Eine Darstellung der Einrichtungen und des
Betriebs auf den Eisenbahnen des Fernverkehrs
nebst einer Geschichte der Eisenbahn
von Artur Fürst
Impressum
Texte: Artur Fürst
Veröffentlichung: 1918
Herausgeber: Jacson Keating
c/o Papyrus Autoren-Club,
R.O.M. Logicware GmbH
Pettenkoferstr. 16-18
10247 Berlin
jacson@jacsonkeating.de
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Dieses Buch handelt von der Technik der Eisenbahn.
Damit ist ihm eine Beschränkung auferlegt. Von streifenden Betrachtungen abgesehen, bleiben die wirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn, ihr Einfluß auf das gesellschaftliche und politische Leben unerörtert. Nur durch die Ausschaltung dieses großen Stoffgebiets war Raum für das zu gewinnen, was hier dargelegt werden sollte.
Auf die eingehende Erörterung der wirtschaftspolitischen Einwirkungen und Zusammenhänge konnte um so eher verzichtet werden, als hierüber eine gut lesbare Literatur in reicher Fülle vorhanden ist. Ein Buch jedoch, welches auch nur ungefähr das enthält, was ich über die Eisenbahntechnik unserer Tage zu sagen beabsichtigte, gibt es, so weit ich sehen kann, nicht.
Dem Leser, der, empfehlenswerten Beispielen folgend, diese einführenden Worte erst überfliegt, nachdem er das Buch selbst zu Ende gelesen, hoffe ich nichts Neues mehr mitzuteilen, wenn ich hier sage: ich habe nichts weiter gewollt, als die Fragen beantworten, die jedem Wißbegierigen sich aufdrängen, sobald er einen Bahnhof betritt oder aufmerksamen Auges die Gegenstände betrachtet, die an dem Fenster des fahrenden Zugs vorübergleiten. Damit ist zugleich ausgedrückt, daß ich kein Lehrbuch geschrieben, sondern die Leser nur auf einen Spaziergang durch die Welt auf Schienen mitgenommen habe. Meine Absicht war nicht, Eisenbahnbauer zu erziehen. Ich wollte ein Bild dieser gewaltigen Schöpfung menschlichen Geistes malen, so farbig und so anziehend, wie meine Schilderungs-Fähigkeit es zuließ. Ich bin bestrebt gewesen, eine in dem angegebenen Rahmen erschöpfende Darstellung der Eisenbahntechnik zu geben, zugleich aber auch ein Unterhaltungsbuch zu schreiben.
Meiner Meinung nach darf nämlich von dem Nichtfachmann, auch wenn er den heißen Wunsch hat, in ein bestimmtes Gebiet der Technik einzudringen, keineswegs verlangt werden, daß er den üblichen trockenen, vorlesungsmäßig aufgebauten Darlegungen folgt. Diese Anschauung führt mich zu der folgenden allgemeingültigen Anmerkung.
Die Ansicht ist weit verbreitet: „Technische Dinge kann man nicht verstehen!“ Daraus folgt eine starke Abneigung gegen das Lesen von Werken, welche dieses Gebiet behandeln, und eine geradezu erstaunliche Unkenntnis der technischen Dinge, obgleich diese doch jeden täglich aufs engste berühren. Es ist aber ganz sicher, daß alles, was Menschen geschaffen haben, sich auch verständlich darlegen läßt. Wer Technisches erklären will, muß freilich die Aufnahmefähigkeit seiner Leser genau in Betracht ziehen. Am besten ist es, Vorkenntnisse in keiner Weise anzunehmen. Ferner darf es dem Leser, der in ein ihm gänzlich unbekanntes Land hineinschreitet, nicht überlassen werden, selbst zu erkennen, an welchen Orten zu Seiten seines Pfads er rasch vorübereilen kann, und wo er wegen der grundlegenden Bedeutung des zu Beschauenden längere Zeit verweilen muß. Der Verfasser der Darlegung hat vielmehr die Pflicht, seinen Stoff so zu gliedern und anzuordnen, daß wichtiges von selbst stark hervortritt. Gelingt es noch, durch Beibringung vergleichenden, ja selbst anekdotischen Stoffs zu einer rein literarisch fesselnden Darstellung vorzudringen, so darf mit der Gewinnung neuer Freunde der Technik gerechnet werden.
Auf solchen Meinungen und Absichten ist der Inhalt dieses Buchs aufgebaut. Wie weit es mir gelungen ist, die gewollte Wirkung zu erreichen, muß dem Urteil der Leser überlassen bleiben.
Trotz des Fortfalls fast aller wirtschaftlichen Erörterungen ist eine weitere Beschränkung des Buchs auf die Schilderung der Einrichtungen und des Betriebs der Ferneisenbahnen notwendig gewesen, um den Band nicht zu unförmlicher Dicke anschwellen zu lassen. In den Aufbau und Ausbau der großen Strecken ist nämlich eine solche Fülle technischer Großleistungen eingesenkt, daß deren Darstellung allein den ziemlich weit gesteckten Rahmen ausfüllte. Ich beabsichtige, in einem Buch „Berlin im technischen Jahrhundert“, das im gleichen Verlag erscheinen wird, die hier fehlenden Stadtschnellbahnen und Straßenbahnen zu behandeln.
Bei der Heranschaffung des textlichen und bildlichen Stoffs für das vorliegende Werk habe ich mich bereitwilligster Unterstützung zu erfreuen gehabt. Zu besonderem Dank bin ich der Königlichen Eisenbahndirektion Berlin verpflichtet, die mir durch Hergabe von amtlichen Drucksachen und die Erlaubnis zur Besichtigung zahlreicher Dienststätten erst die gründliche Bearbeitung vieler Abschnitte ermöglicht hat. Auch das große Eisenbahngewerbe Deutschlands hat meiner Arbeit ein liebenswürdiges Verständnis entgegengebracht. Hervorheben möchte ich die umfangreiche Unterstützung durch die Hannoversche Maschinenbau A.-G. (Hanomag) und ihren Leiter, Kgl. Baurat Metzeltin, dem ich zugleich für das Lesen eines großen Teils der Korrekturen zu danken habe.
Es ist ein großer Gegenstand, der in den folgenden Blättern behandelt wird. Unsere stark zur Kritik neigende Zeit begeht leicht den Fehler, über kleinen Flecken, die sie wahrnimmt, die Strahlen einer prächtig leuchtenden Sonne zu übersehen. Ich möchte mit diesem Buch bewirken, daß die Leser über die kleinen Ärgernisse, die auch bei einer Eisenbahnfahrt oft nicht zu vermeiden sind, über hier und da sich zeigende Mängel fortab leichter hinwegsehen, nachdem ihnen bekannt geworden, welche fast unübersehbare Fülle von Anlagen und Einrichtungen geschaffen werden mußte, damit sie mit der beschwingten Eile des Zugs von Ort zu Ort gelangen können, welche gewaltige Arbeit täglich von neuem geleistet werden muß, um den Betrieb regelmäßig und unter Sicherung von Gesundheit und Leben der Reisenden durchzuführen.
Bei der Abfassung dieses Buchs über die Eisenbahn hat mich in keinem Augenblick das Gefühl der Bewunderung und hohen Freude gegenüber dieser herrlichen Schöpfung des Menschengeschlechts verlassen. Wenn es mir gelingt, nur einen geringen Teil dieser Bewunderung und Freude auch auf den Leser zu übertragen, werde ich meine Arbeit nicht als mißlungen betrachten.
Berlin-Wilmersdorf, im Frühjahr 1918
Artur Fürst
Das Mittelalter der Menschheitsgeschichte reicht bis in das erste Drittel des vorigen Jahrhunderts. Erst mit dem Jahre 1830 beginnt die Neuzeit. Damals fand die Eröffnung der ersten großen Eisenbahnstrecke statt, die für den öffentlichen Verkehr bestimmt war.
Welch ein Ereignis!
Viele Jahrtausende lang war der Mensch an die Scholle gefesselt, auf die ihn der Zufall der Geburt gestellt hatte. Eine Macht, die dem Erdbewohner von Beginn an feindlich war, hielt ihn an seiner Wohnstätte fest: der Raum. Gegen diesen konnte nur mit größter Mühsal, unter schrecklichen Gefahren und durch Opferung einer übermäßig großen Menge des kostbaren Besitztums Zeit angekämpft werden. Wenn darum früher einmal größere Menschenmassen über die Erdoberfläche zogen, wie es heute an jedem gewöhnlichen Tag geschieht, so waren sie durch einen mächtigen Anstoß in Bewegung gesetzt: durch den Angriff eines überlegenen Feinds, durch die von Naturgewalten verursachte Zerstörung der heimatlichen Ackererde oder durch die Sucht nach Eroberung und Kriegsbeute. Jede solcher Massenbewegungen wurde ein geschichtliches Ereignis, sie ward als Völkerwanderung oder Heereszug in die unvergänglichen Bücher eingeschrieben.
Die Natur, welche in den Geist des Menschen die Freude an der Fortbewegung gelegt hat, die Sehnsucht umherzuschweifen, so weit wie möglich vorzudringen, die ihn besondere Lust beim Erschauen des noch Unbekannten empfinden läßt, diese selbe Natur hat ihr letztes Geschöpf nur mit recht kümmerlichen Möglichkeiten bedacht, sich jene Freude zu verschaffen, diese Sehnsucht und Lust zu befriedigen.
Es ist eine recht erstaunliche Tatsache, daß sie, die wir so gern die Allmutter nennen, den lebendigen Wesen, soweit diese sich überhaupt willkürlich von der Stelle zu bewegen vermögen, höchst unvollkommene Werkzeuge hierfür zur Verfügung gestellt hat. Das Bein, welches — in Einzelheiten der Durchbildung verschieden, im ganzen immer in der gleichen Form und Art — den Tieren und Menschen zur Fortbewegung dient, ist eine Anordnung von recht bescheidenem Wirkungsgrad. Ein verhältnismäßig großes Gewicht muß beim Gehen immer von neuem angehoben werden, nur um sofort wieder hinabzusinken, der tote Pendelgang des Glieds bei jedem Schritt verbraucht umsonst Kraft und Zeit.
Dabei gibt es eine höchst einfache Fortbewegungsvorrichtung, die frei von unausgeglichenen Gewichtshebungen und jedem toten Gang ist. Der Mensch hat sie erfunden, als seine Gattung noch recht jung war, als er noch auf einer sehr niedrigen Stufe der Kultur stand; der Natur ist sie bei ihrer unabsehbar langen Entwicklungsarbeit niemals eingefallen.
Diese Vorrichtung ist das Rad.
Kein Mensch wird mit einem Raduntergestell geboren, was sehr wünschenswert wäre, so seltsam es auch klingen mag. Er muß sich vielmehr mit Hilfe eines weit weniger brauchbaren Werkzeugs über die Erde bewegen. Und dazu kommt noch, daß die Oberfläche unseres Heimatsterns durch ihre Gestaltung die Überschreitung größerer Strecken bedeutend erschwert.
Vor Jahrmillionen, als die Kruste der Erde schon bis zu einer gewissen Tiefe erkaltet und erstarrt, deren Inneres aber noch weit heißer war als heute, entstand durch die Zusammenziehung des immer weiter sich abkühlenden feuerflüssigen Erdkerns schließlich ein breiter Zwischenraum zwischen diesem und der starren Kruste. Die äußere Erdschicht, die bis dahin ganz glatt gewesen war, verlor dadurch ihre Unterstützung und mußte schließlich unter dem Zug der Schwerkraft einstürzen. Hierbei ging es ziemlich heftig drunter und drüber. Ungeheure Schollen stellten sich schräg ein, an einzelnen Stellen wurde der Boden hoch emporgedrückt, an anderen sank er ein. So entstand das heutige Antlitz des Himmelskörpers, auf dem wir wohnen; die glatte Stirn der Mutter Erde erhielt Falten. Nun waren die Gebirge emporgetürmt, Furchen eingepreßt, und die scharfen Nagezähne des fallenden Wassers sorgten für die Herstellung von tiefen Einschnitten auch im sonst flachen Land.
Seitdem ist dafür gesorgt, daß eine Vorwärtsbewegung über ein größeres Stück der Erdoberfläche kein einfaches Dahinschlendern über eine Ebene ist. Der wandernde oder fahrende Mensch hatte von Beginn an mit der Schwerkraft zu kämpfen, die sich bei jedem der unzähligen Auf und Ab unangenehm bemerkbar machte. Die kleinen Unebenheiten ihres Wegs vermochten unsere Vorfahren bereits vor Jahrtausenden durch die Anlage von Straßen mit einigermaßen befestigter Fahrbahn auszugleichen. Aber den großen Wellenbewegungen des Geländes mußte die Straße sich eng anschmiegen, hier vermochte sie keinen kraftsparenden Ausgleich zu gewähren. Niemand konnte auf den Gedanken kommen, für die langsam sich dahinschleppenden Verkehrsmittel, die bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts ausschließlich vorhanden waren, unter Aufwendung ungeheurer Kosten ebene Wege zu schaffen. Das hätte geheißen, einer Henne Kondorflügel anheften. Ein der Aufwendung entsprechender Nutzen wäre nicht entstanden.
Bevor das Riesenwerk der Anlage wirklich ebener Straßen lohnend erscheinen konnte, mußte erst etwas ganz Neues, ganz Großartiges geschehen. Das Rad mußte sich mit der Schiene vermählen, und in diese Ehe mußte die Triebkraft des Dampfs adoptiert werden.
Als dies geschehen, ward der Mensch plötzlich zum Herrn der Erde. Der Äquator und alle Meridiane wurden kürzer, die Erdkugel schrumpfte unter seinem festen Zugriff ein, der Raum, dieses Ungreifbare, ließ sich zusammendrücken.
Im Wagen auf der glatten Schiene dahingezogen, spottet der Mensch fortab der kümmerlichen Bewegungswerkzeuge, die ihm die wenig sorgsame Natur an den Leib geheftet. Aber gleichzeitig, im nämlichen Augenblick, da er das neue Verkehrsmittel geschaffen hatte, dachte der kluge Erfinder auch daran, das zweite Hindernis zu beseitigen, welches ihm das rasche Umherschweifen über die Erde so sehr erschwerte. Jetzt wurden sogleich, schon für den ersten großen, der Allgemeinheit geweihten Schienenpfad, Talmulden aufgehöht, Hügel abgegraben, Flüsse überbrückt, Felsen durchbohrt. Dort wo der Mensch sein Eigentum, die Erde, durcheilen will, ist seitdem die Zerklüftete vor ihm wieder eben. Das auf der glatten, ebenen Bahn geflügelt gewordene Rad ward zum Zeichen eines anderen Abschnitts der Menschheitsgeschichte.
Die Neuzeit hatte begonnen.
Des Menschen Heimat ist der feste Boden, nicht das Wasser. Wie seltsam muß daher die Tatsache berühren, daß jahrtausendelang die Fortbewegung auf dem Wasser rascher und bequemer war als das Reisen über Land. All die gewaltigen Stätten, an deren Schicksal die Geschichte der früheren Jahrhunderte geknüpft ist, lagen am Meer oder an großen schiffbaren Flüssen, die rasch der See zueilten. Nur in der Nähe der Küsten war der Austausch von Personen und Gütern, durch den allein menschliche Siedelungen erstarken können, in bedeutendem Maßstab möglich.
Der Römer kannte die dem Mittelmeer zugekehrten Küsten von Asien und Afrika weit besser als das Innere seines heimatlichen Erdteils. Die völkerverbindende Kraft des Weltmeers war noch bis in späte Jahrhunderte hinein der des festen Lands bedeutend überlegen. Max von Weber, der Sohn des „Freischütz“-Schöpfers, der ein hervorragender Ingenieur und ausgezeichneter Schriftsteller war, schreibt in seinem Buch „Aus der Welt der Arbeit“: „Es war noch im sechzehnten Jahrhundert leichter, tausend Zentner Kohlen von Newcastle nach Lissabon zu versenden, als einen Ballen Tuch von Norwich nach London zu bringen, und bis zu Anfang desselben Jahrhunderts, wo die Kohlengruben an den Küsten aufgetan wurden, hatte London, obwohl in waldloser Gegend gelegen und an Holzmangel leidend, keine Steinkohlen.“
Das Elend der Verkehrsverhältnisse im mittelalterlichen Europa ist zu bekannt, als daß es hier einer neuen Schilderung bedürfte. Wie man noch zur Zeit Friedrichs des Großen in Deutschland reiste, ist in den Lebenserinnerungen der Schwester des Königs, der Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, köstlich dargestellt.
Für eine Reise von der Hauptstadt ihres Ländchens nach Berlin, die heute in sieben Stunden überwunden wird, brauchte sie fast ebenso viele Tage. Und welche Erlebnisse konnte man auf solchem Weg haben! Die Markgräfin schildert eine ihrer Fahrten wie folgt:
„Es war ein höllisches Wetter! Die Wege waren so schlecht, daß ich, aller meiner Eile ungeachtet, nur bis Hof kommen konnte, und das erst abends um elf Uhr, da es doch nur sechs Meilen von Bayreuth entfernt ist. Mein Gepäck war zurückgeblieben, ich mußte mich also ganz angekleidet auf ein schlechtes Bett legen, auf dem ich wenig schlief. Das Gepäck kam erst um zwei Uhr an, ich befahl, es weiterfahren zu lassen, in der Hoffnung, daß mein Nachtlager in der zweiten Nacht besser sein würde wie das erste.
„Die zweite Tagereise war sehr lang. Ich reiste um drei Uhr ab und war mittags in Schleiz, das nur vier Meilen von Hof entfernt ist. Ohne aus dem Wagen zu steigen, nahm ich etwas Fleischbrühe, um recht früh in Gera, zwei Stationen weiter, einzutreffen. Die erste legte ich in vier Stunden zurück, auf der zweiten fand ich keine Pferde, obschon sie zwei Tage vorher bestellt waren.
„Mich begleitete gar kein anderer Wagen als der, in welchem Herr von Seckendorf mit meinen Kammerfrauen saß. Der Postmeister, der wohl abgefeimt war, bat mich, um Gottes willen nicht weiterzureisen, weil die Wege zum Halsbrechen wären. ‚Sie müssen,‘ sagte er, ‚durch einen großen Wald, wo alle Tage geraubt und gemordet wird, und da Sie dieselben Pferde, welche Sie hierher brachten, auch nach Gera führen müssen, können Sie nur sehr spät eintreffen. Ich muß Ihnen das alles sagen, um aller Verantwortlichkeit ledig zu sein.‘ Mir stieg der Kamm, wie ich diesen weisen Ratgeber hörte. Meine Hofdame wollte, daß wir die Nacht in diesem Dorfe zubringen sollten, allein wir hatten weder Betten noch Köche, das Haus sah wie eine Räuberhöhle aus, es stank zum Sterben, und die Schweinerei, die darinnen herrschte, machte einem übel und weh. Ich entschloß mich also schnell, stellte mich ganz heldenmäßig, indes mir himmelbang war, und setzte meinen Weg fort.
„Des Postmeisters Rat war leider nur zu gerechtfertigt! Die Wege waren abscheulich! Bei jedem Schritt waren wir in Gefahr umzuwerfen, und, um das Unglück zu krönen, fing die Nacht an, ihren Mantel über uns auszubreiten. Wir hatten zwar Fackeln mit uns, allein in demselben Augenblick, wo wir in den Wald traten, verlöschten sie, und die Finsternis vermehrte unsere Angst. Je weiter wir kamen, hörten wir um uns her Pfiffe ertönen, die mich mit Furcht und Zittern erfüllten; der kalte Schweiß lief mir von der Stirn, meine Damen waren nicht besser daran, und wir gingen leise flüsternd zu Rate, was wir im Fall eines Angriffs tun sollten. In diesem Zustand blieben wir bis nachts zwei Uhr, wo wir endlich glücklich in Gera ankamen. Wir waren alle halbtot, mir insbesondere hatte meine heldenmütige Entschlossenheit das Blut so in Wallung gebracht, daß ich die ganze Nacht sterbenskrank war.“
Auch der Maler Wilhelm von Kügelgen, in dessen „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ wir eine so treffliche Schilderung der ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts besitzen, hatte auf einer winterlichen Reise durch Thüringen, die er im Jahre 1814 machte, keine allzu angenehmen Erlebnisse.
„Der Wagen von unbeschreiblichen Proportionen“, so schreibt er, „hing altersschwach und lahm in seinen Federn, die Schläge waren mit Bindfaden befestigt und die hart eingetrockneten Fensterladen weder einzuknöpfen noch zurückzuschnallen. Die Pferde standen da mit tiefgesenkten Häuptern, dem Anschein nach halb schlafend oder tot, und niemand konnte begreifen, wie sie nur bis hierher gelangt waren. Aber seine Pferde wären gut, sagte der Kutscher, begrüßte aber jeden Koffer, der ihm zugetragen wurde, mit schweren Seufzern.
„Endlich war alles fertig, und Barduas wurden umarmt, soweit dies anging, denn wenigstens wir Kinder konnten die Arme nicht sehr rühren, da wir verpackt und eingewickelt waren wie Kokons. So wurde einer nach dem andern in den höchst jammervollen Kasten verladen, bis sich zuletzt auch noch die getreue Rose darstellte, um gleichfalls aufzusteigen. Sie hatte, um sich vor Kälte und ihre Siebensachen vor dem Verderben des Einpackens zu schützen, alles auf den Leib gezogen, was sie an Wäsche und Kleidern besaß und sah wie das Heidelberger Faß aus. Der Kutscher hatte jeden Einsteigenden im Geist gewogen und zu schwer befunden. Als er aber dieses Ungeheuers von Mädchen ansichtig wurde, tat er einen schauderhaften Fluch und schwur, ihn solle dieser oder jener holen, wenn er sie in den Wagen ließe.
„‚So möge er sich denn hinpacken, wo er hergekommen wäre,‘ schrie ihn der Vater an, ließ wieder abladen, und dieser erste Anlauf war gescheitert.“
Die Gesellschaft erhielt dann einen anderen Reisewagen.
„Aber trotz bester Equipage,“ so schreibt Kügelgen weiter, „war es doch immer nicht die beste Fuhre. Die Wege gingen auf, und der Wagen taumelte wie ein Trunkenbold von einer Seite auf die andere, bis er schließlich in der Naumburger Gegend in einem Schneeloch stecken blieb. Mein Vater und der Kutscher sprangen ab. Sie durchnäßten sich fast bis zum Halse, indem sie mit Geschrei und Prügeln taten, was sie konnten, auch legten sich die Pferde mit allen Kräften ins Geschirr und taten ebenfalls, was sie konnten; aber der Wagen stand wie eingenietet.
„Da schien es denn ein Glück zu sein, daß ganz in nächster Nähe ein Haufen Schneeschipper arbeitete. Mein Vater sprach sie an; sie sagten aber, sie wären angestellt, die verschneiten Gräben auszuschaufeln, daß kein Wagen hineinpoltere, und das übrige ginge sie nichts an. Der Kutscher entgegnete, die Löcher auf der Straße wären schlimmer, als alle Gräben, und sie sähen doch, daß wir drin stäcken; aber es war so wenig mit ihnen anzufangen, wie mit der Armsäule am Wege, die eben auch zwei unnütze Pfoten in die Luft streckte, und weder Bitten noch Geld konnten sie bewegen, ihren Beruf verständiger aufzufassen.
„So saßen wir denn abermals fest . . . Mein Vater und der Kutscher hielten Kriegsrat, und es schien nichts anderes übrigzubleiben, als den Wagen zu entleeren und auszupacken; eine schlimme Aussicht für die kränkelnde Mutter und uns alle. Aber siehe! Da nahte sich mit fröhlichem Gesange ein kleines auf dem Marsch begriffenes Detachement von etwa zwanzig russischen Soldaten. Als diese sahen, was hier los oder vielmehr stecken geblieben war, legten sie unaufgefordert und augenblicklich Hand an. Ein paar starke Kerle krochen unter den Wagen und hoben ihn mit ihren Rücken, daß er in den Fugen krachte, während andere schoben, schrieen und in die Pferde hieben. Im Augenblicke waren wir aus dem Pfuhl heraus, und unsere Retter zogen beschenkt und singend weiter.“
Im Jahre 1821 waren die Verkehrsverhältnisse keineswegs besser geworden. Ludwig Börne faßte damals die Klagen über die argen Reisebeschwernisse in einem geißelnden Aufsatz zusammen, den er „Monographie der deutschen Postschnecke“ nannte. Er gibt darin unter anderem ein Gespräch wieder, das er mit einem Major führt.
„Herr Major, sagte ich, hätte ich einen Säbel wie Sie, meine ästhetischen Flüche gehörig zu unterstützen, hol’ mich der Teufel, ich haute ein, und es gäbe blutige Köpfe. Ist der Passagier ein Narr jedes Postmeisters, Kondukteurs und Postillons, und muß er liegen bleiben, so oft es diesen Herren gefällt, Wein zu trinken oder auszuschenken? Kommt man in ein Nest und trägt nicht Lust, im Postwagen zu warten und zu frieren, umdreht der Eigentümer des Ofens unsern schlotternden Leib, wie die Katze den Brei, und tausend Fragezeichen im Gesichte zweifeln, was man befehle. Muß ein armer Passagier leben, wie die große Welt in Paris, und um Mitternacht Kottelets essen? In Zeit von 46 Stunden, worunter 14 nächtliche, habe ich 12 Schoppen Wein getrunken und noch einige mehr bezahlt für den Kondukteur. Wie weit ist es, Herr Major, von Frankfurt nach Stuttgart? Also kaum 40 Stunden! Und auf diesem kurzen Wege haben wir 15 Stunden Rast gehalten!
„Damit sich die Leser überzeugen können, daß ich mir keine größere poetische Freiheit genommen als billig ist, will ich eine genaue Berechnung der Zeit, die wir uns zwischen Frankfurt und Stuttgart aufgehalten, nebst Benennung der Orte, wo dieses geschah, folgen lassen. Aus dieser Statistik (Stillstandslehre) des Postwagens wird sich ergeben, daß ich noch nicht zwei Prozent gelogen, indem auf 15 Stunden die Übertreibung nur 16 Minuten beträgt.
Stunden Minuten
In Sprendlingen — 12
„ Langen — 50
„ Darmstadt — 45
„ Bickenbach — 30
„ Heppenheim 1 15
„ Weinheim — 30
„ Heidelberg 3 15
„ Neckargmünd 1 15
„ Wiesenbach — 12
„ Sinzheim — 15
„ Fürfeld — 30
„ Heilbronn 3 10
„ Besigheim 1 5
„ Ludwigsburg 1 —
Summa: 14 Stunden 44 Minuten
„Ich bin von Straßburg nach Paris und von Paris nach Metz auf der Diligence gereist und hatte kein Sohlenleder unter mir, sondern gute Verviers-Mitteltücher, und auf diesen beiden Reisen zusammen hat sich der Wagen nicht 10 Stunden aufgehalten. Ist das nicht zum toll werden? Ist es nicht Schimpf und Schande, daß das Zusammentreffen der Postwagen auf den Kreuzwegen so schlecht eingerichtet ist, daß ich in Bruchsal 24 Stunden liegen bleiben und auf den Straßburger Wagen warten mußte, bis ich weiter konnte nach Frankfurt? Warum gibt man den Reisenden nicht wenigstens Wartegeld, gleich den quiescirenden Staatsdienern, bis sie einen Platz und ihr Fortkommen finden? Ich weiß nicht, ob Sie die Abendzeitung lesen, Herr Major; dort erzählt Herr Mühlen in Nr. 33 dieses Jahrgangs die Anekdote von einem Sonderling, der viel gereist sei. Auf diesen Reisen (wird erzählt), die er stets mit Extrapost machte, verursachte ihm aber nichts so viel Ärger, als die Postmeister, Posthalter und Postillone, und wenn er auf diese zu sprechen kam, so war er unerschöpflich in Sarkasmen und Schilderungen ihrer Roheit, Habgier und der Langsamkeit auf den Stationen und im Fahren. Dieser Antagonismus sprach sich auch in seinem letzten Willen aus.
„In seinem Testament hatte er nachstehendes verordnet. Nachdem er diejenigen namentlich aufgeführt, welche seine Leiche zur Ruhestätte begleiten sollten, hieß es. ‚Ich verlange ausdrücklich, daß die vorgenannten Personen in mit Extrapostpferden bespannten Wagen meiner Leiche folgen sollen, und sind die diesfälligen Kosten aus den zu meinem Begräbnis ausgesetzten Summen zu bestreiten; denn da es der Anstand erheischt, daß ein Leichenzug feierlich und langsam vor sich gehen muß, so werden die Postillone das letztere unfehlbar am besten ausrichten.‘
„Hätten Sie, wie ich, die Abendzeitung gelesen, Herr Major, wären Sie nicht auch auf meinen nachfolgenden Gedanken gefallen? Man sollte nicht die Leidtragenden, sondern die Leichen selbst auf Hochfürstlich Thurn-und-Taxisschen fahrenden Postwagen zum Begräbnisse führen, damit sie Zeit gewönnen, aus dem Scheintode zu erwachen, da, wenn in der Asche des Lebens nur noch ein Fünkchen glimmt, das Rütteln des Wagens es zur Flamme anfachen müsse. Wäre dieses nicht eine sehr gute ambulante Totenschau?“
Bis zur Eröffnung der Eisenbahn stand es also äußerst schlecht um alle Verkehrswege. Die Römer hatten bereits ausgezeichnete, bis nach Norddeutschland reichende Straßen gebaut, aber nicht zur Hebung des Verkehrs, sondern weil sie der leicht begehbaren Wege bedurften, um zur Befestigung ihrer Herrschaft Soldaten rasch überall hin werfen zu können. Als dieser politische Zweck fortgefallen war, ließ man die Legionsstraßen rasch wieder zugrunde gehen und dachte nicht daran, neue von ähnlicher Großartigkeit anzulegen, weil die Fahrzeuge dies als nicht lohnend erscheinen ließen.
Das Schiff war und blieb das wichtigste Beförderungsmittel. Friedrich der Große baute Kanäle, aber keine Straßen. In England war die Bedeutung der Wasserwege noch um 1830 so groß, daß die am Kanal des Herzogs von Bridgewater Beteiligten auf ein Haar das Werk Stephensons zu Fall gebracht hätten. Ein Fluch schien die für große Fahrt bestimmten Fortbewegungsmittel der Menschheit ins Wasser hineinzuzwingen, für dessen Teilung beim Voraneilen soviel Kraft unnötig aufgewendet werden muß. Daß die Luft, die sich in einem Zustand geringerer Dichtigkeit befindet, mit weniger Kraftaufwand zu durchdringen ist, wußte man längst, aber die von selbst sich einstellende Ebene des Wassers lockte zu sehr.
Die Eisenbahn erst schuf sich auch auf dem Land die Ebene und machte so der Menschheit das königliche Geschenk der sausenden Geschwindigkeit. „Die Ausbildung der Straßen in einem Land bezeichnet“, so sagt Max von Weber, „den Positiv von dessen Kulturentwicklung, deren Komparativ erfordert den Kanal, der Superlativ ist ohne Eisenbahn nicht denkbar.“ Dabei ist die Beobachtung merkwürdig, daß der Superlativ nicht etwa den Positiv und den Komparativ verdrängt hat. Diese sind im Gegenteil durch ihn gekräftigt worden. Niemals wurden soviel Straßen und Kanäle gebaut wie im Zeitalter der Eisenbahn. Alles, was wir heute Verkehr nennen, stammt erst aus dem Jahre 1830.
So wenig vor dem Auftreten der Brüder Wright und des Grafen Zeppelin ein Mensch jemals das wirkliche Bedürfnis gefühlt hat, zu fliegen, so wenig gab es vor Stephensons Schaffen ein Verkehrsbedürfnis. Die Wanderlust steckte als Urtrieb längst im Menschen; Faust empfand sehr stark die Sehnsucht nach dem Flügel. Aber das gewöhnliche Leben stockte nicht dadurch, daß man keine häufigen, schnellen und bequemen Reisegelegenheiten hatte. Die Eisenbahn im allgemeinen ist also nicht entstanden, weil sie erforderlich gewesen. Kaum an irgendeiner Stelle der Erde hat man etwas Derartiges vermißt, solange es nicht vorhanden war. Die großartige Erscheinung des regen Menschen- und Güteraustauschs über das Land bestand in keines Menschen Vorstellung, bis sie durch die Ausbreitung der Eisenbahnen sich einstellte.
Thiers sprach, als man die neue Verkehrsform in Frankreich einführen wollte, von einer englischen Narrheit. In den Jahren der Vorbereitung für die erste größere Eisenbahnlinie in Deutschland fragten die Leute einander: „Wozu eigentlich? Was hat der Dresdner in Leipzig, der Leipziger in Dresden zu tun?“ Und der Generalpostmeister Nagler in Berlin, also der oberste Verkehrsbeamte Preußens, soll den Erbauern der Bahn von Berlin nach Potsdam entgegengehalten haben, daß seine nur einmal am Tag zwischen den beiden Städten fahrende Diligence niemals vollbesetzt wäre, das Bahnunternehmen also gänzlich aussichtslos sei. (Nach neuern Feststellungen Sautters soll dieser Ausspruch geschichtlich nicht beglaubigt, Nagler vielmehr ein Förderer des neuen Verkehrsmittels gewesen sein; das Wort ist dann, unter Loslösung von der Person, als Ausdruck des Zeitgedankens aufzufassen.)
Das bayerische Medizinalkollegium glaubte noch im Jahre 1835 den Eisenbahnbau dadurch hintanhalten zu können, daß es erklärte, die große Geschwindigkeit würde den Insassen der Wagen Kopfschmerzen und Schwindel verursachen. In England wollten sogar Mitglieder des Parlaments der ersten größeren Lokomotivbahnstrecke die Erlaubnis versagen, weil sie fürchteten, daß der vorüberfahrende Zug die Kühe beim Grasen stören und die Hühner so erschrecken könnte, daß sie keine Eier mehr legen würden.
Trotzdem ward und wuchs die Eisenbahn. Sie ist heute das wichtigste und mächtigste aller Werkzeuge, die der Mensch besitzt.
In seinem trefflichen Büchlein „Am sausenden Webstuhl der Zeit“ stellt Launhardt den sieben Weltwundern der Alten ebenso viele Wunder der Jetztzeit gegenüber. Zu diesen rechnet er die Lokomotiv-Eisenbahn, die großen Brücken und die Tunnel. Da der Brücken- und der Tunnelbau im großen erst durch die Eisenbahn entstanden, so sind nach Launhardt nicht weniger als drei von den sieben wunderbarsten Erzeugnissen unserer Zeit dem Bannkreis der Eisenbahn zuzurechnen.
Und wahrlich, sie ist ein Weltwunder!
Seitdem die Urahne aller wirklich brauchbaren Lokomotiven, Stephensons „Rakete“, zum erstenmal einen Zug in Bewegung gesetzt hat, sind noch nicht neun Jahrzehnte verflossen. Und wie durchgreifend haben sich in dieser verhältnismäßig so kurzen Zeitspanne alle Verkehrsverhältnisse auf der Erde durch die Einwirkung der Eisenbahn verändert!
Wenn man früher in Deutschland mit der Schnellpost 15 Kilometer in der Stunde zurücklegte, so war man glücklich über diese geschwinde Beförderung. Unsere heutigen Schnellzüge durchfahren 100 Kilometer in der Stunde und mehr. Doch dieses Verhältnis der reinen Fahrgeschwindigkeiten von 15 zu 100 wird weit in den Schatten gestellt durch den Vergleich der Reise-Geschwindigkeiten, das heißt derjenigen Zeiten, innerhalb deren die Fahrgäste wirklich von einem Ort zum andern gebracht werden. Während die Lokomotive mehrere 100 Kilometer durchfahren kann, ohne auch nur einen Augenblick zu verschnaufen, mußten auf den Poststrecken fortwährend die Pferde gewechselt werden. So brauchte man, nach Launhardt, noch im Jahre 1840 „für eine Reise von Hannover nach Leipzig, also zur Zurücklegung von 272 Kilometern, mit der Post 40 Stunden, während diese Reise jetzt auf der Eisenbahn weniger als fünf Stunden erfordert. Dabei fuhr die Post im Jahre 1840 zwischen jenen beiden Städten wöchentlich nur fünfmal in jeder Richtung, ja eigentlich nur dreimal, da bei zwei dieser Fahrten eine Unterbrechung durch eine Übernachtung vorkam, wodurch die Dauer der Reise von 40 auf 48-50 Stunden erhöht wurde. Heute verkehren zwischen Hannover und Leipzig täglich in jeder Richtung vierzehn Personen- und Schnellzüge, so daß eine regelmäßige Reisegelegenheit heute zwanzigmal häufiger als früher mit der Post geboten wird.“
Von Berlin nach München fuhr man im Jahre 1835 mit der Schnellpost noch mehr als 31⁄2 Tage; heute wird die Strecke in zehn Stunden zurückgelegt. Das Fahrgeld betrug damals 81 Mark, während eine Fahrkarte dritter Klasse von Berlin nach München jetzt 21,10 Mark kostet.
Man bezahlt also heute auf der Eisenbahn nur einen Bruchteil des Fahrpreises, der früher für den Verkehr über die Landstraßen erhoben wurde, und erfreut sich auf der Reise einer unvergleichlich viel größeren Bequemlichkeit, indem die Unbilden der Witterung gänzlich ferngehalten werden, die Erschütterungen fast vollständig verschwunden sind, und der Aufenthalt in den geräumigen, bei Bedarf geheizten und beleuchteten Wagen so sehr viel angenehmer ist als in den schmalen Postkutschen, dem Sinnbild der Rumpeligkeit und der drückenden Enge.
Trotz der gesteigerten Geschwindigkeit ist die Sicherheit des Reisens bedeutend gewachsen. Während beim Postverkehr schon auf je 400 000 Reisende ein Getöteter kam, raubt die Eisenbahn in Deutschland heute nur etwa einem von 15 Millionen Reisenden das Leben.
Die Zuverlässigkeit des Verkehrs ist durch die fast vollständige Unterbrechungslosigkeit und Störungsfreiheit des Eisenbahnbetriebs außerordentlich gestiegen. Auf den preußischen Staatsbahnen z. B. sind nach van der Borght im Jahre 1910 nur 41 Unterbrechungen bis zur Dauer von zwei Tagen und 8 Unterbrechungen von längerer Dauer, verursacht durch ungewöhnlich starke Regengüsse und Hochwasser, eingetreten. Dazu kamen im gleichen Jahr noch 37 Störungen von kurzer Dauer, die durch Schneeverwehungen veranlaßt wurden. Die Zahl von 78 Unterbrechungen überhaupt ist gegenüber der riesenhaften Ausdehnung des Eisenbahnverkehrs von ganz verschwindender Bedeutung. Hiergegen bedenke man, daß schon jeder stärkere Schneefall die Fahrpost zu gänzlicher Ruhe verurteilte, und daß die Wasserstraßen im Winter durch Frost, im Sommer durch anhaltende Trockenheit oft monatelang unterbrochen sind.
Die Pünktlichkeit der Eisenbahn ist sprichwörtlich. Von hundert Zügen pflegt nach der Statistik in Deutschland kaum einer seine festgesetzte Ankunftszeit um ein geringes zu überschreiten.
In der Eisenbahn hat sich die Menschheit ferner ein unvergleichliches Mittel zur Ausbreitung der Bildung geschaffen. Erst durch die Schienenwege ist die Kenntnis von der Beschaffenheit der Erdoberfläche Allgemeingut geworden; die Kunstbesitztümer aller Völker liegen seither offen vor jedermanns Auge. Jedes Volk kennt heute die Eigenheiten aller anderen.
Nur in Einer Beziehung hat man sich leider über den günstigen Einfluß der Eisenbahn getäuscht. In vielen Schriften aus früheren Jahren kann man lesen, daß die durch die Eisenbahn geschaffenen engen Beziehungen zwischen den Völkern die Kriege weniger furchtbar machen, die geschwinden Beförderungsmöglichkeiten für die Truppen ihre Dauer abkürzen würden. Friedrich List meinte, daß „die Eisenbahn aus einer Kriegsmilderungs-, Abkürzungs- und Verhinderungsmaschine, am Ende gar eine Maschine werden würde, die den Krieg selbst zerstört.“ Wir wissen heute, daß der grausamste aller Kriege und einer der längsten mit einer Hochentwicklung der Eisenbahnen zusammengefallen ist.
Stärker noch als zur Beförderung von Personen wird die Eisenbahn zur Vermittlung des Güterverkehrs benutzt. Die Beförderung von Gütern kostet heute nur den sechsten Teil des Preises, der früher für den Weg über die Landstraße entrichtet werden mußte. Dabei ist mit der Beförderung im geschlossenen Eisenbahnwagen eine weit größere Schonung der Güter verbunden; es geht bei der Fahrt weit weniger von ihnen verloren als in den meist offenen Frachtwagen. Viele Gütergruppen sind überhaupt erst durch die Eisenbahn weltmarktfähig geworden, da ihre Versendung früher durch die hohen Frachtkosten nicht lohnend war, und weil durch die lange Beförderungszeit die in ihnen festgelegten Geldmittel der Nutzung zu lange entzogen blieben.
Noch sehr viel großartiger erscheint der Einfluß der Eisenbahn, wenn man erkennt, daß sie nicht nur auf den Austausch der Güter, sondern in stärkster Weise auch auf ihre Erzeugung einwirkt. Solange das Hervorbringen von Gütern nur den örtlichen Bedürfnissen dient, bleibt es beschränkt. Ein Bezirk, der durch eine besondere Gunst der Natur eine bestimmte Ware in großen Mengen zu erzeugen vermag, wird aber zur höchsten Ausnutzung seiner Möglichkeiten angetrieben, wenn er weiß, daß ein ganzer Erdteil sein Käufer ist. Das ist heute der Fall, wo die Eisenbahn tatsächlich jedes der zwischen den Ufern der Weltmeere liegenden gewaltigen Ländergebiete zu einer einzigen Stadt gemacht hat. Jeder Ort in Europa oder Amerika läuft heute, wenn er etwas braucht, was er nicht selbst hervorbringen kann, sozusagen mit offenem Marktkorb rasch einmal um die Ecke zu dem anderen, auch wenn dieser viele hundert Kilometer entfernt liegt.
Eine lebhafte Gütererzeugung an dazu besonders befähigten Stellen ist für die Allgemeinheit zwecklos, wenn nicht ein rasches und bequemes Beförderungsmittel zur Verfügung steht. Der Weltkrieg hat durch die in Rußland zutage getretenen Verhältnisse jedem deutlich gezeigt, daß, sobald die Eisenbahn versagt, in manchen Abschnitten eines Landes die schwerste Hungersnot auftreten kann, während in anderen Bezirken desselben Landes die gehäuften Lebensmittel verfaulen. Wenn in gut entwickelten Ländern zu Friedenszeiten das Gespenst des Hungers nur noch höchst selten auftritt, so ist dies in der Hauptsache das Verdienst der Eisenbahn.
Aus der Hand des Menschen ist keine Schöpfung hervorgegangen, die an Großartigkeit mit der Anlage dieses Verkehrsmittels zu vergleichen wäre. Damit die Eisenbahnen hergestellt werden konnten, haben zahlreiche Wissensgebiete ein enges Bündnis miteinander schließen müssen: die Erdkunde in ihren beiden Formen, die man wissenschaftlich als Geologie und Geographie bezeichnet, die Naturwissenschaft, Technik, Baukunde, Staatsrecht, Völkerrecht, Volkswirtschaftslehre. Niemals ist auf Erden ein solcher Aufwand von Kraft und Geld an eine einzige Sache gesetzt worden, niemals aber auch war der Erfolg menschlicher Bemühungen größer.
Die Länge aller Eisenbahnen der Erde betrug im Jahre 1913, dem letzten regelmäßigen Jahr vor dem Weltkrieg, auf das sich auch alle folgenden Angaben beziehen, rund 1 Million 100 000 Kilometer. Da der Erdäquator 40 000 Kilometer lang ist, so kann man mit der Schienenlänge dieser Bahnen, wenn man nur 25 vom Hundert als zweigeleisig ansieht, wonach sich eine Gesamtschienenlänge von 1 Million 375 000 Kilometern ergibt, den Äquator 35 mal umwickeln. Von der Erde zum Mond könnte man hiermit eine dreigeleisige Bahn bauen und würde noch 223 000 Kilometer zur Herstellung von Zubringerlinien für diese Weltraum-Strecke übrigbehalten.
Um das Gewicht des ungeheuren Schienenstrangs von 1 Million 375 000 Kilometern Länge — ohne das zur Verbindung der einzelnen Abschnitte erforderliche Kleineisenzeug — zu berechnen, gehen wir von der Tatsache aus, daß bei recht leichten Geleisen der deutschen Bahnen das laufende Schienenmeter 30 Kilogramm wiegt. Wir erhalten dann als Gesamtgewicht aller regelmäßig befahrenen Schienen auf der Erde 82 Milliarden 500 Millionen Kilogramm. Es ist dies das 9000fache Gewicht des höchsten und vermutlich auch schwersten Eisenbauwerks der Erde, des Eiffelturms. Gösse man aus Schienenstahl eine volle quadratische Säule, deren Querschnittsfläche gerade so groß wäre wie das durch die äußersten Fußpunkte des Eiffelturms gebildete Quadrat und deren Höhe wie die des Turms 300 Meter betrüge, sie würde kaum halb soviel wiegen wie die Schienen aller Eisenbahnen. Eine zylindrische Säule aus demselben Baustoff von der Höhe des ragendsten Bergs auf der Erde, des Gaurisankars, der seine Spitze rund 9000 Meter hoch über den Meeresspiegel emporreckt, würde immer noch einen Durchmesser von annähernd 40 Metern haben.
Im Jahre 1890 betrug die Länge aller Bahnen 617 285 Kilometer; sie hat sich also seitdem nahezu verdoppelt.
Unter den Erdteilen besitzt bei weitem die größte Bahnlänge Amerika, nämlich 570 000 Kilometer. Das ist mehr als die Hälfte der Bahnlänge auf der ganzen Erde. In Europa dagegen liegt noch nicht ein Drittel aller Gleislängen; es sind 346 000 Kilometer. Trotzdem ist selbstverständlich das Netz in dem alten Erdteil sehr viel engermaschig. In Europa kommen auf je 100 Quadratkilometer 3,5 Kilometer Eisenbahn, in Amerika dagegen nur ungefähr 0,8 Kilometer.
Das bei weitem dichteste Eisenbahnnetz aller Länder der Erde hat Belgien. Hier liegen auf je 100 Quadratkilometer Bodenfläche durchschnittlich 29,9 Kilometer Eisenbahn. Wenn man von dem kleinen Luxemburg absieht, hat das in der Engmaschigkeit der Geleise nächstfolgende Reich, Großbritannien und Irland, noch lange nicht die Hälfte der Eisenbahndichte Belgiens, nämlich nur 12 Kilometer auf dem gleichen Flächenraum. Deutschland steht mit 11,8 Kilometer unmittelbar dahinter an der dritten Stelle. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben dagegen nur 4,4 Kilometer Bahn auf je 100 Quadratkilometer.
Die deutschen vollspurigen Eisenbahnen hatten im Jahre 1913 zusammen eine Betriebslänge von rund 61 000 Kilometern. Das ist immer noch mehr als das 11⁄2fache des Erdäquators. Eigenartig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß die Länge der Landstraßen in Deutschland, die ja gerade im Eisenbahnzeitalter als Zubringer für die Schienenwege außerordentlich lebhaft ausgebildet worden sind, 150 000 Kilometer beträgt.
Von der Gesamtlänge der deutschen Eisenbahnen fallen auf die vereinigten preußisch-hessischen Staatsbahnen 39 000 Kilometer, auf die bayerische Staatsbahn 8300 Kilometer. Auf der wirklichen Länge der bayerischen Staatsbahngeleise, das heißt einer Schienenerstreckung, bei der man sich die tatsächlich nebeneinanderliegenden Geleise der mehrgeleisigen Strecken hintereinander ausgelegt denkt, könnte man bequem den Äquator des Mondes umfahren.
Welch eine ungeheure Weite der Schienenwelt offenbaren uns diese Zahlen! Die Vergleichsmaßstäbe müssen aus der Unendlichkeit des Weltraums herbeigeholt werden. Die Erde besitzt außer ihrer größten Umfassungslinie, die gleichfalls zu den sternkundlichen Längen gehört, keine Erstreckung, die zur Erhellung der Zahlengrößen herangezogen werden könnte.
Doch alles bisher Dargelegte wird zum blassen Nichts, wenn wir nun statt der unbeweglich daliegenden Schienenstränge das sausende Leben, die dröhnende Bewegung betrachten, die sich unausgesetzt auf ihnen abspielen.
Auf der ganzen Erde mögen jetzt etwa 175 000 Lokomotiven vorhanden sein. Allein die Lokomotiven der vollspurigen deutschen Bahnen, deren es einschließlich der Triebwagen rund 30 000 gibt, haben im Jahre 1913 zusammen 1 Milliarde 280 Millionen Kilometer durchfahren. Diese Länge nähert sich der Entfernung des Saturns von der Erde, die rund 11⁄2 Milliarden Kilometer beträgt. Ganz besonders erstaunlich aber ist die Tatsache, daß die durchschnittliche jährliche Fahrleistung jeder einzelnen deutschen Lokomotive 43 500 Kilometer beträgt, daß also jede von ihnen, wenn sie, statt fortwährend in ihrem kurzen Bereich hin und her zu eilen, ständig vorwärts gefahren wäre, die ganze Erde an ihrem Gürtel hätte umkreisen und noch dazu Abstecher von mehr als 3000 Kilometern hätte machen können.
Im Jahre 1913 besaßen die deutschen Eisenbahnen rund 3⁄4 Millionen Wagen, wovon 66 200, also noch nicht der zehnte Teil, Personen-, die übrigen Güter- und Gepäckwagen waren. Die sämtlichen Achsen dieser Gefährte haben im gleichen Jahr eine Weglänge von nicht weniger als 32 Milliarden 791 Millionen Kilometern durchlaufen. Legen wir diese Wagenachs-Kilometer-Strecke geradlinig von der Erde in den Weltraum aus, so trifft der Endpunkt ins Leere. Er ragt weit über die Grenze unseres Sonnensystems hinaus, erreicht aber doch noch nicht den nächsten Fixstern. Um daher eine passende Vergleichslänge aus der Sternkunde zu finden, müssen wir eine Teilstrecke betrachten. Wir denken uns, daß ein gewöhnlicher D-Zugwagen mit Drehgestellen, also mit vier Achsen, die genannte Achskilometerzahl geleistet hätte; hiernach kommt auf jede Achse ein Viertel des ganzen Wegs. Ein solcher Wagen würde dann eine Fahrt bis in die Nähe des äußersten Planeten unseres Sonnensystems, des Neptuns, gemacht haben und auch von dort wieder zurückgekehrt sein können. Freilich würde ihm diese Hin- und Rückfahrt während eines Jahrs nicht möglich gewesen sein, auch wenn er ständig mit der höchsten jetzt üblichen Schnellzug-Geschwindigkeit gefahren wäre. Er würde hierzu vielmehr — 9000 Jahre brauchen.
Für das Rechnungsjahr 1917 ist von der Verwaltung der preußisch-hessischen Eisenbahnen zur Fahrzeugbeschaffung der größte aller bisher erteilten Aufträge an die deutschen Lokomotiv- und Eisenbahnwagenfabriken vergeben worden. Sein Wert betrug annähernd eine halbe Milliarde, genau 489 Millionen. Daß die deutschen Erzeugungsstätten sich stark genug fühlten, diesen Riesenauftrag innerhalb eines Jahrs, noch dazu während des Kriegs, auszuführen, spricht am lautesten für ihren Umfang und ihre viel bewunderte Leistungsfähigkeit.
Selbst wenn der dicke gelbe Band des Reichskursbuchs mit seinen vielen hundert Seiten, seinen endlosen Zahlenreihen und der unerschöpflichen Fülle verschiedener Strecken vor uns liegt, haben wir keine Vorstellung von der ungeheuer großen Zahl der Züge, die allein in Deutschland am Tag und in der Nacht ständig in Bewegung sind. Dieses unendliche Gewimmel sich vorzustellen, geht über das Auffassungsvermögen des menschlichen Gehirns hinaus, des Gehirns desselben Menschen, der das Schienenwirrsal doch geschaffen hat.
Allein im Jahre 1913 sind in Deutschland 18 Millionen 357 000 Züge gefahren worden. Die Anzahl der beförderten Personen betrug rund 1 Milliarde 800 Millionen. Danach wäre, wenn man von der verhältnismäßig geringen Zahl der Fremden absieht, jeder der 67 Millionen Einwohner, die Deutschland in dem genannten Jahr hatte, einschließlich aller Kinder, durchschnittlich 27 mal gereist. Die Strecke, über die jeder einzelne Fahrgast im Durchschnitt befördert wurde, war allerdings sehr kurz; sie betrug nicht mehr als rund 23 Kilometer, was ungefähr der Strecke Berlin-Bernau entspricht.
Besonders verblüffend ist das Gewicht der Güter, das in dem einem Jahr auf den deutschen Bahnen befördert worden ist. Dieses war nämlich höher als 676 Milliarden 626 Millionen Kilogramm.
Denkt man sich den Äquator und sämtliche 180 Meridiane mit Schienen belegt, so würde das Gesamtgewicht all dieser Stränge noch nicht einmal ein Drittel jener Güter-Kilogrammzahl betragen. Wenn man aus Wagen von je 20 000 Kilogramm Tragfähigkeit einen Güterzug zusammenstellen wollte, der imstande wäre, das gesamte Gütergewicht auf einmal zu befördern, so würde dieser Zug 236 800 Kilometer lang sein müssen.
Das in den deutschen Eisenbahnen festgelegte Anlagekapital, also die Summe, welche seit dem Beginn der einzelnen Unternehmen für feste Bauten, Fahrzeuge usw. aufgewendet worden ist, betrug zu Beginn des Weltkriegs 19 Milliarden 245 Millionen. Dagegen besaßen zur gleichen Zeit sämtliche deutschen Aktiengesellschaften nur ein Aktienkapital von 15 Milliarden 500 Millionen Mark. Das allein für die preußisch-hessischen Staatsbahnen als dem größten gewerblichen Unternehmen auf der Erde verwendete Anlagekapital erreichte die Höhe von 12 Milliarden 600 Millionen Mark. Der Wert aller deutschen Eisenbahnanlagen wird von Kirchhoff auf 30 Milliarden Mark geschätzt.
Die deutschen Eisenbahnen haben im Jahre 1913 aus dem gesamten Verkehr 3 Milliarden 563 Millionen Mark eingenommen. Hiergegen betrugen die Einnahmen des Deutschen Reichs nach dem ordentlichen und außerordentlichen Haushaltplan nur 3 Milliarden 385 Millionen Mark. Dieser Vergleich zeigt wohl am besten die Riesenhaftigkeit der Summen, die ständig den Eisenbahnkassen zufließen.