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Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2017

© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

www.groessenwahn-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN: 978-3-95771-162-5

eISBN: 978-3-95771-163-2

Leif Tewes

Alternativen

Roman noir

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IMPRESSUM

Alternativen

Autor

Leif Tewes

Seitengestaltung

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften

Constantia

Covergestaltung

Marti O´Sigma

Coverbild

Marti O´Sigma

Lektorat

Britta Steinbach

Druck und Bindung

Print Group Sp. z. o. o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

August 2017

ISBN: 978-3-95771-162-5

eISBN: 978-3-95771-163-2


Alle Personen in diesem Buch sind frei erfunden.

Etwaige Namensähnlichkeiten sind reiner Zufall.

1

A ls ihm das Messer aus der Hand rutschte und klappernd auf den Boden fiel, wurde ihm klar, wie dumm diese Idee war. Ein Klappmesser. Gegen eine Handvoll dunkler Gestalten, die aussahen, als hätten sie schon auf ganz andere Waffen geblickt. Bücken oder rennen? Beten oder flehen?

Ein Rohr, der Pfahl eines Gartenzauns, im Dunklen nicht zu erkennen, baumelte in der Hand des einen. Kapuzenpulli, dunkle Jogginghose, nur die hellen und neu wirkenden Turnschuhe störten das Bild. Die vier anderen breiteten sich fächerförmig um ihren Anführer aus, der sie deutlich überragte. Der schmale Gehweg durch die kleine Grünanlage zwischen den Arbeitersiedlungsblöcken war versperrt.

»Money«, wiederholte der große Mann und ließ die dunkle Stange sacht schwingen.

Nein, dachte Thomas, das konnte nicht passieren! Nicht hier! Nicht in seiner Stadt, keine zehn Minuten von zuhause entfernt.

»Schon klar«, krächzte er. Seine Hand fuhr langsam in dieInnentasche seiner Jacke zur Geldbörse. Dann stockte er. Was tat er da?

Er zog die Hand wieder heraus, spannte den Nacken an und sagte: »Nein.«

Er war bereit, seinen rechten Arm in den Schlag zu werfen und hoffte, dass es ein Holzpfahl und kein Stahlrohr war.

Der kleine Mann ganz links öffnete seine Hand. Die helle Innenfläche leuchtete in der nächtlichen Umgebung wie die Turnschuhe des Anführers.

»Please«, sagte er.

Irritiert rutschte Thomas ein »Hä?« heraus. Hatte er sich verhört?

»Money. We need money«, sagte ein anderer von rechts. Die Gruppe kam synchron einen Schritt auf ihn zu. Das Weiße in den dunklen Augen funkelte wie die Positionslichter der Flugzeuge in der mondlosen Sommernacht. Der Schläger blitzte auf, schien doch ein Metallrohr zu sein.

Der Ärger kroch höher als die Angst. »Ich auch«, rief Thomas. »Ich muss es mir durch harte Arbeit verdienen!«

Der Anführer trat noch einen Schritt vor, das Rohr rhythmisch auf die Steinplatten schlagend. Tok, Tok.

»Nix Arbeit, nix Geld.«

Thomas wich zurück, die Arme halb vor das Gesicht gehoben. »Nicht mein Problem«, erwiderte er lahm, den Blick auf die Schlagwaffe fixiert.

»Nobodys problem«, sagte der Mann links.

Der Anführer schwang den Schläger einmal durch die Luft und ließ ihn in seine Hand klatschen. »Money!«

Scheiße, dachte Thomas. Langsam griff er wieder nach der Geldbörse und fixierte dabei den Boss, der weiter das Rohr kreisen ließ.

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Kopfbewegung einer der Angreifer wahr. Kurz darauf rief eine helle Frauenstimme hinter ihm:

»Yakhtafi! Yallah!«

Fast gleichzeitig rannten die fünf Männer los. Über die Wiese, zwischen den Teppichklopfstangen hindurch und um die Ecke eines Häuserblocks. Das leise Schmatzen der Turnschuhe war nur noch kurz zu hören, irgendwo klapperte der Schläger auf den Gehweg. Thomas holte tief Luft und drehte sich um. Eine kleine Frau mit Kopftuch und einer Aldi-Tüte in der Hand rannte auf ihn zu, für ihre Figur erstaunlich flink.

»Alles gut?«, fragte sie atemlos.

»Die wollten mich überfallen …« Thomas deutete mit zittrigem Arm in die Dunkelheit und brach ab. Sein Mageninhalt wollte auch die Flucht ergreifen, mühsam unterdrückte er den Würgereiz.

»Dumme Jungs«, sagte sie, bückte sich und hob das Klappmesser auf. »Deins?«

Er nickte und steckte das Messer wortlos ein. Langsam und kontrolliert atmete er tief ein, die kühle Nachtluft beruhigte den Magen.

»Dumme Jungs«, wiederholte die Frau, inmitten der blitzenden weißen Zähne klafften schwarze Lücken. »Keine Polizei. Bitte.«

»Was? Wieso das denn?« Seine Stimme hallte zwischen den Häuserblocks, in einigen Fenstern ging das Licht an.

»Bitte«, sagte die Frau erneut. Stöhnend stellte sie die Aldi-Tüte ab und berührte ihn lächelnd am Arm. Thomas zuckte zurück. »Bitte. Was passiert, wenn Polizei kommt?«

Jetzt war die Wut wieder da. Thomas fauchte sie an: »Na was wohl! Ausweisung! Zurück dahin, wo sie herkommen!«

Die Frau seufzte und ließ ihre Schultern sinken.

»Zuhause kaputt.«

»Das ist nicht mein Problem!« Er deutete mit der Hand hinter sich. »Die Polizei ist in einer halben Stunde im Wohnheim!« Er drehte er sich um und rannte los. Erst zwei Straßen weiter verlangsamte er seine Schritte und setzte sich an einer Bushaltestelle auf die Bank. Es dauerte, bis das Zittern in den Knien nachließ.

Es war tatsächlich geschehen. Keine Nachricht im Lokalteil, kein Gerücht in Facebook. Es war ihm passiert. Er war das Opfer.

Zur Polizei konnte er jedoch nicht gehen, aber das musste er der Kopftuchfrau ja nicht sagen.

2

A

uch das noch: Alex. Der hier. Nicht, dass es jetzt unpassend gewesen wäre, es war immer unpassend. Alex nervte. Seine Haltung, körperlich wie geistig, sein Geruch nach Marihuana und Schweiß, einfach alles.

Thomas warf seufzend seine Jacke neben Marion auf das Sofa, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und grüßte Alex mit einem knappen Kopfnicken. Dann setzte er sich stöhnend auf das Sofa, legte den Kopf in den Nacken und wartete, bis Marion endlich fragte, ob etwas passiert sei.

Stattdessen kam: »Wie hat die Eintracht gespielt?«

Das hatte sie noch nie interessiert und war nur eine höfliche Frage nach seinem Bundesliga-Mittwochabend bei Karlheinz.

»Verloren.«

»Schade.« Mehr nicht. Er musste den Anfang machen.

»Deine Freunde!« Er blickte zu Alex, der auf dem Sessel lümmelte. Die zerrissene Jeans, das bemalte T-Shirt mit dem »Es gibt nur eine Welt«-Spruch, die fettigen, langen blonden Haare. Alex war ein wandelndes Klischee und zog dennoch Aufmerksamkeit auf sich wie ein Findelkind mit Stupsnase und Kulleraugen. Wobei die Stupsnase und das leichte, aber wirklich nur ganz leichte Doppelkinn bei Marion sehr apart wirkten.

»Eure Freunde«, sagte er mit einem Seitenblick zu Marion.

Alex grinste, die langsamen Augen verrieten, dass er wieder stoned war. Marion erhob sich vom Sofa, nahm die leere Pizzaschachtel von Alex und ging in die Küche. »Was meinst du?«, fragte sie über die Schulter.

Thomas suchte nach dem richtigen Einstieg. Mindestens ein »Oh Gott, nein!« musste aus der Küche kommen.

»Ich bin überfallen worden! Ein halbes Dutzend Kerle aus dem Flüchtlingsheim!«

Alex riss mühsam die Augen auf und beugte sich in Zeitlupe vor. Sein Mund öffnete sich langsam, doch sein benebelter Geist schien das Sprachzentrum verloren zu haben.

Marion kam aus der Küche gelaufen. »Echt jetzt? Überfall? Bist du verletzt? Haben sie dir was geklaut?«

»Nein. Hab mich gewehrt.«

»Oha!« Das sagte diesmal Alex. »Du?«

Während Thomas nach einer passenden Antwort suchte, ließ Marion sich neben ihm auf das Sofa nieder, stellte ein Bier auf den Tisch und schaute ihn besorgt an. »Erzähl schon. Und du bist wirklich unverletzt?«

In kurzen Worten, die Dramatik etwas überziehend, schilderte er die Begegnung mit den dunklen Männern.

»Bist du sicher, dass die aus der Gemeinschaftsunterkunft waren?«, hakte Marion nach.

»Na, woher denn sonst. Laufen hier im Viertel noch andere Ausländergangs rum?«

»Hätte ja auch eine Gang aus Frankfurt sein können.«

»Nein. Glaube ich nicht.« Den Teil mit der Kopftuchfrau und das mit dem »Please« wollte er nicht erzählen. Wütend fuhr er fort: »Eure Freunde. Ihr füttert sie tagsüber mit Essen, Kuscheltieren und Verständnis und nachts überfallen sie die Leute. Schöne Freunde!«

»Ist deren Sozialisierung«, stammelte Alex. »Täglicher Kampf ums Überleben. Wenn du von da kämst, wo die herkommen, wärst du genauso drauf.«

»Von wegen! Ich bin mit Anstand und Achtung vor Gastgebern erzogen worden.«

Alex fiel wieder nach hinten in den Sessel. »Aber nicht mit Anstand und Achtung vor Gästen.«

»Halt die Klappe!« Thomas sprang wütend auf und stellte sich vor Alex. »Du und dein linkes Gutmenschengeschmeiß seid doch Schuld daran, dass denen hier alles erlaubt wird!« 

Marion zupfte an seinem Pullover. »Reg dich nicht auf«, sagte sie leise.

Widerwillig setzte er sich. »Hast du auch Verständnis für diese Kriminellen?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Natürlich ist das nicht in Ordnung, wenn es denn Flüchtlinge waren.«

»Verdammt, hört ihr mir überhaupt zu?«, unterbrach er sie. »Ich hab doch gesagt, sie gehörten zur Einrichtung!«

»Jaja, schon gut.«

»Und? Das ist alles?«

»Nein, natürlich nicht. Ich spreche morgen mit der Einrichtungsleiterin. Kannst du die Männer beschreiben?«

Thomas zählte die wenigen Merkmale auf, die ihm aufgefallen waren. Die Turnschuhe, Kapuzenshirt, die spärlichen englischen und deutschen Worte.

»Afghanen? Syrier? Schwarzafrikaner?«

»Was weiß denn ich. In der Nacht sehen doch alle gleich aus.« Er sah die leuchtende ausgestreckte Hand vor sich. »Ziemlich dunkel jedenfalls.«

»Waren sie bewaffnet? Messer, Knüppel?«

Er seufzte. »Einer hatte eine Stange oder ein Rohr. Keine Ahnung, was genau. Mehr hab ich nicht gesehen.«

Marion berührte ihn am Arm und reichte ihm die Flasche Bier. »Hier, beruhig dich erstmal.«

Er trank einen langen Schluck. Alex schielte gierig auf das Bier.

»Was macht dein Bruder überhaupt hier? Und warum ist der so dicht?«

»Hatte einen schweren Tag. Demo in Frankfurt gegen Monsanto, danach noch mitmarschiert bei den Kurden.«

»Hoho, toller Kerl. Während ich den ganzen Tag Maschinen programmiere, deutsche Ingenieursarbeit leiste und Geld verdiene, hängt dein nichtsnutziger Bruder mit anderen Tagedieben in der Stadt rum und glaubt, damit die Welt zu verändern. Bezahlt von meinen Steuergeldern!« Er wandte sich an Alex. »Du solltest mal was arbeiten!«

»Yo, Bro«, kam es aus dem Sessel, ein Arm mit geballter Faust erhob sich. »Wir sind nicht allein.«

Thomas ignorierte ihn. »Warum ist er nicht in seinem Kellerloch und stinkt sein eigenes Sofa voll? Ist sein Kühlschrank wieder leer?«

Marion zuckte mit den Schultern. »Er hat doch nur noch mich.«

Mit diesem Totschlagargument war die immer gleiche Diskussion um Alex beendet. Thomas seufzte und trank noch einen Schluck Bier. Er hatte damals den Anruf aus dem Krankenhaus in Freiburg angenommen. Der Reisebus war auf der Autobahn verunglückt. Übermüdeter Fahrer, schlechtes Wetter, Stauende, auf einen LKW aufgefahren, die Böschung hinabgestürzt. Ihre Eltern, die seine Schwiegereltern hätten werden sollen, und sieben andere Mitreisende hatten den Unfall nicht überlebt. Marion hatte es mit Fassung getragen, sich neben ihrem Job in einem Steuerbüro mit noch mehr sozialem Engagement abgelenkt, zuletzt mit Flüchtlingen, und auf eine eigene Familie hingearbeitet.

Spätestens mit dreißig wolle sie ein Kind, sagte sie ihm nach den ersten drei Monaten ihrer Beziehung. Seit Kurzem, genauer seit der Eröffnung der Gemeinschaftsunterkunft, hoffte er, dass sie nicht noch länger damit warten und ihr soziales Verhalten endlich auf eine eigene Familie konzentrieren würde. Also auf ihn und ein Kind, Alex wäre dann hoffentlich wieder in seiner Kellerwohnung verschwunden und würde sein kleines Erbe weiter mit Dope und Nichtstun verprassen. Marion war da anders, sie hatte das Geld in diese kleine Zweizimmerwohnung investiert, in der sie beide wohnten. Es hatte eine Weile gedauert, bis es ihm nichts mehr ausmachte, dass seine Mietzahlung auf ihr Bankkonto ging.

Sie fuhr ihm sanft durch die Haare. »Du bist hoffentlich nicht zur Polizei gegangen?«

Thomas lachte hämisch. »Ich weiß ja, was du dann für ein Theater gemacht hättest. Aber …«

Sie unterbrach ihn. »Danke. Und bitte kein ›Aber‹.«

»Hm.« Das war das eigentliche Problem. Sie gewann immer. »Aber …«, er holte Luft und hob streng die Hand, »… du musst doch einsehen, dass kriminelle Handlungen nicht einfach verschwiegen werden können. Irgendwann ist Schluss!«

Marion griff nach seiner Hand und zog sie zu sich. »Ich hab doch gesagt, ich spreche mit der Leiterin. Die wird den Jungs ins Gewissen reden. Wenn du Anzeige erstattest, steht das morgen in der Zeitung und dann geht ein Shitstorm los. All die ›Hab es immer gewusst‹-Leute werden wieder laut, Leserbriefe, Anrufe beim Stadtrat, Pöbeleien auf der Straße, das muss doch nicht sein. Das hilft niemandem.«

Jaja. Dieses Argument kannte er auch schon auswendig. Doch irgendein Tropfen ist der berühmte letzte.

Er zog seine Hand zurück. »Und wie lange soll das so gehen? Alles verstehen, nichts sagen, bloß keine Vorurteile bedienen, lieber die Leute hier anlügen?«

»Versteh doch …«

»Nein! Ich hab keine Lust mehr, für alles Verständnis zu haben. Wir lassen uns doch verarschen! Erst ausnutzen, dann ausrauben, was kommt als Nächstes?«

»Die Frage ist, was der Situation hilft: Polizei im Heim, Handyvideos von der Festnahme, Presse vor dem Haus? Verhandlung in einem halben Jahr, du im Zeugenstand? Wofür?«

»Dann zeigen wir endlich, dass bei uns Gesetze herrschen und wir uns nicht alles gefallen lassen!«

Marion stöhnte. »Übertreib nicht wieder. Unser Rechtsstaat ist einer der besten der Welt. Wenn du diesen missglückten Überfall der Polizei meldest, leiden darunter all die anderen, die es hier ernsthaft versuchen. Die sich an die Regeln halten, regelmäßig in den Sprachunterricht kommen, in die Sportvereine gehen, obwohl ihre Bleibeperspektive ungewiss ist. Denk bitte auch mal an diese Menschen.«

»Jaja, immer an die anderen denken. Warum darf ich nicht mal an meine Leute denken?«

»Mensch Thomas, was soll das. Wer sind ›deine‹ Leute? Die Nachbarn und Arbeitskollegen sind dir sonst auch egal, und um Karlheinz musst du dich nicht sorgen. Dir geht es doch gut hier. Niemand nimmt dir was weg …«

»Ha!«, unterbrach er sie. »Bis heute Abend. Da wollten sie mir mein Geld stehlen.«

»Geld ist Kapitalismus ist Zerstörung«, behauptete Alex mit geschlossenen Augen und fuhr mit einer Hand durch die Luft. »Ohne Geld wären wir alle gleich.«

»Gleich arm«, wollte Thomas erwidern, spürte aber den sanften Druck von Marions Hand an seinem Knie.

Es war zum Kotzen.

3

E s dauerte mehrere Atemzüge, bis er merkte, wie es erneut passierte, sich von schräg links hinten an seine Gedanken heranschlich. Schon wieder hatte er sich gefragt, ob diese dicke Frau mit den beiden dunkeläugigen Knirpsen nicht einfach nur eine Mutter mit zwei Kindern war, die für sich und ihre Familie das Beste wollte. Dabei war sein erster Gedanke doch richtig: Diese dunklen und verhüllten Frauen gebären wie die Karnickel und wir werden nicht irgendwann, sondern schon bald verdrängt, wie ihm Karlheinz immer vorrechnete. Aber manchmal tauchte dann dieser freche Gedanke auf, wie ein plötzliches Niesen von einer Erkältung, mit der er sich bei Marion angesteckt hatte: Diese Fremden auch nur als Menschen zu sehen. Sich zu fragen, was du in so einer Situation machen würdest. Und Marions Standardsatz: Unsere Welt ist so klein geworden, dass wir alle miteinander auskommen müssen.

Thomas schüttelte den Kopf, um den aufsteigenden Niesreiz zu bekämpfen. Nein, diese kleine, unförmige, in dunkle und muffig riechende Tücher verhüllte Gestalt vor ihm an der Kasse war gefährlich, dazu die zwei quengelnden Kinder, das eine blickte ihn auch noch frech aus großen Augen unter krausen Haaren an. Wofür diese Unmengen Klopapier? Obendrein das 4-lagige mit Blümchen? Die Sippschaft musste ja erstaunlich groß und reich sein. Von seinen Steuergeldern. Die Straßenlaternen wurden nur noch in jeder zweiten Nacht eingeschaltet, den Sandkasten beim Kindergarten mussten die Eltern selbst reparieren, hatte zumindest Karlheinz erzählt, aber hier Supersoft-Klopapier. Und wofür bitteschön zehn Tafeln Schokolade? Da waren sicher noch mehr Kinder. Wusste sie nicht, wie schädlich Schokolade für die Zähne ist? Gerade bei Kindern? War ihr das Kindeswohl total egal? Sollten die Plagen mal genauso fett werden wie ihre Mutter? Oder Straßenräuber werden? So wie die Jungs zwei Tage zuvor?

Er biss die Zähne zusammen und zerdrückte fast die Brötchentüte. Gern hätte er dieser Rabenmutter eines Nestes von Fremdlingen die Meinung gesagt. Aber hier war nicht der richtige Platz, zuhause genauso wenig. Dieses unerschütterliche Verständnis von Marion, ihr Glaube an das Gute in diesen Leuten, ihre Blindheit vor deren Verschlagenheit, selbst nach dem Überfall.

Nachdem er bezahlt hatte, lief er im Trab den knappen Kilometer bis zur Firma, um den Ärger körperlich abzubauen. Seine Mittagspause wollte er sich nicht auch noch von denen verderben lassen.

Es war wirklich zum Kotzen.

4

W ie sehr Farim diese Stadt und das Leben darin und also auch sein eigenes Leben hasste, wurde ihm an dem Tag bewusst, als er ein Stück vergiftete Wurst in den Nachbargarten warf. Dieser kleine, permanent kläffende Köter ging ihm vom ersten Tag an auf die Nerven. Einige Jahre ertrug er es, zu seinem achtzehnten Geburtstag war dann Schluss. Jetzt war er ein Mann, und Männer handelten.

Nach außen integriert, immerhin in Duisburg geboren und in den Neunzigern noch als Baby nach Wolfsburg gezogen, als sein Vater, wie viele Tunesier, bei Volkswagen Arbeit fand. Erst wohnten sie im Westen der Stadt, in dem Teil, der später als »Ghetto« bezeichnet wurde. 7. Stock, schon bald zu viert in drei kleinen Zimmern. Die Mutter verließ nur zum Einkaufen die Wohnung, der kleine Supermarkt war praktischerweise im Erdgeschoss und die Kassiererin aus Marokko. Es hatte Jahre gedauert, ehe sie in das neue Shoppingcenter in der Innenstadt ging, natürlich nie allein. Zehn Jahre später war sein Vater Schichtleiter und fühlte sich schon so integriert, dass sie nach Reislingen in den Osten der Stadt zogen. Ein neues Wohnviertel, wie mit der VW-Promoversion von SimCity geplant: Satteldach auf geklinkerten Ein- und Mehrfamilienhäusern, die Nebenstraßen gepflastert wie Spielstraßen, Gartenzäune vorm Haus und natürlich VWs im Carport. Und kläffende Hunde im Nachbargarten.

Alle Straßen waren nach Dichterinnen, Malerinnen oder sonstigen Frauen benannt. Wohin er auf dem Weg zur Bushaltestelle auch blickte: Weiber wiesen ihm den Weg. In der Schule wurde er deswegen gehänselt. Den Lästerern hatte er gezeigt, welche Kerle in Frauenstraßen wohnten, sein rechter Haken war in der Klasse gefürchtet. Im Schlag lag auch die Scham über seinen Vater, der in diese unglaublich deutsche Siedlung gezogen war und tatsächlich glaubte, von den anderen Bewohnern akzeptiert zu werden. Schaut her, wir haben nichts gegen Ausländer, sogar unser Nachbar ist einer. Der Quoten-Muslim. Musterbeispiel für gelungene Integration. Wenn da nur nicht dieser verzogene Sohn wäre, was man so hört. Na, wenigstens die Tochter wird es schaffen. Jaja, seine kleine Schwester Ayla war die Bessere, sie war ja auch ein Wolfsburger Produkt. Geplant, gezeugt, aufgewachsen und sozialisiert wie ein Golf-Facelift.

Dabei hatte sich der Vater jahrelang von deutschen Vorarbeitern schikanieren und als »Kameltreiber« verspotten lassen, wurde bis zu ihrem Umzug nie zu den Grillfeiern der deutschen Arbeitskollegen eingeladen und traf sich bis heute regelmäßig mit der tunesischen Gemeinschaft. Dort schwärmten sich die älter werdenden, stolzen Männer gegenseitig vor, wie schön es zuhause in Tunesien sei und wann sie zurückkehren und dort ein Geschäft oder eine Werkstatt aufmachen würden.

Keiner ist je zurückgegangen.


Farims Kosmos wurde begrenzt durch vier riesige Schornsteine am Horizont, die zentrale Straße hieß natürlich Porschestraße: mit Bürgersteigen, dreimal so breit wie anderswo, gesäumt von langweiligen Dönerbuden und Cafés. Zum Shoppen ging man in das hässliche Einkaufszentrum am einen Ende der Straße, zur Flucht ans andere Ende – zum Bahnhof. Wolfsburgs Künstlichkeit und Verlogenheit wurde ihm erstmals bewusst, als er mit der Schulklasse in ein Museum nach Braunschweig gefahren war. Eine Stadt, die von Heinrich dem Löwen vor tausend Jahren gegründet wurde und nicht von einem Versager wie Adolf Hitler gerademal achtzig Jahre zuvor. Eine Stadt mit breiten und schmalen Straßen, alten, sehr alten und neuen Häusern, Klamotten¬läden für Schwule – darüber hatte er sich aufgeregt – und einem Bahnhof, der von Kiosken, Pennern und Taxen belebt wurde.

Und was für Autos dort fuhren! Die ganze Welt war dort vertreten: japanische Kleinwagen, fette BMWs, sogar einen US-Pickup mit schulterhohen Kotflügeln sah er. In Wolfsburg waren Querulanten, »Nichtintegrierte« oder »Fremde«, wie selbst Leute aus Magdeburg genannt wurden, allein dadurch erkennbar, dass sie keinen VW oder Audi fuhren oder wenigstens einen Skoda oder Seat. Der einzige Mercedes-Händler versteckte sich in einem Industriegebiet zwischen Fitnessstudio und Matratzengeschäft.

Wolfsburg war wie die Truman Show, nur ohne Zuschauer. Und die Brücke führte nach Braunschweig.

Seine Schwester fuhr einen zehn Jahre alten Polo, den er sich jedoch nie ausleihen durfte. Ein Grund, sich regelmäßig mit ihr zu streiten, aber er wäre nie mit diesem Wagen bei seinen Kumpels vorgefahren, um dann zugeben zu müssen, er gehöre der kleinen Schwester. Sie war integriert, Klassenbeste und machte eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin. Wo, musste man in dieser Stadt nicht fragen.

Die Schule hatte er wie viele seiner Kumpels vor der Zehnten abgebrochen und dennoch, dank seines Vaters, diesen Hilfsarbeiterjob an der Rampe bekommen und ihn nach der Vorstrafe behalten dürfen. Wegen Hehlerei von Nobeluhren. Falsche Uhren, wie sich in der Verhandlung herausstellte. Doch woran der Nachbarshund starb, wusste bis heute niemand.

Die arabischen Kleinkriminellen, mit denen er nach Feierabend an einer Dönerbude im Stadtzentrum abhing, waren beruflich ähnlich erfolgreich wie er, vertickten ein paar Gramm Koks an Arztkinder oder überlastete Konzern-Bereichsleiter oder verscherbelten geklaute Nobeluhren, echte und eben auch gefälschte. Ab und an verkauften sie ein geklautes Auto an einen polnischen Autohändler in Braunschweig. Nur keine mit WOB-Kennzeichen.

Ja, so war Wolfsburg: Alle glaubten an den einen großen Gott mit zwei weißen Buchstaben auf blauem Grund, niemand durfte andere Götter daneben haben oder fahren. Diese Fabrik und dieser Konzern und dieser Weg bildeten eine Falle, die all diese fleißigen Arbeiter freiwillig betraten, verführt von feinen Schwimmbädern, drei Fußballstadien und breiten Straßen. Aber eben Sackgassen. Innerlich war Farim längst ausgewandert, in eine andere Welt, die er noch nicht kannte, aber ganz anders war als diese künstliche Welt und realer als Computerspiele. Sie sollte so sein wie in den Filmen, die spätabends bei RTL und Tele5 liefen, mit jungen Helden, dunkeläugigen Frauen und einfachen Dialogen ohne Widerworte.

Dann kam der Tag, als an dieser Dönerbude ein dunkelblaues 3er-BMW Cabrio mit hellen Ledersitzen vorfuhr. Ebrahim, der aus Trotz einen verrosteten Twingo fuhr und in den letzten Wochen nur selten aufgetaucht war, grüßte den Fahrer freundlich auf Arabisch. Es war diese Kombination, die Farim beeindruckte: Ein Araber mit gepflegtem Bart in einem feinen Auto mit auswärtigem Kennzeichen. Dieser Mann war ganz offensichtlich nicht aus seiner Welt, selbst Drogendealer oder Möchtegernzuhälter fuhren in Wolfsburg einen tiefergelegten GTI oder röhrenden A7 mit verdunkelten Scheiben. Im Gegensatz zu den spießigen Deutschen deutete bei Arabern ein teures Auto tatsächlich auf Geld hin, denn Kredit war harām und gläubig waren oder taten alle.

Es gab also doch ein Leben außerhalb von Seahaven. Und Braunschweig.

Der Araber, den Ebrahim mit »Sheikh« ansprach, hätte ein Fotomodell für weiße Hemden aus ägyptischer Seide in einem Hochglanzfrauenmagazin sein können, das weniger für Hemden, als für feuchte Träume warb. Der Mann begrüßte Ebrahim selbst für arabische Rituale überschwänglich, nahm unaufgefordert an ihrem Tisch Platz und schaute Farim nach einer Weile eindringlich an.

»Gefällt dir mein Auto?«

Farim musste nicken. »Sieht man nicht oft hier.«

Der Araber lachte laut. »Spätestens bei Sonnenuntergang musst du mit so einem Auto die Stadt wieder verlassen haben, sonst hast du die Bullen am Hals.«

Ebrahim fand diesen Witz gelungen und schlug dem Araber auf die Schulter. »Sheikh, deine Welt ist eh nicht hier.«

»Wo ist sie denn?«, hakte Farim interessiert nach.

Der Araber beugte sich vor und senkte die Stimme. »Hat dir dein Freund Ebrahim nichts erzählt?«

Nein, fiel Farim in diesem Moment auf. Aber ein Araber gab nie zu, irgendetwas nicht zu wissen.

»Woher kommst du?«, fragte er stattdessen.

»Aus Duisburg, Bruder.«

»Echt?« Das brach das Eis. »Da bin ich geboren!«

Die Zähne des Arabers glänzten wie seine Hemdenwerbung. »Schau, Bruder, wie Allah uns zusammengebracht hat.«

Vielleicht nicht Allah, eher das Schicksal, dachte Farim. Er hatte den Koranunterricht in der As Salam Moschee schon zu Schulzeiten regelmäßig geschwänzt, aber immer, wenn der Imam das seinem Vater verpetzte – der immerhin im Vorstand des deutsch-tunesischen Integrationsvereins war – ging er ihm zuliebe ein-, zweimal hin und dann wieder nicht. Mit Glaube wurde man vielleicht reich an Gedanken, aber nicht an Geld. Doch dieser Kerl hier schien beides vereinen zu können. Das war interessant.

»Komm doch mal in die DITIP Moschee, nach dem Freitagsgebet spricht der Sheikh in kleinem Kreis«, sagte Ebrahim.

»Worüber?«, wollte Farim wissen.

Ebrahim schwieg und blickte zum Araber, der nach einer Weile sagte: »Über den wahren Glauben.«

Das »Pfft« verkniff sich Farim gerade noch. »Dazu muss ich nicht zu den Türken gehen.«

»Allah ist mit jedem Gläubigen, sofern er fest im Glauben ist«, schwurbelte der Araber.

Farim schaute wieder zum BMW auf der Straße. »Und mit deinen Predigten finanzierst du solche Autos?« Ein Vorteil als Wolfsburger war, jeden Fremden, und kam er nur aus Hannover, abschätzig behandeln zu dürfen.

»Wer stark im Glauben ist und für seinen Glauben kämpft, der wird nicht erst im Dschanna entlohnt.«

Oha, dachte Farim. Nicht nur Bäche voll genussvollem Wein und gefiltertem Honig im Paradies, sondern ein 3er-Cabrio im Hier und Jetzt. Nun war klar, woher der Kerl kam. In Syrien fuhren sie X5, soviel hatte er schon gehört.

»Was wird entlohnt: Für seinen Glauben zu kämpfen oder gegen die Ungläubigen?«

Ebrahim trat ihn so fest unter dem Tisch, dass dieser wackelte, aber der Araber winkte mit einer gnädigen Geste ab.

»Lass, Bruder«, sagte er zu Ebrahim. Er schwieg einen Moment, sah in den abendblauen Himmel und fragte: »Empfängst du jetzt schon einen gerechten Lohn?« Dann blickte er Farim an, immer noch lächelnd. »Oder Mindestlohn?«

Umständlich fummelte Farim eine Zigarette aus der Packung West, die auf dem Tisch lag und ließ sich wortlos von Ebrahim Feuer geben. Nach dem zweiten Zug sagte er:

»Sie wünschen, dass ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, und dass ihr ihnen gleich seid. Nehmet aber keinen von ihnen zum Freund, ehe sie nicht auswanderten in Allahs Weg.« Eine der wenigen Koransuren, die er behalten hatte und die den gewünschten Eindruck hinterließ.

»Kennst du auch den zweiten Teil?« fragte der Araber.

Farim lächelte, zog an der Zigarette und beugte sich vor. »Und so sie den Rücken kehren, so ergreifet sie und schlagt sie tot, wo immer ihr sie findet; und nehmet keinen von ihnen zum Freund oder Helfer.«

»Mein Freund«, sagte der Araber nach einem Moment, »es gibt viele Möglichkeiten für Leute wie dich.«

Das will ich hoffen, dachte Farim und wartete ohne Regung auf weitere Erklärungen.

»Wir brauchen nicht nur Kämpfer, wir brauchen auch Elektriker, Hausmeister, Mechaniker, Verwalter.«

Und Leute, die euer Geld für Autos, Zellenaufbau und Frauen ausgeben, überlegte Farim. Handwerker konnte er überall sein, dazu musste er nicht in ein Land gehen mit vertrockneten Äckern bis zum Horizont, langsamem Internet und ohne Techno-Clubs. Aber hier leben, wie dieser Angeber, deren Geld verprassen und dumme Jungs als frisches Kanonenfutter anheuern, das sollte doch machbar sein.

In der Stadt redete man später vom Araber als »der falsche Prediger«, doch er ignorierte schon aus Prinzip das Verbot seines Vaters, sich mit ihm zu treffen. Lobte der Vater die kleine Schwester für ihren Erfolg in der Ausbildung, lästerte Farim, wie sie ein Rechtssystem lernen könne, das nicht die Scharia sei, auch wenn er davon nicht viel verstand. Brachte der Vater Halāl-Fleisch vom Metzger mit, musste er am nächsten Tag demonstrativ bei Burger King am Tor-6-Tunnel einen Bacon-Cheeseburger essen.

Als der Imam der As Salam Moschee seinem Vater erzählte, dass er mit dem »falschen Prediger« am Bahnhof nahe der DITIP-Moschee gesehen wurde, gab es Schläge. Erst schrie der Vater ihn beim Abendessen an, wie er sich mit diesem Verräter am Glauben und Terroristenanwerber treffen könne, er habe es ihm doch oft genug verboten, er solle ab sofort wieder zum Freitagsgebet in ihre Moschee kommen, warum nur er ihren guten Ruf und das Ansehen aller Tunesier und Araber und Moslems so in Gefahr bringe. Als Farim dann mit einem »Fick dich« antwortete, sprang der Vater auf, rannte um den Esstisch und gab ihm eine Ohrfeige, dass ihm noch tagelang die Wange brannte.

Aber es war auch seine letzte Ohrfeige.

Nach diesem Abend redeten sie kein Wort mehr miteinander, dafür wurden die Gespräche mit dem Araber intensiver. Was der »Sheikh« versprach, konnte ihm nicht der Vater und erst recht nicht diese Stadt bieten: Macht über das Leben seiner Unterdrücker, Respekt von Gleichgesinnten. Keinen Schuss würde er hören, nachts könnten sie die Lichter der Türkei sehen und jederzeit zurückgehen, behauptete der Sheikh. Der Staat, den sie aufbauten, brauche viele Gläubige, nicht nur Kämpfer, und er versprach alles, was Farim schon immer wollte: Geld, Anerkennung, Macht.

Er sah sich die aufwändig produzierten Propagandavideos an, wollte den Bildern von neuen Autos, Frauen mit Katzenbabys auf dem Arm, Männergemeinschaften am Pool und einer funktionierenden Zivilgesellschaft glauben. Gut, das mit dem Kopfabhacken war nicht seine Sache, aber es gebe genug anderes zu tun, hatte der »Sheikh« ja gesagt. Und er hatte da auch schon so eine Idee.

So traf er den Araber jeden Freitag im kleinen Kreis, lauschte seinen Versprechungen und Koranversen, von denen er einige auswendig lernte. Dass der »Sheikh« im Nebenraum der Moschee im langen braunen Gewand auftrat und nicht in teuren Hemden, in Sandalen statt in Maßschuhen und der BMW nicht vor der Moschee parkte, irritierte ihn nicht. Der IS versprach den Ausweg aus diesem Stadtgefängnis und eine Chance für seinen Plan: Wenn andere mit dem IS Kohle machten, sollte es ihm auch gelingen.

5

I n der Firma wurde ebenfalls diskutiert. Nein, nicht diskutiert, eher getratscht. Wenn in der Kaffeeküche von Kollegen Sätze fielen wie »Jetzt ist schon wieder einer Frau von einem Kameltreiber die Handtasche aus dem Einkaufswagen geklaut worden«, dann war das nach Marions Definition unreflektiertes Gerede, wiedergekäute Geschichten von einem, der irgendwo gehört hatte, dass …

Wie gern hätte Thomas von dem Überfall die Woche zuvor erzählt, mal aus erster Hand berichtet, als echtes Opfer. Er hatte jedoch Marion versprochen zu schweigen. Wusste sie, wie schwer ihm das fiel? Schweigen, immer nur die Klappe halten. Sie reagierte überheblich, wenn er nur nachfragte, ob sie denn nun endlich mit der Heimleitung gesprochen habe. Passiert war natürlich nichts.

Er ging in die Kantine, grüßte ein Dutzend Kollegen und setzte sich Karlheinz gegenüber. Ein Urgestein, der die Firma noch unter dem Gründer kannte, bevor diese traditionelle Ingenieursbude Ende der Siebziger von einem großen Automobilzulieferer aufgekauft und zu einem Zahnrädchen in einem unüberschau¬baren Getriebe wurde.

»War der Chef schon bei dir?«, fragte Karlheinz und blickte aus seinen runzeligen Augen noch sorgenvoller als sonst. Ein Ziehen stach in Thomas’ Magen, wie immer, wenn es um den neuen Chef ging. Nicht nur, dass sie beide auf die gleiche Fachhochschule in Friedberg gegangen waren und Joachim Geiger vor ein paar Jahren im dicken 7er-BMW und Nadelstreifen als neuer Geschäftsführer aufgetaucht war, während er sich hier unten im Maschinenraum die Hände schmutzig machte, sondern auch, weil sein ehemaliger Kommilitone und jetziger Chef den Kontakt zum Fußvolk meist nur dann suchte, wenn er unangenehme Botschaften von der Konzernmutter übermittelte. In tolle Worte verpackt, keine Frage, aber wenn er von »Strategie« und »Marktchancen« und »Anpassung« anfing, war klar: das Weihnachtsgeld würde gestrichen.

Thomas setzte sich und schüttelte den Kopf. Leise fragte er: »Was kann er wollen?«

Karlheinz biss in sein Frühstücksbrot, Thomas bestaunte den dramatischen Fortschritt der Glatze. Der Kollege nuschelte mit vollem Mund: »Er will die Ingenieure aus der Produktion wegen den neuen computergesteuerten Polymerschaum-Anlagen für ein Meeting zusammenrufen.«

»Will er die umprogrammieren oder abbauen und nach Rumänien verschiffen?«

»Keine Ahnung. Ich bin nur für das Entgraten und die Qualitätskontrolle der Schläuche verantwortlich. Noch drei Jahre, dann erledigt das ein japanischer Roboter.«

»Erst, wenn die billiger sind als die Rumänen.«

»Jaja, du kennst dich aus, seitdem du bei der Einrichtung der Reifenfabrik in Dingsda in Rumänien vor ein paar Jahren geholfen hast.«

Thomas nickte. »Timişoara, vor zwei Jahren.«

»Aber die Leute da kann man doch nicht mit uns vergleichen, oder?«

Thomas blickte auf die abgewetzte Plastiktischplatte. Tja, er hätte das vielleicht ähnlich gesehen, aber von den Computerspezialisten, mit denen er dort zusammenarbeiten durfte, hatte er mehr gelernt als auf allen Fortbildungen. Bei den Ausflügen mit Marion in die Stadt und ins Umland hatte die banale Erkenntnis gewonnen: Die Lebensumstände waren anders, ja, aber nicht die Menschen.

»Naja«, sagte er langsam, »so pauschal kannst du das nicht sagen.«

Karlheinz pochte mit der Hand auf den Tisch und wurde lauter. »Fahren wir nach Rumänien zum Klauen, Betteln und Sozialschmarotzen? Hä?«

»Wenn du unter diesen Umständen dort leben müsstest, würdest du das vielleicht genauso machen.«

»Tu ich aber nicht.«

Irritiert öffnete Thomas seine Tupperdose und holte zwei  Tomaten heraus. Woher kam ihm dieser Dialog so bekannt vor?

Karlheinz’ Weltbild beschränkte sich auf Friedberg und dreißig Kilometer Radius, ließ man die regelmäßigen Urlaube in Südspanien weg. Aber das war noch mit seiner Frau.

»Die, die dort leben, nehmen uns die Arbeit weg, und die, die hierher kommen, klauen uns den Rest und verprassen meine Steuergelder!«, schimpfte Karlheinz weiter.

Thomas schnitt Fleischwurst in kleine Scheiben, viertelte die Tomaten und strich sich Meersalzbutter auf eine dunkle Brotscheibe.

»Und jetzt kommen sie von noch weiter her! In Massen!«

Thomas biss in sein Brot.

»Irgendwann reicht es!«

Thomas blickte auf. »Wann?«

Karlheinz zog die Zeitung zu sich und las einen Leserbrief vor:

»›Unsere Kommune sieht dem anwachsenden Drogenhandel im Park hinter der Schule ungerührt zu und die arabischen Dealer liefern sich laut lachend Versteckspiele mit den Polizeistreifen, so sie denn mal den Park kontrollieren. Ob Ohnmacht oder Ignoranz der Behörden und politischen Eliten ist mir einerlei, ich habe Angst um meine Kinder auf dieser Schule. Muss ich wirklich die Schulranzen kontrollieren, ob sie irgendwo Drogen versteckt haben? Müssen wir Mütter solange warten, bis eine unserer Töchter vergewaltigt im Gebüsch aufgefunden wird? Es muss Schluss sein mit dem hemmungslosen Zuzug, der Untätigkeit der Politik und der Gutmenschelei. Das sind Verbrecher und sie sind gekommen, um Verbrechen zu verüben.‹«

»Oha«, sagte Thomas. »Aber was kann man dagegen unternehmen?«

Karlheinz schaute zu ihm hoch. »Zumindest nicht tatenlos zusehen, wie die Verbrechen in unserer Stadt begehen und unsere Frauen vergewaltigen!«

»Natürlich nicht. Aber was machen?«

»Handeln.« Karlheinz klopfte mit der rechten Hand auf den Tisch. »Handeln«, wiederholte er.

Klaus, der studierte Buchhalter, hatte gerade seine Flasche Orangensaft in den Kühlschrank gestellt und beugte sich über den Tisch. »Karlheinz, große Töne, das kenn ich von dir.« Dann drehte er sich um und ging.

»Du Zahlenfresser kennst die wirkliche Welt nicht«, rief Karlheinz ihm nach und schaute Thomas wieder an.

»Kommst du mit?«

Thomas blickte ihn erstaunt an. »Wohin?«

Karlheinz blätterte in der Zeitung ein paar Seiten zurück und deutete auf einen Artikel. »Hier«, sagte er. »Die tun was.« Thomas neigte seinen Kopf und überflog den kurzen Bericht.

Im Wohngebiet Heide-Ost sollte eine weitere Flüchtlingsunterkunft eingerichtet werden. »Gemeinschaftsunterkunft«, hörte sich nach Studenten-WG an, doch von Marion kannte er die  Verhältnisse: Zusammenpferchen von jungen Männern und Kleinfamilien unterschiedlichster Herkunft auf engstem Raum, keine Privatsphäre, verdreckte Küche, eine Dusche für den ganzen Flur.

Jetzt wurde eine Bürgerversammlung angekündigt. Immerhin war der hessische Innenminister eingeladen, um die aktuellen Aktivitäten der Landesregierung vorzustellen. Und wahrscheinlich um zu verhindern, dass sein Wahlkreis in unmittelbarer Nachbarschaft bei der nächsten Wahl flöten geht, wie ein süffisanter Nebensatz im Artikel vermutete. Ein Stadtratsmitglied befürwortete erhöhten Polizeischutz, unter anderem, weil sich Vertreter der neuen Partei »DbD – Die besseren Deutschen« angesagt hatten.

»Die gewählten Volksvertreter sollen sich auf kritische Fragen vorbereiten«, so wurde der Kreisvorstand der DbD zitiert und das Stadtratsmitglied befürchtete »polemische und populistische Störungen der Veranstaltung.«

»Was meinst du jetzt genau?«, fragte Thomas.

Karlheinz tippte auf den Artikel. »Die Jungs hier. ›Die besseren Deutschen‹. Die tun was.«

»Naja«, sagte Thomas. »Die mögen recht haben, aber sind doch arg rechts, oder?«

Karlheinz lachte hämisch. »Du glaubst auch allen Scheiß in der Lügenpresse.«

»Na ja …«, mehr fiel Thomas nicht ein.

»›Na ja?‹«, äffte Karlheinz ihn nach. Seine Stimme wurde lauter, am anderen Ende des Tisches drehten sich Köpfe um. »Die Flüchtlinge rauben Handtaschen, verkaufen Drogen, kosten ein Schweinegeld und sind Terroristen! Und was macht die Politik? Hä?« Er nahm sein Handy und hielt es vor sich. »Klick. Die Politik macht Selfies. Keiner fragt uns, ob wir die ganzen Flüchtlinge haben wollen! Mit freundlichen Fotos werden immer mehr angelockt und Presse und Politik wollen uns weismachen, dass alles in Ordnung ist!«

Jaja, dachte Thomas.

»Nun ja«, erwiderte er vorsichtig, »das ist vielleicht etwas vereinfacht dargestellt.« Er wartete einen Moment, ob Karlheinz gleich wieder lospoltern würde, aber der blickte ihn nur stumm an.

»Zum einen muss uns die Regierung nicht fragen, ob wir die Flüchtlinge haben wollen. Wir sind nicht die Schweiz, wo über jedes zusätzliche Loch im Käse eine Volksabstimmung entscheidet.«

»Wär aber mal was«, murmelte Karlheinz.

»Nee, denn dafür wähle ich ja Profis, die den ganzen Tag nichts anders tun, als sich mit Problemen und deren Lösung zu beschäftigen.«

»Wenn sie es mal täten!«

»Und du kannst beurteilen, ob sie das tun oder nicht?« Das war eine von Marions Lieblingsantworten. »Soll einer dieser  Politiker beurteilen, ob du deinen Job richtig machst?«

»Und zum anderen?«

Tja, zum anderen. Er probierte Marions Argument: »Was wäre denn die Alternative?«

»Ach!«, fuhr Karlheinz auf, »schon wieder ›alternativlos?‹ Es gibt immer Alternativen!«

»Ja welche denn?«

»Geltende Gesetze.«

»Du meinst Dublin? Das war doch von Anfang an Käse und von unserer Regierung gegen alle Vernunft durchgeboxt. Sieht man ja jetzt.«

»Aber geltendes Recht.«

»Und wenn zwanzigtausend abgerissene Gestalten an einem Tag an der Grenze stehen, was hätte sie denn machen sollen?«

Karlheinz stopfte ein halbes Wurstbrot in den Mund und    nuschelte: »Trotzdem geht das so nicht.«

Ja, dachte Thomas. Aber wie?

Karlheinz tippte mit einem Finger auf den Artikel und hinterließ dunkle Fettflecken auf der Zeitung. »Ich geh da hin.«

»Auf diese Bürgerversammlung?«

»Klar.«

»Und was willst du da? Gegen die neue Flüchtlingsunterkunft demonstrieren?«

»Quatsch. Ich hör mir die Alternative an. Die Jungs von der DbD. Live und in Farbe.«

»Marion sagt …«

»Pah!«, unterbrach ihn Karlheinz. »Ich hab nix gegen deine Freundin, aber ihr Gutmenschentum und ihre Leichtgläubigkeit sind echt eine Gefahr!«

»Für wen?«, fragte Thomas überrascht.

»Scheinbar für dich und deine Selbstbestimmung!«

Thomas schwieg und biss in sein Brot. Ein Tomatenviertel  kullerte hinunter und fiel auf den abgewetzten Linoleumboden. Vorsichtig legte er die Brotscheibe ab, bückte sich, hob das Tomatenstück auf und warf es in den Mülleimer neben der Spüle.

Nachdem Thomas sich wieder gesetzt hatte und behutsam den nächsten Bissen tat, beugte sich Karlheinz vor und senkte die Stimme.

»Was jetzt: Schlappschwanz oder aufrechter Demokrat?«

6

I n seinen E-Mails fand Thomas dann die Einladung vom Geschäftsführer zu einem Meeting am Nachmittag. »Sicherheit in Zeiten von Industrie 4.0« lautete das Thema, typische Buzz-Wörter auf der Agenda, die er auswendig kannte: »Wandlungsfähigkeit«, »Ressourceneffizienz durch Agilität« und »Herausforderungen der horizontalen Datenintegration«. Bullshit-Bingo lernte man erst nach der Fachhochschule. Aber nun erzeugte das Thema ab einer gewissen Managementebene Aktivität, weil sie zu Haftungsproblemen führen konnten.

Auch wenn sie damals nicht befreundet waren, so hatte Joachim ihm das »Du« angeboten, nachdem er sich als neuer Geschäftsführer dieser Niederlassung vorstellte. Was heißt »vorstellte«: Ein Rundschreiben per E-Mail, aber da konnte er mit dem Namen noch nichts anfangen. Erst als der neue Chef durch die einzelnen Abteilungen ging, erkannten sie sich. Joachim sprach ihn auf die gemeinsame Studienzeit an, ob er gehört hätte, dass der Professor Dingsda, na wie hieß der doch gleich, jedenfalls habe der eine Studentin geheiratet und sich ein paar Jahre später im Suff erhängt, und wie froh er wäre, mit so kompetenten Mitarbeitern zusammenarbeiten zu dürfen.

Blabla, hatte Thomas gedacht. Gleiche Ausbildung, aber während er abwechselnd vor einem Computermonitor saß oder in der Werkshalle die Maschinen einstellte und einen Opel fuhr, kam dieser Schleimer im dicken BMW und residierte im neuen Anbau als Geschäftsführer, wenn er nicht ständig in anderen Fabriken, im Ausland oder in der Konzernzentrale unterwegs war.

Gut, er hatte ihm den Job in Rumänien angeboten. Joachim kam kurz nach seiner Inthronisierung auf ihn zu und schlug ihm vor, beim Aufbau der Fabrik in Timişoara die Anlagen zu programmieren. Marion bestärkte ihn und nahm sich extra Urlaub, um die Stadt kennenzulernen, in der die rumänische Revolution gegen ihren kommunistischen Diktator Ceaușescu den Anfang genommen hatte. Eigentlich gehörte es zu seinen Aufgaben, die Anlagen im Netzwerk zu schützen, aber da Rumänien im Bereich Cyber-Sicherheit eine der führenden Nationen in Europa war, schlug er vor, mit der Firma »Byte-Defender« vor Ort zusammenzuarbeiten. Joachim schien es egal zu sein, Hauptsache billig. Und die Rumänen, deshalb wurde die Fabrik ja dort gebaut,   waren billig.

Marion zeigte ihm abends in der Innenstadt die gemütlichen Restaurants mit alten Kronleuchtern von hohen Decken, die sie tagsüber bei ihren Streifzügen entdeckt hatte. Sie erzählte ihm die Geschichte der Stadt, des Landes und von König Ferdinand I, dessen Büste vor dem Byte-Defender Büro stand, mit deren Mitarbeiter er das Netzwerk der Reifenfabrik testete und absicherte. Er berichtete begeistert von den Fachkenntnissen der Security-Spezialisten, wie er in den Diskussionen sein Englisch trainierte, Marion brachte ihm ein paar Brocken Rumänisch bei. Noch vor dem Frühstück im feinen aber seelenlosen Hotel notierte er sich Fragen für den Tag, testete in der Fabrik Konfigurationen für die Firewalls und freute sich gemeinsam mit den Byte-Defender  Kollegen, wenn sie die Firewalls wieder überwunden hatten.

Die speziellen Programme, die dabei eingesetzt wurden, kopierte er sich, um mal in Ruhe das Netzwerk an seinem Arbeitsplatz zu prüfen. Es wurde eine fröhliche Abschiedsfeier, von dem schwarz gebrannten Obstbrand nahm er zwei Flaschen mit nach Hause. Die eine brach er schon kurz nach seiner Rückkehr an, als auf seinen Vorschlag einer tieferen Sicherheitsanalyse niemand reagierte, auch Joachim nicht. Visionäre wurden in diesem Laden tatsächlich zum Arzt geschickt und nicht befördert.

Aber jetzt? Pünktlich um fünfzehn Uhr betrat Thomas den Konferenzraum, knapp vierzig Kollegen waren versammelt: aus der Arbeitsvorbereitung, Qualitätssicherung, Produktion und zwei seiner Kollegen aus der Anlagensteuerung.

Immerhin grüßte Joachim ihn persönlich mit Vornamen, nur wenige waren per Du mit dem Chef, was Thomas’ Rang bei den Mitarbeitern etwas erhöhte. Die Präsentation des Themas bestand zum großen Teil aus einer Kopie dessen, was er nach dem Auftrag in Rumänien für Joachim zusammengefasst hatte. 

Insgeheim hoffte er, mit dem Projekt zur Prüfung und Verbesserung der IT-Sicherheit beauftragt zu werden, die meisten der vorgestellten Ideen waren ja von ihm, gleichwohl Joachim sie als seine eigenen verkaufte. Aber daran gewöhnte man sich in Konzernen. Dann jedoch stellte Joachim einen Berater einer externen IT-Sicherheitsfirma vor, die bereits ein Dutzend anderer Standorte in Deutschland behandelt hatten. Thomas wurde wütend. Lautlos, natürlich. Sein einziger Trost, mit dem er sich über das Meeting rettete, war die Vorstellung, wie er mit den Programmen der Rumänen nach dem wahrscheinlich sackteuren Beratungs¬projekt und den umständlichen, neuen Sicherheitsmaßnahmen das Netzwerk prüfen und die mit hoher Wahrscheinlichkeit   immer noch vorhandenen Lücken fein säuberlich dokumentieren und mit einem netten, oder vielleicht nicht ganz so netten  Kommentar an Joachim schicken würde.