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Heinz Jürgen Schneider

Tod in der Scheune

Kriminalroman

Boyens Buchverlag
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Er hat sie totgemacht.

Alles begreift der junge Landjäger jetzt noch nicht, aber das schon. Seine Augen sehen es.

Ein totes Mädchen hängt wie am Galgen vom Scheunenbalken herab.

Auf dem Boden kauert ein Mann und blickt zu ihr auf. Der heult wie ein Kind, und manchmal stammelt er in einer fremden Sprache.

Der Revierleiter telefoniert vom öffentlichen Fernsprecher mit der Kriminalpolizei. Der Mann vom Gut, der sie gerufen hatte, ist ins Dorf gelaufen.

Der junge Landjäger hat seinen Dienstrevolver gezogen und bewacht den Gefangenen, wie ihm befohlen worden ist.

1

Am 9. September 1931, zwei Tage danach, wird die schreckliche Tat weithin bekannt.

Schon am Vortag hatten die „Itzehoer Nachrichten“, das meistgelesene Blatt auf dem flachen Land der preußischen Provinz Schleswig-Holstein zwischen der Hamburger Westgrenze und der Elbmündung, eine kurze Meldung gedruckt. In der heutigen Ausgabe steht dieser Bericht auf der ersten Seite:

Entsetzen über grausigen Mord an junger Bauerntochter

Ein grauenvolles Verbrechen hat sich in der kleinen Gemeinde Warringholz ereignet. Am Montagmorgen wurde in einer Scheune des dortigen Gutes die Bauerntochter Else Rehder ermordet aufgefunden. Wie wir erfuhren, ist der Tod nach ersten Erkenntnissen durch Erhängen eingetreten.

Den Täter hat die Polizei an Ort und Stelle verhaften können. Es handelt sich um einen polnischen Erntehelfer, dessen Namen mit Smucek angegeben wird. Oberstaatsanwalt Dr. Panek aus Itzehoe, der die Ermittlungen persönlich leitet, bestätigte das Vorliegen eines Geständnisses und einen Haftbefehl wegen Mordes.

Am Montagmorgen hatte ein Knecht die Tote gefunden. In der Scheune befand sich auch der Pole. Sofort wurde der Landjägerposten Schenefeld benachrichtigt. Die herbeigerufenen Polizisten sperrten den Tatort bis zum Eintreffen der Kriminalbeamten aus Itzehoe ab. Der Täter soll keinen Widerstand geleistet und einen verwirrten Eindruck gemacht haben.

Dorfbewohner berichten, dass sich vor der Scheune viele Menschen drängten. Bald kamen auch der Vater und ein Bruder hinzu. Sie hatten schon nach dem Mädchen gesucht. Als die Kriminalassistenten und der Amtsarzt gekommen waren, ließ man für kurze Zeit die Familienangehörigen in die Scheune. Man kann sich das Leid ausmalen. Die Ermittlungen dauerten über eine Stunde. In Tücher eingeschlagen, wurde das Mädchen danach zur Untersuchung nach Itzehoe gefahren. Am Freitag soll auf dem Schenefelder Friedhof die Beerdigung stattfinden.

Nur mit größter Mühe war es den Polizeikräften gelungen, den Polen in das Dienstautomobil zu bringen. Die Angehörigen der Toten und andere Dorfbewohner bedrängten den Abtransport und wollten an Ort und Stelle Gerechtigkeit schaffen. Augenzeugen schilderten unserer Zeitung den Verhafteten als schmächtig, er habe geweint und gehinkt. Nach Erlass des Haftbefehls befindet er sich im Gerichtsgefängnis in Itzehoe.

Die Tote wäre im Dezember 19 Jahre alt geworden. Schulkameradinnen und Dorfbewohner schildern sie als fröhlich und arbeitsam. Nach dem tragischen Tod der Mutter vor zwei Jahren musste sie schon die ganzen Pflichten einer Bäuerin erfüllen und auch Vater und Brüder versorgen. Die Rehders sind eine eingesessene und angesehene Familie. Vater und Sohn betreiben den Hof, ein anderer Sohn arbeitet in einer Ziegelei. Wir hören, dass sie sich auch für Landvolkinteressen einsetzen.

Das schlichte Bauernhaus der Familie am Ortsrand war seit Montag von vielen Menschen zum Trostspenden aufgesucht worden.

Das kleine Dorf wird von einer Landstraße geteilt. Auf der einen Seite Bauernhöfe, auf der anderen das Gut.

Als Saisonkräfte auf dem Gut sind von Frühjahr bis Herbst seit Jahren etwa ein Dutzend polnische Landarbeiter eingesetzt. Sie wohnen gemeinsam in einem früheren Stallgebäude. „So etwas“ hätte keiner der befragten Dorfbewohner den Polen zugetraut. Allgemein spricht man von vermehrten Diebstählen, wenn die fremden Landarbeiter da sind. Man habe sich aneinander gewöhnt, sehe sie aber lieber ziehen. Das Gut habe sie ins Dorf geholt.

In der Gutsverwaltung sagt man uns, es gibt keine Schwierigkeiten. Die Polen würden ordentlich arbeiten. Nach dem Mädchenmord wurden sie erst einmal auf den Feldern außerhalb der Gemeinde eingesetzt. Zu dem Verhafteten gibt es wenig Auskünfte, seine Papiere waren in Ordnung. Er ist demnach 21 Jahre alt.

Eine große Beerdigung wird Ende der Woche zu erwarten sein. Noch nie wurde in Warringholz oder der Umgebung in den letzten Jahrzehnten ein junges Leben durch eine solche Untat ausgelöscht. Neben der Fassungslosigkeit sieht man auf den Gesichtern der Frauen und Mädchen auch Angst.

„Das ganze Dorf ist erschüttert und trauert. Für so was gibt es nur eine Strafe“, sagte Bürgermeister Walter Holm. Die Redaktion erreichten auch ähnliche Stellungnahmen von Vereinen und Parteien bis hin zum Provinziallandtag in Kiel.

Die Itzehoer Staatsanwaltschaft werde zügig anklagen, wie wir von ihrem Leiter erfuhren. Möglicherweise kann schon in einigen Wochen mit einem Prozess vor dem Schwurgericht gerechnet werden. Dann kann dem Mann ins Auge gesehen werden, der ein junges Leben auslöschte und Leid und Angst über einen ganzen Landstrich brachte.

Fotos der Scheune und des Rehderschen Hofes illustrieren den Text. Der Redakteur Arno Nolte hat ihn geschrieben.

2

Elses Tod bewegt die ganze Gegend.

Schnell entstehen Geschichten. Die Kinder auf den Schulhöfen geben sie weiter, auf dem Feld wird darüber gesprochen, in den Gastwirtschaften und den Küchen. Viehhändler bringen sie über den Kaiser-Wilhelm-Kanal, mit den Bauernmärkten kommen sie bis nach Heide und Rendsburg.

Ganz nackt sei die Tote gewesen. Furchtbar verstümmelt. Am Ende schweren Leidens wurde sie aufgeknüpft am Dachbalken. Geschlachtet wie ein Vieh. Der Scheunenboden war voller Blut. Es war ein Ritualmord, ein Notzuchtverbrechen, es waren noch mehr Morde geplant.

Der Scheunenmord heißt das Geschehen von nun an in den Zeitungen.

Die Leute sagen: „Amtlich hört man ja nichts. Die Behörden sagen wohl nicht alles. Im Prozess, da wird man sehen.

Und schnell muss der kommen, und kurz muss der sein.

Der Polacke hat sein Leben verwirkt.

Über die Familie Rehder ist neues Unglück gekommen. Ein Onkel der Toten war nicht aus dem Weltkrieg heimgekehrt. Ein Kind stirbt im Wochenbett. Dann die Mutter, an verschleppter Blutvergiftung, dann die einzige Tochter. Und auf solche Weise.“

Dazu kommt die Not, die mit vielen geteilt wird. Eine schlechte Ernte im zweiten Jahr, billige Auslandsimporte und Wirtschaftskrise drücken die Bauern. Millionen Arbeitslose können wenig kaufen. Der Hof ist überschuldet. Harte Arbeit bringt wenig ein. Die Steuerlast drückt. Die Not betrifft viele und will ein Ventil.

Als der Bauer Claus Heim aus St. Annen in Dithmarschen 1928 zum Steuerboykott aufrief und im ganzen Land Aufmärsche stattfanden, Zwangsversteigerungen gewaltsam verhindert wurden und Bomben in Finanzämtern explodierten, standen Wilhelm Rehder und sein ältester Sohn Klaus nicht abseits. Oft hört man von den Leuten: Die Regierung im fernen Berlin habe nichts zu bieten als Übel. Den Bauernstand würden Bonzen, Kapitalisten, Juden und das Versailler Diktat niederhalten. Das Landvolk organisierte sich, wie anderswo entstand auch in der Steinburger Gegend eine Notgemeinschaft. Die Gewalt ist ein legitimes Mittel für diese Leute geworden, und viele in Stadt und Land sehen wohlwollend zu.

Gut erinnert man sich in den Dörfern an das, was am 5. März 1929 geschah.

An diesem Tag wurde ein Steuerboykotteur aus Schenefeld von der Staatsgewalt in das Gefängnis in Hohenwestedt gebracht. Der Malermeister sollte seine Schuld an das Finanzamt zahlen oder den Offenbarungseid ablegen. Gegen ein Uhr nachts trafen vier Autos mit 19 Mann dort ein. Einige waren mit Knüppeln bewaffnet, hatten die Gesichter geschwärzt oder trugen Masken. Sie brachen die Tür auf und verlangten den Gefangenen heraus. Erst Schüsse des einzigen Wachtmeisters schlugen sie in die Flucht.

Es wurde ermittelt. So etwas hatte es zuvor noch nicht gegeben. Der Staat wollte sich nicht schwach zeigen, konnte dies auch nicht, ohne jede Autorität einzubüßen. Der Itzehoer Autovermieter nannte der Polizei später erste Namen. Nun begannen Verhaftungen und Durchsuchungen, einige redeten bei den Verhören. Auch beide Rehders kamen wegen des Überfalls auf die Anklagebank und mussten nach dem Urteil des Rendsburger Gerichts jeweils vier Monate im Gefängnis sitzen.

Die Not blieb. Die Landvolkbewegung verlor an Einfluss. Die nationalsozialistische Partei profitierte davon. Ihre Agitatoren fanden überall im Land in den Dörfern und den kleinen Städten Gehör, ihr Stimmenzuwachs bei Wahlen war außerordentlich.

Vater Rehder wurde nach der Haft und dem Verlust seiner Frau verbitterter, aber auch ruhiger. Sein Sohn nicht.

Klaus Rehder trägt einen schwarzen Mantel, als er die Kirche zur Beerdigung seiner Schwester betritt. Darunter erkennt man langschäftige, blankpolierte, schwarze Stiefel. Die Schenefelder Bonifaciuskirche ist voll besetzt, einige Menschen müssen an der eichenen Eingangstür warten. Vor dem Altar steht der blumengeschmückte Sarg. Der Pastor predigt von der Unschuld jungen Lebens und über den Satz Auge um Auge, Zahn um Zahn. Die Gemeinde singt Jesus geh voran auf der Lebensbahn und Ein feste Burg ist unser Gott.

Als der Pastor den Sarg und dahinter als erstes Vater, Brüder und Großeltern auf den Friedhof führt, zieht Klaus Rehder den Mantel aus. Er trägt die graubraune Uniform der nationalsozialistischen Bewegung mit Koppel und der roten Hakenkreuzbinde am Arm.

An der Familienruhestätte spricht der Pastor das Vaterunser. Der Sarg wird neben dem Grab der Mutter eingelassen. Unter Tränen tritt der Vater als erster vor und wirft Sand in die Grube, wie es der Tradition entspricht. Dann kommen die Brüder.

Klaus Rehder wirft Sand und sagt leise: „Mien Lütten, de Dübel, de dat mookt het, de is ok dot.“

Mit lauter Stimme und sich umdrehend ruft er: „Dieser Mord bleibt nicht ungesühnt. Es gibt nur eine deutsche Antwort: Blut für Blut.“

Ist ein solches Verhalten am offenen Grab auch ungewöhnlich, so erreicht es doch die Empfindungen der Menschen. Klaus Rehder erhält tränenreiche Blicke und feste Händedrücke beim Kondolieren. Keine Zeitung versäumt später, über seinen Auftritt zu berichten.

Am Friedhof endet die Beerdigung aber nicht. Ein Strom von Menschen zieht weiter auf ein am Marktplatz gegenüber der Kirche gelegenes Gebäude – Boyens Gasthof – zu. Fellversupen nennt man im Volksmund die Kaffeetafel von Angehörigen, dem Pastor und Trauergästen. Eigentlich soll sie dem letzten Gedenken dienen und die Möglichkeit eröffnen, Trost und Hilfe den Hinterbliebenen zu geben. In Wirklichkeit geht es bei solchen Treffen mit Kaffee und Kuchen, aber auch schon mit manchem harten Getränk für die Männer, geräuschvoll und manchmal aufgekratzt-lustig zu. Trauer und Anspannung schaffen sich so ein Ventil. Heute natürlich, bei dieser Tragödie, bleibt es im Saal des Gasthofes, der für über 100 Gäste eingedeckt ist, ruhig.

Arno Nolte schließt sich dem Weg zum Gasthof an. Die Kamera hat er mit dem jungen Volontär per Bus in die Redaktion nach Itzehoe geschickt. Die Bilder sollen seinem Artikel die nötige Würze geben, besonders die vom Bruder in der Uniform, mit dem flammenden Ausbruch am offenen Grab. Diese Fotografien hat er – von schräg-hinten aus einem Busch aufgenommen – vermutlich ganz exklusiv für die Itzehoer Nachrichten. Direkt an das Grab haben sich andere Redakteure und Fotografen in dem Augenblick nicht getraut. Nur er hat genügend Frechheit besessen.

Es war seine Geschichte geworden. Ihn rief sein Kontaktmann bei der Polizei Itzehoe noch am Tag des Leichenfundes in der Redaktion zuerst an. Er veröffentlichte darauf gestützt den ersten Bericht und fuhr am nächsten Tag nach Warringholz für eine große Reportage. „Ich habe den Begriff Scheunenmord erfunden, den jetzt alle benutzen“, denkt er zufrieden, „jetzt muss ich nachlegen. Ich brauche Kontakt zu Elses Familie.“

Vom Telefon in der Gaststube ruft Nolte als erstes den Chefredakteur der Zeitung an und teilt ihm ganz im Groben den wichtigsten Inhalt des Artikel und die voraussichtliche Länge mit. Er bekommt Seite 1 und eine Fortsetzung auf der ersten Lokalseite. Dort sollen auch die Bilder erscheinen. 18 Uhr ist sein absoluter Redaktionsschluss. Jetzt ist es erst kurz nach 2 Uhr. Das ist kein Problem. Sein Motorrad steht am Marktplatz, und auch Helm und der warme Kombianzug sind dort geblieben.

Der Menschenstrom treibt ihn mit in den Saal. Er setzt sich an einen der langen Tische, lässt sich lauwarmen Kaffee einschenken und isst von dem Blechkuchen, der aufgeschichtet auf großen Tabletts liegt.

Nolte sondiert die Lage. Er sitzt an einem der äußeren Tische und hat einen guten Überblick. Da, wo der Bruder in der Hakenkreuzuniform sitzt, da muss die Familie sein. In schwarzen Anzügen wohl Vater, ein weiterer Bruder und der Großvater. Der Pastor sitzt auch dort. Gelegentlich treten Trauergäste an die Rehders heran, aber nur wenige. Heute würde der Redakteur keine Kontaktaufnahme suchen. An Pietätlosigkeit hätte es ihm nicht gefehlt. Aber es ist jetzt nicht klug, und er kann auch warten.

Aber das Fellversaufen der Dorfleute soll auch nicht umsonst sein. Er will mehr wissen, und zum Reden kann er Leute nun mal bringen. Einige Tische weiter sieht er den Bürgermeister des Ortes. Guter Kontakt mit Amtspersonen ist wichtig. Er steht auf und geht zu Bürgermeister Holm. Nolte bedankt sich noch mal für die Auskunftsbereitschaft bei seinem Besuch im Dorf und erhält Dank für den großen Artikel in den Nachrichten. Es sei der beste aller Beiträge in den Zeitungen gewesen. Der Herr Redakteur sei im Dorf immer willkommen.

Nun setzt sich Nolte wieder auf seinen alten Platz, stellt sich dem Mann ihm gegenüber mit Namen und Beruf vor und beginnt seine Frage mit: „Wie mir Bürgermeister Holm gerade sagte …“.

So kommt man ins Gespräch und bald beteiligen sich viele am Tisch daran. Einmal setzt sich Nolte sogar an das obere Tischende, denn dort haben sich entferntere Verwandte von Else Rehder niedergelassen. Als er gegen drei mit seinem Motorrad die Landstraße entlang nach Itzehoe fährt, hat er nichts völlig Neues, aber doch so einiges gehört. Die Devise seines Berufslebens ist immer gewesen: Viele Pfennige ergeben eine Mark.

Die Redaktion der Itzehoer Nachrichten ist im dritten Stock des Pressehauses am Sedanplatz. Im zweiten Stock sind die Setzer, Korrektoren und der Verlag, und im Parterre kann man Anzeigen oder Druckaufträge aufgeben und die Jahrbücher und Kalender des Verlages erwerben.

Nolte kann schnell schreiben. Er hackt die Buchstaben in seine Schreibmaschine. Gelegentlich macht er eine kurze Pause und schnupft Tabak. Genug Zeilen hat er bekommen. Was wollen die Leute lesen? Wie viele Leute zur Beerdigung gekommen waren, wie der Sarg drapiert war, über den Gottesdienst in allen Einzelheiten, den letzten Gang und den Ausbruch des Bruders am offenen Grab mit dem Foto; noch einen Rückblick auf das grausige Geschehen und etwas Aktuelles. Sein offizieller Anruf bei der Kriminalpolizei ergibt aber keine neuen Entwicklungen.

Der Chefredakteur steht an Noltes Tisch und hat schon die ersten beiden Seiten abgenickt. „Gut, welchen Überschriftenvorschlag machen Sie?“ Das ist bei Hauptartikeln sein Privileg.

„Trauer und Wut bei Elses Beerdigung“, schlägt Nolte vor, während er noch tippt. Der Chefredakteur blickt für einen Augenblick in das Rund seiner Redaktion, in der an allen Schreibtischen gearbeitet wird. Dann sagt er: „Trauer und Zorn bei Elses bewegender Beerdigung. In mittelgroßem Fettdruck. In der Zeit sind wir ja. Gute Arbeit, Nolte. Dranbleiben.“

Dranbleiben ist selbstverständlich. Was für eine Geschichte. Nolte hat seine Seiten fertig und sie zum Setzen gegeben. Er weiß auch schon wie. Er will ein Gespräch mit der Familie. Bald soll das stattfinden, vielleicht für die nächste Wochenendausgabe, denn die hat am meisten Leser. Der Bürgermeister würde ihm helfen. Gut, der Bruder ist ein Hakenkreuzler, aber die übrige Familie trägt ja keine Uniform. Um das tote Kind muss es gehen. Er selbst ist so parteilos wie die große Mehrheit der Leserschaft und besonders die Anzeigenkunden des Blattes. Also nicht zuviel, am besten gar keine Politik.

Dann will er mehr über Else bringen. Ein Bild von ihr ist noch nicht veröffentlicht worden. Die Schwipp-Cousinen vom Leichenschmaus könnten eine wichtige Hilfe sein. Aber das Mädchen war doch auch zur Schule gegangen, war im Dorf bekannt, verlobt war sie wohl nicht gewesen. Er muss dafür noch einmal sein Motorrad nach Warringholz lenken, aber gut vorbereitet.

Und dann der Polacke. Ein Glücksfall. Ein deutscher Bauernbengel als Mörder oder ein geistig minderbemittelter Dorftrottel, das hätte auch Schlagzeilen gegeben. Ein Landstreicher als Täter wäre noch besser. Aber ein polnischer Erntehelfer, der schon Monate lauernd Tür an Tür mit dem späteren Opfer lebte, das war ein Glücksfall. Das ließ das Empfinden des Volkes und der Leserschaft hochschießen. Dieses Feuer will nur immer wieder entfacht werden.

Der Mörder würde einen großen Artikel bekommen. Wie er aussieht und was er der Polizei gestanden hat, dafür hat Nolte ein, zwei zuverlässige Quellen, auf die er sich verlassen kann. Er ist schließlich fast zwanzig Jahre in dieser Stadt im Geschäft. Dann wollen die Leute wissen, welchen Tagesablauf hat der Mörder im Gefängnis, was tut, was sagt er und vor allem: leidet er? In das Gefängnis sind zwar Noltes Kontakte nicht so gut wie zur Polizei. Aber auch dort gibt es einen Tippgeber aus der Verwandtschaft seiner Ehefrau.

Er ist jetzt 43, und es sind schlechte Zeiten. Noch hat er eine feste Anstellung mit regelmäßigem Wochenlohn. Doch in der Krise sparen die Menschen auch an einer Zeitung, und wem der Konkurs droht, der inseriert nicht mehr. Zwei jungen Redakteuren wurde gekündigt, und nun können sie nur noch als freie Mitarbeiter Artikel einreichen und werden mit einem Pfennig pro Zeile bezahlt. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Nicht mit Arno Nolte.

Viele Pfennige ergeben eine Mark. Bei der freundlichen Frau in der Gutsverwaltung durfte er das Arbeitsbuch des Polen einsehen. Alles in Ordnung. Er schrieb sich aber für alle Fälle auch die Eintragung für 1930 heraus. Arbeitserlaubnis im Deutschen Reich vom 1. März bis 31. Oktober. Arbeitsort war Gut Behrenshof in der Gemeinde Bellin. Das war am Stettiner Haff in Vorpommern.

Die größeren Orte in dieser Region mit Zeitungen waren Stettin, Anklam und Ueckermünde. Dort will er mal anfragen, ob es vom Frühjahr bis Herbst vergangenen Jahres ein verschwundenes Mädchen gab oder einen Frauenmord, also unaufgeklärte Fälle.

3

Namen. Räuspern. Zahlen.

Amtsgerichtsrat Haage quält sich. Seit einer Stunde verliest er an diesem Oktobermontag die ganzen Lohnlisten einer Zementfabrik für das Jahr 1930. 66 Namen der Arbeiter, ihre Lohnhöhe und den Namen des Auszahlenden. Vier Wochenlöhne pro Monat macht 48 Listen.

Verhandelt wird der Vorwurf der Untreue gegen einen Lohnbuchhalter und einen Angestellten der Firmenkasse. Die Anklage wirft ihnen vor, Abrechnungen gefälscht und sich den zuviel gezahlten Lohn von 2800 Reichsmark in die eigene Tasche gesteckt zu haben. Eine unglaubliche Summe, denn ein Arbeitsloser erhält in jener Zeit nur gut 600 RM pro Jahr für sich und seine Familie.

Auch am zweiten Verhandlungstag im Itzehoer Amtsgericht bleibt die Sache undurchsichtig. Der Lohnbuchhalter beruft sich auf Personalunterlagen von 66 Arbeitern, und der Kassenführer will ebenso viele Auszahlungen quittiert bekommen haben. Den Fehlbetrag hat die interne Revision aber ergeben.

Dass es sich bei den Angeklagten um bislang unbescholtene Familienväter handelt, macht die Sache für Richter Haage nicht leichter. Er ist beim Monat November angekommen, und es geht auf 12 Uhr zu. Der Zuschauerraum ist leer. Der Protokollführer ist in Ruheposition und der junge Staatsanwaltschaftsassessor kennt die Listen schon aus der Akte. Die Angeklagten zwingen sich zur Aufmerksamkeit.

Rechtsanwalt Johannes Blum malt Boote in seinen Schreibblock und versucht sich an Pferden. In Gedanken spielt er die beiden Schachpartien nach, die er gestern, wie an jedem Sonntag, gegen einen Freund geführt hat. Auch er kennt die Listen von der Akteneinsicht. Die Strafprozessordnung verlangt aber die Verlesung in öffentlicher Verhandlung. Gleich ist der Sitzungstag beendet, denn Haage hat Grundsätze, und dazu gehört ein pünktliches Mittagessen. So ist es. Vertagung auf kommende Woche. Ein Händedruck mit den Klienten. Aufmunternde Worte für sie. Der Prozess geht noch länger, bezahlt wird jeder Verhandlungstag.

Blums Mittagstisch ist immer um eins. Er geht noch in sein nahegelegenes Büro.

Die von seiner Sekretärin, Clara Hansen, auf seinem Schreibtisch verteilte Tagespost wartet auf ihn, seine Nachmittagssprechstunde beginnt erst um drei.

Ein Gnadengesuch ist abgelehnt worden, eine lang erwartete Anklageschrift eingegangen, die Ladung zu einer Berufungsverhandlung gekommen. Blum arbeitet als Strafverteidiger. Fälle wie eben oder Körperverletzung, Beleidigung, Raub. Er tritt Menschen vor Gericht zur Seite, die eines Vergehens angeklagt sind. Selten, dass er mal in anderen Rechtsgebieten ein Mandat erhält. Manche Kollegen finden seine Fälle etwas anrüchig, aber er nicht. Vertragsauslegungen, Streit um kleine Geldsummen, Mietprozesse, Ehescheidungen, das wäre nichts für ihn.

Er hat sich in den letzten Jahren ein Renommee erarbeitet. Menschen suchen seine Kanzlei auf. Wirtschaftlich geht es einigermaßen, auch wenn die Lage allgemein immer schlechter wird.

Ein Beschluss vom Itzehoer Schwurgericht über eine Offizialverteidigung ist gekommen. Nicht zum ersten Mal soll er für einen mittellosen Beschuldigten, dem eine schwere Tat vorgeworfen wird, als gerichtlich bestellter Verteidiger tätig und dafür aus der Staatskasse bezahlt werden. Nicht gerade lukrative, aber in diesen schwierigen Zeiten sichere Gebühren. Sein neuer Klient ist Smucek, Walerjan, geboren am 3. März 1910. Vorwurf des Mordes, inhaftiert im Gerichtsgefängnis Itzehoe.

Der Pole, der die Bauerntochter gehängt hat.

Pünktlich um eins ist Blum im Gasthaus Laage. Der Tisch wie immer, Peter von Brixen sitzt dort schon, und von Fräulein Gerda gibt es ein Lächeln und die Standardfrage an ihn lautet: „Das Tagesgericht, Herr Doktor?“

Brixen ist Blums ältester Freund, seit sie gemeinsam Sextaner an der Kaiser-Karl-Schule waren. Heute sind sie Mitte dreißig und Rechtsanwälte in ihrer Geburtsstadt. Itzehoe hat gut 10 000 Einwohner, ein wenig Industrie und Gewerbe und einen kleinen Binnenhafen. Wirtschaftliche Not hat aber auch hier nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 Einzug gehalten.

Die Unterschiedlichkeit ist die Basis der Freundschaft. Brixen ist aus verarmtem Adel, hat aber reich geheiratet, Blums verstorbener Vater war Tischler. Brixen hat eine Ehefrau und zwei Söhne, Blum ist unverheiratet. Brixen liebte Latein und Blum Geschichte. Blum zog als Freiwilliger in den Krieg des Kaisers, und Brixen war mit seinem Gelenkleiden nur garnisonstauglich und blieb zu Hause. Der eine ist seit der Schulzeit „Blumi“ und der andere wegen seines Gehfehlers „Ente“.

Ganz verschieden sind auch ihre beruflichen Spezialisierungen. Gemeinsam haben sie aber unter anderem seit Jahren ihr rituelles Mittagsmahl. Heute gibt es Rouladen, Rotkohl und Salzkartoffeln.

Brixen ist ein gesuchter Scheidungsanwalt der besseren Kreise der Kleinstadt. Für amüsante Geschichten lockert er gerne seine anwaltliche Schweigepflicht. Auch Blum spricht mit ihm über seine Fälle. Zwischen den beiden sind auch Kollegen und Richter gerne ein Thema, bevorzugt der Junior aus der Kanzlei Löhring und Löhring.

Während der Vater angesehener Vorsitzender des Anwaltsvereins ist, ist der Sohn ein ausgemachter Trottel und ein Intimfeind des eigentlich gemütlichen Brixen. Eine alte Geschichte aus dem Gymnasium. Blum ist nie dahintergekommen, was für eine.

„Haben Deine beiden Betrüger aus dem Lohnbüro endlich gestanden?“ Brixens Frage bezieht sich auf den heutigen Prozess. Er vertritt das Zementunternehmen und hat Blums Klienten fristlos gekündigt.

„Werden sie auch nicht“, entgegnet Blum. „Und nach dem Freispruch kommen sie bei Euch wieder in Lohn und Brot.“

Die Freunde haben viele Themen.

Den Abschuss des Essens bilden immer starker Kaffee, Weinbrand und Zigaretten.

„Man hat mir die Offizialverteidigung von dem Polen in der Sache mit dem Scheunenmord vor einigen Wochen gegeben.“

Brixen pfeift anerkennend. „Viel Publikum ist wohl garantiert. Aber eigentlich ist das doch nur Sterbebegleitung für den Polen. Das Urteil steht doch wohl fest, oder? Verdient hat er es jedenfalls.“

„Ich hab ihn noch gar nicht gesprochen. Mach ich diese Woche. Ich kenne auch nur die Zeitungsberichte. Ein hoffnungsloser Fall ist das natürlich schon und nicht sehr angenehm.“

„Morituri te salutant.“ Brixen liebt seine lateinischen Zitate. Dieses kennt auch sein Freund: „Die Todgeweihten grüßen Dich.“

4

Gefängnisgeruch.

Kohlsuppe, Scheuermittel und kalter Rauch dringen bis in das Besuchszimmer im Eingangsbereich des kleinen Gefängnisses. Blum steckt sich eine Zigarette an und breitet auf dem Tisch einige Schriftstücke aus. Eine Abschrift des kurzen Haftbefehls hat man ihm in der Geschäftsstelle des Gerichts im Nachbargebäude ausgehändigt. Die Akte war noch nicht verfügbar. Laute Schlüsselgeräusche deuten an, dass der Wachtmeister seinen Klienten aus der Zelle holt. Schritte kommen näher. Die Tür wird geöffnet. Der beleibte Beamte führt den Gefangenen herein und bleibt vor der Tür.

Walerjan Smucek steht militärisch stramm und hält den Kopf gesenkt. Die gestreifte Gefängnisjacke ist an beiden Armen viel zu lang. Die Hose scheint zu passen.

„Guten Tag. Ich bin Dr. Blum und wurde zur Ihrem Anwalt bestellt. Setzten Sie sich, damit wir uns unterhalten können.“

Keine Reaktion. Aber der Kopf hebt sich. Smucek hat gerötete Augen, die ängstlich blicken und keinen Punkt finden. Seine schwarzen Haare sind wirr. Er ist seit Tagen nicht rasiert und schweigt.

Blum macht eine einladende Geste zum freien Stuhl ihm gegenüber.

„Sprechen Sie deutsch?“

„Smucek, Walerjan, Pan.“

„Können wir deutsch sprechen?“ Blum spricht ganz langsam.

Der Pole schüttelt leicht den Kopf. Seine Grundstellung hat er nicht verändert.

Blum öffnet die Tür. „Wie ist die Verständigung hier im Gefängnis?“, fragt er den Wachtmeister. „Irgendwie geht das, aber sprechen habe ich den noch nie gehört“, antwortet der Beamte von draußen.

„Ich werde mit einem Übersetzer wiederkommen, so geht das nicht. Sie können ihn jetzt wieder wegbringen.“

Der Wachtmeister schüttelt sein Schlüsselbund und führt Smucek aus dem Raum.

Als Blum durch die Gefängnispforte gegangen ist, fällt ihm ein, dass er seinem Klienten nicht die Hand gegeben hat.

Im Büro bittet er seine Sekretärin, bei der Kriminalpolizei in Erfahrung zu bringen, wer dort die Übersetzung besorgt hatte. Dann kann man weitersehen. Wenigstens einmal muss er noch in das Gefängnis gehen.

5

„Ach, Blum, gut Sie zu sehen.“

Oberstaatsanwalt Dr. Wilhelm Panek, hochgewachsen, glatzköpfig, aber nicht ohne natürliche Autorität, trägt seine schwarze Robe auch auf dem Flur des Itzehoer Gerichtsgebäudes, in dem alle Prozesse stattfinden und auch die Staatsanwaltschaft ihre Amtsräume hat. Blum hat seine Amtstracht noch im Sitzungssaal ausgezogen und sich gerade von seinem Klienten verabschiedet, dem er in der Berufungsverhandlung eine geringere Strafe verschaffen konnte.

„Ich möchte kurz mit Ihnen sprechen, in der Polensache. Unter uns, nicht offiziell.“ Panek lotst Blum in eine Ecke des Flurs.

„Auf meinen Antrag hin wurden Sie zum Offizialverteidiger bestellt. Diffizile Sache, habe gleich an Sie gedacht. Waren Sie schon im Gefängnis?“

Blum nickt. „Nur kurz.“

„Unsere Anklage ist fertig und wird Ihnen vom Gericht in den nächsten Tagen zugestellt. Die Akte steht auch bereit. Das Schwurgericht wird im Oktober den Prozess beginnen können.“

Blum nickt erneut.

„Wir klagen wegen Mordes an. Die Fakten sind eindeutig, das Geständnis liegt vor. Wir werden die Todesstrafe beantragen. In diesen Zeiten, bei dieser Tat ist das notwendig.

Unter uns Kollegen, auch das preußische Justizministerium ist aufmerksam geworden und hat unserer Behörde carte blanche gegeben.“

Panek fixiert Blum durch seine Brille, senkt leicht die Stimme.

„Weiß nicht, wie Sie dazu stehen, aber die Höchststrafe ist geltendes Recht in Deutschland.