Auf dem Weg zum Leben gibt es mehrere Stufen des Lernens. Auf der ersten Stufe lernst du, aber es kommt nichts dabei heraus, und du hast das Gefühl, du und alle anderen Menschen seien wertlos. Auf der mittleren Stufe fühlst du dich immer noch wertlos; du siehst deine Mängel und die Mängel der Anderen. – Auf einer höheren Stufe bist du stolz auf deine eigenen Fähigkeiten, wirst von den anderen gelobt und beklagst dich über die Unfähigkeit deiner Kameraden: Dann bist du etwas wert. Auf der höchsten Stufe siehst du aus, als hättest du von nichts eine Ahnung.
Aber es gibt eine Stufe, die über diese Stufe hinaus geht. Sie ist die höchste von allen. Auf dieser Stufe bist du dir bewußt, daß du niemals aufhörst, immer tiefer in den Weg einzudringen, und glaubst nie, fertig zu sein. Du kennst deine Mängel wirklich und denkst niemals, daß du dein Ziel erreicht hast. Du hast keinen Stolz, sondern bist dir des Weges in voller Demut bewußt …
Dein ganzes Leben hindurch gehst du täglich ein Stückchen auf dem Weg und wirst fähiger als gestern, fähiger als heute. – Das hört niemals auf.
(Hagakure – Das Buch der Samurai)
Dao – der Daoismus als System – ist eine exakte Geisteswissenschaft – genau wie die Gnosis: Eine Wissenschaft von Geist, Seele und Körper. Und genau wie die Gnosis kann der Daoismus in zwei ineinandergreifenden Hälften gesehen werden: Erstens als eine Wissenschaft der Essenz des Lebens in dessen Da-sein und Sosein: das ist sozusagen die Yin-Seite der Kenntnis von Dao. – Zweitens als Wissenschaft vom Umgang mit der Dynamik allen Webens und Seins: das ist die Yang-Seite und das Wirken von Dao.
Im Gegensatz zur Gnosis mit ihrer fast ausschließlich mystischen Magie, wirkt der alt-chinesische Daoismus auch praktisch-magisch. Das geschieht jedoch nicht in der Art der im Westen bekannten urkeltischen Magie – also nicht in der oft dramatisch, immer aber mit beschwörenden Worten, Gesten und Handlungen ausgeübten tätigen Magie; – nicht in der auch als Wigga bekannten Form: Daoismus ist eine vollkommen verfeinerte, im Sinne des alt-arischen Indien ganz verinnerlichte Magie: ein konzentriertes Geschehen-lassen – bekannt als «Nicht-tun» oder als «tun ohne zu tun».
Die magische Überlieferung der Kelten (Galata, Galiläa, Gallien, Galizien, … ) berichtet von Männern und Halbgöttern (z.B. Cuchullain), die Feuerflammen aus Augen und Nüstern stießen1, riesige Steinblöcke durch die Luft fahren ließen oder durch ihren Schrei «Pharao und seinen Rat zu Boden warfen und Viele töteten»2. – Ebenso von Frauen, die durch ein Wort oder Lied – oder auch nur durch ein Lachen – Schicksale wendeten. Dem gegenüber besteht die Magie des Dao in der Konzentration auf Klarheit, Einfachheit und Sanftheit – ja, in der vollkommensten Unscheinbarkeit. Die späteren Kapitel dieses Buchs werden das näher erklären.
Dao – der Daoismus als Philosophie – könnte auch genannt werden: die umfassendste, tiefgreifendste und in jedem Lebensbereich der Welt gültige Lehre, ausgerichtet auf konkrete praktische Umsetzung im irdischen Leben: Wissenschaft von Staats- und Kriegsführung; – Wissenschaft erfolgreicher Landwirtschaft und Gemeinschaftslebens; – Wissenschaft des Heilens, hohen spirituellen Strebens und höchsten spirituellen Erreichens. – Im Westen ist die ursprüngliche Anthroposophie von Rudolf Steiner die einzige Philosophie, die mit dem Daoismus verglichen werden könnte.
Die typische gnostische Philosophie ist dagegen fast ausschließlich mystisch orientiert. Sie greift auf keinem einzigen Gebiet aktiv ins Weltgeschehen ein, ja, sie sagt von sich explizit, daß sie zwar in dieser Welt stehe, aber doch nicht von dieser Welt sei.
Während der Daoismus sein Wirken ganz auf den Bereich der manifestierten Welt beschränkt, wie sie ist, sieht sich die Gnosis – vorallem die ‹moderne›, besser gesagt: die aktuelle Gnosis – an der Wende zur nächsten Welt-Epoche, wo die Dematerialisierung der manifestierten Welt, die heutzutage erst ihre Lichter voraus wirft, eine vollendete Tatsache sein wird. Den schon heute angestrebten individuellen existentiellen Quantensprung in diesem Sinne nennt die gnostische Geisteswissenschaft den Prozeß von Reinigung, Erneuerung und Wandlung (Transformation und Transfiguration). Im Zentrum aller derartigen Strömungen in Ost und West stehen die Begriffe des Wegs, des Pfads, des Reisens oder Pilgerns nach dem ‹Einen Ziel›: Das ist die Vereinigung mit dem All-Einen, dem ewig unveränderlichen Allein-Guten – mit Gott. Die Hauptbedingung zum Erlangen dieses höchsten aller Ziele ist das Wenigerwerden des Ich, das Zurücktreten des eigenen Willens hinter den Allwillen; das Verlassen eitler Geschäftigkeit und das Eintreten in die innere Harmonie, wo die ‹Stimme der Stille› vernommen, die Harmonie des Alls wahrgenommen werden kann.
Während nun die Anfänge der daoistischen oder ‹chinesischen› Gnosis je nach Sicht der Dinge bis 1500 und sogar bis 3000 v. Chr. zurück reichen, liegen die direkten Wurzeln der aktuellen Gnosis an der letzten Zeitenwende, d.h. um 200 v. Chr. bis 200 n.Chr. Das ist die Zeit, wo im ägyptischen Alexandria der Hermetismus blühte: – Daher die sogenannte hermetische Überlieferung, die sich auf die Lehren des griechischen Hermes Trismegistos, also des ägyptischen THOT-Anubis (Tehuti oder Djehuti), d.h. des babylonischen Ningishzida, Sohn von Enki, Bruder von Marduk-RE beruft.3
Mit Gnosis wird kurz die Einweihung bzw. Selbst-Einweihung ins antike, neuere und aktuelle Mysterien-Wissen bezeichnet. Das ist die Erforschung aller Ursachen und Wirkungen, die es im Universum je gab, die heute zu erfahren sind, oder die jemals ins Dasein treten werden. Gnosis ist keine akademisch intellektuelle Wissenschaft, sondern das Aufblühen von Wahrnehmung und Bewußtsein aufgrund eines Prozesses, der in den heiligen Schriften vieler Jahrhunderte als Wiedergeburt aus Wasser und Geist – oder in ähnlichen Ausdrücken – erwähnt wird. Wenn im Folgenden also die Ausdrücke Dao, Weisheit und Gnosis absolut äquivalent benutzt werden, so hat das seinen guten Grund. – Die wichtigsten Unterschiede aber wurden bereits genannt.
Eine der ehrwürdigsten Schriften in der geistigen Evolutionsgeschichte der Menschheit ist zweifellos das Dao-De-Ging – bekannt auch unter den Namen Tao-Te-King, Tao-Te-Ching, Daodejing und noch anderen. Bereits in diesen unterschiedlichen Umschriften zeigt sich die Problematik der Übertragung eines der berühmtesten chinesichen ‹Klassiker› ins moderne Umfeld, ca. 2500 Jahre nach seiner Entstehung: Selbst diese Entstehung liegt verborgen im Nebel verschiedener Mythen über das Leben von Lao-Dse (Lao-Tse, Lao-Tzu, Lao-Tseu und noch weitere Schreibweisen). Die Schreibung mit harten Konsonanten kommt teils aus dem Lateinischen, ganz am Beginn des Kontakts des Westens mit dem riesigen, kulturell damals äußerst inhomogenen Land China – fast ein Kontinent für sich selber – sowie aus der modernen angelsächsischen Kultur. Die weicheren Schreibweisen kamen erst in den letzten Jahren auf, nämlich seit Land, Kultur und Sprache Chinas im Westen besser bekannt wurden. Das beste Beispiel ist ‹Peking›, das heute sogar im breiten Publikum als Bei-Jing bekannt ist – und dies entspricht auch der Aussprache der Chinesen selbst.
Das vorliegende Buch bleibt (aus bibliographischen Gründen mit Ausnahme seines Untertitels) konsequent bei der Schreibweise Lao-Dse und Dao-De-Ging. Das hat zugleich den Vorteil, auch näher beim I-Ging (auch I-Ching, neuerdings sogar Yi-Jing genannt) – zu stehen, das ebenfalls ein ‹klassisches› Produkt des Daoismus ist: Entstanden um die letzte Zeitenwende (in der Han-Zeit, also 206 v.Chr bis 220 n.Chr) ist das I-Ging heute bekannt als das ‹Buch genannt Der Klassiker der Wandlungen›.4
Ein anderer alter Klassiker ist das Buch Das Geheimnis des Goldenen Elixirs, das sich mit der daoistischen Alchemie befaßt.5
Dementsprechend könnte man das Dao-De-Ging das ‹Buch genannt Der Klassiker des Wegs zur Mitte (Dao) und zur Tugend (De)› nennen. – Allein, bereits der Begriff von Dao wird verschieden übertragen: Als Weg, als Methode, als Weisheit, als Kenntnis … – und das ist auch ganz berechtigt, wenn man Dao – ebenso wie die Gnosis – zugleich (d.h. mehrschichtig) auf der über-kosmischen Ebene der Gottheit, auf der Ebene des Universums (Makrokosmos), auf jener des Kosmos (unser Sonnensystem) und auch noch auf jener des einzelnen Menschen (Mikrokosmos) betrachtet. Auch darum darf man das chinesische Dao ganz äquivalent zur hellenistisch-hermetischen Gnosis nehmen: Dieser letzte Begriff kam etwa zur gleichen Zeit auf wie das I-Ging.
Wann aber entstand das Dao-De-Ging? – Natürlich zu Lebzeiten von Lao-Dse (falls dieser wirklich einer historisch festlegbaren Persönlichkeit entspricht); – das heißt, da es als eine Summa Sapientiæ – als ein Compendium der höchsten Weisheit gilt, zu Ende dieses Lebens. Allein, auch dessen Zeit ist umstritten: sowohl sechstes als auch viertes Jh. v.Chr. werden genannt, aber eher sechstes; denn einer der Mythen mit dieser Zeitangabe nennt den Namen eines historisch bekannten Feldherrn, während andere Mythen gar keinen anderen Namen nennen als den von Lao-Dse.
Folgt man diesen Angaben, so lebte Lao-Dse um die gleiche Zeit wie Plato und Buddha, bzw. wie Sokrates. Das würde bedeuten, daß Plato – und vielleicht auch Buddha – die Botschaft des Lao-Dse kannten. Reisen und Wissens-Austausch waren zu allen Zeiten eine Haupttätigkeit aller Eingeweihten in der Welt: von den buddhistischen Missionaren in Palästina Ende des 4. Jh. v.Chr. (was zur gnostischen Bewegung der Essener führte – mithin zur Lehre des ‹Urchristentums›) – über die arabischen Ritter bis zu einigen christlichen Mönchen, und von da bis zu den Schülern der aktuellen Gnosis überall in der modernen Welt.
Man kennt ja seit dem Mittelalter den Ausdruck Fahrender Schüler, von dem sich der Wander-Prediger nur durchs eigentliche Missionieren unterscheidet. Unverfälschte Texte wie z.B. die von der Kirche als ‹apokryph› disqualifizierten Schriften, die im 20. Jh. am Toten Meer und in Nag-Hammadi wieder-entdeckt wurden, lassen diese Einflüsse erkennen: ‹Evangelien›, ‹Akten› und ‹Briefe› nebst unzähligen weiteren hermetischen Schriften und ‹Büchern› tragen neben griechischen, syrischen, ägyptischen und rabbinischen Einflüssen mehr oder weniger deutliche Spuren der östlichen Philosophien. Daraus ergab sich die dem jeweiligen zeitlichem und kulturellem Umfeld sich anpassende plastische Masse von Lehren und Traditionen, die in geisteswissenschaftlichen Kreisen als Universelle Überlieferung oder auch als Universelle Lehre bezeichnet wird. – Allen echten Wahrheitssuchern ein überströmender Quell belebender Nahrung, gilt diese ‹Universelle Lehre› der geistigen Menschheits-Entwicklung als Krone der Weisheit, der jede Epoche einige neue Edelsteine einfügt. Den etablierten Priester Kasten war sie stets eine Krone mit ebensovielen Dornen. Die Dornenkrone Jesu gemäß dem Neuen Testament erscheint in diesem Zusammenhang als genaue Umkehrung dieses Bildes, was zu einigen tiefen Gedanken anregen mag …
Zusammen mit den genannten Einflüssen aus dem nahen, dem mittleren und dem fernsten Orient gehört das Dao-De-Ging also zu den weit-verzweigten Wurzeln der westlichen Spiritualität – der westlichen Gnosis. Andererseits übernahm die fernöstliche Kultur manche Einflüsse aus den Wanderungen keltischer Stämme oder Pilger aus dem Westen. Dazwischen steht das Druidentum als keltische Hochtradition. Doch diese wurde durch die Römer fast ganz ausgerottet. Der intensive kulturelle und spirituelle Austausch zwischen West und Ost wurde dann über Jahrhunderte vermittelst der bekannten Seidenstraße unterhalten.
Ein Blick auf die Geschichte Chinas läßt aus dem vorgeschichtlichen Dunst naturmagischer Überlieferungen die Shang-Dynastie (1765-1123 v.Chr.) aufsteigen, in deren zweiter Hälfte die Entwicklung der chinesischen Schrift angesiedelt wird. Die Verbreitung der Schrift außerhalb der Tempel bedeutet jedoch stets den Untergang mündlicher Überlieferung. Zudem führt die schriftliche Formulierung von Geschichten (Mythen) und Sprüchen stets auch zu deren Formalisierung und Formatierung, woraus wiederum einander bekämpfende Orthodoxien, deren Anhänger- und Gegner schaften sowie die Anführer Beider hervorgehen. Und dies wiederum führt stets zu den bekannten Machtkämpfen, worin der ‹Homo Sapiens Sapiens› sich als wahrer homo rudens ruens – roher und unverständiger als jedes Tier – erweist: Keinem einzigen Tier käme es doch ein, fremden Rudeln oder gar ganzen Rassen seine Meinung aufzuzwingen, indem es sie tötet (!); – oder gar Massentötungen als Mittel zur Vereinheitlichung der Meinungen zu veranstalten: «Er nennt’s Verstand und braucht’s allein, um tierischer als jedes Tier zu sein! …», sagt Mephistopheles in Gœthe’s Faust. —
‹Schriftliche› Mitteilung bedeutet zugleich bildliche Mitteilung, weshalb Schrift- und Symbol-Systeme stets in engster Verbindung stehen und entstehen. Dies zeigen besonders deutlich die chinesische und die Runen-Schrift sowie die ägyptischen, persischen und Maya-Hieroglyphen, bzw. die sakrale Ikonographie aller Kulturen der Welt, samt deren graphischer und glyphischer Symbolik.
Gleichzeitig mit der Verallgemeinerung der Schrift gelangt ganz natürlich auch die sogenannte Gelehrsamkeit aus den Palästen und Tempeln der privilegierten Kasten hinaus ins Umfeld der gewöhnlichen Bevölkerung. Und dies wiederum führt zur Vermischung von Lehren und Systemen: Aus der Wahrsagekunst im Rahmen von Opfer-Riten (Brandopfer und Eingeweideschau; – in China vorallem Wahrsagerei auf Knochen) entstanden so die weniger aufwendigen Methoden mittels Karten, mit Schafgarben- oder Bambus-Stäbchen, aus Steinen, Asche, Wind, Wasser und Erde. Priesterlich magische Beschwörungsformeln wurden zu Gebeten, dann zu Liedern fürs Volk. – So wird das Rad von ‹Wissen› und Besserwissen, von Glauben und ‹Aberglauben› immer wieder neu in Schwung gehalten – mit allen sich daraus ergebenden Folgen.
Eine Eigenart, welche die Entwicklung der seit ca. 200 v.Chr. bis heute unveränderten chinesischen Einheits-Schrift mit sich brachte, ist die Verschiedenheit der Aussprache der Schriftzeichen – je nach Gebiet, wo der Lesende wohnt. Daraus folgt auf der akademischen Ebene die Schwierigkeit sicherer Interpretation phonetischer Umschriften für die chinesischen Zeichen, und auf der menschlichen Ebene eine Erschwerung der direkten Kommunikation: Zwei Chinesen aus weit entfernten Gebieten verstehen einander oft nur durch Schreiben; denn die Einheitlichkeit der Schrift wurde mit der Bildung des Han-Reiches fürs ganze riesige Reich von Staates wegen durchgesetzt.
Der kritische Leser sieht darin ein ‹doppelt genähtes› Werkzeug der Macht: Die Verschiedenheit der Sprachen und die Vereinheitlichung der offiziellen Schrift entsprechen dem berühmten divide et impera – teile und herrsche – aller zentralistischen und imperialistischen Machtsysteme rund um den Globus.
Ein Mittel der kulturellen Vereinheitlichung war übrigens der das kulturelle China dominierende Konfuzianismus. Dessen Vertretern oblag die normierte Kodifizierung der maßgeblichen philosophischen Schriften. Daraus ergab sich im Mandschu-Reich ein ‹Kanon der wichtigsten Schriften› – damals als Wei-De-Tang-Wu-Zung betitelt, d.h. «Fünf Text-Arten aus der Halle ’Nichts-als-Tugend’». Im 15. Jh. erschien dieser als Dao-Dsang-Dsi-Yao. In den 70-er Jahren des 20. Jh. wurde derselbe Kanon neu gedruckt. Er enthält fünf Ging's (d.h. Klassiker): Das Dao-De-Ging, das I-Ging oder Yi-Ging, das Sing-Ming-Xuang-Xiu-Hui-Ming-Ging, d.h. Klassiker der Anweisung zu Bewußtheit und Leben; – das Tai-I-Zin-Hua-Dsung-Ji (d.h. Das Prinzip der Goldenen Blüte vom Großen Einen, seit den Herausgaben durch C.G. Jung und R. Wilhelm bekannt als Das Geheimnis der Goldenen Blüte6) – und fünftens der Klassiker der Acht Weisen – Huainan-Dse Ging.
Das Hui-Min-Ging wird einem Liu-Ha-Yang zugeschrieben. Als ‹Autor› von Geheimnis der Goldenen Blüte wird der hervorragende Daoist Lü-Yen (geb. 755 n.Chr.), auch bekannt unter den Beinamen Lü-Dung-Bin – d.h. ‹Höhlengast›, oder Lü-Dse (d.h. Meister Lü) – überliefert. Dieser war einer der «Acht Heiligen» und Gründer der daoistisch-esoterischen Geheimsekte des Goldenen Lebens-Elixiers – Gin-Dan-Giau – um 800 n.Chr. herum.
Lü-Yen – so R. Wilhelm – führte seine Lehre, die u.a. als Reform des überkommenen, damals aber degenerierten Daoismus gilt, auf den Meister Guan Yin Hi zurück, für den, gemäß einem der Mythen, Lao-Dse sein Dao-De-Ging aufschrieb; – also über Lao-Dse’s eigentlichen ‹Nachfolger› Zuang-Dse zurück auf Lao-Dse selbst.7
Erste Drucke dieser mündlich überlieferten Weisheitslehren mit buddhistischem Einfluß erschienen jedoch erst im 16. Jh. – Zuvor wie danach entstanden zahlreiche Kommentare zeitgenössischer bis heutiger Philosophen zu diesem Kodex der fünf ‹heiligen› – und vom Staat verordneten – chinesischen Haupt-Schriften. Einer der diesbezüglich größten Autoren war Wang-Bi, das ‹Wunderkind› (226-249 n.Chr.): Während seines kurzen Lebens schrieb dieser sowohl einen Kommentar zum I-Ging als auch einen zum Dao-De-Ging sowie eine ‹zusammenfassende Einführung› zum Zhou-Yi, einem Zusatzwerk zum I-Ging. Sein Werk prägte die geistlichen Ansichten nicht nur seiner eigenen Zeit, sondern auch der Jahrhunderte danach und bis heute. Seine Textversion des Dao-De-Ging ist eine von dreien, die zur Neu-Übersetzung aus dem Chinesischen für die vorliegende Ausgabe benutzt wurden.
Wang-Bi stand im Gegensatz zur sehr starken etablierten konfuzianistischen ‹Schule› der Han-Dynastie (206 v.Chr bis 220 n. Chr).
Um 618-906 folgte eine neue Zeit der Reichswirren, die erst während der Song-Dynastie (960-1279) mit Hilfe des dem Daoismus näheren Neo-Konfuzianismus beigelegt wurden – wieder zugunsten der staatlichen Vereinheitlichung der Kultur.
Zu Beginn des 18. Jh. veranlaßte Kaiser Kang-Xi (Qing-Dynastie, 1644-1911) eine neuerliche Normierung der genannten Haupttexte und ließ sie mit neokonfuzianischen Kommentaren als Standardwerke im Palast von Bei-Jing drucken. Daß diese Vereinheitlichung der Form und nicht dem Inhalt diente, versteht sich. Dennnoch soll der Druck des I-Ging von 1715 sehr getreu mit dessen ältestem bekannten Manuskript übereinstimmen, das in einem Grab von 138 v.Chr gefunden wurde (Wilhelm).
In seinem spirituellen Umfeld gesehen, ist das Dao-De-Ging in seiner heutigen Form also nicht einfach eine ‹chinesische Heilige Schrift›, sondern das synkretistische Resultat aus allen Einflüssen zwischen 800 v.Chr. und ca. 900 n.Chr. Zur Hauptsache gewiß vom originalen Daoismus geprägt, steht es doch sowohl den anderen orientalischen Religionen (Buddhismus, Sufitum, dazwischen auch noch Nestorianismus und Manichäismus) nahe, als auch der gleichzeitig im Westen aufgekommenen hellenistisch, ägyptisch, syrisch, rabbinisch und buddhistisch eingefärbten gnostischen Überlieferung und der sogenannten Hermetik. Wichtig ist der Hinweis, daß alle diese Systeme – wirklich alle! – die Überlieferung der operativen Alchemie enthalten, und zwar in absolut kompatibler bis identischer Symbolik, die freilich im mystischen Daoismus ebenso mystifiziert wurde wie im mystischen Christentum. Man denke nur an die Allegorien von ‹Erde›, ‹Wasser›, ‹Luft› und ‹Feuer›, die allen (wenn auch individuell gefärbt) gemeinsam ist.
Ja, sogar die Scala Philosophorum der westlichen Alchemisten findet sich im Piktogramm für Dao wieder (zusammengesetzt aus Kopf, Weg und Fuß). Dieses Zeichen wird auch interpretiert als Bewußtsein, Weg (oder Treppe) und Gehen; – bzw. Dao selbst als Weg, Bahn, Prozeß, Kreislauf u.s.f. – Man sieht darin u.a. die Entsprechungen von Mikrokosmos (siaotien-di – kleines Weltall), Kosmos (tien-di – Himmel und Erde) und Makrokosmos (tien-diji-hsing – das Gesetz, wonach Himmel und Erde leben), ausgedrückt anhand der Begriffe ‹Weg› (des Menschen) und ‹Bahn› (der Gestirne), die auch in Vers 47 des Dao-De-Ging angesprochen sind. Der Zustand der letztlichen Vereinigung der Gegensätze ist dann eben Dao – oder Tai-Ji, das ‹Zweit-lose Eine›, aus welchem ständig das Paar von Yin-Yang sowie die entsprechenden Gegensatzpaare hervorgehen: aktiv – passiv, dunkel – hell; planend – formend; befruchtend ausströmend – zum Formen aufsaugend etc. – Diese Gegensätze sind es, die das Universum dynamisieren und dadurch erst sein Dasein ermöglichen. – Die jung’sche Sicht nennt hier Animus und Anima. Dem entsprechend teilt sich der Mensch im Augenblick seiner Empfängnis in Wesen und Leben (Essenz und Dynamik) – in Ming und Sing. Dazwischen steht Sin, das ‹Herz› als emotionales Bewußtseins-Zentrum.
Sing (‹Animus›), das (so Wilhelm) dem Logos nahe steht, ist der Teil, der im Jenseits nach der Auflösung des Mikrokosmos, bzw. im vorgeburtlichen Zustand, als überbewußter Zustand der Wesenheit und ‹geistiger Faktor› existiert. Bei der spermatischen Vereinigung zur Manifestationsform verbindet es sich eng mit Ming (dem ‹animalischen› Faktor – ‹Anima›), der sein Menschsein bestimmt: das ist sein individuelles Geschick und sein überpersönliches, himmlisches ‹Verhängnis› oder ‹Gesetz› (Karma oder Kollektiv-Seele), das gemäß Wilhelm im Daoismus als Zufall betrachtet wird.
Ming, der ‹dumpfe Wille›, der, von den Leidenschaften angestachelt, den Menschen zur Ausströmung der Lebenskräfte treibt, wird als sinkend oder fallend gedacht, Sing als steigend. Dadurch kommt das Ich in einen schwebenden Zustand, worin es zur Wahl gezwungen wird: Entscheidet es sich für das Verströmen der Lebenskraft, so fällt es dem Tod entgegen. Verwirklicht es jedoch die Verinnerlichung der Lebenskräfte so, daß jene in einer ‹inneren Rotation der Monade› einen stabilen unabhängigen Lebens-Kreislauf aufbauen können (man erinnere sich an die ‹Zirkulation› im ‹Athanor›), so wird eine steigende Bewegung eingeleitet, wodurch das Ich der Verquickung mit den ‹10'000 Dingen› der Welt entsteigt und nach dem physischen Tod des Menschen lebendig und wirkend bleibt. Solche Wesenheiten sind die heiligen Helfer und Inspiratoren der Menschheit aus dem Jenseits: hohe ‹Geister›, im Chinesischen ‹Shen› – ein Gott – genannt. Es liegt nahe, daß aus diesem Ausdruck der arabische Djin, und über das Lateinische, das keinen sh-Laut kennt, das westliche Genie wurden …
Diese Genien sind jedoch noch immer persönlich, also ebenso der Vergänglichkeit unterworfen wie Himmel und Erde. Ganz ewig ist nur die Gold-Blume, erblüht unter der vollkommenen Loslösung des Menschen von allen Dingen und Welten. Das ist die Goldene Blüte des alten Daoismus – die Goldene Rose der modernen Rosenkreuzer. Solch ein Ich ist nicht mehr auf die Monade beschränkt: Es durchbricht das Universum der Dichotomien und vereinigt sich mit dem ‹Zweit-losen Einen› – mit Dao.
Während nun im Buddhismus diese Ver-Einigung ein völliges Erlöschen des Ich bedeutet (das als solches Illusion ist), bleibt im Daoismus eine verklärte Ich-Substanz sozusagen als Bewußtseins-Essenz erhalten (Wilhelm nennt sie ‹die Idee der Person›), die ins Gedächtnis des Universums eingeht: Das ist «das Licht, das zu sich selbst zurück kehrt» (ming heißt auch leuchten).
Der Zwischenweg besteht in einem teilweise aufwärts strebenden Menschenleben, wonach das ‹Ich› beim physischen Tod der dreifachen Persönlichkeit in eine (europäisch ausgedrückt) astrale Reinigungsphase eintritt, worin es (daoistisch gesehen) als seliger Geist – als ein sich zurückziehender ‹Dämon› (chin. ‹Gui›) – die Früchte seiner guten und schlechten Taten erntet. Das ist aber ein machtloses Schemen ohne ‹Schicksal› noch Kraft, das sich in dieser Zwischenwelt nur so lange halten kann, wie die Totenopfer seiner Hinterbliebenen es nähren. Dabei bildet es den ‹psychischen› Vorrat, mit dem es, einen neuen Mutterschoß passierend, den nächsten Existennz-Kreislauf antreten wird. Wer die heutige Universelle Lehre kennt, erkennt die Parallelen.
Im Gegensatz zur betont intellektuell mystischen, didaktisch zwingenden Lehre des Westens über dieselbe Thematik stehen das chinesische Konzept und seine Methode viel näher dem konkreten Erleben und dessen innerer Magie, indem die abstrakten Elemente hier nicht ausgesprochen werden, sondern nur mittels bildlicher Analogien das überpersönlich Unbewußte des Menschen wie eine Saite angeschlagen und zur Resonanz eingeladen wird, so wie dies dem Bildbewußtsein der antiken und der alt-chinesischen Welt eben entspricht. Der Schlüssel zum Verständnis des West-Menschen für dieses System ist bildlich-kindliche Einfühlung. Dasselbe gilt für die chinesische Schrift als sprach-unabhängiges Kommunikationsmittel – und es machte die gegenwärtige Übersetzung möglich.
Auf solch unbefangener Offenheit gegenüber allem ‹Chinesischen› beruht die gegenwärtige, aktuell gnostisch kommentierte Ausgabe des Dao-De-Ging – doch erst nach akribischer Analyse: Primär getreuem Übersetzen nach den striktesten Regeln verpflichtet, jede moderne westliche Interpolation vermeidend, setzen Übersetzung und Kommentar das soziokulturelle Umfeld zur Entstehungszeit des Dao-De-Ging und die damalige philosophische Ära in Beziehung zum Umfeld von heute und zum Begriff vom inneren Weg der Menschheit durch die Jahrtausende – besonders aber seit dem Beginn des letztvergangenen Jahrhunderts; – anders gesagt: mit den menschlichen Bedürfnissen an der aktuellen Zeitenwende – der zweiten seit der Entstehung des originalen Dao-De-Ging.
Alle im gegenwärtigen Buch gegebenen Übertragungen gehen darum von drei Grundbedingungen als einer Voraussetzung aus, die erfüllt sein soll, um Anspruch auf Gültigkeit erheben zu können:
1° Der gesamte Text einer ‹Nummer› soll in sich selbst harmonisch sein, d.h.: Er darf sich (abgesehen vom ‹taoistischen Paradoxon›) nirgends widersprechen: Allfällige Widersprüche müssen sich in den roten Faden des Ganzen sinnvoll einordnen lassen: Bisherige Versionen widersprechen sich oft selber auf unbegreifliche Weise; – gelegentlich sogar in derselben Zeile.
2° In jeder Nummer soll ein Grundgedanke, eine Grundstimmung, eine Hauptbotschaft – oder all dies gleichzeitig – erkennbar sein.
3° Jede Nummer soll neben einer welt-menschlichen Forderung, die ein «weiser Herrscher» erfüllen kann, eine esoterische Bedeutung erkennen lassen, die für den Kandidaten auf dem Einweihungspfad von Dao relevant und umsetzbar erscheint (der Titel Dao-De-Ging erhebt selber genau diesen Anspruch).
Um die genannten drei Bedingungen bestmöglich zu erfüllen, wurde auf eine große Anzahl westlicher ‹Übersetzungen› zurückgegriffen: Die deutschsprachige Version eines ‹Anonymus› (2005); jene anerkannter Kapazitäten wie Werner Classen (1945); O. Sumitomo (o.J.); Hans Knospe und Odette Brändli (1985); Asgard Gerstner (2001); Rudolf Backofen (1949); Gia-Fu Feng & Jane English (deutsch durch U. Lütjohann); Vincenz Hundhausen (1942); Bodo Kirchner (2000); Ernst Schwarz (1978); Richard Wilhelm (1911); – die sicher maßgeblichste französische Version von Stanislas Julien (o.J.); – die italienische Version von Luciano Parinetto (1995); – die spanischen Versionen von Antonio Rivas (o.J.) und ‹Ratmachine› (o.J.); – die holländische Version von John Wilemsens (1990 /1992, Hrsg. J.L.L. Duyvendak). – Englische Versionen von R.B. Blakney, Stephen Mitchell, Brian B. Walker, Sam Torode & Dwight Goddard, Jonathan Star, Chu Ta-Kao, Ursula K. Le Guin, Thomas Cleary, Victor H. Mair, Gia-Fu Feng & Jane English (englisch); und endlich: Addiss, Lombardo & Watso; Man-Ho Kwok & Martin Palmer.
Insgesamt wurden also rund 30 westliche Versionen in 6 Sprachen berücksichtigt. – Es zeigte sich jedoch, daß nur eine eigene Übersetzung (aufgrund dreier chinesischer ‹Urtexte› – darunter der von Wang-Bi, siehe oben) die genannten strengen Bedingungen erfüllen konnte – ermöglicht dank den elektronischen Übersetzungs-Hilfen auf dem Internet: ‹Google›, ‹Babylon› und der MDBG Chinese-English Dictionnary – und dank vielen, vielen Übersetzungen und Deutungen heutiger Chinesen – ebenfalls auf dem Internet.8
Manche der Texte erscheinen nun in einer Übertragung, die in starkem Gegensatz steht zu all den z.T. einmütigen, z.T. einander völlig widersprechenden früheren, die zum Vergleich herangezogen wurden. Die textbezogenen Fußnoten erklären viele dieser Unterschiede und geben auch weitere mögliche Varianten an. Grundsätzlich jedoch folgt diese neue Übersetzung zeichengenau getreu dem Text. Daß aus der oft großen Auswahl von Möglichkeiten jeweils die kulturell zeitgenössischste oder/und spirituell plausibelste Variante bevorzugt wurde, versteht sich von selbst.
Intensive Studien des Wegs der Gnosis durch die Jahrtausende samt einigen eigenen Erfahrungen auf diesem Weg mögen die Kühnheit legitimieren, diese Übersetzung und Kommentare zu wagen. Wie nahe das Ergebnis dem Anliegen des Herausgebers und den genannten hohen Ansprüchen komme – wie fern es denselben trotz allen Bemühens bleibe, ja, wegen der Unvereinbarkeit der beiden Welten und der Beiden Naturen bleiben muß, möge eine wohlwollende Leserschaft fundiert beurteilen.
Das vorliegende Buch in seiner zweiten Ausgabe überträgt neu den Text aller 81 ‹Nummern› des Dao-De-Ging; der eigentliche Kommentar erfaßt aber wiederum nur die ‹Kapitel› 34 bis 81. Den ‹Versen› 1-33 wurden bloß einige textbezogene Fußnoten sowie grundsätzliche Deutungs-Hinweise mitgegeben – bzw. Verweise auf entsprechende Kommentare zu späteren Kapiteln. Ein Buch, betitelt Chinesische Gnosis, mit gnostisch esoterischen Deutungen zu Kapitel 1 bis 33, erschien, wie früher bemerkt, bereits im Jahr 1980. Sein Autor, Jan van Rijckenborgh, und die Endredaktorin nach dessen Tod, Catharose de Petri, sind bekannt geworden, weil diese Zwei seit Beginn des 20. Jahrhunderts die gnostische Überlieferung in Europa neu belebten und beseelten. Die daraus entstandene rosenkreuzerische Bewegung stellt den entscheidenden Schritt dar, wodurch die stark orientalisch orientierte Theosophie samt den freimaurerischen Strömungen, die damit verbunden waren, aus der Abgeschiedenheit eklektischer Zirkel und Logen herausgehoben und in die moderne Öffentlichkeit hinausgetragen wurde. Es versteht sich von selbst, daß solch eine neue Bewegung der Menschheit stark auf vorangegangenen Bruderschaften – wie jener der Katharer des 11. bis 14. Jh. und jener der Rosenkreuzer des 17. und 18. Jh. – als auf einem verschütteten Erbe fußte, genau wie die ‹Ur-Anthroposophie› von Rudolf Steiner, dessen rosenkreuzerische Initiative allerdings in seinem Umkreis keine Gefolgschaft fand.
Das vorliegende Buch knüpft in heutiger Form – aber im Dienst an derselben Ideation – an den bewährten ‹Formeln› des letzten Jahrhunderts an, doch versteht es sich – am Eintritt ins neue Jahrtausend – als eine Arbeit für die breite Öffentlichkeit. Es ist so gestaltet, daß es allen Lesern von heute einen ungezwungenen Zugang zum Dao-De-Ging – und zugleich zu den Grundsätzen und Sichtweisen der aktuellen Gnosis – eröffnen kann.8a
Jedenfalls kann und will die vorliegende Arbeit in keiner einzigen Hinsicht eine abschließende sein: Vielmehr möge sie neue Öffnungen bohren in z.T. verhärtete Ansichten, die im gerade erst vergangenen 20. Jahrhundert durch die Paarung akademischer Selbstzufriedenheit des Geistes mit mystisch-magischer Unsicherheit der Seele geformt wurden. – Gibt es doch auf diesem Gebiet nichts Feststehendes für uns Menschen: Alles ist im Fluß, einschließlich des Einen, sich ewig Wandelnden, dem bei stetiger Bewegung stets in sich selbst Ruhenden: ‹Brahma› – ‹Dao› – ‹Gnosis›; – Licht, Wahrheit und Leben!
Dank gebührt der jungen Gelehrten Dr. Tao Wang, die unsere Übertragungen gut hieß und einige wertvolle Anregungen dazu beitrug, welche in diese zweite Ausgabe integriert wurden.
Die Kommentare beleuchten außer den eigentlichen spirituellen Aspekten auch Parallelen und Wechselwirkungen zwischen einer ernsthaften gnostischen Queste, der wogenden See des Weltgeschehens heute und der Kulturgeschichte des Alten China. Damit spricht diese Ausgabe des Dao-De-Ging auch jene Menschen an, die keiner eigentlichen spirituellen Ambition oder Richtung folgen mögen, sondern allein an der Schönheit des Texts und an einer aktuell verständlichen, leicht akzeptierbaren, ganz undogmatischen Deutung interessiert sind. – Möchten sie alle auf ihre Rechnung kommen: das wäre unser großer Wunsch!
Die esoterischen Kommentare zu den ‹Versen› (‹Nummern› oder ‹Kapiteln›) 34 bis 37 des Ersten Teils – DAO-GING – bilden eine Art Brücke zur Begriffswelt des Buchs. Auch darum wird der eigentliche Zweite Teil – DE-GING, mit den Nummern 38-81 – durch ein entsprechendes Titelblatt eröffnet.
Das ganze Buch möchte – wie das Dao-De-Ging selbst – drei Schichten zugleich beleben: Eine erste, moralisch-sittliche Schicht fürs alltägliche Leben von Jedermann, eine zweite Schicht betreffend die ‹hohe Tugend› des Herrschers (DE) – und eine oberste, auf die wahre Bestimmung, den eigentlichen inneren Sinn allen Lebens ausgerichtete Schicht: Die Heilige Hochzeit der isolierten Einen (der Menschen in dieser Welt) mit dem ‹zweit-losen Einen›, dem All-ein-Guten, dem Alles-in-Allem und -Allen; – des ‹einen›, vergänglichen, unter dem Stigma der Todesnatur geborenen Menschen mit dem ‹Anderen›, dem neuen himmlischen Menschen in ihm.
Die unfaßbare Schönheit dieser Aussicht zeigt der hoffnungsvolle Vers aus dem Hui-Ming-Ging:
Die Wolken schwinden im blauen Raum —
die Berge leuchten klar.
Bewußtsein löst sich in Schauen auf —
Die Mondenscheibe einsam ruht …
* «Gering ist der Mensch, trotz höchstem Streben» (P.M.)
Sinnvolle Übertragung der roten Zeile:
Der berühmten goldenen Verse, der Blüten Innerer Lehren Erster Teil*
* Genau bedeuten die ersten zwei Zeichen zusammen: berühmt, glorreich, wunderbar; – einzeln heißen sie: golden, herrlich, bzw. Stickereien, Zierat (franz. broderie). – Das zweite Zeichen-Paar heißt einzeln: Inneres, Lehre, Vermittlung, bzw. großartig, blumig, blühend; zusammen aber stehen sie schon seit Alters für China (das Reich der Mitte). Die drei letzten Zeichen sind zu lesen als: Ihr einer oder erster Teil (von den zweien, Dao-Ging und De-Ging). Kombiniert (Begründung siehe spätere Beispiele): Der berühmten Goldstickereien esoterischer Lehren Chinas Erster Teil.
Die Version goldene Verse will an die Goldenen Verse des Pythagoras, eines Zeitgenossen von Lao-Dse erinnern.
DAO als Weg, den man gehen kann,
ist nicht das ewige DAO. —*
Kein Name, den man [dafür] nennen mag,
ist jemals des Ewigen Name. —
Keinen Namen hat des Himmels und der Erde Ursprung —
Der bestehende Name meint die Mutter der 10'000 Dinge.
Infolgedessen:
Wenige [nur] verlangen sehnlichst, zu schauen seine Wunder —
Viele gibt es, die studieren sein Äußerliches —**
So gibt es beiderlei:
Ähnlich sind beider Beweggründe und der geheimnisvolle Name —
ähnlich rufen sie die Mysterien auf:
Geheimnisvoll, sehr verborgen und vielfach wunderbar
sind deren Pforten.
* Einzeln könnte man lesen als: ist nicht der ewige Weg. – Das wäre real falsch; denn es ist der seit ‹ewigen› Zeiten gelehrte zeitlose, ‹ewige› Weg. Als Zeichen-Paar heißt : außerordentlich, unermeßlich, grenzenlos, gewaltig, enorm, unglaublich, äußerst kostbar. – Als Lesart also: ein unbeschreiblicher Weg. – Die ganz Wenigen, die ihn mit allen Konsequenzen gehen, erfahren, wie unbeschreiblich dieser Weg wirklich ist. Das ganze Dao-De-Ging tut nichts anderes, als diese Unbeschreiblichkeit zu umgehen, um DAO als die praktische Realität zu erklären, die es eben auch ist. In diesem echt esoterischen Sinne verstanden, trifft auf den Weg von Dao dasselbe zu wie auf den der operativen Alchemie: «Unter 1000 ist kaum einer, der ihn zum Guten Ende gebracht». –
Dementsprechend ‹gemischt› gelesen, ist der Name, den man nennen kann – Dao – « … nicht wirklich des Absoluten Name»: Name ist nur Zeichen; ist nur Symbol. – Unaussprechlicher Inhalt ist Alles!
Je rudimentärer die Texte des Dao-De-Ging erscheinen, desto vielschichtiger sind sie; desto größer sind Freiheit und Dilemma des Lesers, seine inner-eigene Deutung zu finden: So unterscheiden sich selbst die chinesischen Versionen z.T. beträchtlich von einander. Ein definitiv richtiges Verständnis ist weder hier noch sonstwo möglich. Höchstens kann man ausschließen, was kein sinnvolles Ganzes ergibt, was der Intention des Texts Gewalt antut, oder was fürs China des Lao Dse ganz unpassend ist. Dieses Zeichen-Spiel ist typisch fürs ganze Dao-De-Ging.
** Zeichengenau: Grenzen; darum herum gehen – udgl.
Alle Welt weiß: Gutes folgt auf Gutes,
solange das Böse aufgehoben ist.
Jederman weiß:Anständigkeit folgt auf Anständigkeit,
solange der Anstand nicht aufhört.
Daraus folgt:*
Die Realität der Gegensatz-Paare taucht auf:
Schwierigkeiten wechseln mit Erfolg —
Reichtum und Mangel erscheinen wechselnd —
Erhabenheit und Niedrigkeit jagen einander—
Wohlklang und Lärm sind miteinander vermischt —
Früher und Später bezwingen einander.
Unaufhörlich geht es so.**
Der rechte Eingeweihte macht Nicht-tun zu seinem Ziel
und übt Nicht-sprechen als seine Lehre.
Alle 10'000 Dinge greifen ihn an – aber er gibt nicht auf.
Werdend, nicht seiend —
Handelnd. aber sich auf nichts verlassend —
Großtaten vollbringend, aber nicht verweilend —
Als Mensch einsam und ohne Zuhause —
das Rechte tuend ohne Unterlaß.
* Blau (gilt für alle Texte): Textvariante Wang-Bi
** Rot (gilt für alle Texte): Variante einer dritten Textversion unbekannter Herkunft (siehe Kommentare ab N° 34).
[Vergib] keine Auszeichnung an Tüchtige —
dann kämpfen die Leute nicht darum.
[Zeig] keine kostbaren, ihnen schwer erreichbare Güter —
dann werden die Leute keine Diebe sein.
Gib weniger Begierden Raum —
dann denkt das Volk nicht an Aufruhr. *
Der wirklich weise [Herrscher] regiert so:
Leer ist sein Herz [von Wünschen und Gedanken] —
voll ist sein Bauch [von Genügsamkeit].
Untergeordnet ist sein Wollen —
kraftvoll sind seine Absicht, Geist und Seele.**
Stets sorgt er dafür, daß das Volk
ungebildet und uneigennützig bleibt —***
er macht, daß die Menschen
kluge Untertanen sind und sich nicht getrauen, zuviel zu tun.
Tuend im Nicht-tun regiert er ohne Unheil .
* Unter Volk ist auf der esoterischen Ebene des Texts immer an die Persönlichkeit des Kandidaten selbst zu denken (siehe Kommentare in späteren Kapiteln ab N° 34).
** Die Polyvalenz chinesischer Ideogramme wie – Herz und – Wille, Bestrebung, Sehnsucht (worin das Ideogramm Herz enthalten ist) kann im Deutschen nur durch mehrere Ausdrücke neben einander übertragen werden. (Siehe Kommentare ab N° 34).
*** Vgl. Text N° 65 und Kommentar.
Gemeint: ohne gestürzt oder umgebracht zu werden.
Dao ist ein Ozean,
den niemand je vollkommen austrinken kann.
Oh Du Abgrundtiefe!
Die 10'000 Dinge sind Gleichnisse nach Deinem Vorbild!*
Seine Heftigkeit besiegen —
Sein Durcheinander klären —
Harmonie in seine Lichter bringen —
Sich seinem Staub gleich machen —**
Oh Tiefe! *** – Daß es so etwas nur irgend geben kann!
* Die ganze Schöpfung – aber auch jedes einzelne Geschöpf darin – sind Bild und Gleichnis der Urmutter, woraus sie entstanden – DAO. Das entspricht der Aussage des Corpus Hermeticum – «Wie im Großen, so im Kleinen». Universum, ‹Milchstraßensysteme› (Makrokosmen), Sonnensysteme (Kosmen), jedes Geschöpf (Mikrokosmen) und jede kleinste Zelle (bis zum Atom) entsprechen einander – trotz ihrer unterschiedlichen Natur – aufgrund der Allem gemeinsamen universellen, ganz geistigen Grund-Energie (vgl. die ‹Platonischen Körper› und ihr Aufbau aus einem gemeinsamen Grundelement – dem Tetraeder, welcher seinerseits der pythagoräischen ‹Tetraktys› entspricht.
** Diese vier Zeilen sind genau identisch mit jenen im zweiten Abschnitt von N° 56. (siehe dort, samt Kommentar dazu).
*** Auch bei den valentinianischen Gnostikern wurde der Urgrund, aus dem Alles hervorgeht (Bœhme’s ‹Ungrund›), Tiefe genannt – vielleicht auch so angerufen. – Moderne Physik nennt dies die Raum-Zeit-Energie.
Himmel und Erde sind von unbewegter Strenge —
Ihnen sind die 10'000 Dinge wie Strohhunde.
Die Weisen sind von unbewegter Strenge —
Ihnen sind [selbst] die 100 Familien wie Strohhunde.*
Der Raum zwischen Himmel und Erde – ist er nicht wie ein
Dudelsack?**
[Nichts als] Leere und unbewegt —
[Aber] bewege (spiele) ihn, und er wird immer
ausdrucksvoller.***
Geschwätzigkeit, sagt das Sprichwort, ist schnell am Ende —
besser ist doch der Zurückhaltung Mittelmaß.
* Opferhunde aus Stroh. – Erklärung dafür siehe Kommentar zu N° 71. – Mit den wörtlich ‹100 Namen› sind hier wohl die noblen Familien gemeint, als Gegenpart zu den (beliebigen) 10'000 Dingen jeglicher Kategorie.
** Zeichengenau: … sie / entsprechen / Sack / Flöte / Frage-Partikel . Die in vielen Übersetzungen gefundene Deutung Blasebalg wird den Ideogrammen nicht gerecht.
Der Dudelsack (‹Sackpfeife›) wird übrigens bereits im Alten Testament in Daniel 3:5, 10 und 15 (im Zusammenhang mit Nebukadnezar) erwähnt. Ebenso gibt es Hinweise auf Dudelsäcke in Ninive und Assyrien. Dudelsäcke wurden sogar in Ägypten gefunden und bis ins Jahr 1500 v.Chr. zurück datiert. Im Alten Indien und in China läßt sich die Tradition des Dudelsacks sogar bis fast 2600 v.Chr. zurückverfolgen!
*** Dieser ‹Vers› baut offenbar auf einem Wortspiel mit bewegt und unbewegt – sowie mit Zurückhaltung und Ausdruck auf. Statt unbewegt i.S.v. unbeugsam könnte man auch innere Kraft sagen – so wie der noch unbewegte Dudelsack alle Töne, die man darauf spielen mag, als innere Kraft und potentiellen Ausdruck bereits in sich hat. – Damit wird auch der Übergang zur Geschwätzigkeit besser verständlich.
Das Untenliegende ist göttlich und unvergänglich —*
Es ist ein weibliches Mysterium.
Geheimnisvoll weiblich ist seine Öffnung. — **
Wirklich nennt man Himmel und Erde den Urquell:
Ewig scheinen sie zu dauern —
Um ihr Überleben muß man sich nicht sorgen.***
* Wörtlich ebenso: das Tal, das Untere, das tiefliegende Göttliche; – insofern zu verstehen wie in N° 66. Doch darf man auch verstehen im Sinne der Tabula Smaragdina: Das Obere und das Untere – oder Yang und Yin. Dasselbe geht aus dem restlichen Text hervor. Die Bedeutung des ganzen Texts ist jedoch eher erahnbar als wörtlich übersetzbar.
** Variante: Zu Recht nennt man das Mysterium ein Weib. – [Denn] geheimnisvoll ist des Weibes Unterleib. Das Große Mysterium ist DAO; – aus DAO, der Urmutter kommen die ‹10'000 Dinge›, d.h. alle Geschöpfe hervor. Auch die Frau (als Symbol für DAO) ist als Mutter «ein Kleines wie das Große». Darin liegt der Zusammenhang zwischen dieser und der ersten und vierten Zeile dieses Texts.
*** Ebensogut kann man lesen: Ihre Nutzbarkeit ist [jedoch] nicht feststehend, stetig … – Dies im Sinne der periodischen kosmischen Kataklysmen mit der darauf folgenden Unwohnlichkeit beider Hemisphären (‹Steinzeit› des ‹Goldenen Zeitalters›) – sowohl der durch Feuer verbrannten als auch der durch Wassermassen überfluteten. Eigenartig berührt den westlichen Leser dieser offene Widerspruch in ein und demselben Zeichen – ein typisches taoistisches Paradoxon.
Das Himmlische ist ewig, das Irdische währt lange .
Daher ist das Universum fähig, immerwährend zu gedeihen,
jetzt und immerdar: —
So wie es nie entstanden ist,*
so vermag es, ewig zu dauern.
Der rechte Weise lebt so:
Er setzt sein hintan und doch steht zuvorderst —
er läßt sein los, und so wird er behalten.**
Verursacht nicht seine Unpersönlichkeit Schaden?
[Nein —]
Daher ist er imstande, sich persönlich zu vervollkommnen.
* Ein heutiger chinesischer Interpret formuliert (hier in lesbares Deutsch übertragen): Weil (wenn, falls) sie (Himmel und Erde) sich nicht um ihr eigenes Überleben und den natürlichen Lauf der Dinge sorgen.