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Auflagen:

Rosenkreuzerische Manifeste, Schaffhausen, 1980

Die Bruderschaft der Rosenkreuzer, Köln, 1984, 1996, 2007

Die Bruderschaft der Rosenkreuzer.

Die Originaltexte.

© 2014 Edition-Pleroma, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten.

Titelbild und Titelgestaltung: © Nicolas Vassiliev

ISBN 978-3-939647-23-2

www.edition-pleroma.de

E-Mail: info@edition-pleroma.de

Inhalt

Vorbemerkungen zur Neuausgabe

Es spricht für das anhaltende Bedürfnis suchender Menschen und für die ihrem Streben zugrunde liegende Bedeutsamkeit spiritueller Dokumente, wenn eine Sammlung von derartigen Schriften über Jahrhunderte hinweg immer wieder von neuem aufgelegt werden muß. Hier handelt es sich um die geheimnisumwitterten Manifeste des ursprünglichen Rosenkreuzertums, die erstmals zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch die Presse gingen und die inzwischen auch in Übersetzungen weltweite Verbreitung gefunden haben.

Was nun die vorliegende Ausgabe anbelangt, so ließ ich ihr eine solche, ihrem Grundtext nach weitgehend identische, unter dem Titel »Rosenkreuzerische Manifeste« (Schaffhausen 1980) vorausgehen, gefolgt von mehreren Auflagen unter dem Titel »Die Bruderschaft der Rosenkreuzer« (Köln, München 1984 ff). Dieser Text samt Kommentar wird hier in durchgesehener und erweiterter Form erneut geboten. Ergänzt werden die drei Manifeste (Fama Fraternitatis, Confessio Fraternitatis und Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreuz 1459) durch Goethes Gedichtfragment »Die Geheimnisse«. Es zeigt, daß er in einem wichtigen Augenblick (1784/85) seines Lebens, das heißt in der Zeit seiner Lebensmitte und unmittelbar vor Antritt seiner Italienischen Reise, sich entschloß, das rosenkreuzerische Motiv mit seinen eigenen dichterisch-humanitären Bestrebungen zu verbinden. Es war ihm aber nicht gegeben, das Begonnene abzurunden.

Wenngleich vom Dichter nicht eigens beabsichtigt, kann gerade von dieser Tatsache auch ein pädagogischer Impuls ausgehen. Denn insofern es sich wie bei diesem Werk um den Aufweis eines Wegs handelt, um eine Geistsuche, wie wir sie etwa von Parzival oder von Christianus Rosenkreuz kennen, so mag darin eine Aufforderung, eine Ermunterung gesehen werden, sich auf die jeweils individuelle Bedeutsamkeit einer solchen Dichtung zu besinnen, Fortschritte auf dem inneren Weg zu machen und selbst endlich »heimzukommen«.

Die »Bruderschaft der Rosenkreuzer« lebt letztlich nur dadurch, daß man – völlig unabhängig von den heute propagierten rosenkreuzerisch sich nennenden Vereinigungen – an ihr in unspektakulärer Weise teilnimmt, etwa dem Dichterwort gemäß:

»Wir wollen doch, wenn wir genug geklommen,
Zur rechten Zeit dem Ziele näher kommen.«

Schwarzenbruck, Ostern 2007

Gerhard Wehr

Einführung

Das Rosarium philosophorum sagt:

»Mach um Mann und Frau einen runden Kreis und ziehe aus diesem das Viereck und aus dem Viereck das Dreieck aus. Mach einen runden Kreis, und du wirst den Stein der Philosophie haben.«

C. G. Jung beschreibt dieses Bild in seinem Buch »Psychologie und Alchemie« (Zürich 1944) als die Quadratur des Zirkels, die zwei Geschlechter zu einer Ganzheit zusammenfassend.

»Darauf rüstete ich mich auf den Weg,
zog meinen weißen Leinenrock an,
umgürtete meine Lenden mit einem blutroten Band,
kreuzweise über die Schultern gebunden.
Auf meinen Hut steckte ich vier rote Rosen ...«

Die Chymische Hochzeit (1616)

In Zeiten von Krieg, Not und scharfen gesellschaftlichen Umbrüchen greifen nicht nur Verzweiflung und Weltuntergangsstimmung um sich. Es keimen auch Sehnsüchte und Hoffnungen. Utopien einer neuen Lebensform leuchten auf. Gefragt sind Menschen, die »eine Vision« haben, Träumer und Volkstribunen; Menschen, die die Zeichen der Zeit deuten und die Führung ins Unbetretene, Ungewisse wagen. Vielleicht unter einem bildkräftigen Symbol, von dem eine gemeinschaftsbildende Kraft ausgeht.

Zahlreich die Möglichkeiten der Täuschung und des Getäuschtwerdens; Scharlatane und Pseudo-Gurus haben leichtes Spiel. Um so mehr sucht man nach legitimierten Meistern und Seelenführern. Spirituelle Lehre und Unterweisung allein genügen indes nicht; das innen Geschaute muß sich in der Welt bewähren, sich in Alltagspraxis umsetzen lassen.

Wendezeit

Der Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert markiert eine solche Wende. »De revolutionibus orbium caelestium« (Von den Umwälzungen am Himmel) hatte bereits Nikolaus Kopernikus sein programmatisches Werk betitelt. Auch wenn Martin Luther ihn einen Narren schalt, der die ganze »Kunst Astronomia« habe umkehren wollen, so steht doch für viele außer Frage: Das »Revolutionäre« kann am Lauf der Gestirne abgelesen werden. Durch die Verbindung von Mathematik und naturwissenschaftlicher Beobachtung lassen sich Doktrinen und Spekulationen der Alten durch konkrete Erfahrungen verdrängen, durch empirisches Wissen das bloße Buchwissen von einst. Diese Wende markiert bereits Paracelsus: »So wisset nun ..., daß die Bücher, so an euch und an mich von den Alten her gelangt sind, mich genugsam zu sein nicht gedeucht haben, denn sie sind nicht vollkommen, sondern sie stellen eher eine ungewisse (d. h. unzuverlässige) Schrift dar, die mehr zur Verführung dient als zum Betreten des rechten (zuverlässigen) Wegs. Aus eben dem Grund habe ich sie verlassen.«

So kann und darf sprechen, wer auf seine Weise die Wende vollzieht und damit Generationen von Ärzten, Pharmazeuten, Naturforschern einen Weg bahnt. Mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaft geht die Entwicklung der dafür nötigen technischen Apparaturen Hand in Hand, etwa die Herstellung von Teleskopen (bald nach 1600). René Descartes, der vielgenannte Cartesius, liefert später die Methodik für die neue Denkrichtung. Mit der Formel »cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich« wird der Zweifel zum Ansatzpunkt für das kritische Denken und das freie Forschen erklärt. Damit läßt sich eine Formel von Mensch und Welt entwerfen, in der Maß, Zahl und Gewicht die entscheidenden Kriterien für »Wirklichkeit« darstellen.

Aber reichen diese Kriterien aus, um die ganze Wirklichkeit in den Blick zu bekommen? Was ist faktisch erreicht, nachdem die Welt mathematisch fassbar und technisch bezwingbar geworden ist? Geht mit dem Gewinn an äußerer, naturwissenschaftlich ergründbarer Wirklichkeit nicht gleichzeitig ein Verlust der inneren, spirituellen Dimension einher? Noch ahnt niemand, zu welchen lebensbedrohenden Konsequenzen eine derartige Wissenschaft führen wird. Immerhin ist festzuhalten: Am Gegenstand der materiellen Welt erwacht der Mensch mehr und mehr zu sich selbst. Er wird sich der Größe des Universums bewußt. Er tritt aus den Bindungen alter Ordnung heraus und erlebt sich als ein autonomes Ich. Dies ist der Prozeß, der sich im Zeitalter der Renaissance ankündigte und dem der Humanismus seinen Namen gab. Ein halbes Jahrtausend später wird ein geschundener Mensch im KZ die Summe ziehen: »Gott als moralische, politische, naturwissenschaftliche Arbeitshypothese ist abgeschafft, überwunden ... Es gehört zur intellektuellen Redlichkeit, diese Arbeitshypothese fallen zu lassen bzw. sie so weitgehend wie irgend möglich auszuschalten ...« So weit Dietrich Bonhoeffer, als Widerstandskämpfer 1945 hingerichtet. Daß damit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, wußte der evangelische Theologe genau. Damit ist lediglich ideengeschichtlich eine Linie gezogen.

Was den Übergang zum 17. Jahrhundert interessant erscheinen läßt, hängt mit der Art und Weise zusammen, wie spirituell Suchende den Gang der Entwicklung verfolgten, wie sie innere Erfahrung und äußere Naturforschung in der »universellen Lehre« (Pansophie) einzubringen suchten.

Allerdings um 1600 ist die Aufbruchsstimmung, die einst den jungen Augustinermönch Martin Luther beflügelt hatte, vorbei. Die religiöse Erfahrung des Wittenbergers, die zur reformatorischen Erkenntnis (ab 1513) und zur Proklamation der »Freiheit eines Christenmenschen« (1520) geführt hatte, war schon zu Luthers Lebzeiten einem Streit der Theologen gewichen. In diesem Streit geht es seit Mitte des 16. Jahrhunderts um religionspolitische – und das heißt allemal auch um machtpolitische – Interessen der Landesfürsten und Magistrate. Mit dem Feilschen um Bekenntnisformeln sucht man den Mangel an ursprünglicher religio zu bemänteln. Die Rabies theologorum (Wut der Theologen) feiert fragwürdige Triumphe. Das jahrzehntelange Ringen innerhalb des Protestantismus mündet irgendwann in den Dreißigjährigen Krieg ein. Daran kann auch die sogenannte Konkordien- und Eintrachtsformel von 1577 nichts ändern. Einer der maßgeblichen Mitautoren dieser innerprotestantischen Bekenntnisschrift ist der schwäbische Theologe Jakob Andreae (1528 bis 1590), einst Kanzler der Universität Tübingen.

Um die Jahrhundertwende hat der christliche Glaube also, jedenfalls in weiten protestantischen Kreisen, an Ursprünglichkeit eingebüßt. Er ist zum Streitobjekt zänkischer Pastoren geworden, die ihrerseits von Brot- und Landesherren abhängen (Wess’ Brot ich eß, dess’ Lied ich sing!). Der kopernikanische Schock hat die Zeitgenossen verunsichert: Der Himmel ist nicht mehr oben! Wo aber ist dann Gott? Droht in solcher Lage nicht die Flucht in eine weltferne Innerlichkeit? Oder gibt es eine Chance, Geist und Materie in der Schau des »Unus mundus«, d. h.der einen geistig-materiellen Welt miteinander zu verbinden?

Symbolischer Holzschnitt, mit der heiligen Drei (anima, spiritus, corpus) und der heiligen Sieben der Rosenkreuzer

Nach allgemeiner Anschauung ist der Mikrokosmos Mensch in geheimnisvoller Weise mit dem Makrokosmos verwoben: Was unten ist, entspricht dem, was oben ist, so lautet die alte hermetische Weisheit. Kein Geringerer als Johannes Kepler treibt immer noch Astrologie, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Bald ist er auf der Flucht vor den Katholiken, bald vor seinen eigenen Glaubensgenossen. Am Hofe Rudolfs II., des »saturnischen Kaisers« zu Prag, findet er zeitweiligen Unterschlupf. Ihm wie auch Tycho Brahe und dem aus Rendsburg stammenden Alchymisten und kaiserlichen Leibarzt Michael Maier ist der Kaiser ein verständnisvoller Förderer. Noch blühen die hermetischen Künste, nicht am wenigsten die Alchymie. Da die Elemente und die auf sie bezogene Signaturenlehre immer auch die spirituelle Dimension der einen Wirklichkeit umschließt, stellt das eigentliche »Ergon« oder »Opus« (Werk) einen spirituellen Prozeß der Reinigung, der Einweihung und der Wandlung (Transformation) dar. Nicht nur ein stoffveredelnder chemischer Prozeß ist daher in Gang zu bringen, sondern stets auch ein innerer. Zahlreiche alchymistische Schriften beschäftigen sich mit dem Einweihungs- und Reifungsvorgang des Menschen und befleißigen sich gerade darin der alchymistischen Terminologie. Der Hinweis: »Aurum nostrum non aurum vulgi – unser Gold ist nicht das gewöhnliche, das Allerweltsgold« gibt die Richtung an. Das Ziel der chymischen Hochzeit korrespondiert somit aufs Engste mit der Verwirklichung des Menschen, so rätselhaft und geradezu grotesk die einzelnen Rezepturen und Prozeduren dem naturwissenschaftlich aufgeklärten Leser heute anmuten. Die Bereitung des »Steins der Weisen« (Lapis philosophorum) findet somit im Menschen selbst sein Ziel, im Sinne des Leitmotivs, das dem Paracelsisten Gerhard Dorn (Dorneus) zugeschrieben wird:

»Transmutemini in vivos lapides philosophicos! Wandelt euch in lebendige philosophische Steine um!«

Daß die Alchymie von daher gesehen eine geistesgeschichtliche Entsprechung zum tiefenpsychologischen Reifungsprozeß der Individuation im Sinne C. G. Jungs darstelle, sei an dieser Stelle wenigstens erwähnt. Vor allem in Jungs Spätwerk (z. B. »Psychologie und Alchemie«, 1944; »Mysterium Coniunctionis«, 1955/56) hat er die entsprechenden geistesgeschichtlich symbolkundlichen Nachweise in großer Zahl geliefert.

Coniunctio solis et lunae – »Die Vereinigung der Gegensätze in der archetypischen Form des hieros gamos, nämlich der Chymischen Hochzeit. In dieser werden die supremen Gegensätze in der Gestalt des Männlichen und des Weiblichen (wie im Chinesischen Yin und Yang) zu einer Einheit verschmolzen, welche keine Gegensätze mehr enthält und damit inkorruptibel ist« (C. G. Jung, Psychologie und Alchemie)

Und es steht außer Frage: Wenn auch ungezählte betrogene Betrüger sich im Laufe der Jahrhunderte als vermeintliche Goldmacher ausgaben, mit der originären Alchymie als einer spirituellen Disziplin ist deren Treiben nicht zu verwechseln. So wie – ein Jahrhundert später – der Freimaurer gemäß der alten maurerischen Symbolik den »rauhen Stein« bearbeitet und damit die Veredlung des Menschenwesens im Blick behält, so der Alchymist des 16./17. Jahrhunderts unter Verwendung hermetisch-chemischer Terminologie. Ersehnt wird die heilige Coniunctio, die Verschmelzung der Gegensätze in der »Chymischen Hochzeit«.

Abseits der hohen Schulen wird das pansophische Wissen gepflegt, im Sinne des großen Paracelsus, der von den beiden Lichtern sprach. Gemeint ist das Licht der Natur (lumen naturae) und das Licht des Geistes oder der Gnade (lumen gratiae). Das Licht der Natur wird vermittelt durch die »Jungfrau Experiantia«, d. h. durch das (naturwissenschaftliche) Experiment, dann durch die Beachtung der charakteristischen Zeichen (signatura rerum), die der Schöpfer allen natürlichen Gestalten eingeprägt hat. Das Licht des Hl. Geistes aber wird – mit Jakob Böhme zu reden – durch die »Jungfrau Sophia« vermittelt.

Haben diese kleinen vergeistigten Gruppen die Kraft, in dieser Umbruchssituation, in der um sich greifenden Frömmigkeitskrise eine Reformation herbeizuführen? Und zwar nicht nur eine Erneuerung im religiösen Bereich, wie Luther sie einst bewirkt hat, sondern eine »Reformatio generalis», Natur und Wissenschaft umschließend, moralische Impulse vermittelnd, die auf die ganze Gesellschaft einwirken.

Generalreformation im Zeichen von Kreuz und Rose

»Reformatio generalis«, so lautet die Parole zu Beginn des 17. Jahrhunderts, noch ehe die vom unversöhnlichen Konfessionalismus erhitzten deutschen Landesfürsten zum großen Krieg rüsten. Um 1604 und 1606 erregt ein Komet die Gemüter vieler. Apokalyptische Weissagungen machen die Runde. Will sich nicht endlich das Reich des Heiligen Geistes verwirklichen, das der kalabresische Seherabt Joachim von Fiore schon vor Jahrhunderten schauend vorausnahm?

Unbekümmert um den Theologenzwist, der vor allem von lutherischen Kanzeln und Kathedern geführt wird, vertiefen sich jene Stillen im Lande in heimlich kopierte Manuskripte, etwa im Schlesischen, wo seit 1612 die geistvoll-wunderliche »Morgenröte im Aufgang« des Görlitzer Schusters Jakob Böhme von Hand zu Hand geht. Diese von der lutherischen Orthodoxie als gefährliche Ketzerei verleumdete »Aurora« ist Niederschlag einer geistigen Schau, in der Schöpfer und Schöpfung, Natur und Geist eben jene pansophische Synopse darstellen, nach der die Sucher und die spirituell Wachen verlangen. Aber die Nachstellungen der protestantischen »Inquisition« sorgen dafür, daß die Geschichte des Jakob Böhme für geraume Zeit nur den verschwiegenen Zirkeln einer mystisch-theosophischen Esoteriker-Kirche bekannt wird.

Da erscheint im Jahre 1614 ein anonymes Buch mit dem gewichtigen Titel »Allgemeine und Generalreformation der ganzen weiten Welt« mit einem Appendix, dem relativ kurzen Text »Fama Fraternitatis des löblichen Ordens des Rosenkreuzes an alle Gelehrte und Häupter Europas geschrieben ...«

Ein erstaunliches Konvolut, denn bei dem erstgenannten Titel handelt es sich um eine Übersetzung einer satirischen Schrift, in der der kurz zuvor verstorbene T. Boccalini die Vorschläge zur Weltverbesserung, zu all den ersehnten Reformen, lächerlich macht. Dennoch erkennt der habsburgfeindliche italienische Liberale die Notwendigkeit einer neuen Reformation an. Er schreibt im Geist des Giordano Bruno, der im Jahre 1600 auf dem Campo dei fiori als Ketzer öffentlich verbrannt worden ist. Während Boccalinis Ausführungen eher von Melancholie und Trübsinn gekennzeichnet sind, ist die rosenkreuzerische »Fama« vom Feuer einer jugendlichen Begeisterung durchglüht. Mit erstaunlichem Selbstbewußtsein meldet sich der ungenannte Autor zu Wort. Oder sind es mehrere?

»Wir, die Brüder der Fraternität des R. C. (d. i. Rosenkreuz) entbieten allen und jedem, die diese unsere Fama christlicher Meinung lesen, unsern Gruß, Liebe und Gebet.«

Kaum ist der Gruß entboten, gehen der bzw. die Autoren zum Angriff über. Er richtet sich gegen die »unbesonnene Welt« derer, die auf die alten Autoritäten in Kirche und Schule, in Theologie und Philosophie schwören und dadurch den Gang der Entwicklung hemmen. Um nichts Geringeres als um »das Ziel einer Generalreformation« geht es den Brüdern der »Fraternität des hochlöblichen Ordens vom Rosenkreuz«. Und kein anderer als »der tiefsinnige, geistvolle und hocherleuchtete Vater und Bruder C. R. C., ein Deutscher, unserer Fraternität Haupt und Begründer« hat sich um die Annäherung an dieses große Ziel bemüht: durch seinen Studiengang, durch Reisen in den Osten, durch die Verschmelzung vorderorientalischer Weisheit mit der christlichen Spiritualität, schließlich durch die Stiftung besagten Ordens vom Rosenkreuz. Die Fama gibt darüber nähere Auskunft.

»Sprechender« Buchtitel, wie er zur Barockzeit üblich ist

Die Doppelsinnigkeit des »Rosenkreuzes« liegt auf der Hand; denn einerseits handelt es sich bei »Frater C. R. C.« (d. i. Bruder Christianus Rosencreutz) um die Persönlichkeit des Stifters; auf der anderen Seite bezeichnet der Name das Doppelsymbol von Kreuz und Rose. Ist das Kreuz durch die Passion und den Tod Jesu Christi eindeutig bestimmt, so repräsentiert die Rose in besonderer Weise das neue Leben, das dem (mystischen) Tod abgerungen werden soll. Und eben auf diesen Mysteriengang weist die Fama im Text selbst ausdrücklich hin:

Ex deo nascimur,

In Jesu morimur,

Per spiritum reviviscimus.

Aus Gott sind wir geboren,

In Jesu sterben wir,

Durch den (Hl.) Geist werden wir wiedergeboren.

Nun ist die Verbindung von Kreuz und Rose spätestens seit Martin Luther bekannt:

Des Christen Herz auf Rosen geht,

Wenn’s mitten unterm Kreuze steht.

Über sein Wappen hat sich der Wittenberger Reformator selbst unmißverständlich geäußert, nämlich im Coburger Brief vom 8. Juli 1530 an den Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler, indem er das »Merkzeichen« seiner Theologie wie folgt interpretiert:

»Das erste soll ein schwarz’ Kreuz sein im Herzen, welches Herz seine natürliche (d. h. rote) Farbe hat, damit ich mir selbst Erinnerung gebe, daß der Glaube an den Gekreuzigten uns selig macht ... Ob’s nun wohl ein schwarz’ Kreuz ist, mortifiziert (tötet) und soll auch weh tun, dennoch läßt es das Herz in seiner Farbe, verderbt die Natur nicht, das ist, es tötet nicht, sondern es erhält lebendig ... Solch ein Herz soll aber mitten in einer weißen Rose stehen, anzuzeigen, daß der Glaube Freude, Trost und Friede gibt und sogleich in eine weiße, fröhliche Rose setzt, nicht wie die Welt Friede und Freude gibt ...«

Die Rose in Luthers Wappen

Wenngleich Luther hier von einer weißen Rose spricht – er tut’s im Zusammenhang des roten Herzens –, so spricht doch die Kombination von Kreuz und Rose für sich. Der Autor der Fama beschränkt sich im übrigen nicht darauf, die Theologie Luthers zu symbolisieren. Ihm geht es um mehr, nämlich um ein neues, dem Schwarz des Kreuzes abgerungenes Leben. Und er läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, daß jener Christian Rosenkreuz selbst eine Imagination, eine ideelle Verkörperung dieses Lebens ist, also keine historische Persönlichkeit. Der Text nennt ihn geradezu »Granum pectoris Jesu insitum«, d. h. das dem Herzen Jesu eingepflanzte Samenkorn. Als solches sei Rosenkreuz für sein Jahrhundert (das 14.) der Träger göttlicher Offenbarung, der Hüter himmlischer wie irdisch-menschlicher Mysterien gewesen. Diese mit dem Namen Christian Rosenkreuz verbundene Spiritualität gilt es zu erwekken. Zu eben diesem Zweck tritt der (imaginäre) Orden der Rosenkreuzer an die Öffentlichkeit.

Die »Fama« ist somit das erste ihrer Manifeste, zugleich eine Einladung an die Geistesverwandten in allen Regionen Europas, die Ziele dieser aus der Verborgenheit heraustretenden Bruderschaft zu prüfen, ihr zu antworten, gegebenenfalls sich ihr anzuschließen. Ihre Arbeit, das »Ergon« oder Werk, ist nicht die Pseudo-Alchymie »gottloser und verfluchter Goldmacher«. Zur Alchymie und Theosophie im Sinne des Paracelsus bekennen sich die Rosenkreuz-Brüder gleichwohl. Aber mit ihrem Ordensstifter sagen sie:

»Was soll das Gold, denn welchem die ganze Natur offensteht, der freut sich nicht, daß er Gold machen kann ..., sondern daß er den Himmel offen sieht und die Engel Gottes auf- und herniedersteigen, und daß sein Name eingeschrieben steht im Buch des Lebens.«

Ein Jahr später (1615) reicht die sogenannte Bruderschaft des Rosenkreuzes ihr zweites Manifest nach, betitelt »Confessio Fraternitatis«. Was in der Fama in ersten Umrissen an den Tag tritt, das wird nun in mancher Hinsicht als eine Art »Bekenntnis« ergänzt. Die mythische Redensweise ist beibehalten. Der Schleier des Geheimnisses liegt weiterhin über den bilderreichen Texten. Und als im Jahr darauf (1616) der anonyme Autor sein drittes Buch, diesmal ausführlicher, eher noch geheimnisvoller, im Druck erscheinen läßt, da rückt er den Ordensgründer gleich in den Titel: »Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz. Anno 1459«. Die Faszination, die von diesen beiden Manifesten und von dem alchymistisch-hermetisch getönten, barock-weitschweifig sich gebenden Einweihungsroman der »Chymischen Hochzeit« ausgeht, ist erstaunlich groß, auf Jahrhunderte hinaus, wenngleich mit Unterbrechungen und in vielfältigen Abwandlungen. Reformation im Zeichen von Kreuz und Rose ist offensichtlich die geheime Sehnsucht Ungezählter. Vieles spricht dafür, daß eine wie auch immer geartete Rosenkreuzer-Gemeinschaft ebenso den Erwartungen entspricht, wie »Bruder Christian Rosenkreuz« das Urbild eines spirituellen Meisters darstellt. Und in der Tat, Christian Rosenkreuz, dessen Geburtsjahr die Confessio mit der Jahreszahl 1378 angibt, trägt archetypische Züge; gerade deshalb konnte er zu einer zentralen Figur neuzeitlicher Esoterik werden. Eine Gestalt, die die Ideale einer ganzen Epoche in sich vereint, die Vereinigung von Gottes- und Naturerkenntnis, eine christliche Spiritualität mit pansophischen Zügen.1

Eine historisch nachweisbare rosenkreuzerische Vereinigung hat es vor Erscheinen der Manifeste ebensowenig gegeben wie eine dokumentarisch belegbare Persönlichkeit namens Christian Rosenkreuz. Gleichwohl haben die Brüder des Rosenkreuzes große geschichtliche Vorbilder, denkt man beispielsweise an die Gottesfreunde-Bewegung in den Mystikerkreisen des hohen Mittelalters, an die Bruderschaften der Bauhütten, an den Templerorden, an die Brüder vom gemeinsamen Leben, die sich ihrerseits von den der Häresie verdächtigten Brüdern und Schwestern des freien Geistes abzuheben versuchten. Ist die Bruderschaft des Rosenkreuzes bzw. der Rosenkreuzer eine bloße Fiktion, ein »Märlein«? Hier stellt sich die Frage nach Herkunft und Autorschaft der drei esoterischen Texte.

Johann Valentin Andreae und sein Kreis

Mag es auch der Forschung schwerfallen, einen Rosenkreuzer-Orden zu ermitteln, wie er in Fama und Confessio Fraternitatis als existent vorausgesetzt wird, so steht doch die starke Neigung zu derartigen Verbindungen in dieser Umbruchszeit außer Frage. Der esoterische, auf Geheimhaltung ausgerichtete Charakter derartiger Zirkel liegt ebenfalls nahe, gilt es doch, das Erkenntnisstreben dem Häresieverdacht gegenüber der lutherischen Orthodoxie und der landesherrlichen Zensur abzuschirmen. Zur traditionellen Alchymie und Astrologie ist als weiteres spekulatives Forschungsgebiet die Kabbala hinzugetreten. Seit der Renaissance sucht man diese Form der jüdischen Mystik mit dem Christentum zu versöhnen, durch den Filter »christliche Kabbala«. Auch innerhalb der älteren protestantischen Mystik hat sich bereits eine eigentümliche Verschmelzung jüdisch-kabbalistischer und christlich-mystischer Traditionen vollzogen2, so vor allem bei Jakob Böhme, auch wenn er sich in seinen Schriften nicht ausdrücklich auf die jüdische Mystik beruft. Damit sind die Gebiete beisammen, aus denen die nach umfassender Reform Strebenden um 1600 die Fermente entnehmen, um sie mit lutherischem und paracelsischem Geist, vor allem aber mit Einsichten der neueren Naturwissenschaft zu einer Ganzheitsschau pansophisch zu vereinigen.

Die Suche nach den Urhebern der anonymen Rosenkreuzer-Schriften führt nach Tübingen. Hier, am Sitz der alten Universität Württembergs, existiert ein Freundeskreis, der sich der Fragen der Zeit annimmt, allen voran der Jurist Christoph Besold, die Mediziner Tobias Heß und Wilhelm Bidembach, dann neben einer Reihe anderer der junge Theologe Johann Valentin Andreae, offensichtlich die Seele dieses Gelehrtenzirkels. Er ist der Enkel jenes Jakob Andreae, der sich einst als Kanzler der Universität um die – allerdings nur zeitweilige – Aussöhnung der zerstrittenen Religionsparteien verdient gemacht hat. Wenn es auch in der Natur der Sache liegt, daß sich ein solcher Kreis von Gleichgesinnten gegenseitig geistig anregt und bestätigt, so kommt doch kein anderer als J. V. Andreae als Autor der rosenkreuzerischen Manifeste und der »Chymischen Hochzeit« in Betracht. Daß die Andreae-Familie ein Andreas-Kreuz mit vier Rosen im Wappen führt, unterstreicht den geradezu existentiellen Bezug, den der Autor zur Leitfigur seiner esoterischen Schriften hat. Hier wird offenbar Andreaes eigene Sache verhandelt, jedoch so, daß eine ganze Epoche, zumindest die spirituell Suchenden, zutiefst angesprochen sind.

Wappen des Johann Valentin Andreae

In seinem Lebensrückblick schreibt Andreae:

»Mich hat immer ein unbegreiflicher Geist getrieben, mehr leisten und wissen zu wollen, als mir gut war, und überdies hat mir die Enge der häuslichen Verhältnisse, aus denen ich kam, früh Schwereres aufgeladen, als meine Schultern tragen konnten, und das ist mir mein Leben lang eine Last gewesen.«3

Johann Valentin Andreae wird am 17. August 1586 im württembergischen Landstädtchen Herrenberg geboren. Er ist das fünfte von sieben Kindern. Vater Johann Andreae ist zu dieser Zeit lutherischer Pfarrer in Herrenberg. Frühzeitig nimmt er sich der schulischen Ausbildung seines Sohnes Johann Valentin an, indem er ihn selbst unterrichtet. Ihm, dem bereits im Jahre 1601 Verstorbenen, sagt man nach, er habe sein Vermögen mit allerlei »Alchymisterei« vertan. Nach dem Tod Johann Andreaes, der zuletzt Abt in Königsbronn war, zieht die Witwe mit dem erst fünfjährigen Johann Valentin nach Tübingen. Dort beginnt der ebenso scharfsinnige wie phantasiebegabte, an allen Wissenschaften interessierte junge Mann sofort mit dem Universitätsstudium. Nichts, was die profane und geistliche Bildung zu bieten hat, läßt der lesehungrige Student aus. Von einem auf eine einzige Disziplin gerichteten Fachstudium, etwa der nahezu obligatorischen Theologie, kann bei dem blutjungen Pastorensohn noch nicht die Rede sein.

Mit dem Feuereifer eines Frühreifen macht er sich über alle ihm gerade zugänglichen Wissenschaften her. Zu den klassischen Sprachen des zukünftigen Theologen, d. h. zu Latein, Griechisch und Hebräisch, treten das Syrisch-Aramäische, sodann die neuen Sprachen Italienisch, Spanisch und auch Englisch. So lernt er Dichtung und Literatur der Renaissance in der Originalsprache kennen, erwirbt musische, physikalisch-mechanische und sogenannte »chymische« Fähigkeiten. Es ist die Zeit, in der das auf die Pflege der alten Sprachen konzentrierte humanistische Bildungsideal eines Erasmus oder eines Melanchthon durch ein neues abgelöst wird: Scientia, naturwissenschaftliche Tatbestände und die Methodik zu ihrer weiteren Erforschung. J. V. Andreae nimmt auf seine Weise an diesem Prozeß teil. Das bedeutet zugleich eine Absage an die mittelalterliche Scholastik.

Zum anderen umgibt den Jungen die Welt des Theaters. Die englischen Schauspieler, die in jenen Jahren nach Deutschland reisen, begeistern ihn mit ihren Aufführungen. Spielerisch tun sich ihm neue Horizonte auf; Träume, Utopien lassen sich in dramatische Handlungen umsetzen.

Mathematik und Geographie interessieren den angehenden Gelehrten nicht weniger als Philosophie und Theologie. Noch ist die Zeit, in der ein Einzelner das Wissen einer ganzen Epoche in sich zu vereinigen vermag. Indem der junge Andreae diese Tendenz der Zeit – eine als Einheit erfaßbare Wissenschaft – in sich vollzieht, kommt er zu einem »Studium Universale«. Als Vertreter christlich tingierter Theosophie ist Andreae schon von seiner Interessenlage »Pansoph«, d. h. einer, der die Fülle des Wißbaren und der Weisheit in sich aufzunehmen sucht. Gotteserkenntnis (Theosophie) ist ohne Naturerkenntnis (Kosmosophie) und Kunstsinn nicht zu verwirklichen.

Es ist ein geradezu faustischer Zug, der diesen Immer-Strebenden beseelt. Sein Freund, der knapp sechs Jahre jüngere Böhme Amos Comenius, der als Bischof der böhmischen Brüdergemeinde bekannte Humanist und Pädagoge, bringt dieses Streben auf einen gemeinsamen Nenner: »Drei Dinge sind es, die unser menschliches Wissen, ja geradezu ein gewisses Allwissen (Pansophie) ausmachen: die Erkenntnis Gottes, der Natur und der Kunst ... Man möge nicht glauben, es genüge, etwas von Gott zu wissen, etwas von der Natur und etwas von der Kunst, was auch den Unwissendsten und ganz Dummen gelingt, sondern wir müssen alles, was erkennbar ist, ganz und genau erkennen.«4 Eine stolze Forderung!

Seinem gleichaltrigen Freund Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel schreibt Andreae einmal von dem, was sein inneres Schicksal wesentlich mitbestimmte: »Mit achtzehn Jahren habe ich junge Menschen erziehen müssen, die wenig jünger waren als ich. Um sie zu unterrichten, habe ich erst lernen müssen, mich zu erziehen. Aber indes bin ich durch die Wissenschaft geschweift, ich habe Juristerei und Medizin getrieben ...« – Man meint, Goethes »Faust« zu hören! – Andreae fährt fort: »Ich habe mein Schifflein auf das hohe Meer der Geschichte gelenkt und sechs oder sieben Sprachen mir angeeignet. Wieviele Bibliotheken habe ich durchforscht! ... Nichts, was profane und geistliche Bildung bot, habe ich ungekostet gelassen und dazu mir auch Kenntnisse in der Musik und in den mechanischen Künsten erworben. Dann, nach neun Jahren dieser Erziehertätigkeit, bin ich sechs Jahre Diakon (d. h. zweiter Pfarrer) in Vaihingen an der Enz gewesen und habe dabei noch Zeit gefunden, die meisten meiner Schriften zu veröffentlichen. Dann bin ich zum bischöflichen Amt gekommen und habe neunzehn Jahre hindurch gearbeitet, den Stoff, der sich mir bot, in eine gute Form zu bringen. Als das Unglück des Vaterlandes (der Dreißigjährige Krieg) mein Werk zerstörte, habe ich es nochmals angefangen. Und jetzt, da mich der Hof und die Regierung neun Jahre lang mit all den undankbaren Sorgen und den nichts fördernden Geschäften festgehalten, habe ich meine vierzig Kämpferjahre hinter mir.«

Kämpferjahre sind es zweifellos, die sein bewegtes Leben ausgefüllt haben. Das zeigt auch seine autobiographische »Vita«, die bis zum Jahr 1653 reicht. Am 27. Juni 1654 ist Johann Valentin Andreae als evangelischer Abt in Adelberg bei Göppingen/Württemberg gestorben.

Eines kann man diesem Vielerfahrenen, rastlos Tätigen und Leidgeprüften nicht nachsagen: daß er lediglich pansophisch-paracelsisch-utopischen Vorstellungen nachgejagt sei, ohne sich viel um die Realitäten zu kümmern. Im Gegenteil: Was in den rosenkreuzerischen Manifesten in kühnem Ideenflug als eine Art Neue-Welt-Gesellschaft entworfen wurde, das hatte die Feuerprobe des großen Krieges zu bestehen, zu der Zeit, als die älteren Freunde im Tübinger Gelehrtenkreis längst gestorben waren!

Diese Feuerprobe wurde in einem sehr wörtlichen Sinne bestanden, als nämlich 1634 an die 450 Häuser, ein Großteil des Städtchens Calw, in Flammen aufgingen und als kurz darauf beinahe 800 Calwer Bürger durch die Pest umkamen. Pfarrer J. V. Andreae beschränkte sich in dieser Zeit nicht allein auf Predigt und seelsorgerischen Zuspruch. Seiner Initiative war es zu verdanken, daß die Obdachlosen, die Hungernden, die zahllosen Kranken nach und nach Hilfe bekamen. Andreae verstand es, Nachbarschaftshilfe zu organisieren und Unterstützung von außerhalb zu vermitteln. Eine über viele Jahre sich erstreckende Aufbauarbeit nahm seine Kräfte voll in Anspruch. Als ihn aus Nürnberg der ehrenvolle Ruf erreichte, Oberpfarrer an der dortigen Sebalduskirche zu werden, da verzichtete Andreae, weil ihn das neu zu ordnende Gemeinwesen in seiner Heimat dringend brauchte. Mit einem Wort: Der Jugendtraum des bruderschaftlich gesinnten Pansophen und Rosenkreuzers sollte in einer sehr engagierten, konsequent und selbstlos betriebenen Sozialarbeit aufgehen. In diesem Kontext sind die rosenkreuzerischen Manifeste und der Mysterienroman der »Chymischen Hochzeit Christiani Rosencreutz« zu verstehen.

Von der Bruderschaft der Rosenkreuzer zur Christianopolis

Die Veröffentlichung und rasche Verbreitung der drei rosenkreuzerischen Schriften brachte alles andere als eine »Erleuchtung im Zeichen des Rosenkreuzes« (Frances A. Yates). Der Autor, der sich von Anfang an wohlweislich hinter seiner Anonymität versteckt hielt, mußte sehen, daß sich spekulative Geister, Illusionisten und erklärte Gegner seiner Sache annahmen. Wohl wirkte das Doppelsymbol von Kreuz und Rose in Verbindung mit der Manifestation des Ordens wie ein Fanal, eine wahre Rosenkreuzer-Epidemie brach aus. Aber nur die wenigsten waren offensichtlich in der Lage, sich von dem zugrunde liegenden Impuls anstoßen zu lassen. So blieb Andreae nichts anderes übrig, als sich sehr bald von seinen literarischen Produktionen zu distanzieren, sie als »jugendliche Kühnheit«, als »eine Posse voll abenteuerlicher Auftritte«, ja als Spielerei (Ludibrium) abzutun. Und doch sind Satire, Scherz und Spiel für Andreae stets auch eine Möglichkeit, an bestehenden Verhältnissen Kritik zu üben, Mißstände bewußt zu machen und die kreative Phantasie mit Blick auf Reformen anzuregen. In seiner Schrift »Mythologiae« (1619) heißt es hierzu: