ISBN: 978-3-939562-42-9

Books on Demand GmbH, Norderstedt

© 2016

Lichtschlag Buchverlag

Natalia Lichtschlag Buchverlag und Büroservice

Malvenweg 24

41516 Grevenbroich

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Die Menschenwürde im Sozialstaat
  3. Wenn der Staat beim Sterben hilft
  4. Darf es ein bisschen mehr sein? Warum zu viele Gesetze uns nicht Recht sein können
  5. Gesetzgebungsmacht:Die Versuchung, über das Unverfügbare zu verfügen
    1. Einleitung
    2. Hauptteil
      1. Die formale Struktur von Regeln
      2. Empirische Erscheinungsformen von Regeln
      3. Die Durchsetzbarkeit von Regeln
      4. Die Verfügungsbefugnis des Regelsetzers
      5. Göttliches und menschliches Recht
      6. Gesetzgebung als Geschäftsführung ohne Auftrag
    3. Schluss

I. Einleitung

Vor 25 Jahren legte mir erstmals ein Krankenhaus die Rechtsfrage vor, wer seine Rechnung bezahle, wenn der Patient nicht krankenversichert sei. Die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, so schien es, hatten doch eigentlich für jedwede Konstellation eine Antwort parat. Man kannte wohlhabende Patienten, die ihre Rechnungen selbst beglichen; privat krankenversicherte Patienten, für die eine Versicherungsgesellschaft eintrat; gesetzlich Krankenversicherte, deren Behandlung eine Krankenkasse bezahlte; und Sozialhilfeempfänger, um die sich die gemeindliche Sozialbehörde kümmerte. Dennoch blieben Lücken, insbesondere dann, wenn der jeweilige Status eines Patienten unaufklärbar war. Auch in diesem Fall musste das Krankenhaus behandeln, um nicht dem Vorwurf einer strafbaren unterlassenen Hilfeleistung ausgesetzt zu sein.

Die Zusammenhänge zwischen Medizin und Recht, die Konflikte zwischen den Interessen des Einzelnen und denen des Staates, die Frage nach den Grenzen der öffentlichen Eingriffsbefugnis in den menschlichen Körper (als dem wohl zentralsten Ort der Privatheit) und das Spannungsverhältnis von Barmherzigkeit und Ökonomie haben mich seither durchgängig beschäftigt. Aus der Arbeit als Rechtsanwalt ist eine auch publizistische geworden. Dabei haben mich in Aufsätzen und Vorträgen weniger die tagesaktuellen Streitigkeiten des Gesundheitsrechts beschäftigt, die ohnehin meist durch permanente Gesetzesänderungen überholt sind, bevor die Tinte getrocknet ist. Wesentlicher erschien und erscheint mir die Arbeit an den Grundlagen.

In dem vorliegenden Band sind fünf Erörterungen zu dem Thema zusammengefasst, die allesamt solche Grundfragen betreffen. Wie sehr kann und darf ein Gemeinwesen – zumal dann, wenn es als staatliche Organisation mit der Befugnis zur Zwangsausübung ausgestattet ist – den einzelnen verwalten, ohne gegen seine Menschenwürde zu verstoßen? Wo finden sich ethische Grenzen für die Übertragung der gesundheitlichen Verantwortung von dem Einzelnen auf eine Behörde? Warum steht gerade eine zentralverwaltete staatliche Großorganisation in der Gefahr, medizinische Fehlentscheidungen zu Lasten des einzelnen Patienten zu treffen, und wie läßt sich dieser Gefahr durch subsidiäre Verantwortung, namentlich auch im Bereich der öffentlichen Verwaltung, entgegenwirken? Wie viele kleinteilige Gesetze sind mit der Gewährleistung von Recht in einer Gesellschaft noch vereinbar? Und wo liegen die rechtsethischen Grenzen, wenn ein Gesetzgeber glaubt, Rechtsregeln für die Allgemeinheit formulieren zu dürfen?

Ein Haus bleibt nicht stehen, wenn seine Fundamente nicht fest sind. Ebenso kann auch das kleinteiligste System eines Gesundheitsrechts keinen Bestand haben, wenn seine grundlegenden Prämissen ungeklärt sind. Der gesellschaftliche, politische und rechtliche Diskurs kommt nicht an der Frage vorbei: Wie werden die Rechts- und Verantwortungssphären des Einzelnen und der Gemeinschaft gegeneinander abgegrenzt? Mag dieser Band einen Beitrag dazu leisten.

II. Die Menschenwürde im Sozialstaat

Über eines lässt sich mit jedermann schnell Einigkeit erzielen: Menschenunwürdige Verhältnisse sind unerträglich. Schwieriger allerdings wird es, will man Einigkeit über die Frage herstellen, was denn Menschenwürde im Einzelnen überhaupt sei. Wenn also die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in ihrem ersten Artikel erklärt „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, dann sind damit im Grunde mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Was nämlich kennzeichnet diese Würde? Wo fängt sie an, wo endet sie?

Aus deutscher Sicht fällt auf, dass dieser zitierte Artikel aus dem EU-Recht wörtlich übereinstimmt mit dem Beginn des bundesrepublikanischen Grundgesetzes. Auch dessen erster Artikel beschreibt exakt jene Unantastbarkeit der Menschenwürde. In der verfassungsrechtlichen Literatur wird die dortige Hervorhebung der Menschenwürde mit dem historischen Kontext erklärt. Weil die Nationalsozialisten die Menschenwürde so exzessiv verletzt hatten, sollte nun der neue deutsche Staat hier die Garantie für das Gegenteil bieten. Deswegen rückte der Schutz der Menschenwürde (der in der vorangegangenen Weimarer Reichsverfassung noch weit hinten, im 151. Artikel, behandelt worden war) in den ersten Grundgesetzartikel vor.

An genau diese erste Stelle des Verfassungstextes hatten die Entwurfsverfasser für das Grundgesetz allerdings ursprünglich noch eine ganz andere Formulierung setzen wollen. Im sogenannten Herrenchiemseer Entwurf für das Grundgesetz hieß es dort: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Der besondere Wert dieser Formulierung liegt augenscheinlich darin, dass er dem Leser und Rechtsanwender eine inhaltliche Richtung weist: Kollidieren die Interessen des Staates mit den Interessen des einzelnen Menschen, dann haben die Interessen des Individuums Vorrang. Mit anderen Worten: In der Fassung des Entwurfs gab es gleichsam noch eine eindeutige Vorfahrtregelung für den Menschen und gegen den Staat.

Das Zurückstehenmüssen des staatlichen Apparats gegen den Einzelnen wurde – so merkwürdig es klingt – mit der Entscheidung für die Formulierung von der unantastbaren Würde abgemildert. In der gewählten Endversion darf der Staat wieder mehr. Und tatsächlich: Der zweite Satz des deutschen Grundgesetzes unterstreicht genau dies. „Sie“, also die Menschenwürde, „zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Der Staat hat also seine Finger von der Würde zu lassen und er hat fremde Finger von der Würde fernzuhalten. In Ermangelung einer Vorfahrtregelung für den einzelnen Menschen darf aber nun jedenfalls der Staat definieren, was Würde sei und was nicht. Mehr noch: Weil – der herrschenden Verfassungslehre entsprechend – das Individuum auf seine Grundrechte nicht schrankenlos verzichten darf, bleibt der Bereich dessen, was Würde ist, den staatlichen Organen zur Ausgestaltung überlassen.

Die Rechtsprechung der Bundesrepublik Deutschland hat sich vor diesem Hintergrund bemüht, der Menschenwürde eine juristisch handhabbare Gestalt zu geben. Das Bundesverfassungsgericht hat erklärt, der einzelne Mensch müsse stets Subjekt bleiben, er dürfe nicht zum Objekt staatlicher Maßnahmen herabgewürdigt werden. Auf der Basis dieser Überlegung hat der Bürger beispielsweise das Recht, vor einer staatlichen Entscheidung, die ihn betrifft, angehört zu werden. Er soll nicht nur wie eine willenlose Schachfigur über das Staatsspielbrett geschoben werden dürfen, auch wenn die Spieler glauben, es sei doch so zu seinem Besten.

Wo aber verläuft diese Grenze zwischen Subjekt und Objekt? Verhört der Polizist einen Bürger, dann ist es dessen subjektive Entscheidung, ob er redet oder nicht, was er sagt und worüber er schweigt. Beginnt der Polizist hingegen, den Bürger unter Schmerzen und Drohungen zu foltern, dann presst er die gewünschte Information zuletzt gewaltsam aus dem Menschen heraus wie Creme aus einer Tube. Wo der Wille des anderen, der Wille des Bürgers oder – anders gesprochen – der Wille des Nächsten keine Bedeutung mehr hat und keine Rolle mehr spielt, da nähert man sich einer Verletzung seiner Menschenwürde schon bald.

Kläger haben geltend gemacht, sie wollten sich nicht von einer Ampel vorschreiben lassen, ob sie weitergehen dürften oder nicht. Der Apparat mache sie andernfalls zum Objekt. Mit Vortrag wie diesem hat man die Rechtsprechung dahin gebracht, zu erklären, die Menschenwürde sei keine „kleine Münze“. Vielmehr sei sie nur dann rechtswidrig betroffen, wenn die Subjektqualität des einzelnen „prinzipiell in Frage gestellt“ werde. Die Garantie der Menschenwürde vermittle nur einen „Elementarschutz“. Vergleicht man dieses Wort mit dem seinerzeitigen historischen Verfassungsentwurf, der dem einzelnen noch generell Vorfahrt vor dem Staat gewähren wollte, dann will scheinen, als sei der Schrecken über die Konsequenzen des faschistischen Unrechts in Deutschland über die Jahrzehnte erkaltet. Muss nicht der erste Gedanke eines jeden Bürgers in einem Staat, der für sich das sogenannte Gewaltmonopol reklamiert, an jedem Morgen die Frage sein: Wie hege ich die daraus resultierenden Gefahren für mich und meine Mitbürger – als prinzipiell gewaltunterworfener, schwächerer Teil – heute mit Aussicht auf Erfolg ein?

Seine Berufsordnung verpflichtet jeden deutschen Rechtsanwalt, Mandanten – so wörtlich – „gegen verfassungswidrige Beeinträchtigung und staatliche Machtüberschreitung zu sichern“. Genau hier blitzt wieder der Vorrang des Einzelnen vor dem Staat auf. Mit den Mitteln des Rechts ist den Potentialen der staatlichen Gewaltorganisation entgegenzutreten. Denn jede noch so große Summe aus Teilen hat keinen Wert mehr, wenn allen ihren Teilen ihr Wert geraubt ist. Die Menschenwürde unangetastet zu lassen, heißt also: Jede einzelne Zelle des Gesamtorganismus ist unbedingt zu respektieren. Was der Staat der geringsten Zelle antut, das hat er zuletzt sich selbst angetan.

Bündelt man diese grundlegenden Erkenntnisse über den Einzelnen und die (staatliche) Gemeinschaft mit dem Anspruch, dass alle Beteiligten respekt- und würdevoll miteinander umzugehen haben, so folgen daraus einige wahrhaft elementar schützende Grundsätze: Jeder Einzelne hat das Recht, gefragt zu werden, bevor von anderen über ihn eine Entscheidung getroffen wird. Jeder Einzelne hat das Recht, sich aus Gemeinschaften zu verabschieden, die Beschlüsse fassen und durchsetzen, die er nicht mittragen möchte. Jeder Einzelne hat das Recht, seine Seele, seinen Körper und sein Eigentum von Kollektivierungen fernhalten zu dürfen, an denen er nicht beteiligt sein möchte. Jeder Einzelne hat das Recht, dass seine eigene, freie Willensentscheidung von anderen respektiert wird, solange er anderen dadurch nicht schadet. Jeder Einzelne hat das Recht, sich zu irren und in sein eigenes Unglück zu rennen – die anderen dürfen ihn daran nicht gewaltsam hindern, sie haben nur die moralische Pflicht, ihn auf Gefahren hinzuweisen, die sie kennen.