich an beiden vorbei, setzt sich an den Tisch und klappt seine Brotdose auf. Max faucht ihn an: „Hier brennt die Luft und du frisst Buletten!“ – „Irgendwann muss auch ich mal essen“, antwortet er gelassen. Max überlegt, ob er selbst versuchen sollte, den Abfluss wieder freizubekommen. „Hauptsache, du kriegst die Tür auf“, sagt er zu Lutz. – „Ich muss das Schloss aufbohren.“ – „Ist mir klar, schaffst du es heute noch?“ – „Wir haben Freitag, endlich Wochenende, ich vermisse mein Feierabendbier, aber das interessiert ja keinen. Warum willst du heute noch rein?“ – „Weil der Neue morgen einzieht.“ – „Na hoffentlich, sonst habe ich mich wieder umsonst beeilt.“ – Max bittet Frank Miller um Hilfe, geht mit ihm in das Apartment in B mit der Verstopfung, zu zweit versuchen sie es eine Stunde, dann gibt Max auf. Inzwischen hat Lutz die Tür in A geöffnet und meldet sich bei Carola ab. Max läuft ihm hinterher. Draußen ist es längst dunkel, die Luft kalt. „Lutz! Wir schaffen es nicht, du musst mir helfen. Ich zahl nen Fünfziger extra.“ – „Geht nicht. Bin verabredet. Ist mir wichtig. Such dir einen Klempner.“ – „Ja, wie denn? Um diese Zeit!“ – „Notdienst.“ – „Wo denn?“ – „Telefonbuch.“ – „Bis der hier ist! Lutz, kannst du deine Verabredung nicht verschieben?“ – „Wir wollen ins Kino, Julia und ich.“ – „Wann?“ – „Um sechs.“ – „Dann haben wir noch eineinhalb Stunden. Soll ich deine Freundin abholen? Ich fahre sie her, du pustest das Rohr durch, dann bringe ich euch hin. Welches Kino denn?“ – „Schloßstraße.“ – Bin ich in zehn Minuten. Die Karten besorge ich, okay?“ Frank und Jim gesellen sich hinzu, Jim fragt nach der Lichtmaschine, Max erklärt den Sachverhalt auf Englisch, da setzt Lutz sich plötzlich auf sein Fahrrad und rollt los. „Also, bis gleich?“, ruft Max ihm hinterher. „Geht nicht“, ruft Lutz zurück, „Julia wartet in Ost-Berlin und ins Kino wollen wir auch nicht. Ich habe eine Einreiseerlaubnis zu meiner Tante drüben mit meinem westdeutschen Pass. So kann ich Julia treffen. Sie kann nur heute Abend bis Sonntag.“ –„Ost-Berlin!“ – Da lacht jemand: Frank Miller. Er versteht ein wenig Deutsch, spricht es gebrochen: „Warum holen wir das Fraulein nicht rüber?“, fragt er.
Lutz ist neugierig geworden, sie sitzen im Büro, trinken Berliner Pilsner. Frank Miller erklärt, dass die Alliierten zwischen West- und Ost-Berlin freie Durchfahrt haben, Amerikaner, Briten, Franzosen. Die Russen genauso. Dann sagt er: „Kontrollen gibt’s nicht, die wollen auch keine Ausweise sehen. Es reicht aus, wenn man in einem Jeep sitzt und eine amerikanische Uniform anhat. Und wenn wir unser Bier von drüben holen, warum dann nicht auch das Fraulein? Wir legen sie auf die Rückbank, decken sie zu, dann bleibt sie schön warm und knusprig.“ Jetzt muss Max lachen. Er übersetzt das meiste, sagt zu Lutz: „Du kümmerst dich in aller Ruhe um die Scheiße da oben, ich zahl dir fünfzig extra und zur Belohnung gibt’s deine Julia in Geschenkpapier, einverstanden?“ Nun ist es Lutz, der lacht.
„Problem eins“, sagt Max, „Wie erreichen wir sie, wenn sie nicht in ihrer Wohnung ist? Problem zwei: Wie kann sie unauffällig in den Jeep einsteigen? Problem drei: Was machen wir, wenn sie nicht will?“ – „Keine Sorge“, sagt Lutz. „Sie hat keine Angst. Sie ist schon mal ein Stück die Mauer hochgeklettert, am Entenschnabel, Ostseite, na, die Mauer direkt nicht, aber den Zaun davor. Hat zum Glück keiner gemerkt in dem Moment. Ich hab sie zurückgezogen und da kamen sie schon und haben gefragt, was wir hier machen. Hat mich einige Nerven gekostet, Julia gar nicht.“ – „Wo wollt Ihr Euch denn treffen?“ – „Friedrichstraße. Neben dem Bahnhof. Da ist ein Platz, direkt südlich.“ – „Wo wohnt sie?“ – „Kleine Hamburger 4.“ – „Sie muss zu Hause abgeholt werden, nicht in aller Öffentlichkeit. Unmöglich am Bahnhof“, bestimmt Max. – „Warum fährst du nicht mit?“, fragt Frank. „Ohne Uniform?“ – „Ziehste die von Jim an. Könnte passen. Okay, Jim?“ – „Okay.“ – „Problem vier!“, ruft jemand, der sich bisher noch gar nicht geäußert hat: Carola. „Was machen wir, wenn sie dich schnappen?“ – „Passiert nicht!“, beschwichtigt Frank. „Die können mich nicht einlochen“, sagt Max, „nur weil ich keinen Militärausweis dabei habe. Schlimmstenfalls gibt’s ‘ne Beschwerde bei der alliierten Kommandantur.“ – „Und wenn sie die Frau entdecken?“, fragt Carola. – „Die durchsuchen den Jeep nicht“, antwortet Frank. „Haben sie noch nie getan. Ist ja auch dunkel. Und unter die Decke gucken die erst recht nicht. Wir haben ja nicht Omas Häkeldecke dabei, sondern die Plane, in die wir manchmal das Funkgerät einwickeln. Oder Bier. Völlig unauffällig.“ – „Problem fünf, entschuldige Max: Wenn sie panisch wird?“, will Carola wissen. – „Haste doch gehört, sie wollte über die Mauer. Mit Stöckelschuhen. Sie hat Mut“, antwortet Max – „Wenn sie schreit? Irrational.“ Carola lässt nicht locker. – „Trete ich aufs Gaspedal“, sagt Frank. „Die lassen jedes Fahrzeug unserer Streitkräfte durch, egal ob auf der Rückbank ein besoffener Ami in Frauenklamotten verrücktspielt oder nicht.“ – „Problem sechs …“ – „Bitte, Carola!“
Fünfzehn Minuten später, als vom Aufenthaltsraum Leader Of The Pack von den Shangri-Las zu hören ist, steht „Sergeant Max Baker“ vor Kennedy stramm, sagt lässig: „Hi!“ und lässt seine Uniform von Frank inspizieren. „Helm: MP muss gerade sitzen. Sitzt grade. Über der Brusttasche rechts: Namensschild BAKER. Darf nicht ausgefranst sein. Ist nicht. Über der linken Brusttasche: Schild U.S. ARMY. Muss hübsch leserlich sein. Ist hübsch leserlich. Knöpfe bis zum Koppel: Keiner darf fehlen. Es fehlt keiner. Links Armbinde MP: Muss stramm sitzen. Sitzt stramm. Hose oben: Stall muss geschlossen sein. Ist geschlossen. Pistole im Halfter? Ist im Halfter. Druckknopf zu? Ist zu. Patronen vergessen? Merkt keiner. Hose mit Falte? Hat die Falte. Stiefel blank? Hier gibt’s noch einiges zu tun. Das Wichtigste zuletzt: Kaugummi!“ Jim, der Max’ Zivilsachen angezogen hat, die ihm gut passen, reicht seinem deutschen Freund eine Packung Wrigley’s Spearmint und sagt: „Texanisch kauen – Augen immer geradeaus zum Horizont!“
Max geht einmal um den Jeep herum. Vorn, auf dem Blech neben den Scheinwerfern die beiden weißen, fünfzackigen Sterne, auf der Stoßstange das Nummernschild AE-BC 287P-40, an den Seiten der Aufdruck U.S.ARMY. Hinten auf dem Ersatzrad MILITARY POLICE. „Amerikanischer geht’s nicht“, sagt er. Carola steht betreten auf dem Bürgersteig, friert offensichtlich, dann winkt sie, ruft: „Pass bloß auf dich auf!“ – „Wir ziehen nicht in den Krieg“, ruft Max zurück. „Bin ich mir nicht sicher“, sagt Carola und geht ins Haus. Der Helm ist schwer und drückt. Als sie losfahren fragt Max: „Muss ihn aufbehalten, ja?“ – „Ist besser“, antwortet Frank. Onkel-Tom Richtung Norden, durch den Grunewald, also nicht die Clayallee hoch, nicht an den Turner Barracks vorbei, nicht das Glück herausfordern und glauben, dass man sie nie und nimmer und warum auch immer in die Kaserne ablenken würde. Königsallee, Halensee, Kurfürstendamm. Es glitzert und glänzt der Boulevard, als wäre Berlin nie kaputt gewesen. Frank fährt absichtlich durch dichten Verkehr, um nicht von den eigenen Landsleuten angehalten zu werden, was nahezu nie passiert, wie Frank versichert, aber passieren kann. Es fällt Max auf, wie respektvoll die Berliner den Jeep umfahren, wie sie Abstand halten und Vorfahrt gewähren. Die Gedächtniskirche mit dem Neubau, der innen blau wie Veilchen leuchtet, und auf den Treppenstufen trotz der Kälte die vielen Gammler mit ihren Pilzköpfen und yeah, yeah, yeah! Dahinter das Europa-Center mit dem Stern auf dem Hochhausdach. Die Budapester entlang, am Hilton vorbei, ach Carola, als sie dort noch gearbeitet hat – dann Lützowplatz, Landwehrkanal, Anhalter Bahnhof. „Alles wegen dem Fraulein“, sagt Frank. – „Hast es selber vorgeschlagen“, antwortet Max. – „Vorschlagen kann man viel. Kommt drauf an, ob man’s dann durchführt.“ – „Ich will sehen, was machbar ist.“ – „Was ist dir denn wichtiger?“, fragt Frank. – „Was meinst du?“ – „Das Fraulein – oder wissen, was machbar ist?“ – „Die Scheiße in Haus B.“ – „Ja, was Scheiße alles anrichten kann. Dort ist Checkpoint Charlie.“ – „Weiß ich.“ – „Angst? Nimm ein Kaugummi.“ Plötzlich kommt ihnen ein Militärfahrzeug entgegen, Russen! Frank streckt seinen linken Arm aus dem Fenster, winkt, der russische Fahrer winkt zurück. „Verrückt“, sagt Max und Frank sagt: „Wir lieben uns nicht, aber wir hassen uns auch nicht. Ich weiß sowieso nicht, wer wen hasst. Ich glaube, in Berlin hasst keiner und liebt keiner. Die sind alle nur sprachlos.“ – „Berliner und sprachlos?“ – „Hier drin, im Herzen, meine ich. Und jetzt halt die Klappe!“
Max blickt geradeaus. Das Kontrollhäuschen in Straßenmitte, darüber das Schild ALLIED CHECKPOINT und drei Fahnen aufgemalt: die amerikanische, die französische, die britische. Zwei Posten am Haus und ein Auto, Privatfahrzeug, aber kein Berliner Kennzeichen. Posten A lässt sich die Papiere zeigen, Posten B langweilt sich. Frank bremst leicht, lässt den Jeep langsam rollen. „Ich will nicht hinter dem stehen bleiben, Stillstand ist nie gut, hoffentlich haut der gleich ab.“ Dann, bevor sie das Privatauto erreichen, fährt es los, so dass Frank langsam hinterher kommt, dann ein wenig Gas geben und zügig am Posten vorbeifahren kann. Natürlich nicht ohne Gruß, Finger am Helm, den der Posten sofort erwidert. „Nett, die Amerikaner“, flüstert Max. Rechts ein großes Schild: YOU ARE LEAVING THE AMERICAN SECTOR. Darunter das gleiche auf Russisch und Französisch und darunter mit kleineren Buchstaben auf Deutsch. „Geradeaus?“, fragt Frank. „Wohin sonst?“, antwortet Max. „Zurück, wenn du dir in die Hose pisst.“ – „Auch dann geradeaus.“ – „Hab ich mir gedacht. Kaugummi?“ – „Drei.“
„Fast wie damals“, sagt Max, und er denkt an die Zeit zurück, als die Berliner Mauer gebaut wurde. Da war er fünfzehn Jahre alt, wirkte wie siebzehn, und am Donnerstag, den 27. Oktober 1961, als er vor dem Checkpoint an der Wand lehnte, easy eine Zigarette im Mund, fühlte er sich wie zwanzig. Links war die Tür zu einer Schreibwarenhandlung, rechts zwei amerikanische Panzer mit dem Rohr nach Norden, geradeaus die Mauer und Ost-Berlin und sowjetische Panzer mit dem Rohr nach Süden. Er fragte sich, ob es Krieg geben wird, ob er hier beginnen wird, an dieser Stelle, auf der Max stand, wenn er seine Kippe austrat, und er fragte sich, warum die amerikanischen Soldaten, die überall herumstanden, so lässig waren und drüben auf der anderen Seite die russischen nicht anders. Was Max aber am meisten beschäftigte war die Frage, wie man vor Kriegsbeginn noch schnell ein wenig Geld verdienen konnte. Man könnte Brote schmieren, dick Butter und Schinken, und sie den Männern zum Schießturm hinaufreichen – einen Dollar pro Stück kassieren, dann käme bis zum Abend ordentlich was ins Portemonnaie und die Amerikaner hätten mal wieder einen guten Eindruck von den jungen Deutschen. Oder sollte man Bierflaschen herumreichen? Leere, in die man als Soldat hineinpinkeln darf, endlich und mit Lust! – Nur für einen Dollar und der Abtransport wäre im Preis inbegriffen. Oder man könnte die Situation fotografieren, die sauberen Panzerketten, das geputzte Fahrzeug, die glänzenden Stiefel, die heile Uniform, damit man sich dran erinnern konnte, wie schön es war, wenn alles schmutzig geworden ist – für einen Dollar das Bild. Zu Hause überlegten sie gemeinsam, Max und der Bruder Manni, während die Eltern in höchster Aufregung am Radio saßen und Oma Schwarz dazu. „Wir singen denen was“, sagte Manni. Max gab zu bedenken, dass sie unmusikalisch seien. „Dann basteln wir was, Weihnachtssterne, der Krieg dauert bestimmt bis Januar, dann haben die was zum Schmücken“, sagte Manni. Max fand die Idee auch gut, sie fingen gleich damit an, schnitten Sterne aus einem Schuhkarton, lochten Buntpapier, verrührten Dextrin mit Wasser, um kleben zu können. Am nächsten Tag nach der Schule, als die Brüder mit einer Tüte Weihnachtsschmuck am Checkpoint ankamen und feststellten, dass die Panzer fort waren, der Krieg ausgefallen ist und die Passanten erleichtert diskutierten, da waren die beiden wohl die einzigen in der großen geteilten Stadt, denen das ganz und gar nicht gefiel.
Und heute: Einige Meter Niemandsland. Hier weiß man zunächst nicht, wo man sich befindet: noch im Westen oder schon im Osten? Geradeaus versperrt eine rot-weiße Schranke den größten Teil der Straße – bis auf eine Lücke, durch die maximal ein Bus hindurchpasst, der Jeep mit Leichtigkeit. Dann, vor ihnen und zu beiden Seiten der Straße: die Mauer, Berliner Mauer, wichtigstes und zugleich absurdestes Bauwerk der Stadt, Deutschlands, der Welt. „Ich würd mir gern ein Stück mitnehmen“, sagt Frank. „Kann ich dir geben“, antwortet Max, „wenn wir heil zurückkommen.“ Frank lenkt den Jeep durch eine Lücke, die man in der Mauer gelassen hat. Spätestens jetzt weiß man, dass man sich im Osten befindet. Links ein Wachtturm, rechts ein niedriges Gebäude und die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik und ein Posten, aber einer, der nicht grüßt, der anders aussieht, ein DDR-Posten, der nur guckt und sich fragt, ob etwas verdächtig ist, nein, der sich so etwas gar nicht fragt, weil ja nie etwas verdächtig ist bei den Amerikanern, der an zu Hause denkt, an seine Freundin, wann er sie wohl wieder besteigen kann oder nur küssen oder ihr endlich mal eine Kinokarte schenken.
Ein Stück freie Straße, als hätten sie hier irgendwas vergessen oder als planten sie an dieser Stelle das eigentliche Hindernis, etwa eine Falltür oder Rampe in den Boden hinein, wo die Staatsmacht sich dann die Hände reibt und „Ätsch!“ sagt oder „Schnauze!“. Geradeaus die nächste Mauer, aber eine, die links zu kurz ist, so dass Frank die Straßenseite wechseln muss, als wäre hier England. Dahinter noch eine Mauer, aber eine richtige, eine deutsche, die rechts zu kurz ist, so dass Frank den Jeep rüberzieht und durch die nächste Lücke rollt. Dann wieder eine Baracke, doch auf der linken Seite, damit’s mal interessant ist und wieder ein Posten, DDR, und ein Schlagloch, Frank kennt sich aus, kennt jede Unebenheit zwischen Mauer eins und „hundertvierunddreißig“, lenkt den Jeep dran vorbei, tänzelnd fast. Dann der russische Posten: Grüßt mit der Hand an der Mütze, fast wie ein Freund – und lächelte er nicht eben? Dann sind sie da. Friedrichstraße, Ost-Berlin. Rechts ein altes Wohnhaus, links ein altes Wohnhaus, dazwischen der Sozialismus, der eigenartig dunkel und leer ist und in den Frank hineinfährt, als wäre er hier zu Hause.
„Marlboro?“ – „Marlboro.“ – „Alles gut?“ – „Alles gut.“ – „Pissen?“ – „Ja.“ – „Da unten liegt eine Bierflasche.“ – „Gute Idee, Frank, könnte von mir sein.“ – „Mir ist nicht nach Witzen zumute. Angenommen, Julia ist nicht sauber.“ – „Hab auch schon drüber nachgedacht. Wenn sie von der Stasi ist, auf Lutz angesetzt, so was machen die doch. Wenn Lutz, ohne dass er es weiß, für den Klassenfeind arbeitet.“ Frank fährt bis Unter den Linden, dann ostwärts, fährt rechts ran, parkt. „Wir haben etwas Wichtiges vergessen“, sagt er. – „Ich muss mal raus“, antwortet Max. – „Ein amerikanischer Soldat pinkelt nicht einfach auf den Bürgersteig.“ – „Hier ist doch niemand. Warum ist hier niemand? Mitten in der Stadt. Am frühen Abend.“ – „Die haben alle mit ihrer Nahrungssuche zu tun. Wann warst du das letzte Mal in Ost-Berlin?“ – „Frank, ich muss …“ – „Geradeaus, drei Minuten, kommt der Dom, dahinter sind Hecken, da kannst du alles Mögliche machen. Jim hat da auch was gemacht. Monika hieß sie. War nicht ungefährlich. Aber was ich sagen wollte: Wo ist die Kleine Hamburger Straße?“ – „Irgendwo nördlich, beeil dich!“
Frank fährt weiter, die Linden hoch, über die Schlossbrücke, am neuen Außenministerium vorbei zum Dom, der in der Dunkelheit schwarz ist. Max springt raus, in die Hecken, und während er sich erleichtert, blickt er auf die enorme Brache gegenüber, wo früher das Stadtschloss stand. Nirgendwo ist ein Passant zu sehen, ab und zu fährt ein Trabant mit stinkendem Auspuff vorbei, eine Einöde, über die ein kalter Wind pfeift. Wenn jetzt jemand hier wäre, dem Max ein paar simple Fragen stellen könnte: Warum das alles so ist, warum man sich hier einsperren lässt, warum nicht alle gemeinsam rüberklettern – in die freie Welt?
Plötzlich Licht! Max erschrickt. Eine Straßenlampe, die vorher ausgeschaltet oder defekt war, funktioniert wieder und beleuchtet den Jeep, als wären sie ertappt! Er läuft zum Fahrzeug, der Motor brummt, Max steigt ein, Frank fährt ohne ein Wort sofort ab. Er hat einen Pharus-Plan aus dem Jahr 1954 gefunden. West-Berlin ist nicht drauf, aber der Ostteil – farbiger als die Wirklichkeit.
„Wenn sie nicht da ist …“, sagt Max wie für sich, „wir können doch nicht einfach bei den Nachbarn klingeln. Guten Tag, amerikanische Militärpolizei, wo ist denn Julia Lamprecht? – Ach, und von der Stasi sind Sie nicht? – Nein, vom Gegenteil. – Was wollen Sie denn von der? – Schwer zu erklären. – Warten Sie, ich frage meinen Mann, der ist General der Sowjetarmee, der geht manchmal zu ihr, weiß auch nicht warum …“
Burgstraße, Oranienburger, Tucholsky. „Dort ist es“, sagt Max. „Fahr langsam, ich ziehe meinen Mantel an.“ – An der Ecke zur Linienstraße steigt Max aus, hat seinen privaten Wintermantel über die Uniform gezogen, lässt den Helm im Jeep. Frank fährt alleine weiter. „Zwanzig Minuten“, sagt er. Max geht schnellen Schrittes die Kleine Hamburger zur Nummer 4. Niemand ist hier, die alten, dreistöckigen Häuser sind kaum beleuchtet und dort, wo ein wenig Licht hinfällt, ragen zwei Stahlträger aus der Wand heraus, weil hier früher mal ein Balkon gewesen ist. Max greift in seine Hosentasche, er hat einen weißen Kamm dabei. Julia hat ihn ihrem Lutz zum vierundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Die Haustür ist nicht abgeschlossen, es riecht nach Ofenasche und nassem Kalk. Max findet einen Lichtschalter, zieht ihn runter, das Licht geht an, aber gleich wieder aus. Beim zweiten Versuch bleibt es dunkel. Er tastet sich zur Treppe. Erster Stock, zweiter. Hier soll sie wohnen. Links? rechts? Welche Tür?
Max klopft, die Tür geht auf, gelbes Licht blendet und eine junge schöne Frau blickt überrascht. „Guten Abend, Frau Lamprecht!“ – „Ja?“ – „Ich soll Sie von Lutz grüßen.“ – „Lutz? Wo ist er denn?“ – „Er wartet auf Sie.“ – „Wo? Wer sind Sie?“ – „Darf ich einen Moment hereinkommen?“ – „“–„“–„“–„“–„“–„“–„“–„“–„“–„“–„“–„“