Gütersloher Verlagshaus. Dem Leben vertrauen
published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-2696-6
© 2012 Karl-Heinz Barthelmes
Karl-Heinz Barthelmes
Heinz Rudolf Kunze -Meine eigenen Wege
Die Biographie
Gütersloher Verlagshaus
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
»Das Autobiographische ist ein Bereich unter vielen, der dann genauso Spielmaterial wird wie Erfundenes oder Gehörtes. Ich glaube gar nicht, daß man selber imstande ist, das eigene Leben wirklich eins zu eins aufs Papier oder in ein Lied zu bringen. In dem Moment, wo man sich mit der eigenen Lebensgeschichte oder Teilen davon beschäftigt, gestaltet man sie schon wieder um und ändert sie. Ich denke, ich würde immer relativ wenig auf Autobiographien geben. Ich glaube, ich vertraue mehr Biographien.«HRK, 2000
Gewidmet Jürgen Feldmeier, Norbert Lennert, Dario Domingues -Freunde, die auf dem Weg verlorengegangen, aber nicht vergessen sind
ACHTUNG! ALTE RECHTSCHREIBUNG! Nieder mit der neuen! Zivilcourage!
Wenn Sie mich nach neuer Rechtschreibung beurteilen, wäre das schnöde Siegerjustiz! Grass, Handke und Botho Strauß, Walser und die gesamte geistliche Elite sind auf meiner Seite! Die Rechtschreibreform ist eine Schande!
HRK im Testheft »Der große Deutsch-Test« mit Hape Kerkeling von RTL
Hinweis: Dieses Buch folgt - trotz des ausdrücklichen Einspruchs von Heinz Rudolf Kunze - der im August 2006 verabschiedeten modifizierten neuen Rechtschreibung - mit Ausnahme der von HRK selbst gesprochenen oder schriftlich verfassten Texte.
1. Auflage
Copyright © 2007 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: bLUE, Klaus Pelzer Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978-978-3-579-06514-4
www.gtvh.de
»Auf seine Art - Kunze« - Eine kleine Vorrede von Herman van Veen
1. Der protestantische Prophet mit der Brille - Immer für eine Überraschung gut
2. Mutterwitz und Vaterland - Notizen aus Kindheit und Jugend
3. Christ mit besonderem Charakter - Was macht den Poeten zum Propheten?
4. »Uns eint das schöpferische Wort...« - Deutsche Wertarbeit aus Osnabrück
5. Vom Wortklempner zum music man - Who is »The Who«?
6. »promotion« statt Promotion? - »Viel Studieren macht den Leib müde« (Prediger Salomo)
7. »Folgen Sie mir weiter« - Vom Erdgeschoss in die Chefetagen
8. The electric storyteller - Formen der Sprachgewalt
9. Fallensteller und Beute - Quantensprung zum Popstar
10. »Nackt im Wind« - Sehenden Auges in die Hölle Afrikas
11. Schattenspringer aus dem Schattenland - Songlines in bloody old Germany
12. Sehnsucht und Seemannsjucken - Zwischen Mythos und Ritual. Tourtagebuch ’86
13. »Tear down the barricades« - Wunderkinder in der Wendezeit
14. »Einer für alle« - Ein Hausbesuch bei Commander Cliff McLane
15. »There is a band playing in my head« - Verstärkungsgeschichten
16. »Can you read me? Yes, my dear« - Sendbriefe des Dankes nach dem »erfreulichen Geschichtsknick«
17. »Deutschland ist ein Musical-Land« - Der Dramatiker und Übersetzer zwischen fact and fiction
18. Broken dreams - Krankheit, Kreuz und Krisen
19. »To burn out is better than to rust« (Neil Young) - Lieber Draufgänger als Draufgeher
20. Der Agent provocateur und seine Richter-Skala - Soft & Solid Rock ’n’ Roll »Made in Germany«
21. »Tete à Tete in der Enquete« - Parallele Leben, Männerbünde, Männerbande
22. Mit neuer Kraft zurück - Wege und Ziele mit einem neuen Management
23. »Mit Leib und Seele« - Zurückzu »H 1«, dem »Original«
24. »Ich geh’ meine eigenen Wege... Ein Ende ist nicht abzusehen«
Kunze muss man laut lesen.
Seine Sprache ist kein Papier.
Sie ist Zunge,
Mund und Zähne. Kunze durchdringt Wände.
Seine Worte kommen von der Straße.
Er ist
Heine, Funkelstein, Goethe, Baumgartner, Brecht
auf seine Art - Kunze
Herman van Veen
Heinz Rudolf Kunze ist immer für eine Überraschung gut. Während der Weltgeist vor sich hinzudösen scheint und die fetten Jahre im konsumverwöhnten westlichen Abendland sich dem Ende entgegenneigen, richtet der vom Literaten zum Rockstar mutierte Lehrersohn immer neu den Spiegel der Gesellschaft aus. Er geht dabei unverwechselbar seine eigenen Wege. Mit prophetischer Kraft.
Freilich: Der »Kick« bei Kunze kommt erst auf den zweiten Blick, in zweitbester Fahrt, beim Wiederhören. Wo er auftritt, heißt es: aufgepasst! Keine(r) kommt ungeschoren davon, will heißen, ist eingeladen zum Nachdenken über sich und den anderen, Gott und die Welt.
Viele Texte sind erst mit einem gewissen Abstand zu genießen. Andere verblüffen durch ihren unmittelbaren Bezug zum Alltagsleben, wie es jeder kennt. Manche musikalischen Ohrwürmer bohren sich im Laufe der Jahre tiefer und tiefer in die Seelen der Zuhörer. Andere überraschen durch ihre Eingängigkeit mit ihrer Doppelbödigkeit, die wiederum der Text mitliefert.
»HRK«, das ist ein Markenzeichen, ein brand name. Kaum ein Künstler hat ein derart breit gefächertes Publikum, das unauffällig scheint, aber stets hohe Erwartungen an die nächste Botschaft dessen hat, der von sich sagt: Lebend kriegt ihr mich nicht.
»Wunderkinder«, ein Liedtitel, ist nicht von ungefähr auch der Name eines ausgewiesenen Fanclubs. In der Tat, Kunze selbst hat das »Sich-Wun-dern-Können« offenbar nie verlernt, von dem schon die alten Griechen wussten, dass es der Anfang aller Philosophie ist. Der Künstler entzieht sich gängigen Klischees. Ihm kommt es nicht darauf an, sich mit Skandalen die Gunst der Medien zu erwerben, eine Performance auf Kosten seines Publikums abzuziehen oder mit einem einzelnen Hit in den Vorruhestand zu gehen. Freilich hat er eine Option für den geplagten, gestressten, leidenden Zeitgenossen.
Wie eine Umfrage der Plattenfirma gezeigt hat, belegt eine Genderanaly-sis dabei eindeutig, dass beinahe 70 % seiner Hörer Hörerinnen sind.
In einem WEA-Interview im Dezember 2000, das auch im Gemeindebrief der Heinz Rudolf Kunze-Fans »Die Wunderkinder«, Heft Nr. 14 abgedruckt ist, befragt ihn Alfred Biolek.
Biolek: Abgesehen davon, dass Sie glücklich verheiratet sind, spielen die Frauen eine wichtige Rolle in Ihrem Leben?
HRK: Ich weiß mit großer Freude und Genugtuung, daß die Mehrzahl der Menschen, die meine Alben kaufen, Frauen sind. Das hat die WEA mal herausgefunden, nachdem wir eine Untersuchung gemacht haben. Ich habe gar nicht damit gerechnet. Ich bin kein »Womanizer«, nicht besonders umtriebig. Ich bin tatsächlich stetig verheiratet und nicht ständig auf Achse. Aber wenn ich höre, daß die Weiblichkeit mich gerne hört, bin ich darüber sehr froh und empfinde es als Kompliment. Gerade weil ich ja auch nicht gerade unbedingt aussehe wie ein Star.
Biolek: Ich auch nicht, und ich habe auch hauptsächlich weibliche Zuschauer.
HRK: Ich habe einmal ein Erlebnis gehabt: Eine Journalistin eines Stadtmagazins aus Hamburg sah aus wie eine klassische Punkerin, mit Rasierklingen im Ohr, blaß geschminkt und schwarzem Lippenstift, ganz furchterregend. Sie kam auf mich zu und ich dachte, die will mich abschlachten. Sie sagte: »Herr Kunze, ich danke Ihnen. Ich habe das Gefühl, seitdem ich Ihre Sachen höre, daß ich die Männer etwas besser verstehen kann.«
Was hat man ihm nicht alles nachgesagt in dem Vierteljahrhundert Lebensarbeit! Eine Fülle von Rückmeldungen aus Fanpost, Aktenordner voller Interviews, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen, Radio- und Fernsehmit-schnitten haben ihm Dutzende von Prädikaten, Namen und Eigenschaften zugewiesen. Die Skalierung reicht von einschränkenden Unterstellungen wie frauenfeindlich, unsexy und Oberlehrer über politische Schubladenversuche, vom echten Ossi über Sympathisant für die rechte Szene bis zur linken 68er Ecke. Für die einen der singende Philosoph, für die anderen das Sprachgenie unter den deutschen Liedermachern. Der kongeniale Übersetzer von Sir William Shakespeare oder New Yorker Slang (wie im Musical »RENT«) wird erst langsam über die Kreise von Insidern hinaus erkannt.
HRK - also doch ein Mann ohne Eigenschaften? Gewiss nicht, aber Künstler und Kunstwerk lassen sich in keine Schublade stecken. Für Kunze spielt eigentlich alles und jeder eine Rolle. Nichts und niemand ist ihm wirklich gleichgültig. Er, sie oder es kann höchstens dem inneren Auge für eine Zeit entschwinden.
Aber: Was gut ist, kommt wieder. So auch Kunze selbst. Er hat im Laufe der Jahre seiner Ausübung einer Passion, die zur Profession geworden ist, genaue Erinnerung an die Atmosphären seiner Auftrittsorte. Ein Gespür für die Dichte der Gestimmtheit seines Publikums.
Selbst hinter fetzigen Hardrockpassagen und anfeuernden Refrains weckt der leise Mensch Heinz Rudolf Kunze die Geistesgegenwart seiner Leserinnen und Hörerinnen und lässt diese ihre Türen nach innen selbst öffnen. Aber er geht seine eigenen Wege mit seinem »Stirnenfuß« (nach dem er oft gefragt wird und sich dann wundert, dass diese Metapher so schwer verständlich sei: Sie sei einfach ein Phantasiegebilde, ein zusätzliches Gliedmaß, mit dem er sich durch Raum und Zeit bewege ...). Vielleicht ist er doch so etwas wie ein Prophet, der in seinem eigenen Land sagen kann, was Gültigkeit hat.
Der Skandal: Palmsonntag 2005
HRK rahmt seine Frühjahrs- und Herbsttournee 2005 »Das Original«, mit einer Serie von literarischen Konzerten, mit dem provokanten Titel »Bockwurst und Schadenfreude«. Eines davon findet in Hersfeld im mittleren Westdeutschland statt, wo einst eine Abschrift von »Germania« des Römers Tacitus gefertigt wurde: der codex Hersfeldensis.
Zum Auftakt der Karwoche kommt HRK dieses Mal mit Gitarre und Wolfgang Stute: »Bockwurst und Schadenfreude« - Eine Lesung mit Musik. Veranstaltungsort: eine Kirche, gut besucht wie selten. »Knocking on Hea-vens Door« wird von derKonfirmanden-Band Emporion zur Begrüßung beigesteuert. »Grönemeyer? Westernhagen? - Kunze!« - freudig erregt überreicht ein weit angereister Fan ein T-Shirt mit eindeutiger Botschaft.
Dann folgte: ein voll gerütteltes Maß an Texten. Wer ihn zum ersten Mal so erlebte, konnte sich als Gast entweder mit Grausen abwenden und gehen (das wollte keiner) - oder man und frau sehnen sich nach mehr.
Was aber berichtet die Presse? Mit dem »Poet des wachen Deutschland«, aber dann vor allem mit der schlagzeilenartigen Überschrift: Jesus als »Zölibat äre Ulknudel«, nimmt ein Provinzpresseskandal in der Konrad-Duden-Stadt seinen Lauf...
Was war »passiert«?
Neben Dutzenden von Songs und Texten hatte Kunze auch diesen aus dem damals noch unveröffentlichten Buch »Artgerechte Haltung« laut werden lassen:
WAS MACHT EIGENTLICH ...
Jesus Christus? Tankwart im Irak? Platzanweiser im Zirkus Roncalli als »Subalterner Verhökerer des Illusionären« (André Heller, Berufs-Anfänger)?
Seit langem ist es
still geworden um den sympathischen Nazarener.
Seine frühen Erfolge als
Zölibatäre Ulknudel (übers
Wasser gehen und es dabei in
Wein verwandeln u. ä.)
sind nahezu vergessen ...
Was nun folgt, ist eine böse Überraschung. Wie ein kleiner Tsunami verbreitet sich trotz einer brennenden Begeisterung der anwesenden Besucher eine Hetzkampagne ohne Sinn und Verstand. Also doch nichts mit der Perle des Protestantismus, also doch kein Prophet für das glaubensschlaffe Deutschland?
Ein klein wenig mussten sich zufriedene Veranstaltungsbesucher an die Zeile von Konstantin Wecker erinnert fühlen: »Immer noch werden Hexen verbrannt auf dem Scheiterhaufen der Ideologien.«Denn mit einem Mal lockte die Schlagzeile Holzscheitträger aus ihren Löchern, spaltete ein aus dem Zusammenhang genommenes Wort aus dem Gedicht wie eine scharfe Axt Gralswächter und Buchhalter, Zeitungsleserund Besucher. Da schreibt selbst ein Konfirmand spontan einen Leserbrief, weil er nicht versteht, wie eine Kirchenleitung eben noch Geld zur Veranstaltung für einen Künstler gibt, den die Kirche mit dem Kirchentagssong beauftragt, dann selbst die Veranstaltung nicht besucht - und dennoch aufs Schärfste kritisiert.
Was wie eine konzertierte Aktion gegen Konzert, Poem und Veranstalter wirken muss, bleibt nicht ohne Gegenwirkung. Ein Prophet, ein preußisch protestantischer dazu, fackelt nicht lange umeinander, sondern sendet seine Scheltworte aus und philosophiert mit dem Hammer. Man muss das Gerüchteeisen schmieden, solange es heiß ist: versuchter Dichtermord mit Pfaffenopfer!
Die Presseerklärung des Künstlers, die die Zeitung unter der Rubrik Leserbrief am 27. März 2005 veröffentlicht, ist jedenfalls eindeutig:
»Es ist traurig und ermüdend, sich immer wieder mit den gleichen Erscheinungsformen von geistiger Hartleibigkeit herumschlagen zu müssen. Waren diese Leute, die sich jetzt »verletzt« fühlen, in meinem Konzert? Haben sie jemals mit mir gesprochen? Nein. Ich kann mich nur an ausnahmslos begeisterte Zuhörer erinnern.
Jeder zurechnungsfähige Deutschlehrer sollte bereits einem Sechst-klässler vermitteln können, daß man die Meinung des Autors nicht mit dargestellten Meinungen verwechseln darf. Meine Aufgabe als Dichter ist es, die ganze Welt zur Sprache kommen zu lassen. Das heißt auch, mit Meinungen zu spielen. Das heißt nicht, die Leser mit meiner Privatmeinung zu belästigen. (Die übrigens die eines Menschen ist, der jeden Tag betet.) Bei theologisch vorgebildeten Individuen hätte ich eigentlich erwartet, daß dieses primitivste Mißverständnis im Umgang mit Literatur nicht auftritt. Wenn ich Jesus als »Ulknudel« bezeichne, spiele und zitiere ich die Spezies des neudeutschen zynischen Medienarschlochs. Nicht mehr und nicht weniger. Daß das lustig sein kann, nehme ich in Kauf.
Daß Pfarrer Barthelmes und der Kirchenvorstand der Martinskir-chengemeinde, großartige Gastgeber mit Humor, Herz und Verstand, jetzt öffentlich angerempelt werden, ist eine Unverschämtheit. Ohne Menschen wie sie wäre die Kirche längst tot.
Durch meine Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Kirchentag hatte ich schon geglaubt, das leitende Personal bestünde ausschließlich aus so freundlichen, aufgeklärten Leuten wie dem Umfeld von Frau Bischöfin Käßmann. Aber die Pharisäer sind offensichtlich nicht kleinzukriegen.
Letztlich ist es mir egal, was Leute mit Heckenschützenmentalität von mir halten. Und als - natürlich rein poetisch gemeinte - Schlußbemerkung: Ich lasse mir die Korintherbriefe nicht von Korinthenkackern vermiesen. So sind wir halt, wir Künstler. Für einen guten Kalauer würden wir jederzeit unsere Großmutter verkaufen. Das ist unsere satanische Achillesferse. Und wir sind stolz darauf.«
Ein Künstler lässt sich das Maul nicht verbieten. Nein, Gott lässt sich nicht spotten, aber wer sich selbst wichtiger nimmt als den, auf den es ankommt, bekommt von Heinz Rudolf Kunze unerbittlich eins auf den Finger geklopft. Die Freiheit eines Christenmenschen besteht auch darin, Ja oder Nein zu sagen.
Man muss nicht zu HRK gehen, schon gar nicht am Palmsonntag in die Kirche. Aber man kann. Man muss auch nicht an die Zeitungsüberschrift glauben, sondern eher an einen lebendigen Gott, aber man kann. Man muss den Einzug Jesu in Jerusalem und die Ambivalenz des »Hosianna und kreuzigt ihn« nicht mit »Bockwurst und Schadenfreude« in Verbindung bringen. Aber man kann ...
Immerhin waren es zwei Monate später über 30 000 Besucher des Deutschen Evangelischen Kirchentages, die HRK in großer Besetzung die Ehre gaben, als er den Kirchentagssong »Mehr als dies« vor großer Freilichtbühne zu Gehör brachte:
Wenn dein Kind dich morgen fragt
wozu sind wir auf der Welt
wenn es anfängt sich zu wundern
wenn es wissen will was zählt
Seine Augen sind so groß
wie ein weites Menschenmeer
dann bleib nicht die Antwort schuldig
fällt sie dir auch manchmal schwer
Was man ganz tief drinnen spürt
das kommt nicht von ungefähr
glaub mir denn es existiert
Mehr als dies
mehr als jetzt und mehr als hier
mehr als dies
und mehr als wir (...)
Dann folgte eine von vielen so empfundenen Provokation:
Wenn dein Kind dich morgen fragt
morgen Nacht in deinem Traum
warum hast du dir vorgenommen
niemals Kinder zu bekommen
Glaubst du, daß du alles bist
gib mir Leben gib mir Raum
nichts muß bleiben wie es ist
Hör was dir die Zukunft sagt
In uns scheint ein Licht
das verliern wir nicht
weil es jemand gibt
der uns immer liebt
der fast alles vergibt (...)
Dazu im Originalton die Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche Hannover, Bischöfin Margot Käßmann:
»Warum hast du dir vorgenommen, keine Kinder zu bekommen ...« - das war neben »der fast alles vergibt« die andere Zeile aus Heinz Rudolf Kunzes Kirchentagssong, die für Aufregung sorgte. Empörte Briefe, Mails und Anrufe gab es: »Wird mir da Egoismus vorgeworfen, weil ich keine Kinder habe?«- »Gibt es jetzt einen Kirchen-TÜV nach dem Motto: Nur wer Kinder hat, kommt in den Himmel?« Unter den Reaktionen aber auch tief verletzte Menschen, die sich Kinder gewünscht haben, Frauen, die keinen Partner fanden, Paare, die ungewollt kinderlos sind.
Die Geschichten der Menschen heute spiegeln sich in den alten Geschichten der Bibel. Denken wir an Hanna, die kinderlos blieb und trauerte. Und als ihr Bitten um ein Kind erhört wurde, da gab sie ihren Samuel Gott zurück, aus Dankbarkeit. Das Ringen um ein Kind war vielleicht ein Ringen um Anerkennung. Aber sie machte sich frei davon, sie kann das Kind als Gottes Kind sehen. Oder Sarah, die lachte, als ihr im hohen Alter ein Kind angekündigt wird. Und deren Sohn Isaak dann den Vater in eine schwere Prüfung führt, weil an ihm die Frage festgemacht wird, ob er Gott vertraut.
Kinder sind ein Geschenk Gottes. Das sagen diese alten Geschichten und die aktuellen Wünsche. Sie sind kein Rentenfaktor und keine ökonomische Bilanz, sondern schlicht ein Segen. Es ist großartig, mit Kindern leben zu dürfen. Aber Kinder dürfen niemals zum Zweck werden. Wenn ich meinen Lebenssinn an Kindern festmache, dann benutze ich sie. Kinder sind auch nicht einfach Objekte meiner Erziehung. Sie sind Subjekte, von denen Erwachsene lernen können: Kreativität zum Beispiel oder einen frischen Blick auf die Wirklichkeit.
Ja, Jesus erklärt sie sogar zu Subjekten der Theologie: »Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.«(Lk 18,17) Das finde ich sehr eindrücklich. Von Kindern können wir Gottvertrauen lernen. Weil sie nicht lange abschätzen, nachdenken, einordnen, sondern schlicht vertrauen, so wie sie ihre Hand in die Hand eines Erwachsenen legen. Sicher, Vertrauen kann enttäuscht werden. Und so sind Kinder besonders verletzbar.
Heinz Rudolf Kunzes Liedstrophe ist eine Provokation. Wer sich bewusst gegen Kinder entscheidet, vermeidet Verletzbarkeit, aber auch Leben in der Tiefe. Der oder die bleiben vielleicht stringenter, ihr Leben ist berechenbarer, aber auch ärmer, vermeintlich sicher, aber auch steril, auf merkwürdige Weise ungelebt.
Ohne Kinder können wir manches nicht an uns selbst neu entdecken. Und dieser Vers berührt eben auch die Verletzung derjenigen, die gerne Kinder hätten, aber aus den unterschiedlichsten Gründen keine Kinder haben können. Ihr Schicksal, ihr Schmerz wird meist weggeschwiegen in unserer Gesellschaft. Aber er braucht Raum, Worte oder auch Gebet.
Vielleicht ermutigt der Vers auch so manchen Mann und manche Frau, Ja zu sagen zu ihrem Kind. Denn das ist und bleibt traurig, dass in einem reichen Land wie Deutschland rund 130 000 Kinder pro Jahr abgetrieben werden. Was können wir tun, um werdende Eltern zu ermutigen, Kinder willkommen zu heißen im Leben? Kinder dürfen kein Armutsrisiko sein, aber auch nicht als Spaßbremse gesehen werden. Eine kleine Zeile ... und viele Diskussionen.
Wenn mein Kind mich morgen fragt - dann frage ich es zurück: Weißt du noch, wie du mit sieben Jahren im Jahr 2005 das Lied von HRK auswendig voller Freude mitgesungen hast? Wenn du mich fragst, warum hast du so viel von ihm erzählt, dann werde ich sagen: weil wir damals an Wilden Wässerchen Austern gefischt haben, du weißt ja, das sind die besonderen Muscheln, in die irgendwann einmal ein winziges Schmutzteilchen reingekommen ist. Sicherlich brennt das so, wie wenn wir Sand in die Augen bekommen. Und dann, und dann ganz mit der Zeit, es kann Jahre dauern, umschließt die Auster das Teilchen Schmutz mit viel Liebe und Tränen und Mühe, und es wird eine wunderbare Perle daraus - so eine ist Heinz Rudolf Kunze: in seinen Büchern, in seinen Liedern... In seinen Bühnenauftritten umschließt er liebevoll den Sand im Getriebe unserer Gesellschaft, die Tränen in den unglücklichen Ehen und dumpf vor sich hindösenden Arbeits verhältnissen, die Gemeinheiten unter unserer Sonne und formt daraus viele Schichten einer wunderbaren Perle.
Freue dich daran mit mir!
4022 Tage und Nächte vergingenvon der Verlobung bis zur Hochzeit von Rudi und Gerda Kunze, geb. Lehmann, am 4.2.1956 in Lengerich/West-falen. Den Stoff für das Brautkleid hatte sie längst gekauft. Als der Bräutigam in der Nacht nach Friedland kam, nahm man Maß. Innerhalb von einer Woche war das Brautkleid fertig. Die Familiengeschichte von Heinz Rudolf Kunzes Eltern liest sich wie ein zeitgeschichtliches Märchen mit Happyend.
In Mutter Gerda Kunze begegnet dem Besucher heute in ihrer Seniorenresidenz eine aufgeschlossene und geistig sehr wendige Dame. Sie gehört zu den gründlichen, genauen Menschen. Ihr entgehen gerade die Kleinigkeiten nicht, wenn sie Rückschau hält auf ihr bewegtes Leben. Und so baut sie in unsere Begegnung auch die Möglichkeit zu einem längeren Telefonat mit dem jüngeren Bruder Rolf-Ulrich ein, der als Historiker wissen muss, wovon er spricht: von der Omnipräsenz der Geschichte in seiner Familie. Was Kunzes machen, machen sie gründlich. Deutsche Wertarbeit sozusagen. Und doch immer auch mit Skrupel.
Für das Werden und Entstehen ihres ersten Kindes jedenfalls erging es den Eltern beinahe wie in der Bibel.
Der angehende Dichter und Denker Heinz Rudolf Erich Arthur Kunze sagt und singt von sich selbst:
Vertriebener
(...)
Ich wurde geboren in einer Baracke
im Flüchtlingslager Espelkamp.
Ich wurde gezeugt an der Oder-Neiße-Grenze.
Ich hab nie kapiert, woher ich stamm.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich will keine Revanche, nur Glück.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Fester Wohnsitz Osnabrück.
Meine Mutter war so treu, daß mir schwindlig wird.
Mein Vater war bei der SS.
Ich heiße Heinz wie mein Onkel, der in Frankreich fiel,
und Rudolf wie Rudolf Heß.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Schlesien war nie mein.
Ich bin auch ein Vertriebener.
Ich werd überall begraben sein. (Papierkrieg, 146)
Heinz trägt den Vornamen seines Onkels, der zwei Tage nach dem Attentat auf Hitler am 22.7.1944 fiel. Mit großer Wehmut erinnert sich Gerda Kunze an ihren Bruder. Noch im November 1943 traf der geliebte Bruder Heinz auf den künftigen Ehemann Rudi und teilte seiner Schwester mit: »Bin einverstanden, du kannst Rudi heiraten«. Ein Versprechen erbat sich der Bruder von der Schwester: »Gehe nicht an die Front!«Und sie wusste es, dass nach ihrem Abitur 1944 Reichsarbeitsdienst, Einsatz bei den Bauern, FLAK, Front und Rotes Kreuz auf sie warteten. Am 28.12.1944 folgte dann das Verlöbnis, das über elf Jahre Warten auf den Partner nach sich zog. Die Verlobten waren sich einig: Die Hochzeit sollte erst in besseren Jahren stattfinden.
Der Vater spielt bereits in den frühen Gedichten von Heinz Rudolf Kunze eine besondere Rolle. Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist sich Kunze bewusst:
die Menschen am Wegesrand
könnten Vater oder Mutter sein
sie nehmen gerne überhand
haltet Abstand macht euch nicht zu klein
sie werden Märchen erzählen
von Schuld und Sühne
daß sie dort waren wohin ihr noch geht
ist sollt sie ausreden lassen
beim Wort sie nehmen
weil so viel Mögliches in Märchen steht (...).
Bei aller kritischen Sichtung mit Blick auf die soldatische Vergangenheit des eigenen Vaters überwiegt die Liebe des Sohnes, der um die biblische Weisheit Elijas am Horeb weiß: Er selbst ging eine Tagereise weit in die Wüste hinein. Dort setzte er sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich den Tod und sagte: Nun ist es genug, Herr. Nimm mein Leben; denn ich bin nicht besser als meine Väter.
Ich wollte meinem Vater noch die Rechnung präsentiern
ich habs vergessen
ich sollte meine Kinder in Gelobte Länder führn
ich habs vergessen...
(...)
Den Unterschied von Gut und Schlecht und wer den Krieg gewann
ich habs vergessen
wie spät es ist und wann genau mein Haarausfall begann
ich habs vergessen...
Aus den Augen aus dem Sinn
ach wie gut daß jeder weiß
daß ich kein Messias bin
planlos in die Glücksbanane beiß, konstatiert er in Vergessen
(Nicht daß ich wüßte, 171).
Und was geschah mit dem Vater tatsächlich? Januar 1945 Ostpreußen, anschließend russische Kriegsgefangenschaft. Der Vater von Heinz wurde im Januar 1956 als einer der letzten Heimkehrer heimgeführt mit Adenauers Hilfe. Bischof Heckei, der Vater der Kriegsgefangenen und Kirchenamts-außenleiter, setzte sich mit für Rudi Kunze ein. Der Verlobte kehrte also erst im Geburtsjahr des langersehnten ersten Kindes zu seiner Braut zurück. Als die Wehrpflicht bereits erneut Soldaten einzog, sollte Rudi Kunze auch wieder mit von Partie sein, z.B. in der FDJ oder so. Ohne Hass auf die Russen zu schüren, fragte er nur zurück: Soll ich nun vom Regen in die Traufe? - und zog die zivile Laufbahn als Lehrer vor.
Ein Wunsch und Glückwunsch des Sohnes:
...ein Wunsch des Sohnes:
Befreiter Kunze.
Ein Glückwunsch:
Rührung.
Weitermachen.(Heimatfront, 44)
Dass die Liebe des Sohnes zu Vater und Mutter immer wieder stärker ist als die Last der Vergangenheit, spürt der ausdauernde Kunzeleser für das Schicksal so vieler Kinder der Nachkriegsgeneration Deutschlands heraus. Trotzdem taucht er immer wieder zurück »in den brodelnden Urschlamm aus Geschichten und Geschichte, der sich ablagerte im Kindergehirn, seit Dschungelforscher sonntagmorgens im Bett des ausgebufften Abenteuererzählers dieses Koppelschloß trugen mit der knochenharten Totenkopfmaxime drauf, irgendwas wie: Entschlossenes Handeln ist oberstes Gebot, selbst wenn es falsch ist, sehr markig, sehr deutsch, sehr Nibelungenkrebs.«
»Der Krieg ist der Vater aller Dinge«, das wusste bereits der Grieche Hera-klit. Heinz Rudolf Kunze reicht es nicht zu sagen, »das Flugzeug auf deiner Stirn hat Sperma im Propeller das reicht nicht bei Gott das reicht nicht«, denn es ist des Fragens kein Ende.
»Es ist gut, subjektiv zu sein, aber es ist nicht gut, privat zu sein.«- Ein hoher Grad von Sensibilisierung und die Bereitschaft auch zur politischen Auseinandersetzung, das prägte ihn von Anfang an - kein Wunder also, dass Kunze Jahrzehnte später in einer Enquetekommission des Deutschen Bundestages für Kultur in Berlin landet...
Doch kehren wir noch einmal bei seiner Mutter ein und damit bei den Anfängen jener deutsch-deutschen Kindheit Kunzes, in der deutsche Geschichte und Geschichten omnipräsent sind. Küchenpsychologisch, meint der Bruder, sei die Erfahrung mit Wissen belastet, und jeder der beiden Kunzesöhne habe sich auf seine Weise freigeschwommen. Freigeschwommen von der Weltgeschichte eines Volkes mit einem Alleinstellungsmerk-mal, freigeschwommen von dem starken Vater und der gewiss ebenso starken Mutter.
Heinzens Lieblingsbild der Mutter zeigt eine hübsche junge Dame mit linksgescheiteltem dauergewelltem Haar und strengem Lächeln über kleinem Ausschnitt eines dunklen Jacketts mit einem aufmerksamen Kraushaardackel auf dem Schoß, aufgenommen als sie 19 Jahre alt war in einem Gubener Fotoatelier.
Gerda Kunze ist eine starke Frau. Ihr ausgesprochen offenes und zugleich bestimmtes Wesen schenkt ein Gegenüber für einen lebendigen Dialog. Ihr Gedächtnis ist verblüffend. Ihr beruflicher Traum war Kinderärztin gewesen. Ihr letzter Antrag für ein Studium in Halle wurde abgelehnt, weil sie nicht zur Bauernintelligenz zählte. Doch wie so oft hat der Krieg auch hier alle Pläne durcheinandergeworfen.
In der Tat befolgte sie beide Ratschläge des geliebten Bruders Heinz: Sie wartete geduldig auf ihren Ehemann, 4022 Tage und Nächte, und sie vermied Fronteinsätze. Sie hatte Angst vor der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst. Drei Wochen nach der Uniformierung wurde sie sehr schnell krank. Das war das Glück für die ehemalige Oberschülerin des Gubener Lyceums und ließ sie der größten Gnade unter den Kommunisten teilhaftig werden: Nach einer Einweisung im Pestalozzi-Fröbel-Seminar in Berlin für Kinderkrippen empfand sie es als großes Geschenk, für über 1000 fremde
Kinder alles sein zu dürfen, nämlich Tagesmutter, sich denen zuwenden zu dürfen, die nichts sagen konnten, aber spüren sollten, dass sie jemand lieb hatte. Sie benannte ihren ersten Sohn nach ihrem geliebten Bruder.
Voller Achtung spricht Mutter Gerda von ihrem Elternhaus. Ihr Vater war ein hoch begabter Buchhalter, der es verstand, vielen Menschen zu einer Unterkunft zu verhelfen. Gerda Kunze erzählte von den Jahren, ehe der Krieg die Oder-Neiße-Grenzstadt endgültig teilte, berichtet schmerzlich von der dreimaligen Flucht in 1945. Im Januar vor den Russen, im Juni, ein Tag bevor die Neiße Grenze wurde, führte der Vater eine Kolonne zurück, am 16./17. November schließlich erneute Vertreibung, diesmal durch die Polen auf die Westseite der Heimatstadt.
Die Mutter bekam am 30.11.1956 endlich ihr Wunschkind. Nach all den Entbehrungen und all dem Wartenmüssen auf ihren Mann. Sie ist stolz auf ihren Jungen. Ein hübsches Kind in allen Phasen. Im Wesen ein zurückhaltender und leiser Mensch. Das sei bis heute so. Nichts habe ihn korrumpieren, nichts wirklich deformieren können. Seine innere Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit scheint ihm nach diesem Zeitalter der Extreme wohl in die Wiege gelegt worden zu sein. Überhaupt: Heinz und Ulli konnten nach Meinung der Mutter gar nicht anders werden. Als gelernte Säuglingsschwester und spätere Osnabrücker Grundschullehrerin sind wohl gut 1000 Kinder durch ihre geschulten Hände gegangen. Nun aber war die Zeit reif für die eigenen Kinder. Dafür hatte sie sogar in der Zeit der Kriegsgefangenschaft ihres Mannes ein Topangebot für eine leitende Stelle in einem der größten Säuglingsheime mit eigener Milchsammelstelle der ehemaligen DDR in Cottbus ausgeschlagen. Ihrem Chef teilte sie damals lapidar mit: Ich kann nicht, ich bin verlobt. Nun also Heinz als die große Belohnung für das geduldige Warten. Ein Geschenk des Himmels.
Heinz Rudolf war von klein auf sprachbegabt und kann, wenn er dies auch selbst nicht gerne hört, aber dann doch zugibt, druckreif sprechen. Dabei fehlte es nicht an Imposanz: Als er einmal mit dem Herrn Papa ausfuhr, begegnete ihnen eine vorbeifahrende Eisenbahn. Auf die Frage, wer denn da wohl vorüberfahren würde, antwortete der Junge keineswegs mit Eisenbahn, sondern verkündete gewichtig: Konrad Adenauer!
Im März 1960 saß er nachweislich das erste Mal mit am Klavier von Frau Dr. Steinmann und war als Dreijähriger ziemlich gewiss, er wolle nun auch ein eigenes.
Als Blondschopf mit Brille sehen wir ihn ein erstes Mal im Garten vor dem neuen Zuhause in Altepiccardie an der holländischen Grenze, wo
Vater seine Stelle seit April 1960 innehatte. Rudi Kunze übernahm die Klassen eins bis vier. Man wohnte oben in der Schule, was für den Lehrernachwuchs offenbar früh und entscheidend dazu beitrug, dass schulische Leistungen nur so von der Hand gingen. Überhaupt, eigentlich wurden in der Altepiccardie Grundsteine für so vieles an Begabung gelegt und frühkindliche Prägungen mitgegeben.
Hierhin gehören alle Anfänge vom ersten Gehen der eigenen Wege, dem Ausprobieren von Klarinette, Trompete, Klavier und Miniorgel und der Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, hier finden sich Freunde und Freundinnen, in diese Zeit werden auch erste Grenzen ausgelotet, beim Schwimmen lernen, beim Fummeln, im Fußballeinmaleins und im Ausgelassensein bei der Dreiradrallye auf dem Ferredo-Flitzer.
Für Heinzens Sprachentwicklung freilich war die Verpackung des Fernsehapparates beinahe genauso folgenreich, denn aus dem wunderbar großen Verpackungskarton wurde mit Hilfe von Buntpapier eine erste Bühne für das Kasperletheater gebaut. Mit Hilfe eines Rezitationslehrers, dem Bruder der Großmutter, wurden »Max und Moritz« nicht nur gesprochen, sondern bald auch gesungen. Außerdem schickte sich der Vater an, mit dem Jungen lustvoll Theater aufzuführen.
Der Knirps schoss den Bock ab, als er seine erste Vorstellung als kleiner Pastor in der Piccardie abgab. Und das begab sich folgendermaßen: Eben jener Bruder der Immer-für-dich-da Oma pflegte mit frisch geputztem Auto am Sonntag zur Kirche zu fahren. Brav und artig, wie der Junge Heinz war, ging es im Sonntagsstaat mit. Als eines Tages wieder einmal das Auto bei der Kirche stand, stockt Heinzi beim Einsteigen. »Ich habe den lieben Gott betrogen«, konstatiert der Pimpf betroffen. - »Was hast du gemacht?«- »Ich habe 20 Pfennig zurückbehalten, weil ich noch mehr Eis für mich wollte.« - Es gab ja es jeden Sonntag ein Eis und da sollte der auffällige blonde Junge, der Sohn des Lehrers, der im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern Hochdeutsch sprach und Platt gar nicht recht verstand, ausgerechnet dieses Mustersöhnchen sollte nun also den lieben Gott und die Kirche samt Pastor übers Ohr gehauen haben? Was tun? Guter Rat war teuer. Besorgt fragt der Vater: »Sollen wir zwei Groschen einle-gen?« - »Nein«, wehrt der Junge entschieden ab, »ich esse nächsten Sonntag kein Eis ...«
Der tief eingebrannte Sinn für Gerechtigkeit ließ das früh erwachte Gewissen reagieren: Das kannst du deinem Vater nicht antun. Dieser freilich war von der Reaktion seines Filius so angetan, dass er das nächste Eis ausgab, weil die Anständigkeit und Artigkeit seines Jungen es sich verdient hatten.
Und die Musik?
Angefangen hat alles mit den Beatles. Die Platten-Oma Gertrud Lehmann, geb. Fischer, verhalf zum Durchbruch mit Sergeant Peppers Lonely Heart’s Club Band für damals ganze 11 DM. Mutter Kunze war bereits im Grundschuldienst in Osnabrück, als ihre damalige Rektorin sie fragte, ob sie denn die Beatles kenne. Gerda Kunze ließ sich das nicht zweimal sagen, ging mit ins Kino, sah sich den entsprechenden Film an und blies zum Großangriff auf die westliche Popkultur. War sie klassische Kultur mit einem regen Theaterleben durchaus gewohnt, galt es nun, sich Neuem nicht zu verschließen. Ganz kurz vor Weihnachten also - »Deine Mutter sagt die Wahrheit« - ging es in die Stadt, die erste Schallplatte wurde hübsch eingepackt, Großmutter gab das Geld.
Heinz war von seiner Karl-May-Lektüre aufgeschreckt und doch voller Begeisterung. Im Wohnzimmer stand der Weihnachtsbaum. Aber alle mussten zu ihm ins kleine Zimmer. Mutter wollte schließlich nicht zurückstehen und den Dialog mit ihrem Sohn führen können, und also begann die Periode der »Schreckgespenster-Platten«. Vater, Mutter, Großmutter mussten alle mit und mithören, alle mussten hören kommen.
Und dann, ja dann kam der zweite Streich: The Who, die große Liebe, die zweite Platte, erzählt die Mutter mit leuchtenden Augen: »Was mussten, was durften wir die immer wieder hören ... !«Die eigene Familie war das erste Auditorium. Später hatte er vom jüngeren Bruder, Jahrgang 1968, die Doppel-LP geschenkt bekommen, »eine ideale Musik beim Ausputzen des Weihnachtsbaumes«, sagt Gerda Kunze mit ihrem Mutterwitz.
Kunze früher einmal dazu selbst: »Meine 1. Platte bekam ich von Oma. Mit Sergeant Pepper’s Lonely Heart’s Club Band. Sie ermöglichte mir so den Königseinstieg in meine spätere Plattensammlung und hattedafür einen Teil ihrer Rente investiert«. Die zweite Platte war »Tommy« von The Who. Die dritte »Electric Ladyland« von Jimi Hendrix. Die vierte von Blind Faith und unter den ersten 100 war auf jeden Fall »Yes« mit »Beyond and before« dabei. Freilich auch Ian Anderson von Jethro Tull »Living in the Past« ...
Und die Literatur?
Ach ja, da ist ja noch die Geschichte mit Sir William Shakespeare, die Familie Kunze schon lange mit dem sprachsüchtigen Heinz verbindet. Von seinem Englischlehrer Arnemann weiß Ex-Schüler Kunze noch genau: Er verpasste ihm die erste Vier in seinem (schulischen) Leben. Und das in Englisch! Der Lehrer war ein sehr fordernder, strenger Pädagoge alter Schule,
dessen Unterricht Kunze oft als harten Drill empfunden hat. Zugleich prophezeite er seinem Schüler aber: Kunze, ich will Sie auf ne Eins kriegen, aus freiem Willen. Für einen Durchschnittsschüler zunächst keine echte Panne. Wohl aber für einen, der das Siegen zumindest mit Blick auf die Zeugnisnoten gewohnt war.
Hier nur so viel: Shakespeare sehe Sonette wurden auswendig gekonnt -und dennoch eine Vier! Eine entsprechende Spezialarbeit wurde zunächst nicht genehmigt. - »Und dann hat der Gockel alle Schüler gerufen«, sagt Kunze rückblickend mit einem verschmitzten Lächeln - und er landete bei einer Eins Plus. In seinem Gedächtnis hat der altmodisch-schleiferische Lehrer preußischen Einschlags einen ganz besonderen Platz.
Sein Physiklehrer Dr. Freimann riet: »Sie sind keiner von uns, Kunze! Sie sind kein Naturwissenschaftler. Werden Sie mal ruhig Geisteswissenschaftler«, riet er seinem Eleven Kunze. - Der Biologielehrer, an einer Universitätslaufbahn gescheitert, klagte den Schülern sein Leid auf hohem Niveau im Unterricht. Am Ende der Abizeit die Frage: »Kunze, was wollen Sie werden? Schriftsteller! Pss, ja, psychisch sind Sie ja nicht so ganz stabil.«
Übrigens: Seine schönste Eins bekam er von Lehrer Steinbrecher - einem seiner Deutschlehrer, von dem Kunze lernte, dass es einen Fehler gibt, den jeder Mensch begeht, der schreibt, wogegen man stets angehen muss; und was auch ihm nur teilweise gelingt. »Es ist immer ein Zeichen der Schwäche eines Autors, wenn er zu viele Adjektive verwendet. Und das macht aber so eine Lust, Dinge genauer zu beschreiben, und noch ein Adjektiv und noch eins dranzuhängen, um es noch genauer einzukreisen, und diese Lust muß man bekämpfen. Man sollte es immer versuchen, wenn man drei Adjektive verwendet, eins wegzulassen, und wenn man zwei verwendet, noch eins wegzulassen. Und das gelingt mir nicht immer, das ist eine meiner Schwächen. Das haben mir schon immer meine zumindest besseren Deutschlehrergesagt, und damit hatten sie bestimmt auch recht. Ich habe bei Herrn Steinbrecher vielleicht die schönste Eins meines Lebens bekommen. Der sagte: »Wissen Sie, Kunze, Sie haben das Thema völlig verfehlt, aber es ist leider trotzdem eine Eins. Nur eines muß ich Ihnen sagen« - und es war der einzige Lehrer, der mir das gesagt hat - »ich mag Ihren Stil ja nicht, aber er ist großartig!«
Nein, Heinz Rudolf Kunze war eigentlich kein Streber, machte aber ein sehr gutes Abitur, weil er bis auf Mathe alles konnte (»Das meiste fiel mir einfach zu«). Der damalige Direktor Dr. Georg Bernhard Scholz - ein einflussreicher, jahrzehntelanger Ratsherr der CDU in Osnabrück - hatte es sich nicht nehmen lassen, zu ihm ans Krankenbett zu kommen, um das Abiturzeugnis zu überbringen. Der Musterschüler war gerade erst von ei-ner Blinddarmoperation aus dem Krankenhaus zurückgekehrt und bekam hohen Besuch nach Hause. Diese enorme Geste erfüllte den SMVler und Dauer-Klassensprecher Kunze und seine Eltern mit Stolz ...
Seit seiner Osnabrücker Schulzeit kreuzen sich immer wieder die Wege auch mit einem anderen Gymnasiasten, den es später in die Juristerei und dann in die große Politik trieb, den amtierenden Ministerpräsidenten von Niedersachsen, Christian Wulff. Dieser beschreibt das aus seiner Sicht heute so:
»Bei jeder Begegnung mit Heinz Rudolf Kunze, bei jedem Austausch, jedem Kontakt, jedem Telefonat, war immer ganz große Hochachtung für das, was der andere in seinem Metier tut. Diese persönliche Zuneigung zu Heinz Rudolf Kunze hat sich bei mir in meinen Schulzeiten entwickelt. Er war älter, erging auf ein anderes Gymnasium, auf das Graf-Stauffenberg-Gymnasium, ich auf das Ernst-Moritz-Amdt-Gynmasium in Osnabrück. Beides waren quasi Reformgymnasien, neue Gymnasien, nicht mit so einer ganz großen Tradition wie traditionsreiche Gymnasien, etwa das Carolinum, das älteste oder Zweitälteste Gymnasium in Deutschland, wie Aachen, zur Zeit Karls des Großen gegründet, auf die wir beide aber nicht gegangen sind. Wir sind auf diese Reformgymnasien gegangen, die dafür ein freieres, liberales, politisch auch umkämpfteres Klima hatten ... Aber es waren beides Gymnasien, wo auch Politik eine Rolle spielte, wo sich politisch engagiert wurde. Ich habe heute für mich die Erklärung, dass das Interesse an Heinz Rudolf Kunze mit einem enormen Interesse an der nationalsozialistischen Vergangenheit zu tun hat, am jüdischen Leben in Osnabrück, mit der Synagoge, mit Dokumentationen, welche Häuser, welche Firmen gehörten Juden usw. Ich habe erst sehr viel später erfahren, dass Heinz Rudolf Kunze dieses Thema genauso bewegt hat. Vorher habe ich nur die Lieder gehört, die Texte über Nürnberg, über die monströse Architektur. Das war das, was mich am meisten an einem deutschen Liedermacher in jungen Jahren angesprochen hat. Da bemerkte ich eine ganz starke Individualität, eine ganz starke Persönlichkeit bei Heinz Rudolf, der sich da wirklich selber abarbeitete und sich Gewissheit verschaffte. Ich glaube, darin liegt eine große Parallele zwischen Heinz Rudolf Kunze und mir, dass wir auf der Suche waren, und dass wir uns damit beschäftigt haben, dass wir historisch interessiert waren, zurückzuschauen und zu fragen, was kann man für die Zukunft lernen? Und ich bin in die CDU gegangen und habe mich engagiert, und er ist in die SPD gegangen oder SPD-Aktivist geworden. Das spielt aber nicht so die Rolle, das hat auch persönlich nie die Rolle gespielt...«
Was aus der Schulzeit auf jeden Fall blieb und das spätere Germanistik-und Philosophiestudium mitprägte, war eine unverbrüchliche Liebe zu Sir William Shakespeare. Bei seiner überaus erfolgreichen Musicalversion des »Sommernachtstraums« hatte er nicht nur seine Mutter als großen Fan ...
Eine Mischung von Schriftsteller Peter Handke und Musiker Pete Towns-hend in einer Person - das wäre es gewesen, die Formel seines Lebens - eine Art roter Faden oder Lebenslinie. Und das geteilt mit den gemeinsamen Freunden. Eine größere Freude konnte es damals nicht geben.
Der amerikanische Erfolgsautor Robert Fulghum hat sein Haus direkt neben der Orthodoxen Akademie Kreta. Er will gerade Wäsche in die Reinigung bringen, als ich ihn treffe, anspreche und um einen Termin bitte. Stichwort: Biographie.
Es kommt zu einer Begegnung. Ich zeige dem ehemaligen unitarischen Geistlichen die gebundene Ausgabe von Kunzes »Vorschuß statt Lorbeeren«, und er ist von der Aufmachung und der beigefügten CD begeistert. Mit leuchtenden Augen trägt er das Körbchen mit einer Manuskriptkiste in rotes Tuch gehüllt auf den Freisitz und gibt mir Nachhilfeunterricht im Bücherschreiben.
Fulghum spricht über seine Arbeitsmethode: »Wait for the right pitch, don’t try to hit every ball.«Der Autor aus der Bundesliga der Literatur weiß, wovon er spricht. Seine Bücher haben Millionenauflage. Er schreibt zuallererst für sich selbst, dann für andere. Früher sei er einmal aus Zeitgründen nicht dazu gekommen, sich als Pfarrer auf eine Predigt vorzubereiten. Er sagte das seiner Gemeinde ganz offen und meinte, er könne aber ein wenig Step tanzen und machte es vor. Gesagt, getan - die Gemeinde gab ihm stehenden Applaus. Die Aufrichtigkeit des Predigers wird ebenso vom Publikum gewürdigt wie der Frontmann, den sie liebt und wertschätzt.
»I have an idea if I were in your shoes«, sagte er zum spannenden Vorhaben, ein Buch über einen zeitgenössischen berühmten Rockpoeten zu schreiben. Wenn ich als Pfarrer das Vertrauen von Heinz Rudolf Kunze bekäme, sei es nicht nur eine besondere Ehre, sondern auch das Zutrauen, die Dinge aus meiner Sicht zu beschreiben. Als Autor habe der Biograph das Recht, in dem Buch vorzukommen. Jenseits einzelner Details müsse das Nachdenken über die vorgestellte Person die Bedeutung seines Lebens und Werkes offenlegen, eine Kunze-Exegese in Auszügen bieten und einen »Schlüssel« zum Verständnis anbieten. Als ich Robert erzähle, dass Heinz für mich prophetische Züge trage, verlässt er den Kaffeetisch und hängt ein Bild aus seinem Arbeitszimmer ab, das den lachenden Zimmermann Jesus mit kräftigen Händen zeigt...
Auch über Bob Dylan gäbe es bereits Versuche, seine Theologie, Ethik oder Philosophie zu beschreiben. Natürlich würde ich mich auf ein Minenfeld begeben, da der Biographierte schließlich noch am Leben sei. Es dürfe aber nicht darauf ankommen, Gefälligkeiten aneinanderzureihen, dafür sei das Leben tiefer und weiter.
Der music man Kunze, mutierter Germanist und Philosoph, zieht viele mit seiner Musik in den Bann. »Wenn du nicht wiederkommst, oooh, ohoh-oho ...«, rufen seine Zuhörer, wenn er die Bühne verlassen hat. In einer ganz eigenen Mischung aus kontrollierter Ekstase und lustvoller Selbstentsagung entfacht Kunze ein Bühnenfeuer, das im Herzen der Zuhörer landet. Jedes Mal aber, wenn man das Gefühl hat, jetzt dürfte die Coda unendlich weitergehen, setzt er der Faszination preußisch korrekt ein Ende. Wenn es am schönsten ist, soll man aufhören, hätte mein verstorbener Vater gesagt. Etwa bei »Heul’ mit den Wölfen«, ohne Ende könnte das weitergehen. Tut es aber nicht. Und das ist typisch Kunze. Der Steuermann weiß in dem Moment genau, was er tut. Er möchte keinen falsch verstandenen Personenkult. Ihm kommt es auf die Sache an. Er gibt Zeit und Raum, sich frei zu dem zu verhalten, was er anbietet. Aber er nuckelt sein Publikum nicht aus.
Und dann ist da der Poet Kunze, der alles, was sich reimt und nicht reimt im Leben, zur Sprache bringen kann. Bei seiner Wahrnehmung von Welt ist er selektiv und präzise. Da macht ihm so schnell auch kein Zeitgenosse deutscher Zunge etwas vor. Wer genauer hinhört und liest, erkennt freilich, dass er nicht nur nicht bei dem Feuerwerk sprühender Gedanken mitkommen kann, sondern in geduldigem Nachwandern der oberirdisch von ihm gegrabenen Gänge eines immer wieder finden kann: Anstiftung zum Lesen, zu eigener Lektüre.
Seine Art und Weise, Texte zu tilgen, zu verzerren oder zu generalisieren, um Wirklichkeit treffend und erhellend zu vergegenwärtigen, mit Wortneuschöpfungen wie ein Senkblei neue Tiefen des Verstehens auszuloten, bürgt für Qualität. Kunze verleiht Sprache und Verstehen dem, der vielleicht nicht so präzise reden oder schreiben kann. Gute Literatur lässt bei Heinz Rudolf Kunze unbedingte Freude aufkommen. Dabei geht es HRK nie um die Zurschaustellung, sondern um Textfluss, Klarheit und Verstehen.
Was also macht HRK zum Propheten?
Ein Lieblingsplatz könnte der Galgenberg aus Led Zeppelins »Gallows Pole« sein. Unablässig fragt er, was kann ich meinem Nächsten zu denken geben, ihm oder ihr sagen, sie oder ihn fragen, damit dieser Mensch dem Henker entgeht. Unablässig und nicht selten vergeblich warnt er seine Zeitgenossen vor den Fallen, die das Leben stellt. Es gilt, das Schrecknis der eigenen Endlichkeit zu verringern, anzunehmen, das Hier und Jetzt aus
der Schlinge zu ziehen, aus dem Verrat, aus dem Dickicht des Lebens und so der Sprachvergiftung in der Innenwelt zu entkommen. Ich höre ihn den Sensenmann in uns und um uns herum bitten und anklagen: Henker, Henker, warte noch einen Augenblick, ehe es den Bach runtergeht.
Kunze denkt von dem im Deutschen so seltenen Futur II und dem zu Unrecht verachteten Konjunktiv her. Möglichkeit und Wirklichkeit verzahnen sich in seiner Betrachtungsweise.