ISBN: 978-3-9395-6252-8
Ins Deutsche übersetzt von David Schah
Layout von Martin Moczarski
© 2016
Lichtschlag Buchverlag
Natalia Lichtschlag Buchverlag und Büroservice
Malvenweg 24
41516 Grevenbroich
Die vom Autor dieses Buches exklusiv in deutscher Sprache erstmals so zusammengesetzten Kapitel erschienen als Essays in den Jahren 2008 und 2009 jeweils zuerst im „City Journal“ in englischer Sprache und danach in „eigentümlich frei“ (in den Ausgaben 84, 86, 88, 89, 90, 91, 95 und 98) auf Deutsch. Ist die Zeitlosigkeit, ja eher größere Aktualität der Artikel nicht auf wundersame Weise verblüffend?
Gefängnisinsassen sagen nach ihrer Entlassung oft, dass sie ihre gesellschaftliche Schuld beglichen haben. Das ist natürlich abwegig: Ein Verbrechen kann man nicht vermittels doppelter Buchführung entgelten. Man kann keine Schuld dadurch tilgen, dass man noch viel größere Kosten verursacht. Man kann auch nicht im voraus für einen Banküberfall bezahlen, indem man als Entgelt einen Gefängnisaufenthalt bietet. Vielleicht hat ja ein Häftling nach seiner Entlassung wieder eine weiße Weste, aber seine Schuld hat er nicht abgegolten.
Es wäre ebenso unangemessen, wenn ich selbst anlässlich des Rückzugs aus meiner Krankenhaus- und Gefängnistätigkeit sagen würde, ich hätte der Gesellschaft gegenüber meine Schuldigkeit getan. Ich hätte die Wahl gehabt, etwas Erfreulicheres zu tun, wenn ich das gewollt hätte, und ich wurde zwar nicht üppig, aber wenigstens angemessen bezahlt. Für meine berufliche Tätigkeit hatte ich mir deshalb eine unerquickliche Klientel ausgesucht, weil mich diese armen Seelen aus medizinischer Sicht im Vergleich zu Normalbürgern weitaus interessanter anmuteten: Ihre Pathologie ist facettenreicher und ihr Aufmerksamkeitsbedürfnis größer. Ihre Dilemmata sind zwar grobschlächtiger, aber auch stringenter und näher dran an den Grundlagen der menschlichen Existenz. Zweifellos glaubte ich auch, dass meine Dienste an dieser Stelle wertvoller sein würden beziehungsweise dass ich eine Art von Pflicht zu erfüllen hätte. Vielleicht habe ich aus diesem Grund, ähnlich wie der Häftling nach seiner Freilassung, das Gefühl, dass ich der Gesellschaft gegenüber meine Schuldigkeit getan habe. Sicherlich hat diese Arbeit mir viel abverlangt, und es ist Zeit für mich, etwas anderes zu tun. Sollen andere sich nun dem Kampf gegen die wuchernde Sozialpathologie Großbritanniens widmen. Ich jedenfalls werde jetzt ein Leben führen, das mir eine größere ästhetische Erfüllung bietet.
Meine Arbeit hat mich dazu gebracht, mich auf eine vielleicht ungesunde Weise mit dem Problem des Bösen zu beschäftigen. Warum tun Menschen Böses? Welche Bedingungen lassen das Böse gedeihen? Wie verhindert oder unterdrückt man es am besten? Immer wenn ich einem Patienten zuhöre, der mir erzählt, welche Grausamkeiten ihm widerfahren sind oder er selbst begangen hat – und ich habe mir 14 Jahre lang täglich mehrere solcher Patienten angehört –, gehen mir diese Fragen unablässig durch den Kopf.
Sicherlich haben auch meine früheren Erfahrungen mein Interesse an diesem Problem vertieft. Meine Mutter floh zur Nazizeit aus Deutschland, und obwohl sie nur sehr wenig über ihr damaliges Leben erzählte, reichte schon der bloße Umstand, dass es viele unaussprechliche Dinge bei ihr gab, die auf gespenstische Weise das Böse in unserem Haus präsent werden ließen.
Später habe ich mehrere Jahre damit verbracht, durch die Weltgeschichte zu reisen, oft an Orte, wo es kurz zuvor zu Greueln gekommen war oder wo diese immer noch begangen wurden. In Mittelamerika wurde ich Zeuge von Bürgerkriegen zwischen Guerillagruppen auf der einen Seite, die ihrer Gesellschaft ihre jeweilige Form einer totalitären Tyrannei aufzwingen wollten, und auf der anderen Seite von Armeen, die keine Skrupel besaßen, Massaker zu verüben. In Äquatorialguinea ist der jetzige Diktator der Neffe und ehemalige Handlanger des vorher herrschenden Diktators, der wiederum ein Drittel der Bevölkerung getötet oder vertrieben hatte und der jede Person hinrichten ließ, die eine Brille trug oder ein bedrucktes Stück Papier bei sich hatte, weil man durch diese Utensilien als Oppositioneller oder potenziell unzufriedener Intellektueller galt. In Liberia besuchte ich eine Kirche, in der mehr als 600 Menschen Zuflucht gesucht hatten und dann abgeschlachtet wurden, womöglich vom Präsidenten selbst, der wiederum kurze Zeit später dabei gefilmt wurde, wie er selbst zu Tode gefoltert wurde. Die Konturen der Körper waren immer noch auf dem getrockneten Blut des Fußbodens der Kirche erkennbar, und die langen Aufschüttungshügel des Massengrabes lagen nur ein paar Schritte vom Eingang der Kirche entfernt. In Nordkorea sah ich den Gipfel der Tyrannei, wo Millionen von Menschen terrorisiert werden, indem sie in elender Demut einem Personenkult um den Großen Führer Kim Il Sung frönen müssen, neben welchem der Sonnenkönig wie der Inbegriff der Bescheidenheit aussieht.
Nun waren all dies politische Ausgeburten des Bösen, die meine Heimat Großbritannien vollends hinter sich gelassen hat. Ich hatte optimistischerweise angenommen, dass das Böse bei Abwesenheit der schlimmsten politischen Abarten keine Chance habe, sich weiter zu verbreiten. Bald musste ich meinen Irrtum einsehen. Natürlich war nichts, was ich in einem britischen Slum sehen sollte, auch nur annähernd so schlimm wie das, was ich andernorts mit ansehen musste. Eine Frau aus Eifersucht zu schlagen, sie in einem Schrank einzuschließen und ihr absichtlich die Arme zu brechen, ist zwar furchtbar, aber bei weitem nicht dasselbe wie Massenmord. Es gab mehr als genügend verfassungsrechtliche, traditionelle, institutionelle und soziale Beschränkungen für großflächige politische Abscheulichkeiten, die in Großbritannien immer noch all das verhinderten, was ich anderswo erleben konnte.
Doch die Skala des Bösen beim Menschen ist nicht nur durch die betreffenden Folgen zu bemessen. Denn Menschen tun Böses innerhalb des Spielraums, den sie haben. Einige Genies des Bösen haben bekanntlich ihr Leben der Aufgabe gewidmet, diesen Spielraum so groß wie möglich zu gestalten. Doch ein solcher Charakter ist in Großbritannien bislang nicht aufgetaucht, und die meisten Übeltäter nutzen lediglich die meisten ihrer kleinen Gelegenheiten aus. Sie nehmen was sie kriegen.
Und dennoch ist das Ausmaß des Bösen, das ich hierzulande vorfand, zwar weitaus bescheidener als die Katastrophen der jüngsten Menschheitsgeschichte, aber nichtsdestotrotz durchaus beeindruckend. In meiner sechsbettigen Krankenstation bin ich mindestens 5.000 Straftätern, welche die von mir oben beschriebene Art von Gewalt ausgeübt hatten, und noch mal so vielen Opfern solcher Gewalt begegnet. Das ist fast ein Prozent der Bevölkerung meiner Stadt. Wenn man die spezifische Altersgruppe solchen Verhaltens mit einrechnet, ist der Prozentsatz noch höher. Und wenn man, wie ich, sich die Lebensgeschichten dieser Leute ansieht, dann stellt man schnell fest, dass deren Leben ebenso mit wahlloser Gewalt angefüllt ist wie das Leben der Bewohner so manch einer Diktatur. Doch anstelle eines Diktators haben wir es hier mit Tausenden kleiner Diktatoren zu tun, von denen jeder der absolute Herrscher seiner kleinen Sphäre ist, und dessen Macht lediglich beschnitten wird durch die Grenzen eines weiteren Minidiktators.
Gewalttätige Konflikte beschränken sich nicht auf Heim und Herd, sondern gehen auf die Straße über. Darüber hinaus habe ich feststellen müssen, dass es in britischen Städten, so auch in meiner Stadt, Folterkammern gibt. Diese werden zwar nicht wie in Diktaturen vom Staat betrieben, sondern von Vertretern von Slum-Unternehmen wie etwa im Drogen-Business. Schuldner und Schuldnerinnen von Drogendealern werden entführt, in Folterkammern gesteckt, an Betten gefesselt und geschlagen oder ausgepeitscht. Mitleid haben die Folterknechte nicht, lediglich etwas Angst vor den Folgen für den Fall, dass man zu weit geht.
Das Erschreckendste an diesem Bösen, das zwar auf einer unteren Ebene stattfindet, aber endemische Ausmaße hat, ist vielleicht der Umstand, dass es ohne Zwang und spontan erfolgt, also der Vorstellung von einer Ursünde am nächsten kommt. Niemand verlangt nämlich von den Leuten, diese Übeltaten zu begehen. In den schlimmsten Diktaturen werden einige Verbrechen von gewöhnlichen Männern und Frauen aus Furcht davor begangen, wegen Unterlassung bestraft zu werden. Hier ist Heldentum erforderlich, um gut sein zu können. In der Sowjetunion war es beispielsweise in den dreißiger Jahren so, dass jemand, der es unterließ, einen politischen Witz zu melden, sich selbst strafbar machte, was seine Deportation oder seinen Tod zur Folge haben konnte. Doch im zeitgenössischen Großbritannien gibt es solche Umstände nicht: Der Staat verlangt von seinen Bürgern nicht, sich derartig zu benehmen, er bestraft sie auch nicht, wenn sie es nicht tun. Das Böse fußt hier auf einer freien Entscheidung.
Es ist allerdings bei weitem nicht so, dass der Staat unschuldig an der freiwilligen Kriminalität ist. Intellektuelle haben die Idee vorgebracht, dass der Mensch von den Fesseln sozialer Konventionen und der Selbstkontrolle befreit werden sollte, und der Staat erließ ohne entsprechende Nachfrage seiner Untertanen Gesetze, die ein ungezügeltes Verhalten förderten. Und der Staat schuf ein Wohlfahrtssystem, das die Menschen in mancherlei Hinsicht vor den wirtschaftlichen Folgen eines solchen Fehlverhaltens bewahrte. Wenn die Hürden des Bösen herabgesetzt werden, dann gedeiht es. Und nie wieder werde ich versucht sein, an das grundsätzlich Gute im Menschen zu glauben oder daran, dass das Böse der menschlichen Natur wesensfremd und beim Menschen eine Ausnahmeerscheinung sei.
Natürlich handelt es sich dabei bloß um meine persönliche Erfahrung. Zugegebenermaßen habe ich von einem eigentümlichen und möglicherweise nicht repräsentativen Standpunkt aus die soziale Welt meiner Stadt und meines Landes in Betracht genommen, nämlich von einem Gefängnis und einer Krankenstation aus, wo praktisch alle Patienten versucht haben, sich umzubringen oder zumindest eine selbstmörderische Attitüde an den Tag legten. Doch diese persönliche Erfahrung ist nicht gering oder unbedeutend, und jeder einzelne meiner vielen tausend Fälle hat mir ein Fenster in die Welt aufgemacht, in der diese Personen leben. Und wenn meine Mutter mich fragt, ob ich nicht Gefahr laufe, dass meine persönlichen Erfahrungen mich verbittern oder auf die Welt durch eine gallenfarbene Brille gucken lasse, dann frage ich sie, warum sie denn, so wie alle alten Leute im heutigen Britannien, nach Sonnenuntergang unbedingt zuhause bleiben möchte oder andernfalls entsprechende Konsequenzen tragen muss, und warum dies in einem Land der Fall ist, das seit Generationen stets gesetzestreu und sicher war. Hat sie mir nicht selbst erzählt, dass sie sich als junge Frau während der Stromausfälle beim Bombenkrieg völlig sicher fühlte, zumindest vor etwaigen Plünderungen ihrer Mitbürger? Dass sie im tiefsten Dunkeln nach Hause ging und dass es ihr niemals einfiel, Opfer eines Verbrechens werden zu können, während sie heute nach Anbruch der Dunkelheit nur die Nase aus dem Fenster stecken muss, um an nichts anderes zu denken? Stimmt es nicht, dass in den letzten zwei Jahren zweimal am hellichten Tage ihre Geldbörse gestohlen wurde, und dass die Statistiken, obwohl diese vom Staat manipuliert und weitestgehend geschönt werden, im Grunde genau das bestätigen, was ich aus meiner persönlichen Erfahrung heraus geschlussfolgert habe? Im Jahre 1921, als meine Mutter geboren wurde, gab es in England und Wales gerade mal ein erfasstes Verbrechen auf 370 Einwohner. Achtzig Jahre später war es ein Verbrechen auf nur zehn Einwohner. Es gab eine Verzwölffachung der Verbrechensrate seit 1941. Bei Gewaltverbrechen ist der Anstieg sogar noch größer. Persönliche Erfahrung ist zwar kaum eine vollwertige Messlatte für die gesellschaftliche Wirklichkeit, aber meine Eindrücke werden zweifellos durch die historischen Daten bestätigt.
Ein Einzelfall kann erhellend sein, vor allem wenn er statistisch banal, also mit anderen Worten alles andere als außergewöhnlich ist. Gestern kam zum Beispiel eine 21jährige Frau zu mir und meinte, an Depressionen zu leiden. Sie hatte eine Überdosis Antidepressiva geschluckt und dann den Notarzt gerufen.
An dieser Stelle muss ich ein paar Bemerkungen über den Begriff „Depression“ loswerden, der das Wort „Traurigkeit“ und sogar den Begriff der Traurigkeit fast völlig aus dem modernen Leben verdrängt hat. Von Tausenden von Patienten, die ich gesehen habe, sagten nur zwei oder drei über sich, unglücklich zu sein. Alle anderen meinten, sie hätten Depressionen. Diese Bedeutungsverschiebung ist ziemlich signifikant, denn sie schließt ein, dass Unzufriedenheit mit dem Leben an sich schon pathologisch sei, also ein medizinischer Zustand, für dessen Aufhebung ein Arzt unter Zuhilfenahme medizinischer Mittel verantwortlich ist. Jeder hat ein Recht auf Gesundheit, und Depressionen sind ungesund. Daher hat jeder auch ein Recht auf Glücklichsein, also auf das Gegenteil von Depressionen.
Diese Vorstellung bedeutet im Gegenzug, dass der Geisteszustand oder die Laune eines Menschen unabhängig davon sein sollte, wie man sein Leben führt. Dieser Glaube muss die menschliche Existenz all ihrer Bedeutung berauben und ganz grundsätzlich die Belohnung vom Benehmen loslösen.
Es ergibt sich ein lächerlicher Pas de Deux zwischen Doktor und Patient. Der Patient gibt vor, krank zu sein, und der Doktor gibt vor, den Patienten zu kurieren. In diesem Prozess wird der Patient vorsätzlich blind gemacht für das Verhalten, das ihn in erster Linie und unvermeidlich ins Elend stürzt. Ich musste daher feststellen, dass es heutzutage eine der wichtigsten Aufgaben des Arztes ist, seine eigene Kompetenz und Verantwortung zu leugnen. Die Einbildung des Patienten, krank zu sein, hindert ihn daran, seine Situation zu verstehen, und ohne dieses Verständnis kann kein moralischer Wandel erfolgen. Der Arzt, der so tut, also ob er behandle, ist ein Hindernis für diesen Wandel, und trägt eher zur Blendung als zur Erleuchtung bei.
Meine Patientin hatte bereits drei Kinder von drei verschiedenen Männern, was nichts ungewöhnliches für meine Patientinnen und auch nicht ungewöhnlich für dieses ganze Land ist. Der Vater ihres ersten Kindes war gewalttätig, und sie verließ ihn. Der zweite starb, als er mit einem gestohlenen Wagen einen Unfall baute. Der dritte, mit dem sie nun bis vor kurzem zusammen war, verlangte von ihr, dass sie seine Wohnung verlasse, da er, eine Woche nach der Geburt des Kindes, feststellte, dass er nicht länger mit ihr zusammenleben könne. Die Entdeckung dieser Unverträglichkeit eine Woche nach der Niederkunft kommt so häufig vor, dass sie statistisch gesehen als normal gelten muss. Sie konnte nirgendwo hin, hatte nirgendwo Rückhalt, und das Krankenhaus diente als zwischenzeitlicher Zufluchtsort vor ihrem Kummer. Sie hoffte, dass wir sie irgendwie wiederherrichten würden.
Zu ihrer Mutter konnte sie nicht zurückkehren – wegen eines Konflikts mit ihrem „Stiefvater“ beziehungsweise dem aktuellen Freund ihrer Mutter, der tatsächlich nur neun Jahre älter als sie selbst und sieben Jahre jünger als ihre Mutter war. Diese Verdichtung der Generationen ist heute ein gängiges Muster, selten aber ein Rezept für menschliches Glück. Übrigens versteht es sich fast von selbst, dass ihr eigener Vater bei ihrer Geburt verschwunden war und sie ihn seitdem nie mehr wiedergesehen hat. Der letzte Freund in einer solchen Art von Partnerschaft will die Tochter entweder zum sexuellen Missbrauch zur Verfügung haben oder sie aber des Hauses verweisen, da sie ansonsten nur einen Störfaktor darstellt und unnötige Ausgaben mit sich bringt. Im vorliegenden Fall wollte der Freund sie aus dem Haus haben und tat sein Bestes, um eine Atmosphäre zu schaffen, die sie baldmöglichst in die Flucht schlagen sollte. Der Vater ihres ersten Kindes hatte natürlich ihre Verletzlichkeit erkannt. Ein 16-jähriges alleine wohnendes Mädchen ist eine leichte Beute. Er schlug sie von Anfang an und war betrunken, besitzergreifend, eifersüchtig und chronisch untreu. Sie dachte, dass ein Kind aus ihm einen verantwortungsvolleren Mann machen, ihn ausnüchtern und beruhigen würde. Der gegenteilige Effekt trat ein. Sie verließ ihn. Der Vater ihres zweiten Kindes war ein Serienkrimineller, der bereits mehrere Male gesessen hatte. Ein Drogensüchtiger, der immer so viel Stoff nahm wie er kriegen konnte und dann daran starb. Sie wusste das alles, bevor sie sich von ihm ein Kind machen ließ. Der Vater ihres dritten Kindes war viel älter als sie. Es war er, der vorgeschlagen hatte, dass sie ein Kind haben sollte, ja er verlangte dies sogar von ihr als Bedingung dafür, dass er bei ihr blieb. Er hatte bereits fünf Kinder von drei verschiedenen Frauen, von denen keine auch nur die geringste Unterstützung von ihm bekam.
Die Bedingungen für die endlose Fortsetzung des Bösen waren nun komplett. Sie war eine junge Frau, die nicht alleine sein wollte und lange Zeit keinen Mann hatte. Doch mit bereits drei Kindern zieht sie genau jene Sorte von Mann an wie den Vater ihres ersten Kindes, von denen es nun viele gibt. Diese Männer suchen nach verwundbaren und ausbeutbaren Frauen. Mehr als wahrscheinlich wird zumindest einer von ihnen – denn es wird zweifellos nicht bei einem bleiben – ihre Kinder missbrauchen, sexuell, physisch oder beides.
Sie war natürlich ein Opfer des Verhaltens ihrer Mutter zu einer Zeit, als sie noch wenig Kontrolle über ihr Schicksal hatte. Ihre Mutter hatte gemeint, dass ihre eigene sexuelle Beziehung wichtiger war als das Wohlergehen ihres Kindes, was eine sehr verbreitete Art des Denkens im heutigen Wohlfahrtsstaat Großbritannien ist. Am gleichen Tag zum Beispiel wurde ich von einer jungen Frau konsultiert, die vom Lebensabschnittspartner ihrer Mutter mehrere Male vergewaltigt worden war, als sie zwischen acht und fünfzehn Jahre alt war, und das mit vollem Wissen ihrer Mutter. Diese Mutter hatte das alles nur zugelassen, um die Beziehung mit ihrem Gefährten nicht zu gefährden. Es könnte durchaus passieren, dass meine Patientin eines Tages genau so verfahren wird.
Meine Patientin war jedoch nicht nur Opfer ihrer Mutter: Sie hatte sich wissentlich von Männern schwängern lassen, von denen sie nichts Gutes erwarten konnte. Sie wusste genau, welche Konsequenzen und Bedeutung das hatte, was sie tat. Das bewies nämlich ihre Reaktion auf das, was ich ihr wie auch Hunderten anderer Patientinnen in ähnlichen Situationen sagte: Das nächste Mal, wenn du mit einem Mann ausgehen willst, bring ihn vorher zu mir, und ich werde dir sagen, ob du das tun kannst.