Der Tag, an dem Bernd Vogel die wirkliche Welt verlassen wird, beginnt vergleichsweise normal. Am 27. Februar 1990, einem Dienstag, reißt ihn früh am Morgen ein Alptraum aus dem Schlaf. Er sitzt aufrecht in seinem Bett, die Augen weit aufgerissen, kalter Schweiß klebt auf seiner Haut, sein Pulsschlag dröhnt in seinem Kopf, schnell und hart wie nach einem Tausendmeterlauf. Männer ohne Gesichter, ganz in Schwarz gehüllt, haben ihn verfolgt in diesem Traum, haben ihre Klauenhände nach ihm ausgestreckt. Sind immer näher gekommen, so nah, dass er sich nur noch in das Aufwachen flüchten konnte. Eine Flucht, die ihm in den wahnverlorenen Wochen, die nun folgen werden, nicht mehr gelingen wird.
Die Realität seines Zimmers ist nur unwesentlich angenehmer. Das Laken, auf dem er schläft, hat er seit Wochen nicht gewechselt, und die Bettdecke ist voller Brandlöcher. In der Wohnung liegen dreckige Wäsche und Plastiktüten voller Müll, der Teppichboden ist mit Wein und Bier getränkt. Auf die Wände im Wohn-und Schlafzimmer hat Bernd großflächige Bilder in grellen Farben gemalt - vier Schlangenköpfe in rot und grün, mit scharfen Zähnen in aufgerissenen Mäulern, die aus einem Käfig drängen, und eine silberne Spinne im Netz vor einem blutroten Hintergrund. Die Spinne nagt an einem Hanfblatt. Die Bilder hat Bernd im vergangenen Jahr gemalt, nach seinem Umzug von Hannover nach Berlin. Mittlerweile hasst er sie, sie ängstigen ihn. Aber er ist zu träge, sie zu übermalen.
Er stapft in sein Badezimmer. Kaltes Wasser in seinem Gesicht vertreibt die letzten Bilder des Albtraums. Am vergangenen Abend hat er einen halben LSD-Trip eingeworfen, dazu eine Menge Haschisch geraucht. Das hat er auch an den Abenden zuvor getan. Sobald die Wirkung der Droge einsetzte, hat er das Neue Testament und die Schriften des Autors Carlos Castaneda studiert. Und wie im Fieber Gedichte geschrieben, Stunde um Stunde, bis in den frühen Morgen. Er schläft häufig erst kurz vor Morgengrauen ein, bald darauf schrillt der Wecker und treibt ihn zur Arbeit. Und nach Feierabend beginnt es von vorn. Seit Wochen schon schläft er nur wenige Stunden in der Nacht, auch wenn ihn keine Alpträume umtreiben.
Seine Zweizimmerwohnung liegt im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Der ehemalige Grenzübergang Moritzplatz ist nur wenige hundert Meter entfernt. Trotzdem hat Bernd nichts mitbekommen vom Fall der Mauer, der Aufregung und Euphorie der Wende. Die Mauern, die in seinem Inneren eingestürzt sind, bedeuten ihm so viel mehr als alle Grenzen dieser Welt. Er nimmt nur die Heerscharen von gaffenden Touristen auf der Straße wahr. Für ihn sind sie Eindringlinge, die ihn bedrohen, den Fluss seiner Gedanken stören. Bernd hat kein Interesse mehr an seiner Umgebung, seiner Wohnung, dem Müll, den Menschen auf der Straße.
Vor einigen Monaten, als die BEWAG die Stromlieferung für seine Wohnung eingestellt und die Deutsche Bundespost sein Telefon stillgelegt hat, weil er mit den Rechnungen zu lange im Verzug war, hat ein Freund ihm eine Stellung als Maler und Lackierer besorgt. Die Arbeit ödet ihn an. Sie ist nicht mehr als eine unangenehme Unterbrechung des Drogenrauschs. Immerhin kann er jetzt seine Rechnungen zahlen.
Direkt neben der Wohnungstür hängt ein Poster von Marius Müller-Westernhagen. Seine Lieder bieten Bernd Zuflucht, er kennt die Texte auswendig. In den vergangenen Wochen ist er mehr und mehr zu der Überzeugung gelangt, dass Marius ein Erleuchteter ist. Und mittels seiner Texte, häufig von Wissen und Weisheit durchdrungen, spricht der Sänger zu ihm, teilt ihm, und nur ihm, seine Erkenntnisse mit. Da ist Bernd ganz sicher. Vor einigen Wochen hat Marius ihm bei einem Konzert in Hannover zugezwinkert.
Bernd feuert den Kohleofen an, dann geht er in die Küche, nimmt einen tiefen Schluck aus der Rotweinflasche auf dem Tisch, übrig geblieben von der Nacht zuvor. In der Spüle und auf dem klebrigen Linoleum dutzende leerer Flaschen. Er sucht im Aschenbecher nach Zigarettenstummeln, bröselt den übrig gebliebenen Tabak heraus und schüttet die Reste auf einem Zigarettenpapier zusammen, krümelt etwas Haschisch hinzu und dreht einen Joint, inhaliert den Rauch mit tiefen Zügen. Wie ein Zündfunke den Sprengsatz aktiviert das Haschisch das LSD in seiner Blutbahn. Mit dem Joint in der einen Hand und der Flasche Rotwein in der anderen geht er in seiner Wohnung auf und ab. In seinem Schlafzimmer steht ein Spiegel, zwei Meter hoch. Bernd bleibt davor stehen, mustert sein Gesicht. Riesige, schwarze Pupillen, die das Blau seiner Augen beinahe völlig ausfüllen, das Gesicht unrasiert, bleich und eingefallen, die Wangenknochen treten scharf hervor. Er zieht die Unterhose aus und das T-Shirt, in dem er geschlafen hat. Betrachtet seinen nackten Körper. Er ist 1,93 Meter groß und so abgemagert, dass sich die Rippenbögen unter der Haut abzeichnen. Seine Fingerkuppen sind gelb vom Nikotin, die Nägel hat er bis auf das Fleisch abgekaut. Er ist zwanzig Jahre alt und sieht aus wie ein Wrack. Der Kerl da im Spiegel ist ein alter Mann.
Plötzlich beginnt der alte Mann im Spiegel zu reden. »Sieh dich an, Bernd«, sagt er. Bernd hört die Stimme, aber die Lippen im Spiegel bewegen sich nicht. Bernd starrt sein Spiegelbild an. Das Gesicht im Spiegel verwandelt sich. Jetzt trägt es die Züge seines Vaters. Sein Vater, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, der die Familie verließ, als Bernd zehn war, spricht zu ihm.
»Aber ich lebe noch«, sagt Bernd zu dem Gesicht im Spiegel.
»Ja, du lebst«, antwortet die Stimme mit dem Gesicht seines Vaters. Laut wie Donner hallen die Worte durch die Wohnung.
»Und du wirst berühmt!«
Bernd atmet schwer.
»BERÜHMT!!« donnert die Stimme.
Bernd bricht zusammen, windet sich weinend und zitternd auf dem Boden. Es ist der Moment, an dem er einen Pakt mit dem Schicksal schließt. Von diesem Moment an ist die Welt voller Zeichen, die ihm den Weg weisen. Sein ganzes bisheriges Leben, begreift er, während er sich auf dem Boden wälzt, hat ihn zu diesem Punkt geführt. Es ist der Moment, in dem Bernd sich aus der Realität verabschiedet.
Der Himmel über Hannover sieht nicht aus wie gemalt. Eher wie von einem findigen Programmierer am Computer animiert -graue Gewitterwolken türmen sich in Schichten vor einem zart blau leuchtenden Himmel, sie haben klar umrissene Konturen und wirken, als würden sie leuchten. Ein Arbeiterviertel am Rand der Stadt. Der dunkelrote Backsteinbau aus den dreißiger Jahren sieht so aus wie das Haus links daneben und das auf der rechten Seite. Die Mauern scheinen jeden Sonnenstrahl, der seinen Weg durch die Wolken findet, zu absorbieren.
Der junge Mann steht in der Tür zu seiner Wohnung, hält den Griff fest umklammert, als würde er Halt suchen. Er ist groß und breitschultrig, der Flur in seiner Wohnung ist eng und die Decke niedrig. Der Mann hält Kopf und Schultern leicht gebeugt, sein Händedruck ist vorsichtig, sein Lächeln scheu und freundlich. »Schön, dass Sie da sind«, sagt er. »Als ich meiner Mutter erzählt habe, dass wir uns treffen, hat sie gedacht, ich würde wieder an Wahnvorstellungen leiden und wollte mich schon in eine Klinik einweisen. Zum Schluss war ich mir selbst nicht mehr ganz sicher, ob Sie tatsächlich kommen.«
Vor einigen Monaten hatte Bernd Vogel mir ein 140-seitiges Manuskript geschickt, in dem er von seinen durch Drogen ausgelösten Psychosen erzählt. »Ihnen hat das Schreiben das Leben gerettet«, hieß es in dem beigelegten Brief, »mich rettet es über jeden Tag. Jede Zeile bringt mir ein kleines Stück Tagesstruktur. Sehr wichtig für einen Psychotiker. Außerdem bewahre ich meine Traumwelt, solange ich schreibe.«
Bernd Vogel ist heute 36 Jahre alt und seit drei Jahren Frührentner. An fünf Tagen in der Woche arbeitet er als Kurierfahrer für eine Spedition, liefert Autolacke aus, jeweils drei Stunden, und verdient 340 Euro im Monat zusätzlich zu seiner Rente. Seine Zweizimmerwohnung ist aufgeräumt und sauber. Im Schlafzimmer steht ein Schreibtisch mit einem alten Computer, daneben das Bett, frisch bezogen. An den Wänden, die in hellen Gelb- und Blautönen gestrichen sind, hängen zahlreiche Mützen und Hüte, dazwischen Bilder, augenscheinlich selbst gemalt und sehr bunt. »Die Hüte hat meine Ex-Freundin entworfen, sie ist Hutmacherin«, sagt Bernd. »Die Bilder hat ein Freund aus der Psychiatrie gemalt.« Auf einem großen Tisch im Wohnzimmer kunstvoll gestaltete Fotoalben, aus handgeschöpftem Papier und Seide. Wann immer seine Krankheit es zulässt, fertigt Bernd solche Alben und verkauft sie auf Kunsthandwerkermärkten. Trotz der Bilder und hellen Wände wirkt die Wohnung eng und ein wenig bedrückend. Vielleicht liegt es an den dunklen Möbeln, daran, dass nur wenig Licht durch die Fenster fällt.
»Meine Diagnose lautet schizoaffektive-paranoide Psychose«, sagt Bernd. »Außerdem bin ich manisch-depressiv. Meine erste Psychose hatte ich mit zwanzig, Haschisch und LSD waren der Auslöser.« Psychologen nennen das eine Mehrfach-Diagnose. Die Vermischung von verschiedenen Krankheitsbildern wie Manie, Depression, Paranoia und Schizophrenie gilt als besonders schwierig zu behandeln.
Seit mehr als anderthalb Jahrzehnten bestimmt die Krankheit Bernd Vogels Leben. Mittlerweile, sagt er, habe er gelernt, mit ihr zu leben. Und sein Umfeld ebenso. Sein ältester Freund hat alle Stationen seiner Krankheit miterlebt, er hält nach wie vor zu ihm. Ebenso seine Ex-Freundin, vor fünf Jahren haben sie sich getrennt, nach neun Jahren Beziehung. Auch seine Mutter besucht ihn regelmäßig, hilft ihm mit dem Haushalt.
Wenn er beginnt, in die Isolation abzutauchen, sind es oft seine Freunde und Familienangehörigen, die ihn halten. Und wenn die Symptome stärker werden, einen neuen Schub ankündigen, sucht er Hilfe bei seinem Psychiater oder in der Tagesklinik, in der er schon viele Male Patient war. Eine Ursache für seine Psychosen, haben die Ärzte festgestellt, liegt in einem chemischen Ungleichgewicht in seinem Gehirn, einer Stoffwechselstörung. Dopamin, der Botenstoff, der bei gesunden Menschen ausgeschüttet wird, wenn sie verliebt sind oder hoch erregt, wird bei Bernd Vogel oft völlig unkontrolliert freigesetzt und löst Wahnvorstellungen aus, die für ihn ganz real wirken. »Ich kann dann nicht mehr zwischen Halluzination und Wirklichkeit unterscheiden«, sagt er. »Das einzige wirksame Mittel dagegen sind Medikamente.«
Drei verschiedene Mittel muss er jeden Tag einnehmen, gegen die Manie, die Depressionen, die Psychose. Für akute Notfälle steht ein viertes in seinem Medikamentenschrank bereit. Die Schwierigkeit liegt in der optimalen Einstellung - so hoch zu dosieren, dass die Symptome seiner Krankheit verlässlich unterdrückt werden, und so niedrig, dass er nicht den ganzen Tag teilnahmslos wie ein Gemüse in der Ecke sitzt. Diese Balance gelingt nicht immer. Manchmal fühlt Bernd sich hohl, innerlich ausgedörrt. Er hasst diesen Zustand, er fühlt sich dann wie eine lebende Leiche. Dann spielt er mit dem Gedanken, die Dosis zu verringern. Wissend, dass er so einen erneuten Schub riskiert.
In den Monaten, in denen die Stimmen in seinem Kopf schweigen und die dunklen Schatten verblassen, versucht er, Strukturen für seinen Alltag zu finden. Donnerstags spielt er Badminton, freitags trifft er sich mit drei Freunden, die er in der Psychiatrie kennen gelernt hat, zum Kartenspiel. Und jeden zweiten Samstag besucht ihn seine Mutter. Solche festen Termine sind wichtig für ihn. Wie Pfähle ragen sie aus dem Meer der Stunden und Minuten heraus, Pfähle, an denen er Halt und Orientierung findet.
Bernd Vogel hat Kaffee gekocht, auf dem Tisch steht eine Schüssel mit Keksen. Der Gast soll sich wohl fühlen, alles soll so normal wie möglich sein. Normalität herzustellen ist das Wichtigste in Bernd Vogels Leben. Und häufig das Schwierigste, trotz der Medikamente.
Er zündet sich eine Zigarette an. Eigentlich, sagt er, habe er das Rauchen vor Monaten aufgegeben. Aber wenn er aufgeregt ist, braucht er das Nikotin. Drogen nimmt er schon seit einigen Jahren nicht mehr. »Ich kann nicht sagen, ob die Psychose auch ohne Drogen ausgebrochen wäre«, sagt Bernd. »Möglich ist das natürlich.« Die Voraussetzungen für eine Psychose sind im neuralen Netz des Gehirns und im Stoffwechsel angelegt, bedingt durch genetische Faktoren und Erfahrungen in der Kindheit. Aber Drogen sind häufig der Auslöser für einen Schub. »Haschisch und LSD haben bei mir den Schalter umgelegt und meine Wahnvorstellungen eindeutig beeinflusst und intensiviert«, sagt Bernd. »Jede meiner fünf Psychosen ging mit exzessivem Drogenkonsum einher. Wenn ich heute einen Joint rauchen würde, wäre die Gefahr sehr groß, dass ich mich wieder in einen Wahn hineinsteigere. Nach einem LSD-Trip würde ich mit absoluter Sicherheit wieder in der Psychiatrie landen.«
Er erzählt sprunghaft und entschuldigt sich ständig dafür. Setzt sich unter Druck. Endlich jemand da, der sich für seine Geschichte interessiert, sie ernst und wichtig zu nehmen scheint. Wenn er redet, wird er schnell kurzatmig. Atmet flach und gepresst, öffnet den Mund dabei kaum. Wenn er einatmet, entsteht ein leichtes Zischen, wie von einem Wasserkessel. Das Zischen ist besonders laut, wenn er von den Depressionen und der Paranoia redet. Wenn er ein wenig zur Ruhe kommt und seine Züge sich entspannen, sieht sein Gesicht freundlich und sympathisch aus. Trotz seiner Größe und seiner breiten Schultern wirkt er sensibel und verletzlich, ein kleiner Junge, der den Körper eines Mannes trägt wie einen Anzug, der ihm einige Nummern zu groß ist.
Bernd wird im Frühjahr 1969 in einem kleinen Dorf bei Hannover geboren, wächst dort zusammen mit seiner zwei Jahre älteren Schwester auf. Sein Halbbruder, neun Jahre älter und Sohn seines Vaters aus erster Ehe, lebt bei den Großeltern. Bernds Familie wohnt in einer Vierzimmerwohnung im ersten Stock eines umgebauten Bauernhauses, hinter dem Haus ein geräumiger Hof. Als Bernd sechs Jahre alt ist, zimmert sein Vater für ihn einen Hochstand. Von dort aus kann er die Wiesen und Gärten der Nachbarn übersehen.
Im Sommer lässt Bernd gemeinsam mit seinem Vater Drachen steigen, die sie selbst gebaut haben, und tobt mit seinen Freunden durch den nahegelegenen Wald, spielt Cowboy und Indianer. Die Welt ist ein großer Spielplatz. Abends sitzt sein Vater an seinem Bett und erzählt ihm Märchen und Abenteuergeschichten. Bernds Vater erfindet viele dieser Geschichten während des Erzählens, manchmal benutzt er Versatzstücke von Büchern oder Filmen, schmückt sie aus, spinnt sie weiter. Seine Fantasie scheint grenzenlos.
Bernd liebt diese Abende, das Halbdunkel des Zimmers erfüllt von Drachen, Feen, Hexen, Rittern und Piraten. Eingerollt in seine Decke, die Stimme des Vaters im Ohr, fühlt er sich geborgen. Oft nimmt er die Geschichten mit in den Schlaf, wenn das Schrillen des Weckers ihn am Morgen aus dem Schlaf reißt, klammert er sich an diese Träume, kämpft gegen das Erwachen.
Dass sein Vater zahlreiche Affären hat, Alkoholiker ist und spielsüchtig, davon ahnt Bernd noch nichts, obwohl er ihn häufig losschickt, um Bier zu holen. Die Flaschen muss Bernd in den Keller schmuggeln, wo sein Vater eine Werkstatt eingerichtet hat, die Mutter darf nichts merken. Als Belohnung bekommt Bernd ein Malzbier. Aufregend ist das, ein wenig wie die Gute-Nacht-Geschichten am Abend. Wenn sein Vater sich nachts aus dem Haus schleicht, an der nächsten Telefonzelle ein Taxi bestellt und ins Spielkasino fährt, schläft Bernd. Alkoholismus, Spielsucht - exotische Worte, deren Bedeutung Bernd auch nicht versteht, als er sie mit zehn Jahren zum ersten Mal hört.
Bernds Vater arbeitet bei der Landesversicherungsanstalt. Als die Buchführung auf Computer umgestellt wird, manipuliert er die Daten. Er unterschlägt Gelder in fünfstelliger Höhe, betrügt seinen Arbeitgeber und die Rentner des kleinen Dorfes, seine Nachbarn. Sogar seine eigene Mutter und seine Schwiegermutter verlieren durch ihn mehrere zehntausend Mark. Am 2. Novem-ber 1979 schreibt »Bild«: »LVA-Amtmann prellte Putzfrau um 42 000 Mark«, in riesigen Buchstaben, über eine komplette Seite.
In der folgenden Nacht verschwindet Bernds Vater aus der gemeinsamen Wohnung, lässt die Familie zurück. Die Mutter versucht, ihn zur Rückkehr zu bewegen. Sie will ihm verzeihen, einen neuen Anfang wagen, retten, was zu retten ist, die Ehe, die Familie. »Es ist vorbei«, sagt ihr Mann, als sie sich zu einem klärenden Gespräch treffen. »Ich liebe dich nicht mehr. Es gibt eine andere.« Die Narben bleiben lange.
Bernd begreift kaum, was um ihn herum geschieht. Sein Vater ist weg, so viel ist ihm klar. In seinem Leben klafft jetzt ein Loch, von dem er nicht weiß, wie er es füllen soll. Auch die Beziehung zu seiner Mutter wird schwieriger. Sie ist allein und völlig überfordert, ihr Lebensentwurf gescheitert. Sie hat Angst vor der Zukunft. Jeder im Dorf weiß von ihrem Unglück, sie fühlt sich gedemütigt, schämt sich, nicht nur für ihren Mann - auch sie hat versagt, sonst wäre die Ehe nicht an Alkohol, Spiel und anderen Frauen zerbrochen. Geld bekommt sie von ihrem Mann keines. Da sie die beiden Kinder alleine durchbringen muss, arbeitet sie wieder ganztags als Angestellte bei einer Versicherung. Zu Hause versucht sie, mit Strenge das Vakuum zu füllen, das ihr Mann hinterlassen hat.
Sie schreit die Kinder an, wird häufig hysterisch. Vor allem mit ihrem Teenagersohn kommt sie nicht zurecht. Ein versponnener Junge, der sich in Tagträume flüchtet und nicht zu erreichen ist - so war er schon immer. Aber jetzt wird er noch verschlossener und aufsässig. Er vernachlässigt seine Pflichten im Haushalt und hält sich nicht an die Ausgangszeiten. Nie widersetzt er sich offen, stattdessen stiehlt er sich heimlich aus dem Haus und ignoriert ihre Anweisungen. Strafen lässt er stoisch über sich ergehen, stellt sie ihn zur Rede, schweigt er. In der Schule gehört er zu den Schlechtesten, er vernachlässigt seine Hausaufgaben und auf Fragen der Lehrer reagiert er oft gar nicht. Dass er große Schwierigkeiten hat, sich zu konzentrieren, erzählt Bernd weder seiner Mutter noch den Lehrern. Wenn er versucht, dem Unterrichtsstoff zu folgen, verliert sich die Stimme des Lehrers nach kurzer Zeit in der Ferne, Zahlen, Daten, Theorien verrinnen in seinem Gedächtnis wie Sand zwischen seinen Fingern.
In seine Tagträume mischen sich immer häufiger religiöse Fantasien, obwohl seine Eltern nie viel Wert auf Kirche und Glauben gelegt haben. Wie alle Kinder des Dorfes wird Bernd zur Konfirmation angemeldet, aber für sonntägliche Kirchgänge und Tischgebete gibt es keinen Platz in seiner Familie. Trotzdem setzen sich Bilder von Verdammnis und Höllenfeuer in seinem Kopf fest, immer häufiger betet er im Stillen: »Lieber Gott, schick mich nicht in die Hölle.« Vielleicht waren es ja seine Sünden, die den Vater vertrieben haben. Vielleicht hat er es ja verdient, verlassen zu werden.
Bernd treibt ziellos durch die Tage. Mit dreizehn Jahren beginnt er, Zigaretten zu rauchen, Bier zu trinken und in den Läden des Dorfes Schokoriegel zu stehlen. Er fühlt sich zerrissen, klammert sich noch ängstlich an die Reste seiner idyllischen Kindheit und sucht gleichzeitig nach einer Zukunft, einem Weg, erwachsen zu werden. Ohne zu wissen wie das gehen soll, aller Vorbilder und Leitfiguren beraubt. Nachmittags spielt er im Sandkasten hinter dem Haus mit Modellautos, abends trifft er sich mit älteren Jungs auf Spielplätzen und Baustellen, raucht Zigaretten und trinkt Bier. Das Bier schmeckt ihm nicht besonders, aber er mag die wohlige Stimmung, in die ihn der Alkohol versetzt.
Manche der anderen Jungs kiffen, auch sein älterer Halbbruder kifft häufig, nimmt LSD und andere Rauschmittel. Unter Drogeneinfluss benimmt er sich so merkwürdig, redet so wirr, dass er seinem jüngerer Bruder Angst einjagt.
Seinen Vater, der ohne Haftstrafe davongekommen ist, besucht Bernd häufig. Dann ist für wenige Stunden alles wie früher. Er sehnt diese Treffen herbei, wie gerne würde er beim Vater bleiben! Aber seine Mutter hat das Sorgerecht. Die Stunden mit dem Vater sind kostbar und immer zu kurz.
Einige Jahre später, er ist jetzt sechzehn, steht Bernd an einem frühen Abend vor der Tür eines Mehrfamilienhauses am Stadtrand von Hannover. Dort wohnt sein Vater mit seiner neuen Ehefrau. Bernd hat ihn seit längerer Zeit nicht gesehen. Die Anrufe seines Vaters sind im vergangenen Jahr immer seltener geworden, irgendwann sind sie ganz ausgeblieben. Bernd vermisst den Vater, also hat er nach der Schule beschlossen, ihn spontan zu besuchen. Bernd klingelt. Die Stimme des Vaters kommt aus der Gegensprechanlage.
»Ja, hallo?« fragt er.
»Hallo Papa, ich bin’s«, antwortet Bernd.
»Was willst du denn hier?« fragt sein Vater in scharfem Ton.
»Ich, ich wollte dich besuchen«, stammelt Bernd verunsichert.
»Du spinnst wohl, hier einfach so unangemeldet aufzukreuzen. Ich hab jetzt keine Zeit, geh nach Hause. Und mach das nie wieder!« Minutenlang steht Bernd wie eingefroren vor der Tür, Kopf und Körper fühlen sich taub an, am liebsten würde er sich übergeben. Er kann die Tränen nicht zurückhalten. Dreht sich um, schluchzend, läuft, immer schneller, weg, nur weg. Noch ahnt er nicht, dass diese Worte die letzten sein werden, die er von seinem Vater hört.
In den Wochen und Monaten, die folgen, wartet Bernd. Auf einen Brief, einen Anruf, irgendein Zeichen. Nichts geschieht. Schließlich hält er es nicht mehr aus. Er greift zum Telefon. »Dein Vater hat jetzt eine neue Familie«, sagt die neue Ehefrau des Vaters am anderen Ende der Leitung, »er hat keine Zeit mehr für euch. Lass ihn in Ruhe.«
Wenige Monate später, einem Freitagnachmittag, raucht Bernd seinen ersten Joint. Am Raschplatz hinter dem Hauptbahnhof in Hannover kauft er gemeinsam mit zwei Freunden von einem jungen Schwarzen Haschisch. Seine Freunde kiffen schon etwas länger, wenn sie berauscht sind, wirken sie entspannt und heiter. Bernd hat nicht viel zu lachen. Die Stimmung zu Hause ist immer angespannter geworden in den vergangenen Jahren. Wenn seine Mutter sich ganz besonders über ihn ärgert, sagt sie: »Du bist genau wie dein Vater!«
Auch seine Mutter hat wieder geheiratet. Mit seinem Stiefvater kommt es ständig zum Streit. Bernds Mutter schlägt sich dann allerdings meist auf die Seite des Sohnes. Das erzürnt ihren Mann noch mehr als der missratene Stiefsohn, der Streit zwischen den Eheleuten eskaliert.
Nach der Schule hat Bernd eine Ausbildung zum Maler und Lackierer begonnen. Eine anstrengende und monotone Arbeit, vor allem im ersten Lehrjahr - er baut Metallgerüste auf, fegt Räume aus und schleppt Farbeimer Treppen und Leitern hinauf. Nach der Arbeit dann trifft er seine Freunde.
An diesem Freitagnachmittag im Frühling siegen seine Neugier und sein Neid über die Angst. Er zieht an einem Joint. Nichts geschieht, er spürt keine Wirkung. Trotzdem lacht er mit, wenn seine Freunde lachen. Er will nicht außen stehen. Aber schon mit dem zweiten Joint wenige Tage später stellt sich die erhoffte Wirkung ein. Wohlige Entspannung breitet sich in seinem Körper aus, das Lachen befreit und schützt ihn, die öde Realität, sein stumpfer Job, die Streitereien zu Hause, der Schmerz, die Einsamkeit, nichts davon erreicht ihn mehr. Die Droge bietet ihm ein warmes, sicheres Nest. Bald kifft er täglich, den ersten Joint raucht er schon vor der Arbeit, nach Feierabend buddelt er mit seinen Freunden Erdlöcher im Waldboden, in denen sie ihr Haschisch rauchen.
An den Wochenenden, wenn er mit seinen Freunden durch die Diskotheken zieht, nimmt er manchmal Speed. Mit einem Mal fühlt sich der schüchterne, introvertierte Junge hellwach, selbstsicher und schlagfertig, spricht Mädchen an und genießt es, im Mittelpunkt zu stehen.
Mit neunzehn, nach zwei Jahren Lehre, kündigt sein Chef den Ausbildungsvertrag. In den letzten Monaten ist Bernd immer seltener zur Arbeit gekommen, auch das letzte Interesse an einer Ausbildung und einer gesicherten Zukunft hat er verloren. Wenige Monate später zieht er nach Berlin. Ralf, ein Freund aus Hannover, wohnt dort seit dem vergangenen Jahr, er arbeitet ebenfalls als Maler und Lackierer und sorgt dafür, dass Bernd in der Malerwerkstatt seines Chefs seine Ausbildung abschließen kann. Und er hilft Bernd, eine Wohnung zu finden. Endlich ist er fort aus dem kleinen Dorf, aus der Wohnung seiner Mutter. Wirklich zu Hause hat er sich dort längst nicht mehr gefühlt.
Und dennoch zieht es ihn immer wieder zurück. Die Abnabelung fällt ihm schwer. Jedes zweite Wochenende fährt er in den ersten Monaten nach Hannover, meist per Anhalter. Besucht dort seine Freunde, oft übernachtet er in der Wohnung seiner Mutter. An einem dieser Wochenenden lernt er auf einer Party Alexandra kennen. Sie ist drei Jahre jünger als er, ein hübsches, nachdenkliches Mädchen mit kurzen, rot gefärbten Haaren, das meist schwarze Kleidung trägt. Alexandra besucht auf Drängen ihres Vaters eine Bürofachschule. Doch sie ist unglücklich dort, träumt von einer kreativen Arbeit, Designerin vielleicht, zumindest aber Schneiderin. Bernd fasziniert sie sofort. Ein stiller, zurückhaltender Junge, der sich nicht in den Vordergrund drängt wie die anderen. Kein Angeber und Macho, sondern einer, mit dem sie reden kann, Stunde um Stunde. Vor allem einer, mit dem sie träumen kann. Sie verliebt sich Hals über Kopf in ihn. Bernd kann sein Glück kaum fassen. Bei ihr fühlt er sich aufgehoben, zu Hause.
Zurück in Berlin, weit weg von Alexandra, kifft er täglich. Ecstasy kommt dazu, später dann LSD und Pilze. Das ist noch besser als Haschisch. Nur wenn Alexandra bei ihm ist, wenn er an den Wochenenden zu ihr nach Hannover fährt oder sie ihn in Berlin besucht, drosselt er seinen Drogenkonsum. Sie nimmt keine Drogen, und Bernds Kiffer-Freunde in Berlin mag sie auch nicht besonders.
Bernds Reise in die Psychose, diese Reise, auf der er seinem Vater im Spiegel begegnen wird, beginnt an einem sonnigen Tag im Herbst des Jahres 1989. Zusammen mit drei Freunden, alle zwischen neunzehn und dreiundzwanzig Jahre alt, nimmt er zum ersten Mal Psylocybin - Pilze, die Halluzinationen auslösen, ähnlich dem LSD. Mit beinahe religiöser Ehrfurcht kaut er, die breiige Masse klebt an seinem Gaumen. Dann rauchen sie ihr Haschisch aus einer Wasserpfeife. Kurz darauf setzt die Wirkung der Pilze ein. Bernd fühlt sich leicht und gelöst, in Harmonie mit sich selbst und der Welt um ihn. Glücklich. Die vier fahren mit der U-Bahn an den Stadtrand. Die Luft ist mild und scheint im warmen Spätsommerlicht zu leuchten. Wenn er die Augen schließt, klingt das Rattern wie das Rauschen der Wellen an einem tropischen Strand. Allen Passanten, die ihm begegnen, lächelt er freundlich zu. Alle lächeln zurück.
»Ist das nicht herrlich?« sagt Bernd zu seinen Freunden. »So sollte es immer sein.« Er lächelt, dreht sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse, wie ein kleiner Junge. Er möchte die ganze Welt umarmen.
Sie wandern durch den Grunewald. Bernd meint über den weichen Waldboden zu schweben, manchmal kneift er sich ins Bein, damit der kurze Schmerz ihn auf die Erde zurückholt. Sonst würde er davonwehen. Der Wind streichelt seine Haut zärtlich wie nie eine Hand zuvor. Bernd umarmt Bäume, beobachtet Ameisen und folgt Schmetterlingen, die ihm den Weg weisen. Er lauscht auf die Stimmen der Vögel, sucht die Bedeutung jedes Trällerns und jedes Krächzens zu ergründen. Der Wald ist erfüllt von Geheimnissen und Zauberwesen, wie damals, als sein Vater ihm Gute-Nacht-Geschichten erzählt hat.
Am Ufer eines kleinen Sees, im Schatten eines Baumes, sinkt er ins Gras. Er ist wie der Baum über ihm und die Grashalme unter seinen Händen - tief verwurzelt in der Natur. Er spürt eine Wärme auf seiner Haut und tief darunter, eine Wärme, die ihn umhüllt und umfängt. Er schließt die Augen. Hinter seinen Lidern, das spürt er, wartet eine Welt auf ihn, die exotischer ist und bunter, als er es je für möglich gehalten hat.
»Das ist ein Omen«, sagt Karlo, einer von Bernds Freunden. Bernd öffnet die Augen. Hoch oben am Himmel kreist ein Mäusebussard, Karlo deutet auf den Vogel.
»Wieso soll das ein Omen sein?« fragt Bernd.
»Weil es keine Zufälle gibt«, antwortet Karlo. »Die Welt ist voller Zeichen, du musst nur lernen, sie zu erkennen. Dann wirst du begreifen.«
Bernd ist fasziniert. Will mehr erfahren. Karlo erzählt ihm mit Verschwörerstimme von den Büchern des amerikanischen Autors Carlos Castaneda, eines Mystikers, den die Hippies schon in den siebziger Jahren verehrten, von dessen Suche nach Erleuchtung, von indianischen Schamanen, die sich von Visionen leiten lassen, von Naturmagie und Drogenritualen, die helfen, die Schranken des Geistes zu überwinden und Weisheit bringen. Wege, den Tod zu besiegen und ewige Jugend zu erlangen. »Du musst deinen persönlichen Pfad finden«, sagt Karlo, »den Zeichen folgen, die deinen Weg bestimmen.«
Bernd taucht in diese Sätze ein, verliert sich darin. Denkt sie weiter. Es ist, als hätten die Worte seines Freundes eine Tür in seinem Kopf aufgestoßen: Ohne Pause stürmen Gedanken durch ihn, er ist erfüllt von Ideen, die in einem endlosen Stakkato aufblitzen, strahlend, majestätisch und schön wie Feuerwerkskörper, von Fantasien, die wild und frei wuchern, sich ineinander verschlingen. Er berauscht sich an der Aufruhr in seinem Kopf, seine Haut prickelt vor Aufregung.
Je weiter er sich von der Realität entfernt, desto näher fühlt er sich den Dingen und Menschen, die ihn umgeben. Er ist im Einklang mit sich und der Welt. Diesen Zustand will er für immer festhalten. Nie wieder aufwachen aus diesem Traum. Hier ist alles so viel aufregender. Hier steht er selbst im Mittelpunkt des Universums, fühlt sich bedeutend.
In den folgenden Monaten sucht er häufiger diesen Rausch, isst Pilze oder schluckt LSD-Trips. Alexandra trifft er immer seltener. Wenn sie ihn besuchen will, findet er Ausreden. Irgendwann nimmt er die Drogen täglich, meist abends in seiner Wohnung, wenn seine Arbeit in der Malerwerkstatt beendet ist. Nur in einer geringen Dosierung, damit er die Kontrolle nicht vollständig verliert und am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen kann. Dazu raucht er Joints und trinkt Rotwein.
Bernd vertieft sich in die Schriften von Castaneda, studiert das Neue Testament. Nach und nach erwacht in ihm die Überzeugung, ein neuer Messias zu sein. Der Gedanke nistet sich in seinem Kopf ein, wird größer und größer, alles beherrschend am Ende. Er, Bernd Vogel, ist derjenige, der die Menschheit befreien muss, sie auf den Pfad der Erkenntnis und des ewigen Lebens führen wird. Er ist der Auserwählte. Die Friedenstaube. Daran gibt es für ihn irgendwann keinen Zweifel mehr. Bald droht all das Wissen, das in ihm wächst, seinen Schädel zu sprengen. Er beginnt, Gedichte zu schreiben. Wie im Fieber, ein Vers nach dem anderen, er kann nicht aufhören damit. Die Worte drängen hinaus, als lebten sie. In wenigen Tagen entstehen hunderte Gedichte. Gott spricht aus diesen Versen. Sie werden das neue Evangelium sein. In diesen Gedichten offenbart sich der Sinn des Lebens, der Weg zur Rettung der Menschheit.
Aber immer wieder schlägt die Angst ihre Klauen in seinen Geist, wilde Verzweiflung packt ihn. Er fühlt sich verlassen, allein, all das ist zu viel für ihn, viel zu viel, zu groß, zu gewaltig. Wenn er scheitert, droht ewige Verdammnis. Er spürt, wie das Böse nach ihm greift, der Tod, das Entsetzen; das Gewicht seiner Verantwortung, der Schuld, die er auf sich geladen hat in all den Jahren, erdrückt ihn schier. Kälte kriecht in seinen Körper, Dunkelheit beschattet seine Augen. Er schluchzt, schreit, wimmert, krümmt seinen Körper zu einer Kugel, sein Herz rast vor Angst. Bis das Dunkel sich wieder lichtet und die Erleuchtung ihn fliegen lässt. In seinem Kopf geht es zu wie in einem Fernseher, und jemand Fremdes hält die Fernbedienung in Händen. Die Programme wechseln in rasend schneller Folge, die Bilder jagen sich und fließen ineinander.
Bernd taumelt zwischen manischer Euphorie und tiefster Depression. Er verbringt jede freie Stunde alleine in seiner Wohnung, eingesperrt in seine Fantasien, emporgerissen, niedergezwungen von den Kräften, die in seinem Verstand toben. Der Welt draußen stattet er nur Kurzbesuche ab. Weihnachten, Silvester, Neujahr, all das zieht an ihm vorüber, hat keine Bedeutung in seinem Universum. Sich zur Arbeit schleppen, vorgeben, an den banalen Verrichtungen und Gesprächen beteiligt zu sein, kostet ihn große Anstrengung. Seine Vernunft schläft nicht nur, sie fällt in ein Koma. Im Februar 1990 schließlich begegnet er seinem Vater im Spiegel. Die Ungeheuer, die jetzt geboren werden, vermag simples Erwachen nicht zu vertreiben.
»In meinen manischen Phasen fühle ich mich total euphorisch, alles ist großartig. Ich bin selbstbewusst, schlagfertig, mein Selbstbewusstsein kennt keine Grenzen«, sagt Bernd Vogel anderthalb Jahrzehnte später. »Ich brauche keinen Schlaf und keine Nahrung, bin voller Energie. Leider folgt auf so eine manische Phase fast immer finsterste Depression. Ich stürze aus dem Himmel in die Hölle - Schizophrenie, Wahnvorstellungen, optische und akustische Halluzinationen. Vor allem wahnsinnige Angst, Verfolgungswahn und schlimmste Paranoia.«
Bernd hat sich damals in die Manie und in die Psychose verliebt, wie zuvor in den Drogenrausch. Noch heute klingt er wehmütig, wenn er von dieser Erfahrung erzählt, so als würde er von einer verflossenen Liebe berichten. Der Abschied ist ihm schwer gefallen. »Manie«, sagt er, »ist pure Glückseligkeit. Besser als Drogen, besser als Sex. Diese Leichtigkeit des Körpers, die Klarheit des Geistes. Für diese Augenblicke war ich völlig im Einklang mit der Welt.« Eine Welt, zu der jedem anderen Menschen der Zugang verwehrt blieb. Von der Welt außerhalb seines Schädels war er völlig abgeschnitten, unerreichbar für die Menschen, die dort lebten.
Als sein Körper aufhört zu zittern, steht Bernd vom Fußboden auf. Die Worte seines Vaters hallen immer noch in seinen Ohren. Er wird also berühmt werden. Die Gewissheit erfüllt ihn mit nie gekannter Euphorie. Gleichzeitig ängstigt sie ihn. Er weiß, er muss sich auf den Weg machen. Jetzt sofort. Aber wo ist er, dieser Weg? Bernd schaltet das Radio ein. Es läuft »Sexy« von Marius MüllerWesternhagen. Ein Zeichen, das erste, viele weitere werden folgen. Er zieht sich an, geht in den Schreibwarenladen an der Ecke und kauft einen Füllfederhalter und teures Briefpapier. Zurück in der Wohnung setzt er sich an seinen Schreibtisch, wählt vier seiner Gedichte aus und überträgt sie in schwungvollen Buchstaben auf das Papier. Auf das Deckblatt schreibt er: »Gedichte eines Träumers, von B.V.« Er rollt die fünf Blätter sorgfältig zusammen und bindet einen Wollfaden darum. Dann fährt er zur Arbeit, die Stunden auf der Baustelle ziehen wie im Traum an ihm vorüber, er scheint zu bersten vor Energie, keine Anstrengung ist ihm zu viel.
Abends steht er vor der Deutschlandhalle, wartet auf Einlass. Der Ordner durchsucht ihn nach Waffen und findet die Schriftrolle. »Was ist das?« will er wissen.
»Was Geschriebenes«, antwortet Bernd. Der Ordner ist nicht derjenige, dem er sich anvertrauen will.
»O.K.«, sagt der Ordner und winkt ihn durch.
Bernd kämpft sich durch die Menge, wenige Meter von der Bühne entfernt findet er seinen Platz. Nicht einen Platz, diese Stelle, genau dort, ist für ihn bestimmt. Das fühlt Bernd. Er fischt einen Joint aus seiner Socke, den er zu Hause gedreht hat. Zündet ihn an. Ein junger Mann mit langen Haaren und zerrissener Jeans neben ihm lächelt ihn an. »Der Erste, der von meinen Gedichten erfahren hat«, denkt Bernd. Der Erste, der erfüllt von freudiger Erwartung der Erlösung entgegenfiebert. Abertausende werden folgen.
Marius Müller-Westernhagen betritt die Bühne. Bernds Seelenbruder, mit ihm verbunden im Geiste. Bernd singt jede Textzeile mit, wiegt sich zur Musik, malt mit den Händen Melodiebögen in die Luft. Sieht Marius dabei unentwegt in die Augen, lässt ihn spüren, dass er dort ist, ihn versteht. Bernd weiß, dass Marius seine Signale begreift. Der Sänger schaut häufig in seine Richtung, scheint seine Lieder nur an ihn zu richten. Manchmal sieht es für Bernd so aus, als würde Marius über der Bühne schweben.
Marius singt »Sexy«. Bernd schließt die Augen, sein Kopf nickt leicht im Takt der Musik. Als das Lied vorüber ist, erlischt das Licht im Saal. Auf dieses Zeichen hat Bernd gewartet. Mit Schwung wirft er seine Schriftrolle in Richtung Bühne. Als das Licht zu Beginn des nächsten Stückes wieder aufflammt, sieht Bernd, dass seine Gedichte genau zu Füßen des Sängers gelandet sind.
Der reguläre Teil des Konzertes ist vorüber, die Musiker verlassen die Bühne. Marius hat die Rolle übersehen. Aber ein Roadie, der die Bühne für die Zugaben vorbereitet, hebt sie auf und trägt sie hinter die Bühne. Das Publikum tobt, schreit nach mehr. Bernd steht da wie paralysiert, sein Herz schlägt laut in seinem Hals. Jetzt, jetzt beginnt es.
Minuten später kehrt Marius auf die Bühne zurück. Hebt die Arme und schreit: »Ihr seid völlig verrückt!« Bernd weiß, dass er ihn meint. Als der Sänger dann mit erhobenem Daumen das nächste Stück einleitet, weiß Bernd, dass Marius seine Gedichte gelesen hat. Gelesen, verstanden und für gut befunden. Nichts kann ihn jetzt noch aufhalten.
Trotzdem, für eine Nacht ist es genug. Bernd will Marius Zeit geben, er soll sich in Ruhe mit seinen Gedichten beschäftigen können. Am nächsten Abend wird der Sänger in Ostberlin auftreten. Dann wird Bernd ihn wiedersehen.
Am Mittwoch abend macht Bernd sich auf den Weg in den Osten Berlins. Er trägt noch seine verschmutzte Malerhose und fährt den Firmenwagen. In seiner Tasche steckt ein weiteres Gedicht, in seinem Tabaksbeutel ein Klumpen Haschisch. Wenige Stunden zuvor, nach Feierabend, hat er einen LSD-Trip eingeworfen.
Der Volkspolizist am Grenzübergang Moritzplatz lässt ihn nicht passieren. Der Firmenwagen ist voll gestellt mit Farbe und Werkzeug, der Beamte befürchtet, Bernd könnte seine Ladung im Osten verkaufen. Bernd parkt den Wagen am Straßenrand und fährt mit Bahn und Bus zur Werner-Seelenbinder-Halle. Das Konzert hat schon begonnen. Als Bernd seinen Platz erreicht, vorne links nahe der Bühne, exakt die gleiche Stelle wie zwei Tage zuvor in der Deutschlandhalle, hebt Marius den Daumen. Ebenso Jay Stapley, der Gitarrist, und Helmut Zerlett, der Keyboard spielt. Sie heißen ihn willkommen. Bernd wirft sein neuestes Gedicht auf die Bühne. Ein Ordner steckt es dem Gitarristen zu. Bernd ist völlig berauscht vor Glück, er tanzt, singt, schreit, weint und lacht.
Als das Konzert zu Ende ist, harrt Bernd im Zuschauerraum aus. Er weiß, er muss dort stehen und warten. Er rührt sich nicht von der Stelle, zwei Stunden lang. Dann verlassen die Musiker die Halle, umringt von Leibwächtern, Roadies und Freunden. Marius geht auf Bernd zu, bleibt wenige Meter entfernt stehen. »Gleich wird er mich ansprechen«, denkt Bernd, zittert vor Anspannung. Aber der Star geht an ihm vorüber.
Auch Bernd verlässt den Saal. Steht vor der Halle, wartet wieder. Auf das nächste Zeichen. Es regnet in Strömen, nach wenigen Minuten ist er durchnässt. Kalter Wind zerrt an ihm. Aber er steht nur da und wartet. Mit einem Mal beschleichen ihn die ersten Zweifel. Hat er einen Fehler begangen, hat Marius darauf gewartet, dass er sich zu erkennen gibt? So muss es sein. Bernd umrundet die Halle, gegen den Uhrzeigersinn, das ist sehr wichtig. Sieht den Tourbus mit den schwarz getönten Scheiben am Hinterausgang stehen. Wieder wartet er, immer noch verunsichert. Soll er einfach an die Tür klopfen? Er braucht einen Hinweis, ein eindeutiges Signal. Eine weitere halbe Stunde vergeht. Bernd schlottert vor Kälte in seiner triefnassen Kleidung. Der Bus fährt los. Bernd wird panisch, wieder eine Chance verpasst! Er rennt los, hinter den Rückleuchten des Busses her, die sich immer weiter entfernen. Er rennt immer noch, als die Rücklichter nur noch schumm-rige rote Flecken in der Dunkelheit sind.
Bernd treibt durch die Stadt. Folgt Lichtern und Hinweisschildern. Er muss Marius’ Hotel finden. Ein Test. Wenn er ihn besteht, wird der Sänger sich ihm offenbaren, seine Weisheit mit ihm teilen. »Richte dich nach den Zeichen«, flüstert eine Stimme in seinem Kopf. »Höre auf deine Intuition.« Bernd kann nicht genau sagen, wer zu ihm spricht. Ist es Marius? Oder Carlos Castaneda selbst, der Größte aller Erleuchteten? Wem auch immer diese Stimme gehört, Bernd weiß, dass er ihr vertrauen kann. Er wird sich nach ihren Worten richten.
Bernd folgt den Straßenbahnschienen zu seinen Füßen. An der nächsten Haltestelle sieht er einen Stadtplan von Berlin, der Schriftzug »Bahnhof Zoo« strahlt ihn an. Am Bahnhof Zoo liegt das Interconti, eines der nobelsten Hotels der Stadt. Dort wartet Marius auf ihn. Die Erkenntnis durchfährt ihn wie ein Blitzstrahl.
»Du bist gut, Bernd«, lobt ihn die Stimme. »Beeile dich, ich erwarte dich um ein Uhr dort.«
»Marius?« fragt Bernd unsicher.
»Wer sonst?« antwortet die Stimme.
Im gleichen Moment fährt die Straßenbahn ein, die Tür öffnet sich vor Bernds Füßen. Ein weiteres Zeichen, dass er auf dem richtigen Weg ist.
Zurück im Westen der Stadt fährt er mit seinem Firmenwagen zum Interconti. Kurz nach Mitternacht erreicht er das Hotel. Parkt den Wagen in Sichtweite des Eingangs, raucht einen Joint und beobachtet mit rasendem Puls das Hotel. Ein gewaltiger Sturm umtost den Wagen, Regen prasselt auf das Dach. Um ein Uhr betritt er das Hotel. In der Eingangshalle ein roter Teppich. Bernd schreitet darüber. »Eine nette Geste«, denkt er. Vielleicht hat es sich ja schon herumgesprochen, dass er der Erlöser ist.
Er fragt die junge Frau am Empfang nach dem Musiker, sagt: »Ich habe einen Termin bei Herrn Westernhagen.«
»Herr Westernhagen ist noch außer Haus«, antwortet die junge Frau. »Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«
Bernd schreibt seine Telefonnummer und Adresse auf einen Zettel, darunter den Namen »B. Traum«. Marius wird schon verstehen. Bernd verlässt das Hotel, wartet in seinem Firmenwagen auf die Rückkehr des Musikers. Minuten, Stunden, er weiß es nicht zu sagen. Zeit hat jegliche Bedeutung für ihn verloren. Im Inneren des Wagens beißende Kälte, die Heizung funktioniert nicht. Auch das ohne Bedeutung. Er schaltet das Autoradio ein. Jedes Lied eine Botschaft an ihn, ein Zeichen, das ihn in seiner Mission bestärkt. Ein Hochgefühl durchdringt ihn, wie er es nie zuvor in seinem Leben gespürt hat. Er raucht einen Joint. Bald wird er König dieses Landes sein, dann wird er als erstes Haschisch und LSD legalisieren. Keinem sollte der Weg zur Erleuchtung durch Gesetze verwehrt werden. Tief zieht er den Rauch in seine Lungen. Das Haschisch benebelt ihn schon lange nicht mehr, im Gegenteil, es schärft seine Sinne, macht seinen Verstand hell und klar.
In Bernds Vorstellung plant Marius Müller-Westernhagen seit Stunden mit Helmut Kohl und anderen wichtigen Entscheidungsträgern die Übergabe der Staatsgeschäfte an ihn, den zukünftigen König. Logisch, dass der Musiker sich da verspätet hat. Wahrscheinlich sitzt er gerade jetzt in einem der großen Konferenzräume des Hotels, zusammen mit den anderen Erleuchteten, Nina Hagen, Udo Lindenberg, Heinz Rudolf Kunze und Carlos Castaneda, und wartet auf ihn.
Später Vormittag, vor Stunden hätte Bernd auf der Baustelle seine Arbeit antreten müssen. Aber in diesen Kategorien denkt er nicht mehr, Arbeit, Verpflichtungen, all das ist Welten entfernt. Bernd verlässt seinen Wagen. »Herr Müller-Westernhagen ist abgereist«, behauptet der Portier. Aber Bernd lässt sich nicht beirren. Ein Schild im Foyer weist ihm den Weg in den Konferenzraum. Mit wild klopfendem Herzen öffnet er die Tür. Der Raum ist leer. Er hat das Treffen verpasst. Aber Bernd lässt sich nicht entmutigen - alle vermeintlichen Rückschläge sind nur Prüfungen, wichtige Stationen auf seinem Weg zur Rettung der Welt und anschließender Königswürde. Denn um nichts weniger geht es ja - er muss die Welt retten, die Menschen erlösen. Was bedeuten da schon kleinere Verzögerungen? Alles folgt einem großen Plan. Und Bernd ist der Mittelpunkt. Unbeirrt nimmt er seine Wache vor dem Hotel wieder auf und kehrt erst gegen Mitternacht in seine Wohnung zurück.
Am Freitagmorgen reißt ihn das Schrillen der Türklingel aus dem Schlaf. Vor der Tür sein Chef und Ralf, sein Freund und Kollege, der ihm diesen Job besorgt hat. Es ist 10.30 Uhr, Bernd ist der Arbeit auch an diesem Morgen ferngeblieben, zum zweiten Mal, mitsamt dem Firmenwagen. Sein Chef tobt. Bernd sieht sich misstrauisch um. Sucht nach Kameras und Mikrofonen, ist sich sicher, dass er beschattet wird, all das ist Teil einer großen Inszenierung, sie wollen seine Reaktionen dokumentieren, seine Standhaftigkeit prüfen.
»In einer Stunde bist du auf der Baustelle!« poltert sein Chef zum Abschied.
»Klar«, antwortet Bernd. Er wird erst einmal mitspielen, sehen, was passiert. Er stellt sich unter die Dusche. Spürt den unbändigen Drang, sich einzuseifen, immer und immer wieder. Kann nicht aufhören damit, eine feine Schmutzschicht bedeckt seinen Körper, die muss er los werden. Als er die Dusche verlässt, leuchtet seine Haut rot und prickelt.
»Das war das letzte Mal, dass ich dir einen Job besorgt habe«, sagt Ralf, als er zu Bernd in den Firmenwagen steigt. »Der Chef wollte dich feuern. Spinnst du eigentlich? Wieso rufst du nicht wenigstens an? Kein Mensch wusste, wo du steckst.«
»Glaubst du, das interessiert mich?« antwortet Bernd. »Ich werde bald der berühmteste Mensch der Welt sein!«
»Mensch, Vogel, red nicht so eine Scheiße«, sagt Ralf. »Du hast zu viele Pillen eingeworfen.«
Seine Worte treffen Bernd wie Faustschläge. Ralf, einer seiner ältesten Freunde, einer, mit dem er seine ersten LSD-Erfahrungen geteilt hat, den er für einen Vertrauten, einen Mitstreiter hielt, wendet sich von ihm ab!
»Du wirst schon sehen«, erwidert er trotzig. Heute, beschließt er, ist sein letzter Arbeitstag. Er hat Wichtigeres zu tun. In der Nacht zuvor hat er erkannt, dass er einen magischen Kreis um sich scharen muss, 28 Menschen müssen es sein. Die Zahl erschien plötzlich in seinem Geist, strahlend und klar. Laut hat er seine Euphorie herausgeschrien.
Am Tag darauf macht er sich auf den Weg. Die erste Station ist Hannover. Bernd treibt durch seine Heimatstadt. Er trifft Alexandra, seine Freundin, wer wäre besser für seinen magischen Kreis geeignet, als die Frau, die er liebt? Er besucht Freunde, prüft jeden auf Tauglichkeit für seine Schar von Jüngern. Der Dealer in Hannover, von dem er jahrelang sein Haschisch gekauft hat, so erkennt Bernd, muss über magische Fähigkeiten verfügen. Ein denkbarer Kandidat für seinen magischen Kreis. Bernd raucht einen Joint nach dem anderen, der Rauch klärt und schärft seinen Geist. Aber es lauern auch Gefahren auf dem Weg. Er begegnet einer schwarzen Katze, die darauf angesetzt wurde, ihn zu beschatten, in ihrem linken Auge ist eine Kamera versteckt. Und eine verführerische Frau, Agentin des Bösen auch sie, versucht, ihn mit einem Drink zu vergiften. Bernd weiß, er darf sich nicht vom Weg abbringen lassen. Stunden, Tage vergehen, reihen sich aneinander wie Szenen eines endlosen Films. Alles und jeder ist miteinander verbunden. Mit Bernd verbunden.
Abends in der Disko fühlt er, wie ihm beim Tanzen Flügel wachsen. Selbstversunken schwebt er über die Tanzfläche, er ist der Mittelpunkt des Universums, das Lächeln auf seinem Gesicht erhellt den Raum.
»Du siehst aus, als würdest du auf der Tanzfläche schlafen«, sagt Alexandra, als sie nebeneinander am Tresen stehen, einen Wodka Lemon in der Hand. Sie sind jetzt seit beinahe zwei Jahren ein Paar.
»Ich brauche keinen Schlaf«, antwortet Bernd.
»Quatsch. Jeder braucht Schlaf.«
»Ich nicht. Ich darf nicht schlafen, ich muss stets wachsam sein.«
»Du bist doch völlig verrückt.«
»Möglich. Vielleicht kann ja nur ein Verrückter die Welt verrücken.«
Alexandra schaut ihn nur verwirrt an.
»Hast du wieder LSD genommen?« fragt sie wenig später, nachdem es ihr gelungen ist, Bernd aus der Disko und auf ihr Zimmer zu schleifen. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, ihr winziges Zimmer liegt im ersten Stock eines Reihenhauses in P., zwanzig Kilometer außerhalb von Hannover.
»Ist schon länger her«, antwortet Bernd. »Aber darum geht es nicht.«
»Warum tust du das?« fragt seine Freundin. »Du bist so ein netter Kerl. Aber wenn du so abgedrehtes Zeug erzählst, machst du mir Angst.«
»Das ist kein abgedrehtes Zeug. Ich werde berühmt - der berühmteste Mensch der Welt. Marius hat meine Gedichte bekommen, er wird sie vertonen und dann wird die Menschheit gerettet werden.«
»Mensch, Bernd, Marius bekommt hunderte von Briefen. Der hat deine Gedichte gar nicht gelesen. Wahrscheinlich hat er sie sofort weggeworfen.«
»Niemals«, brüllt Bernd. »In meinen Gedichten finden sich die letzten Wahrheiten des Lebens. Marius weiß das!«