Herbert Westenburger
WIR PFEIFEN AUF DEN GANZEN SCHWINDEL
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Die Veröffentlichung wurde von der Stiftung „Dokumentation der Jugendbewegung“ mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt.
2. erweiterte Ausgabe, März 2020
Alle Rechte beim Spurbuchverlag, 96148 Baunach
Fotos: Herbert Westenburger
Umschlag: Peter Bertsch (Fuchs), Rheinstetten-Forchheim
Konzeption, Layout und Ausführung: pth-mediaberatung
Korrektur: Fritz Schmidt (Fouché), Augsburg
Titelbild:Treffen des „Maulbronner Kreises“, ehemaliger dj. 1.11er und Nachkriegsjungenschaftler unter den „Hohlen Felsen“ im Wasgau (Pfalz), Pfingsten 1959
Foto: Leif Geiges, Staufen/Breisgau
ISBN 978-3-88778-327-3
eISBN 978-3-88778-445-4
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WIR PFEIFEN AUF DEN GANZEN SCHWINDEL
VERSUCHE JUGENDLICHER SELBSTBESTIMMUNG
SPURBUCHVERLAG
MEINER LIEBEN MUTTER UND MEINER FRAU LORE GEWIDMET
DOCH EH’ ICH ES VERGESSE
Ein Wort des Dankes an alle, die mich bei der vorliegenden Dokumentation hilfreich unterstützt haben.
Besonderer Dank gilt Herrn Professor Dr. Jürgen Reulecke, der mir schon in den 80er Jahren die Möglichkeit eines Einblicks in damals noch nicht zugängliche gesperrte Akten in den deutschen Hauptstaatsarchiven ermöglichte. Hier sind das Hauptstaatsarchiv des Landes Nordrhein-Westfalen (Düsseldorf) und das Hessische Hauptstaatsarchiv (Wiesbaden) als offizielle behördliche Hilfe zu erwähnen. Der besondere Einsatz des Referats „Planung und Projekte“ im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, das auch meine Arbeiten in den hessischen Schulen betreut, bei der Suche nach einem geeigneten Verlag soll hier genannt werden.
Bei den Nachforschungen nach dem spurlosen Verschwinden meiner Mutter, ihrer Deportation nach Auschwitz sowie den missglückten Ausbruchsversuchen aus britischen und amerikanischen Kriegsgefangenenlagern half mir die Kenntnis des Historikers Rafael Zagovec.
Korrektur lasen Frau Schmidt und Professor Dr. Hans Mausbach, dessen Rat ich gerne und dankbar in Anspruch nahm. Peter Jürgen Bertsch zeichnet verantwortlich für den Umschlag.
Nicht zuletzt danke ich meiner Familie, die über viele Jahre meine Aktivitäten ertragen musste. Ohne meine Tochter Doris, die hunderte von handgeschriebenen Seiten druckfertig aufbereitete, wäre ich hilflos gewesen.
Der Spurbuch-Verlag hat sich bereit erklärt – in seiner bekannt anspruchsvollen Aufmachung, das Buch zu verlegen. Auch ihm bin ich zu Dank verpflichtet.
Die Stiftung „Dokumentation der Jugendbewegung“, Archiv Burg Ludwigstein, hat sich dankenswerterweise bereit erklärt, die jetzt vorliegende Arbeit durch einen Druckkostenzuschuss fördernd mit auf den Weg zu bringen.
Herbert (Berry) Westenburger
im April 2008
Vorwort von Prof. Dr. Reulecke
Teil I
Die Jugendbewegung
Der Bund
Verbannung
Tramp nach Wien
Die Neuen – oder Abschied vom Wandervogel
Die Hütte in Wüstems
Untermieter
Wagen rollen auf endlosen Wegen
Innenansichten
Teil II
Flatterndes Huhn und flüchtende Gans
Frontberichte, bündisch gesehen
„Genießt den Krieg, der Friede wird schrecklich sein“
Ein Tunesien-Abenteuer, kurz und schmerzhaft
Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
Eine notwendige Erläuterung
„Farewell Africa“
„Don’t fence me in“
Camp Wheeler, Georgia
Und wo sind die Freunde?
Das kann ja heiter werden
Teil III
Wir waren nicht, wie sie es gerne hätten
Besserwisser, Intriganten und Agenten
Das Selbsthilfeprogramm
Der letzte Sommer
Rückblick
Anhang
VORWORT VON JÜRGEN REULECKE
ZAJAGAN, BERRY!
Zu Herbert Westenburgers Erinnerungen an seine Jahre bis 1948 – ein Vorwort
Ungefähr zur gleichen Zeit, als der gerade 26 Jahre alt gewordene Herbert „Berry“ Westenburger im Januar 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft wieder in seine Heimatstadt Frankfurt zurückkam, kehrte auch der in der frühen Nazi-Zeit nach Vaduz/Liechtenstein emigrierte Ernst Friedlaender (1895-1973), Sohn eines jüdischen Arztes aus Breslau – er war nach (abgebrochenem) Philosophiestudium bis Anfang der 1930er Jahre zeitweise Filialleiter der IG-Farben AG in den USA gewesen – nach Hamburg zurück und wurde stellvertretender Chefredakteur der neugegründeten Wochenzeitung „Die Zeit“.
Bereits ein Jahr später erschienen unter dem Titel „Deutsche Jugend“ seine „Fünf Reden“, in denen er sich an fünf Jugendtypen wandte, die er in Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes, nach dem Kriegsende und nun in einer Zeit gewaltiger allgemeiner Desorientierung unter den etwa von 1917 bis 1930 Geborenen entdeckt zu haben glaubte: die Trotzenden, die Skrupellosen, die Müden, die Traditionsgebundenen und die Suchenden. Alle zeichneten sich – so Friedlaender – durch eine krasse „Unfertigkeit“ aus, die völlig anders sei als die der Jugend nach dem Ersten Weltkrieg. Für den jungen Menschen im Jahre 1946 gebe es nämlich keinen Punkt in seiner Vergangenheit, zu dem er sich zurücktasten könne, um dort ein früheres Leben einfach wieder aufzunehmen: „Was er einmal in der Schule konnte, hat er vergessen, was er in der HJ, in der Partei, in der SS gelernt hat, das ist keine Brücke in die Zukunft. Alle dort empfangenen Wertungen, die ganze Haltung zum Leben, zu Deutschland, zu Vorstellungen von einer Laufbahn in Staat, Partei oder Wehrmacht sind plötzlich durch die Ereignisse sinnlos geworden.“
Bei Friedlaenders Diagnose der geistigen Befindlichkeit der jungen Leute der unmittelbaren Nachkriegszeit handelt es sich ohne Zweifel um eine der faszinierendsten Bestrebungen im Rahmen einer größeren Zahl von ähnlichen Versuchen damals im mittleren Lebensalter stehender Zeitgenossen, über den Appell an die Jugend irgendwie auch selbst wieder Boden unter die Füße zu bekommen und Zukunftsperspektiven zu gewinnen. Wie lässt sich Berrys quellenreiche autobiographische Selbstverortung, die von seinen ersten Erlebnissen in bündischen Jugendgruppen zu Beginn der 1930er Jahre ausgeht, dann seine daran anschließende Prägung im widerständigen „bündischen Selbstschutz“ im weiteren Verlauf des „Dritten Reiches“ sowie seine Kriegserfahrungen behandelt und schließlich auf sein Engagement in der nach 1945 wiederauflebenden Bündischen Jugend, speziell der Jungenschaftsbewegung, hinausläuft, mit Friedlaenders Diagnose und Typologie in Verbindung bringen?
Um diese Frage zu beantworten, muss etwas ausgeholt werden: Berrys Einstieg in die Rekonstruktion seiner jugendlichen Prägephase wirkt zunächst wie ein lockerer Haufen bunter Mosaiksteine, die Facetten aus seinem familiären Herkommen und seiner Schulzeit und daran anschließenden Lehre als Konditoreilehrling, aber auch allgemeine Hinweise auf die Geschichte der Jugendbewegung, besonders des „Nerother Wandervogels“ um die Brüder Oelbermann liefern; hinzu kommen kleine Zeitanalysen aus der Perspektive des damals heranwachsenden Knaben und schließlich Geschichten über seine ersten bündischen Erfahrungen, die er ab 1932 in einem „Fähnlein“ des Nerother-Ordens mit dem klingenden Namen „Rabenklaue“ gemacht hat, eine Jungengruppe, die für ihn bald, wie er schreibt, so etwas wie ein „Familienersatz“ wurde. Was aber dann folgt, ist nicht mehr so sehr eine weitere Anhäufung dieses Mosaiksteinhaufens, sondern ein immer eindringlicher werdender Bericht über ein vor dem Hintergrund der ständig bedrückender werdenden Zwänge des NS-Regimes immer enger geknüpftes widerständig-bündisches Netzwerk, in dem Berry im Knotenpunkt einer ganzen Reihe von Fäden stand: Jungenschaftlich-bündisch geprägte Heranwachsende versuchten auf diese Weise (Stichwort „bündischer Selbstschutz“), ein eigenständiges Gruppen- und Fahrtenleben aufrecht zu erhalten und Verbindungen zu Gleichgesinnten quer durch Deutschland herzustellen, um sich so dem Druck der Gleichschaltung zu entziehen, ehe es dann zu ersten Verhaftungen und schließlich zu dem mehr oder weniger starken Zwang kam, als Soldat in den Krieg zu ziehen. Eindrucksvoll und oft auch anrührend sind die fortdauernden Bemühungen der Freunde, durch Feldpostbriefe das Netzwerk so gut wie eben möglich aufrechtzuerhalten und sich gegenseitig ihrer kritischen Haltung zum Regime zu versichern. Eindrucksvoll sind aber dann auch die Detailberichte über einzelne Fronterlebnisse Berrys und schließlich über seine Erfahrungen mit der Kriegsgefangenenschaft in Nordafrika und in den USA (mit zweimaligen Fluchtversuchen). Zwar hatte Berry dann nach seiner Rückkehr im Januar 1946 nach Frankfurt mit Blick auf seine berufliche Zukunft und sein Zuhause – seine Mutter war als Halbjüdin aufgrund einer Denunziation nach Auschwitz verschleppt und dort umgebracht worden – nach eigenen Worten „den Krieg tatsächlich verloren, obwohl ich ihn ja nie gewollt hatte“, aber der dritte Teil seiner „dichten Beschreibung“ läuft dann doch letztlich auf eine „tröstliche“ Erkenntnis hinaus, nämlich jene, dass das jungenschaftlich-bündische Gruppenleben „einfach nicht auszulöschen“ gewesen sei und viele der „Knabenträume“ dennoch ausgelebt hätten werden können – dies trotz der Erschütterung über die Unmenschlichkeiten der NS-Zeit und des Krieges, über die Bösartigkeit der erlebten Verfolgungen, über den Tod vieler Freunde und über die allgemeine geistig-seelische und materielle Not und Zerstörung der Nachkriegszeit.
Wer als bündisch-jungenschaftlich infizierter Zeitgenosse bzw. als Kenner der bündischen Traditionen, Stilformen und Szenerien die vielen von Berry erzählten Einzelgeschichten liest, der hat ganz sicher eine Fülle von Aha-Erlebnissen und mag sich wohl auch zu einer selbstkritischen und vielleicht auch selbstironischen Selbsthistorisierung herausgefordert fühlen. Wer solche Vorkenntnisse nicht mitbringt, der wird mit einem unverwechselbar-eigenwilligen, jugendgeschichtlich bedeutsamen Milieu (hier vorgeführt und konkretisiert am Beispiel der drei bündischen Entwicklungsschritte im Leben Berrys) vertraut gemacht, einem Milieu, welches – ohne dass dieses bisher als geschichtswirksames Phänomen intensiver von den meisten Historikern reflektiert worden ist – hinter oder unterhalb der Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie in den Geschichtsbüchern nachzulesen ist, in den Biographien vieler nun älterer Zeitgenossen tiefe Spuren hinterlassen und oft deren Weltsichten, Werthierarchien, Verhaltensweisen und Arten ihres Auftretens in der Öffentlichkeit entscheidend mitgeprägt hat.
Zurück zur Ausgangsfrage, ob und eventuell wie Berry und seine bündisch-jungenschaftliche Umgebung in die Typologie Ernst Friedlaenders aus den Jahren 1946/47 einzuordnen sind: Bei dreien seiner Typen hatte der Verfasser damals besonders große Zweifel, ob unter ihnen „Keime einer kommenden deutschen Elite“ zu finden sein könnten und zwar beim „trotzigen Romantiker der Gewalt“, bei dem „von Skrupeln unbelasteten ,Realisten’ auf dem Pfade des Erfolgs“ und bei dem „müde Gewordenen, zu nichts mehr Bereiten.“ Und auch die „Traditionsgebundenen“ hielt er nicht für die „Selbständigsten und Zukünftigsten“ unter der Jugend, auch wenn sie im Vergleich zu den drei bisher genannten Typen noch „die Fertigsten unter den Unfertigen“ seien: Sie verkörperten letztlich „die natürliche Haltung des braven Durchschnitts“, der bloß das Vorgefundene übernimmt. Nun könnte man bei oberflächlichem Blick annehmen, die Erben der deutschen Jugendbewegung von den Wandervögeln bis zu den bündischen Pfadfindern, von der wiederbegründeten Freischar bis zu den Jungenschaften gehörten dann wohl zu den Traditionsgebundenen, weil sie im Jahrzehnt nach dem Ende des Krieges in einer Art „Restgeschichte“, allerdings unter Weglassung der völkisch-nationalistischen und der allzu militärisch-disziplinierenden Elemente und unter stärkerer Betonung der eher spielerischen und romantisierenden Züge des bündischen Gruppen- und Fahrtenstils, das Repertoire jugendbewegter Stilformen aus den 1920er und frühen 1930er Jahren weitertransportierten: Zeltlager und Fahrt, Fahrtenlieder und Lagerfeuerromantik, Singeabende und Erzählrunden bei Kerzenschein usw. Und tatsächlich lassen sich wohl viele der nicht zuletzt auch konfessionellen Wiederbegründungen von Jugendgruppen als an jugendbewegten Traditionen orientierte Versuche bewerten, im Chaos der Zeit jenseits des bedrückenden Alltags unpolitisch-spielerische Inseln für die Heranwachsenden zu schaffen. Berrys Bericht und eine differenzierende Betrachtung der damaligen Jugendszene zeigen jedoch, dass dieses Spektrum jugendbewegter Selbstorganisation nicht nur ein Tummelplatz für jugendliche „Traditionalisten“ aller Art war, sondern auch dem von Friedlaender beschriebenen fünften Typus, nämlich den „Suchenden“ vielerlei Impulse lieferte, sich mit offenem Blick, wachsam und mit großem Engagement um Wege hin zu einem humanen Miteinander in einer neuen demokratischen und weltoffenen Gesellschaft zu bemühen. Auf sie setzte deshalb Friedlaender seine Hoffnungen: „Sie trotzen weder auf Trümmern noch haben sie entzaubert jeder Idee abgeschworen, noch endlich sind sie bloß genügsame Wanderer auf bekannten Pfaden.“ Was sie suchten, sei nicht Geld, Stellung oder Erfolg, nicht, was man materiell haben und genießen könne, denn sie seien auf dem Weg, „den die liebenswerteste Jugend zu allen Zeiten gegangen ist: durch Irrtümer zu neuen Zielen des Wertes.“ Wenn man das Pathos abstreicht, dann mag ein solches Urteil vor allem auf viele der jungenschaftlichen Horten der Nachkriegszeit und ihre meist um 1920 geborenen jungen Führer zugetroffen haben, wofür Berrys Bericht viele Beispiele liefert. Die Suchenden aus dieser Altersgruppe – so Friedlaender – hätten zuviel gesehen, um bloße Träumer zu sein: „Ohne vor der Wirklichkeit zu flüchten, sind sie die wahren Idealisten Deutschlands.“ Sie gaben dann in durchaus eigenständiger Deutung jenen Staffelstab aus den Anfängen der deutschen Jugendbewegung weiter, der bei dem großen Treffen der Freideutschen Jugend auf dem Hohen Meißner im Herbst 1913 auf die Formel gebracht worden ist: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten.“ Damit war zwar kein konkretes Programm, aber doch eine für solche „Suchenden“ lebensbegleitende Devise angesprochen, die dann durch solche, in Jungenschaftskreisen verbreiteten Sätze wie „Der Weg ist besser als die Herberge“ und „Glaubt nicht, was ihr nicht selbst erkannt“ ergänzt wurde und letztlich auf das jungenschaftliche Prinzip des „Selbsterringens“ hinauslief.
Und was heißt in diesem Zusammenhang das „Zajagan“, mit dem Berrys Horte sich schmückte? Es ist – wie er schreibt – ein Gruß der Karawanenführer in Zentralasien und bedeutet so viel wie „gute Reise – guter Weg!“, übertragen also „alles Gute für deinen Lebensweg!“ Also weiterhin: Zajagan, Berry!■
Zitiert worden ist: Ernst Friedlaender: Deutsche Jugend. Fünf Reden.
Erschienen im März 1947 im Claassen & Goverts Verlag, Hamburg
Paul Leser, Frankfurt
Ordensführer der „Pachanten“ 1933
Versuche jugendlicher Selbstbestimmung
Teil I | 1932-1939
Hätten Freunde mich nicht aufgefordert, ja geradezu gedrängt, endlich doch einmal meine Jugendzeit und die darauffolgenden Ereignisse zu Papier zu bringen, wäre das eine oder andere lustige, aber auch traurige Geschehen in Vergessenheit geraten. Doch wie und wann beginnen, in welcher Form?
Einige meiner kleinen Veröffentlichungen jedoch boten Hilfestellung genug, um sie, mit neuen Erkenntnissen, besseren Fotos und weiteren Dokumenten angereichert, bei der geplanten Ausarbeitung mit einzubeziehen. Verlage und Herausgeber waren einverstanden, zumal ich keine Honorare bekommen hatte und keine Neuauflage vorgesehen war. Ich hatte das Einverständnis aller Betroffenen. So fing ich an in der vagen Hoffnung, daß etwas Brauchbares daraus entstehen könnte.
Die frühen Knabenjahre mit ihren Lausbubenstreichen waren hierzu denkbar ungeeignet, das hatte jeder irgendwie erlebt. So wählte ich den März 1932, in dem das eigentliche Abenteuer meiner Jugendzeit begann:
Darin, so glaubte ich, konnte ich mich dem strengen Regiment meines Stiefvaters und der oft erdrückenden Fürsorge meiner Mutter, wenn auch nicht endgültig, aber doch für eine gewisse Dauer entziehen.
Nach Ansicht meines alten Herrn eine unglaubliche Entscheidung. Er hätte mich gerne in einem Sport- oder Turnverein gesehen, besser noch bei den Ruderern. Dort herrschten Zucht und Ordnung, kein Alkohol, kein Nikotin, und auch die beginnende Pubertät stand unter Kontrolle. Überhaupt war seine Auffassung von Erziehung eine ganz andere als die meiner Mutter. Etikette, was immer man darunter verstehen mag, war für meinen Vater Hauptinhalt seines Lebens. So sollten zum Beispiel eine Verbeugung, der sogenannte Diener, und ein Handkuß von meiner guten Erziehung ein sichtbares Zeugnis ablegen. Die monatlichen Familienabende, an denen nicht nur die Familie, sondern auch gute Freunde oder Personen, die man dafür hielt, geladen waren, schienen für diese Exerzitien hervorragend geeignet.
Nur widerwillig unterwarf ich mich dieser Anordnung, vor allem, weil die so geehrten Damen in der Folge glaubten, mich abküssen zu müssen, was mir natürlich peinlich war. Ein nasser „Schmatz“ ist ja nun wirklich kein Vergnügen. Mit Ausreden versuchte ich, diesen Ereignissen fernzubleiben, wurde jedoch stets herbeizitiert und mußte mein Zirkuskunststückchen, wie meine Mutter abfällig meinte, vorspielen. Wie auch immer, etwas Gutes hatte das Ganze. Im Laufe der Zeit lernte ich echten Schmuck von Talmi zu unterscheiden und ein gutes Parfum von einem billigen. Die Hände der Damen waren so unterschiedlich wie ihre Gesichter, daher verweilte ich bei den Jüngeren etwas länger, was mein Vater mit einem lauten Räuspern zu beenden pflegte.
Die Abendgesellschaft bestand im wesentlichen immer aus den gleichen Personen. Sanitätsrat Lapp, ein Corpsbruder meines Vaters, war regelmäßiger Gast. Er schätzte vermutlich den gepflegten Weinkeller der Gastgeber. Onkel Frank, der jüngere Bruder meiner Mutter, erschien zwar unregelmäßig, dafür aber regelmäßig mit einer anderen Begleiterin. Sein Freund Dr. Rau, ein Oberstudienrat, den ich von Kindesbeinen „Onkel Ludwig“ und seine Frau „Tante Martha“ rufen durfte, versuchte mich über die schlechten Noten hinwegzutrösten, die ich der Familie verschwiegen hatte. Dr. Brill, ein weiterer Freund meines Onkels, war Dermatologe, seine ehemalige Sprechstundenhilfe inzwischen seine Frau Hedwig. Die beiden Freunde waren in ihrer Sturm- und Drangperiode – mir erschien sie noch nicht ganz beendet – durch Frankreich und Spanien bis Marokko gewandert. Ihr Thema hieß beständig „Ach, weißt du noch, damals …“. Da holte der gute Onkel Frank seine alte spanische Gitarre, und Dr. Brill hämmerte auf dem Klavier die ersten Takte aus „Carmen“. Dann war es Zeit, mich in meine Bude zu verziehen.
Auf keinen Fall darf ich aber einen der bemerkenswertesten Gäste hier unterschlagen. Frau Emmy Nagel, für mich auch „Tante Emmy“, eine langjährige Freundin meiner Mutter. In Begleitung einer oder mehrerer junger Damen erschien sie stets zu später Stunde. Im klassischen Schneiderkostüm oder auch einem Hosenrock aus bestem englischen Tuch, mit einem kessen Herrenschnitt, einer Krawatte oder einer Fliege war sie vor allem für meine Mutter die Emanzipation in Reinkultur. Ich persönlich mochte sie aus zwei Gründen besonders gern, weil sie erstens einen Handkuß ablehnte und mir statt dessen mit den Worten „wie geht es denn so, Herbert-Helmut“ nur über den Scheitel strich. Zum zweiten, weil sie in ihrem Wintergarten frei herumspringende Laubfrösche hielt. Bei unseren Besuchen dort konnte ich die grünen Hüpfer, die nicht nur im Blattwerk saßen, sondern auch auf den Glasscheiben klebten, in aller Ruhe betrachten – beruhigend für die Damenrunde, die hinter mir im Salon ungestört plaudern konnte.
Die Wesensart meiner Mutter ist einfach zu beschreiben:
Freizügig (sie lief gelegentlich nackt oder auch nur mit seidener Unterwäsche bekleidet durch die Wohnung), freigiebig (verpumpte Geld an Freundinnen, wohl wissend, daß sie es nie wiedersehen würde) und freidenkend (riet mir, doch besser Schwimmen, im Winter Schlittschuhlaufen zu gehen anstatt den Kindergottesdienst zu besuchen). Bei einer derartigen Lebensphilosophie war meine Mutter meine einzig verläßliche Verbündete hinsichtlich meines Wunsches, der Jugendbewegung beizutreten. Sie unterstützte mein Bestreben, mich endgültig aus der „Diener-, Handkuß-, Bleyle-Matrosenanzug-Umgebung“ zu verkrümeln.
Obwohl noch keine Entscheidung gefallen war, welchem Bund ich mich endgültig anschließen wollte, entwickelte sie eine geradezu überbordende Betriebsamkeit. So wurden ein halbes Dutzend Wollsocken, ein paar Bundschuhe, warme Unterwäsche und Fahrtenhemden gekauft. Natürlich heimlich, ohne Wissen oder gar Zustimmung des Haushaltsvorstandes, wie mein Vater sich selbst gerne bezeichnete.
Es lag jetzt an mir, die Werbe- und Elternabende der jeweiligen Gruppierungen zu besuchen und meine Wahl zu treffen. Die Freiheit schien greifbar nahe zu sein.
Von allen Gruppen gefielen mir die „Wandervögel“ am besten. Genau gesagt: Der Nerother Wandervogelbund. Klassenkameraden hatten mich überzeugt, daß ich hier gut aufgehoben sei. Es herrschte kein Drill, die Lieder gefielen mir, und die Gruppe machte keine Unterschiede in Herkunft, Religionszugehörigkeit und Schulbildung.
Wandern hatte Tradition in meiner Familie, zumindest mütterlicherseits. Not und Verfolgung, Wanderburschenleben und Abenteuerlust mußten meine Vorfahren schon früh über die Grenzen des damaligen Deutschen Reiches getrieben haben. So kamen sie Mitte des 18. Jahrhunderts als Hugenotten aus Frankreich und ließen sich in Hanau nieder. Die Kirchenbücher der französisch-reformierten Gemeinde weisen sie seit Generationen als Handwerker aus. Urgroßvater, Großvater und Großonkel waren Konditoren. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ging Großvater auf Wanderschaft. Großonkel Heinrich, sein älterer Bruder, mußte nach dem Tod seines Vaters, meines Urgroßvaters, seine Mutter und vier unverheiratete Schwestern unterhalten. Man zog 1875 von Hanau nach Frankfurt an den „Alten Markt Nr. 21“, einem Fachwerkhaus gegenüber der Schirn. Im Erdgeschoß wurde ein Caféhaus mit Konditorei betrieben.
Großvaters Wanderjahre sind durch Zeugnisse gut belegt. So war er von 1883 bis 1884 bei Rumpelmayer in Nizza, 1886-1889 bei Baron Adolphe de Rothschild in Paris, später, von 1890 bis 1895, fünf Jahre bei P. Maréisie in New York. Im September 1889 war er in die Vereinigten Staaten ausgewandert und hatte dort meine Großmutter kennengelernt.
Am 6. Oktober 1891 wurde in der evangelisch-lutherischen St.-Johannis-Kirche in New York die Ehe geschlossen. Meine Mutter und Onkel Frank wurden hier auch getauft. Alle vier waren amerikanische Staatsbürger seit 1895. Als im Mai 1895 Großonkel Heinrich starb, mußte mein Großvater dessen Stelle einnehmen und die Verpflichtungen der Familie gegenüber erfüllen. Ein Auseinandersetzungsvertrag übertrug ihm als Gegenleistung dafür Haus und Betrieb in Frankfurt am Main. Die Restfamilie hatte weiterhin Wohnrecht und finanzielle Unterstützung. Was ein Handwerksbetrieb im Familienbesitz damals zu leisten vermochte, zeigt die Tatsache, daß man meiner Mutter einen vierjährigen Internatsaufenthalt in Lausanne in der Schweiz und meinem Onkel eine Lehre als Goldschmied in Hanau ermöglichen konnte. Für beides waren erhebliche Geldmittel bereitzustellen. Hierzu waren jedoch die Bestallungen zum Hoflieferanten an fünf regierenden Häusern und Exporte nach England ein wichtiges Fundament. Gold- und Silbermedaillen auf internationalen Ausstellungen, im Firmenemblem besonders herausgehoben, sorgten für weitere Empfehlungen.
Vor Ausbruch des 1. Weltkrieges wurden die „Neubürger“, diesmal in der alten Heimat, wieder Reichsdeutsche. Onkel Frank glaubte, 1917 seine Loyalität beweisen zu müssen, und meldete sich freiwillig zum Militär. Mit einer Gasvergiftung und einer Kopfverletzung fand er sich am Ende in einem Lazarett wieder. Nach dem Tod zweier seiner Schwestern und seiner Mutter zogen Großvater und seine Familie 1904 mit dem gesamten Betrieb an den „Roßmarkt 6“, gegenüber der Hauptwache. Der Inflation der zwanziger Jahre war man durch einen weiteren Hauskauf im Holzhausenviertel, meinem Elternhaus, rechtzeitig noch vor Kriegsende zuvorgekommen.
1917 heiratete meine Mutter den Architekten Jakob Becker, meinen leiblichen Vater. Im Januar 1920 wurde ich geboren. Onkel Frank blieb Junggeselle. Die Ehe meiner Eltern zerbrach 1924.
Ich wuchs in den kommenden fünf Jahren wohlbehütet im großelterlichen Hause auf, bis zu jenem Tag, an dem meine Mutter den Herrn Regierungsrat a. D. Robert Westenburger der Familie als ihren zukünftigen Ehemann vorstellte. Diese war von einer solchen Verbindung nicht gerade begeistert. Erst durch meine Adoption glaubten meine Großeltern, inzwischen erneut Schwiegereltern, man müsse sich arrangieren, und boten die Wohnung in der ersten Etage als Domizil an.
Am Anfang ging alles gut, bis im Frühjahr 1930 Großvater und ein Jahr später meine Großmutter verstarben. Die Erbstreitigkeiten wurden zwar beigelegt, die Beziehung zwischen Onkel Frank und meiner Mutter kühlten jedoch merklich ab und waren am Ende nicht mehr überbrückbar. Anlaß zum endgültigen Bruch war der Eintritt meines Stiefvaters am 5. März 1932 in SA und NSDAP.
Im Holzhausenviertel, in dem die Familie seit Jahrzehnten wohnte, wählte man gemäßigte Parteien. Es war geradezu eine Provokation, hier in SA-Uniform auf der Straße zu erscheinen. Die Anwohner waren höhere Beamte, Geschäftsleute, Direktoren, Ärzte und Rechtsanwälte. Die Reaktionen der Eltern meiner Spielkameraden konnte ich mir ausmalen.
Onkel Frank fürchtete mit Recht um die Reputation des Cafés, zumal gerade dort die Ehefrauen vieler Mitglieder der jüdischen Gemeinde Stammgäste waren. Er allein kannte aber seit dem Tode seiner Mutter deren wirkliche Herkunft, die weder in den USA noch in Deutschland bis jetzt eine Rolle gespielt hatte. In den Vereinigten Staaten gab es keine Personenstandsgesetzgebung, die zwingend eine Offenlegung der Religionsgemeinschaften vorsah. Wenn Herkunft und Alter glaubwürdig dargestellt wurden, konnte eine Trauung vollzogen werden.
Beim Ordnen des Nachlasses fand er den Geburtsschein, ausgestellt vom Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Kolin im heutigen Tschechien. Flugblätter der NSDAP, die gelegentlich in den Briefkästen steckten, sagten genug über die rassistischen Ziele dieser Partei aus. Thema der abendlichen Tischgespräche waren daher häufig die israelitische Gemeinde und der „mosaische Glaube“. Moses kannte ich aus dem Religionsunterricht. Da war doch auch die Sache mit dem Weidenkörbchen am Nil. Und dann die unglaubliche Geschichte mit dem Roten Meer, die mich stutzig machte. Doch die Prophezeiung vom Schlaraffenland, in dem angeblich Milch und Honig flossen, wurde durch ein Gedicht von Ludwig Uhland mit dem Vers: „Viel Steine gab’s und wenig Brot“ auch kaum glaubhafter. Und wer schleppt schon Felsbrocken durch die Wüste, auf denen die 10 Gebote, an die sich ohnehin niemand hält, eingemeißelt sind? Was dies alles mit meiner Großmutter zu tun haben sollte, blieb mir verborgen. Ich konnte keinen Zusammenhang zwischen Moses und meiner Großmutter erkennen.
Zu dem Gesamtthema meinte meine Mutter lakonisch, so glaube ich mich zu erinnern, wenn die SA sich unbedingt prügeln müsse, sei dies gewiß nicht ihr Problem.
Da eine Familie bekanntlich aus zwei Wurzeln stammt, komme ich nicht umhin, auch die väterliche Ahnenreihe kurz zu streifen.
Alle Vorfahren waren Protestanten, Beamte oder Handwerker. Ansässig seit Generationen an der Bergstraße in Hessen zwischen Darmstadt und Heidelberg.
Meinen Großvater Wendelin Becker, zuletzt Stadtrat in Heppenheim, und seine Frau Katharina habe ich nie kennengelernt, beide verstarben zu früh. Von drei Söhnen war mein Vater der jüngste.
Nach Kriegsende 1918 ließ er sich in Frankfurt nieder und zog 1924, nach der gescheiterten Ehe mit meiner Mutter, nach Kempten. Aus einer zweiten Ehe hatte ich plötzlich noch einmal fünf Halbgeschwister. Im Gegensatz zu meinem Stiefvater war er ein lebenslustiger, sinnenfroher und weltoffener Mensch, der nicht ohne Hintergedanken seiner Logenbrüder in der „Schlaraffia“ den Beinamen „Jakobus der Fruchtbare“ erhielt. Bei insgesamt sechs Nachkommen durchaus verständlich.
(Eine Verbindung zu ihm und seiner Familie kam Jahre später zustande und soll hier nicht behandelt werden.)
Der Nerother Wandervogel, von den Zwillingsbrüdern Robert und Karl Oelbermann 1920 als Jungenbund gegründet, gliederte sich in überregionale Orden und Fähnlein. Dies hatte den Vorteil, daß die verschiedenen Orden in allen Regionen Deutschlands vertreten sein konnten, soweit die einzelnen Mitglieder mit deren Ordenszielen einverstanden waren. War dies nicht der Fall, konnte ein neuer Orden gegründet werden oder man wechselte in einen anderen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. So waren in Frankfurt vier Orden beheimatet, die auch in anderen Städten Fähnlein unterhielten. Die „Rabenklaue“, die „Wulfen“, die „Freibeuter“ und ein „Piraten“-Fähnlein, dessen Orden überwiegend in Düsseldorf seinen Stammsitz hatte. Ein ehemals fünfter Orden, die „Amelungen“, hatte sich nach einer Auseinandersetzung 1930 mit der Bundesführung aufgelöst und war in anderen Bünden aufgegangen.
Der Mittelpunkt des Bundes war die Burgruine Waldeck im Hunsrück, die nach und nach zu einer Jugendburg auf- und ausgebaut werden sollte. Viele Wochen verbrachten die Mitglieder des Bundes dort, um Freunde zu treffen, Fahrten zu planen oder am Aufbau mitzuwirken. Die Bauhütte hatte in den Sommermonaten bis zu 30 Helfer, und die eigene Landwirtschaft, die rings um die Burg betrieben wurde, war auf jede helfende Hand angewiesen.
Bundesführung und Kanzlei, vertreten durch Robert und seinen Bruder Karl, waren dort ansässig. Von hier aus begannen die Großfahrten, die oft Monate oder Jahre dauerten. Die hierbei gefilmten Abenteuer wurden später teils im Vorprogramm der großen Festspielhäuser oder zu Werbezwecken bei Elternabenden gegen Entgelt gezeigt. Die eingespielten Summen wurden dann für den Aufbau der Burg oder die nächste Großfahrt eingesetzt. Die Fähnlein waren Freundeskreise, in die man neue Mitglieder „keilte“. Das Fähnlein, dem ich jetzt angehörte, war keinem Orden zugeteilt, sondern „bundesunmittelbar“ nur dem Bundesführer Robert Oelbermann unterstellt, der sich wie so oft wieder einmal auf großer Fahrt im Ausland befand.
Verantwortlich waren Hermann Flor und seine beiden Stellvertreter und späteren Nachfolger Fritz Hoffmann und Heinz Gilles. Mit zwei Dutzend Jungen hatten sie eine Aufgabe übernommen, die ihnen nicht immer leicht fiel.
Die „Rabenklaue“ war mit etwa 80-100 Mitgliedern der größte Orden. Die „Freibeuter“, auch in Offenbach stark vertreten, waren gemeinsam mit den „Wulfen“ und „Piraten“ gleich groß. Zu den Nestabenden trafen wir uns in einem Haus in der Löhergasse im Stadtteil Sachsenhausen, das die Stadt für Jugendgruppen aller Bünde zur Verfügung gestellt hatte. In den engen Gassen der Altstadt dort schallten die Gesänge und Klampfen nach Meinung der Anwohner zu laut, so daß Beschwerden nicht ausblieben.
Auch gelegentliche Raufereien mit Angehörigen anderer bündischer Gruppen sorgten für weiteren Ärger. Hermann Flor schlug daher vor, in privaten Räumen zu tagen, zumal man dann mit einer Suppe oder mit belegten Broten versorgt werden könnte. Gearbeitet wurde zu dieser Zeit bis 19.00 Uhr, und einige kamen direkt von ihren Lehrstellen zum wöchentlichen Treffen. In diesem Kreis, so glaubte ich, konnte man ohne Einmischung der Eltern, Parteiorganisationen und kirchlichen Institutionen sein Leben nach eigener Bestimmung und Verantwortung – wie in der Meißner-Formel von 1913 vorgegeben – gestalten. Ein Traum für einen 12-jährigen Knaben! Zwar hatte mir der Parteieintritt und der SA-Dienst des „alten Herrn“ einige Vorteile gebracht, da er an vielen Abenden und Wochenenden im Einsatz war und ich so Nestabende und Fahrten wahrnehmen konnte, ohne lästige Fragen beantworten zu müssen. Schlechte Noten jedoch, und dies war ein perfides Druckmittel, wurden mit Teilnahmeverboten geahndet. Die Nerother waren für ihn ohnehin „Tunichtgute“ und „lose Vögel“, die für eine bürgerliche Erziehung wenig taugten.
Wie recht er hatte, zeigt uns ein Gesamtbild, das Karl von den Driesch in seiner autobiographischen Skizze „Entwicklungen“, Seite 12-14, erschienen 1996 im Deutschen Spurbuchverlag, über die Nerother aufzeichnete.
So zum Beispiel über das Singen:
„Unser Nimbus“, so hat es ein Nerother ausgedrückt, „beruht nicht auf gesanglicher Vollkommenheit, sondern auf der Übereinstimmung vom Erleben und dessen Umsetzung im Gesang. Die Besonderheit nerothanen Singens liegt da, wo wir Texte leben können und darum im Vortrag glaubwürdig sind. Das unterscheidet uns von neubündischen Chören und Gesangvereinen.“
Eine weitere Detailbeschreibung des Nerother Wandervogels findet sich bei Walter Laqueur in dem Buch „Die deutsche Jugendbewegung“, 1962, Seite 179, Verlag Wissenschaft und Politik, B. v. Nottbeck, Köln:
„Die Nerother: In den Augen ihrer Freunde und Förderer die Kompromißlosesten unter den Bündischen genannt, von ihren zahlreichen Gegnern wurden sie als Desperados der Jugendbewegung bezeichnet. Sie waren unerschütterlich in ihrem Widerstand gegen alle Kompromisse ihrer Gesellschaft, erbitterte Gegner des Gedankens, erwachsen zu werden, sagten ihre Kritiker. Ihre abenteuerlichen und waghalsigen Expeditionen in ferne Kontinente dauerten nicht Wochen, sondern Monate und Jahre. Gelegentlich arbeiten sie auch, um zu leben, aber sie waren die Bohémiens der Jugendbewegung, die den Geist der Wandervögel ins Extrem führten, die sich weigerten, mit ihrem Umfeld einen modus vivendi zu finden.
Dies allein wäre kaum ausreichend, ein ungünstiges Urteil über sie zu rechtfertigen. Und es ist eine Streitfrage, ob vollkommene Anpassung an die Gesellschaft das höchste Ziel sein sollte.“
In diesem Milieu hatte ich meine Freunde gefunden. Die Gruppe war mir Familienersatz.
Jede Fahrt und jeden Heimabend hier zu beschreiben, würde den Rahmen dieser Aufzeichnungen sprengen, zumal sie über die Monate des Jahres 1932 ohne große Veränderungen abliefen. Ziel der Wochenendfahrten waren der Taunus und Spessart, eine schilfumstandene Insel in der Kinzig und die Burg Waldeck selbstverständlich. Die Frankfurter Fähnlein der „Rabenklaue“ unter „Oster“, Paul Leser und Wolf Kaiser gingen gemeinsam oder getrennt, manchmal mit Fähnlein befreundeter Orden auf Fahrt. Oder aber – und das kam gelegentlich vor – man zeltete (die schwarze Kohte hatte sich noch nicht durchgesetzt) mit einer anderen bündischen Gruppe am gleichen Platz. So trafen wir uns manchmal, meist an einem Badesee wie dem Grünwieser-Weiher oder Hattstein-Weiher im Taunus, die zu dieser Zeit nur wenig von Badeausflüglern frequentiert wurden.
Auch die Niedermooser Seen im Vogelsberg kamen hier in Frage, waren jedoch weiter entfernt und man verlor durch An- und Abfahrt die ohnehin knappe Fahrtenzeit.
Bei solchen Gelegenheiten versuchten wir, neue Pimpfe zu keilen, was fast immer gelang. Wenn Nerother sangen, beeindruckten sie stets ihre Zuhörer. Aber die Gegenspieler waren nicht untätig. Vor allem ein gewisser Rudi Sturdinski, genannt „Quarta“, ein baumlanger Kerl, fuhr mit seinem Rennrad die Straßen und Plätze des West- und Nordends der Stadt ab und hielt Ausschau. Er trug schon eine Jungenschaftsbluse à la tusk und führte eine kleine Gruppe der „Deutschen Freischar“ (ihm sollte ich in späteren Jahren noch häufiger persönlich begegnen).
Wie sehr sich der Nationalismus inzwischen auch in unserer Familie manifestiert hatte, wurde besonders augenfällig anläßlich eines Besuches von Tante Martha, einer Cousine meiner Mutter, die mit ihrem Ehemann, einem Tschechen, zu Besuch kam. Als Gastgeschenk erhielt ich ein Buch über die Tschechoslowakei. Es sollte mich über Land und Leute informieren, wie er sagte, dabei lud er mich in den nächsten Ferien nach Prag ein. Mein Stiefvater aber entriß mir das Geschenk mit den Worten „Du liest mir das nicht, die Tschechen sind 1914/18 zu den Russen übergelaufen!“ Auch andere Bemerkungen wie „was will die Jüdin hier!“ machten meine Mutter sehr betroffen.
Tante Martha war die Tochter meines Großonkels, des Bruders meiner Großmutter, jedoch vor ihrer Heirat zum katholischen Glauben übergetreten. Den überzeugten Nationalsozialisten aber war nicht die Religionszugehörigkeit, sondern die jüdische Abstammung Grund genug für Diffamierung und letztendlich Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung. Vorerst blieb es bei Verbalattacken wie „die Juden sind unser Unglück“ und „Juda verrecke!“ Die bisher gezeigte schwarz-weiß-rote Fahne wurde eingemottet und durch eine Hakenkreuzfahne ersetzt, was Onkel Frank sich ohne Erfolgsaussichten in einem Brief verbat.
Die Weihnachtsferien verbrachte ich nach den Feiertagen mit unserem Fähnlein im Vogelsberg auf einer Skihütte am Hohen Rodskopf. Die Ausrüstung war im Vergleich zu der heutigen recht rustikal, besser noch „urig“. Skischuhe der damaligen Zeiten sind jetzt im Offenbacher Ledermuseum zu besichtigen. Die Skier selbst wurden je nach den Schneeverhältnissen mittels eines Bügeleisens, das auf einem Küchenherd erhitzt wurde, und Bienenwachs oder Stearinkerzen „gewachst“. Mit Pudelmützen, Ohrenschützern und dickem Wollschal ging es dann auf die mäßig steile Piste, wo wir uns in Stemmbogen und Abfahrten übten.
Am Abend, nach einem Hordeneintopf oder sonstiger „Pampe“, hockten wir um den Herd, dessen Ringe teilweise gesprungen oder ganz verschwunden waren, so daß die Flammen zu unserer Freude fast die Deckenbalken in Brand gesetzt hätten. Dabei wurden so manche Wollsocken, die an einer Leine zum Trocknen über dem Herd hingen, angekokelt und unbrauchbar. Wenn dann aber die Gitarren klangen und wir unsere Lieder schmetterten, kamen vorbeifahrende Skiläufer an die Fenster und lauschten. Gelegentlich kam der eine oder andere ungeniert hereinspaziert.
„Seid ihr von Oelbermanns wilder Horde?“ fragte ein – wie es schien – gut Informierter.
Wir sammelten Holz für die Neujahrsnacht. Ohne großes Feuer im Freien war der Jahreswechsel nur der halbe Spaß. Das Jahr 1933 begann in freudiger Erwartung auf kommende Fahrten und Abenteuer.
Der 30. Januar 1933 war für die NSDAP „der Tag“. Die Machtübernahme mit Fackelzügen, bombastischen Reden, aber auch versteckten Drohungen. Wer in der Presse zwischen den Zeilen lesen konnte, ahnte, was sich da langsam, aber stetig in Richtung Verbote, Ausgrenzung, Schutzhaft und Konzentrationslager zubewegte.
Der Nerother Oskar Sulz (in der Emigration Oscar Sorell), Fahrtenname „Butz“, Mitglied der „Rabenklaue“, beschreibt diese Tage in einem privaten Tagebuch:
„Sturmwolken ballten sich um uns. 1933 naht. Wir wittern die Gefahr eines linken oder rechten Totalitarismus. Wir finden uns genau in der Mitte. Singen, lesen und gehen auf Fahrt. Dann passiert’s: Der Fackelzug durch die Straßen Frankfurts. Ich stehe in der Kaiserstraße und fühle einen Schüttelfrost über dem Rücken. Paul Leser ist bedrückt und so fühlen auch andere unserer Gruppe.
Einige Zeit radeln wir noch zu unseren Nestabenden …, dann kommen die Schläge:Verbote, alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist verboten. Gleichschaltung posaunen Zeitung und Radio. Wir verlieren unsere Heimräume in der Löhergasse. Von nun an treffen wir uns nur noch in Wohnungen. Wilhelm Maria Mund schließt sich mit seinem, Grünen Kreis, einer bündischen Singgruppe, uns an. Ich hatte aber das Gefühl, daß diese ganz und gar nicht zu uns paßte. Durch seine Initiative wurden wir (Teil der „Rabenklaue) für ein paar Wochen die ,Gebiets-Spielschar’, sangen gelegentlich im Radio und bei einer Filmvorführung des HJ-Films ,Hitlerjunge Quex’, und einmal, als die großen Führer Hitler, Göring und einige andere Räuberbarone nach Frankfurt kamen. Sie kamen durch einen kleinen Raum, in dem wir sangen, und ich sah keinen Heiligenschein um Görings fetten Kopf.“
Das Familienleben kam jetzt zum Erliegen. Unsere Wohnung – die Aufmärsche in der Innenstadt waren beendet – glich einer Stabsstelle. SA-Männer kamen, SA-Männer gingen. „Heil Hitler, Müller“, „Heil Hitler, Schmidt“, „Heil Hitler, Meyer“ – sie saßen in Mutters Salon und in Stiefvaters Ledersesseln im Arbeitszimmer herum, diskutierten und tranken Flaschenbier kastenweise. Ich hörte das Hackenschlagen und das schnalzende Geräusch beim Öffnen der Bierflaschen. „Flopp“ und das Klicken des Metallbügels auf dem Flaschenhals. Man rauchte Zigaretten der Marke „Trommler“ und „Sturm“, die ich wegen der in den Packungen enthaltenen Zigarettenbilder „Regimenter der preußischen Armee“ und „große Schlachten der Preußen“ als Tauschobjekte aus der Schule kannte (man tauschte drei Generäle gegen einen Fußballspieler)!
Braun aller Orten; die folgenden Tage sah ich den SA-Truppführer Westenburger nur noch in Uniform, die Ordensspange, das EK I und das Baltikum-Kreuz an die linke Brust geheftet, Anordnungen lesend, Telefongespräche führend an seinem Schreibtisch. Die Familie war im Augenblick Nebensache. Ein Grund mehr, mich zu meinem Bundesfähnlein abzusetzen. Daran hatte sich nichts geändert, noch nicht. Die Älteren glaubten nicht an ein Verbot. Wenn Robert Oelbermann, dem wir als Bundesfähnlein direkt unterstanden, zurückkam, würde er schon die Richtung weisen. Wann dies sein würde, blieb offen und damit eine gewisse Unsicherheit.
Daß das Heim in der Löhergasse aufgelöst wurde, traf unsere Gruppe nicht, da wir seit langer Zeit ohnehin die Nestabende in privaten Räumen abhielten. Auf Fahrt gehen war zur Winterszeit auch nicht unsere Sache, wir wollten lieber für den Singewettstreit beim kommenden Bundeslager neue Lieder einstudieren, um diese dann auch gut vortragen zu können. So wurde die politische Wende in unserer Runde kaum wahrgenommen. Die Hitlerjugend war keine Alternative, und das erst neu gegründete Jungvolk zu popelig. Unsere Verbindungen zu den einzelnen Orden und Fähnlein blieben wie bisher locker und freundschaftlich. Man warnte uns zur Vorsicht und Zurückhaltung.
Das offizielle Aus, wenn auch nicht das endgültige, kam am Tag nach dem Reichstagsbrand (27. Februar 1933), durch die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz für Volk und Staat (28. Februar 1933). Hiernach konnte jeder für alles, was nicht staatskonform war, rücksichtslos und ohne ordentliches Gerichtsurteil inhaftiert, im damaligen Sprachgebrauch „in Schutzhaft“ genommen werden. Deren Dauer wiederum hing von der angeblichen Schwere des Vergehens oder Verbrechens ab, konnte somit Monate oder Jahre dauern; oft mit tödlichem Ausgang.
Der SA-Sturm Nr. 63 hatte in Ginnheim das sogenannte „Westendheim“ installiert, in dem unliebsame Mitbürger arrestiert wurden. Mein Stiefvater war SA-Truppführer in eben diesem Sturm.
Die allgemeine Entwicklung hinsichtlich des Nerother Bundes, seiner Burg, seiner Landwirtschaft und seiner Mitglieder schildert der Frankfurter Paul Leser, Mitbegründer des Bundes 1920/21, in seinen Briefen vom 14. März 1933 und 9. Juni 1933 an Robert Oelbermann, der sich mit acht weiteren Nerothern auf „Weltfahrt“ befand und sich im Ausland keine Vorstellung der inzwischen eingetretenen Verhältnisse machen konnte (puls Nr. 20, Dokumentationsschrift der Jugendbewegung, Mai 1993, Südmarkverlag).
Hier kann nur aus meiner persönlichen Sicht berichtet werden und somit mein eigener Werdegang innerhalb der Gruppierungen, deren Mitglied ich war.
Die Entwicklung nahm ihren Lauf:
Die HJ-Führung beginnt mit einer Hetzkampagne gegen alle bündischen Gruppen, insbesondere gegen den Nerother Wandervogel und die deutsche jungenschaft 1929 (dj.1.11).
Im Mai 1933 gipfelte diese in einem Aufruf im HJ-Führerblatt „Junge Nation“, Nr. 5: „Vernichtet die Bünde“. Am 18. Juli 1933 wurde die Waldeck von SA und HJ regelrecht besetzt. Am 22. Juli 1933 dann der Bund aufgelöst. Freiwillig, um einer Zwangsauflösung und Überführung der verbliebenen Mitglieder in die Hitlerjugend zuvorzukommen. So waren Ende Mai ein letztes Mal „Ordenstag der Rabenklaue“ und Pfingsten, eine Woche später, Bundestag in Remagen. An beiden Treffen hat unser Fähnlein nicht mehr teilgenommen.
Ein Unbekannter machte darauf einen Vers:
„Aus soll es sein mit den Klampfen und Liedern,
die wir gesungen auf Waldeck am Rhein.
Niemals sollen wir Freunde uns treffen,
Orden und Fähnlein im Bund nicht mehr sein!“
Im Oktober war Robert Oelbermann mit seinen Gefährten, darunter drei Frankfurter Nerothern, trotz der Warnungen der „Rabenklaue“-Freunde nach Deutschland zurückgekehrt. Was hatten sie erwartet außer Schikanen und Verfolgung? Der Bund hatte sich aufgelöst, die Burg in Feindeshand.
Um so erstaunlicher war es, daß am 8. November 1933 der Film „Unter Gauchos und Indianern“, den Karl Mohri, einer der Weltfahrer – als einer von zwei Kameramänner – gedreht hatte, der interessierten Öffentlichkeit (Initiator und Drehleiter war Robert Oelbermann) vorgeführt werden durfte. Zwei Gründe schienen ausschlaggebend:
1. Das Filmmaterial war von der UFA bereitgestellt worden, und Nerotherfilme liefen als Kulturfilmbeitrag schon in der Weimarer Republik im Vorspann großer Lichtspielhäuser. 2. Die Nerother hatten stets auf ihren Großfahrten rund um den Globus die deutschen Auslandssiedlungen besucht, waren dort willkommene Gäste aus der alten Heimat und erhielten Unterstützung für weitere Unternehmungen. Vermutlich konnte sich die HJ-Bannführung dieser Tatsache nicht entziehen und erteilte eine Genehmigung.
Die Partei benutzte jetzt diese Filme propagandistisch unter dem Titel „Deutschlands Jugend besucht Deutsche im Ausland“. Der Vorspann war ideologisch durch einen deutschnationalen Hinweis auf das Deutschtum im ach so schlimmen Ausland aufbereitet. Diese Filme, noch vor 1933 gedreht, liefen jetzt verfälscht immer noch in den Kinos. Der jetzt gezeigte Film der Weltfahrer hatte jedoch keine Manipulation erfahren. Man hatte ihn bereits im Ausland entwickelt und Kopien erstellen lassen. So zu verfahren hatte der Frankfurter Nerother Paul Leser angeraten. Er wies mit Recht darauf hin, daß alle Bundeseinnahmen vermutlich beschlagnahmt würden. Es sollte aber ganz anders kommen.
Weder in der Presse noch an den Plakatsäulen waren irgendwelche Ankündigungen zu lesen. Mundpropaganda (bündische Buschtrommel!) und gelegentliche Anschläge an Schwarzen Brettern in den Schulen sorgten am Ende für ein ungeahntes Echo. Entgegen der Annahme der HJ-Führungsriege, es bliebe bei mäßigem Zuspruch, war die bündische Jugend gut informiert und erschien zahlreicher als erwartet.
Wir zogen los. Vier Jungen, der klägliche Rest unseres Fähnleins. Werner Freißlich, Fahrtenname „Schräubchen“, hatte stets ein paar Schrauben oder Nägel in seinen Hosentaschen parat, nie jedoch einen Schraubenzieher, aber eine Schleuder.
„Adi“ Trittler, ein schüchterner, blasser Typ, der sich bei schnellem Sprechen leicht verhedderte und den angefangenen Satz abrupt abbrach. Sein Vater war ein sogenannter „alter Kämpfer“, was ihm in der Gruppe einen Vertrauensverlust einbrachte. Er hatte ohnehin Mühe, sich Gehör zu verschaffen, und litt darunter. Seine Teilnahme sollte uns beweisen, daß er immer noch unser Freund und Fahrtenkumpel war. Mein dritter Begleiter war Willi Hülswitt, kurz „Witte“ genannt. Ein stämmiger, zum Raufen neigender Choleriker, der „Adis“ körperliches Erscheinungsbild doppelt ausglich. Wir trugen unsere schwarz-rot-schwarzen Halstücher als Zeichen der Verbundenheit. Verbot hin, Verbot her.
Das neue „Haus der Jugend“, heute Anne-Frank-Begegnungsstätte, in der Hansa-Allee 150, lag vor der Stadt am alten Grünhof im Dornbusch-Viertel. Der Grundstein war bereits 1926 gelegt, die Einweihung erfolgte erst 1930. Zeitgemäß natürlich mit Krawallen zwischen einzelnen politisch orientierten Jugendverbänden.