XIAO BAI
DIE VERSCHWÖRUNG VON SHANGHAI
Roman
Deutsch von Lutz-W. Wolff
Insel Verlag
Ging wie ein Mörder durch die Stadt,
sah Menschen an, die er nicht mochte,
und zittert doch, wenn einer im Vorbeigehen böse schaut.
W. H. Auden In Time of War
Als der Moment gekommen war, musste die Macht weniger
ergriffen als einfach aufgehoben werden. Es heißt, dass bei
den Dreharbeiten von Eisensteins großem Film Oktober (1927)
mehr Menschen verletzt worden sind als bei der tatsächlichen
Erstürmung des Winterpalasts am 7. November 1917.
Eric Hobsbawm Das Zeitalter der Extreme
19. Mai 1931, Dienstag
2 Uhr 24
Die Wände der Kabine zitterten. Die Dampfsirene pfiff zweimal kurz. Hsueh schlug die Augen auf. Er hatte die Decke noch über dem Kopf, und das Klatschen der Wellen klang wie das Echo des Donners aus einer fernen Welt. Thereses warmer Rücken fröstelte in der Dunkelheit. Die Maschine des Schiffes hatte wieder zu rumpeln begonnen.
Ein dicker Nebel verdeckte die Sterne. Jetzt an Deck zu gehen, hieße in einen kalten, schwarzen Traum einzutauchen. Das Deck war bestimmt glitschig, und er würde sich nicht orientieren können. Wahrscheinlich würde er nicht einmal wissen, wo seine Hände und Füße waren. Er würde die Wellen hören, aber nicht sehen können. Bestenfalls erkannte man durch schwarze Watte irgendwo eine Leuchtboje.
Die Paul Lecat fuhr jetzt mit voller Kraft. Die Flut war da, und das war die einzige Zeit, in der ein großes Schiff gefahrlos den Matsu-Kanal passieren konnte. Bei Ebbe war der Fluss an einigen Stellen nur zehn Meter tief, aber die Paul Lecat hatte 7050 Tonnen und einen Tiefgang von achteinhalb Metern. Um den nächsten Ankerplatz an der Mündung des Wu-sung zu erreichen, hatte sie noch eine Fahrt von zwei Stunden vor sich.
Der Fluss lag im Nebel, und auf halber Strecke hätte es fast eine Katastrophe gegeben. Ein deutscher Frachter auf dem Weg zum Meer fuhr dicht an ihnen vorbei – »hart Backbord passiert« sollte der Lotse später im Logbuch notieren. Er hatte das Nebelhorn des Frachters nicht gehört, und als er das rote Licht sah, lagen die Schiffe schon deutlich auf Kollisionskurs. Die Paul Lecat musste hastig nach Steuerbord ausweichen, um den Frachter passieren zu lassen. Dabei geriet sie dicht an den Rand der Fahrrinne und wäre fast auf der schlammigen Sandbank im Norden auf Grund gelaufen.
Die Kabinentür stand einen Spalt offen, und ein schmaler Streifen Morgenröte fiel jetzt herein. Hsueh machte die Tür ganz auf und prallte zurück, als er die Aufbauten des anderen Schiffes sah, die auf ihn zukamen. Er kroch wieder unter die Decke. Therese schlief wie ein wildes Tier und schnarchte leise dabei. Seine Fingernägel glitten über das kleine rote Muttermal zwischen ihren Schulterblättern. Obwohl sie zusammen reisten, wusste er nicht viel mehr als ihren Namen. Schließlich hatte sie ihn als Liebhaber engagiert, nicht als Spion.
Sie ist Kettenraucherin, besonders im Bett. Sie weiß sehr viel über alten Schmuck. Ihr grüner Granatanhänger hat die Form einer Pferdemähne. Sie kennt geheimnisvolle Leute in Hongkong und Saigon. Zugegeben, einige davon hatte er bloß erfunden – Fremde regten nun mal seine Fantasie an. Er war Fotograf und verdiente sein Geld bei den Zeitungen in Shanghai. Wenn er Glück hatte, konnte ein einziges Foto von einem Mordopfer ihm fünfzig Yuan einbringen.
Das erste Mal begegnet waren sie sich am Tatort einer Schießerei, direkt neben der Leiche. Das zweite Mal war in der Lily Bar in Hongkou, neben einem Massagesalon mit der Leuchtschrift PARIS GIRLS. Sie war gar nicht so viel anders als die Pariser Mädchen da drin, dachte er.
Ihren eigentlichen Namen hatte er erst vor kurzem erfahren, im Hotel Continental in Hanoi, als ein Mann sie Therese genannt hatte. Bis dahin war sie immer bloß Lady Holly genannt worden. Allmählich war er dahintergekommen, dass sie gar keine Deutsche war, wie immer behauptet wurde, sondern Weißrussin, eine von denen, die vor den Bolschewiken geflohen war Sie faszinierte ihn. Sie verbrachten ihre Nächte in Hotels wie dem Astor House in Shanghai oder dem Continental in Hanoi. Große Balkone, breite Flure, große elektrische Ventilatoren, die sich diskret an der Decke drehten. Der Duft von tropischen Früchten. Der Wind, der durch die blassgrünen Vorhänge wehte und ihre schweißnassen Rücken trocknete. Er war fast verliebt in sie.
Die Maschinen stoppten, der Anker rasselte herunter. Hsueh schob das Laken weg, sprang aus dem Bett und zog sich an. Erst als er an Deck trat, merkte er, dass sie von ihrem Reiseziel immer noch weit entfernt waren. Es war jetzt Niedrigwasser, und um in den Huangpu einzufahren, mussten sie auf die nächste Flut und einen neuen Lotsen warten. Am Horizont wurde es hell, und der Wind blies durch sein dünnes Hemd. Er beschloss, ins Bordrestaurant zu gehen und einen heißen Tee zu trinken.
Auf der Steuerbordseite, in einer anderen Kabine der ersten Klasse, war Leng Hsiao-man gerade dabei, sich aus dem Bett zu stehlen. Sie konnte es nicht riskieren, Ts’ao Chen-wu zu wecken, der neben ihr schlief. Der Plan sah vor, dass sie zum Funkraum ging und ein Telegramm schickte.
Ts’ao, ihr Ehemann, war im Geheimauftrag in Kanton und Hongkong gewesen, um den Besuch eines wichtigen Funktionärs der Kuomintang-Regierung vorzubereiten. Jetzt kehrte er nach Shanghai zurück, um den wichtigen Mann dort in der französischen Konzession zu treffen und ihm Bericht zu erstatten.
Ts’ao schnarchte. Sein Atem glich seinem Temperament. Er war oft heftig und schroff, konnte aber auch zart und sensibel sein. Schwer zu bestimmen. Leng hatte die Erinnerungen an ihr kurzes Zusammenleben durchkämmt, um etwas zu finden, weshalb sie ihn hassen könnte, aber alles, was ihr eingefallen war, genügte nicht, um zu rechtfertigen, was sie jetzt tun würde. Aber es gab höhere Ziele, für die man lebte.
Vor Anker in der Wu-sung-Mündung STOP Ankunft vor zehn STOP Treffen am Pier wie verabredet STOP Ts’ao
Der Funker schickte diese Worte an eine Funkstation in Shanghai mit dem Rufzeichen XSH. Eine halbe Stunde später öffnete der diensthabende Beamte der Nachtschicht im Telegrafenamt in der Szechuen Road 21b seine Glastür und trat an den Schalter. Er übergab das Telegramm einem »Mr Long«, der dort schon seit mehr als zwei Stunden gewartet hatte.
Die Tür des Bordrestaurants war noch verschlossen. Hsueh kehrte unverrichteter Dinge in die Kabine zurück, wo Therese schlief. In Hanoi hatten sie Krach gehabt. Er war wütend aus dem Hotel weggerannt. Er hatte sich geschworen, sie zu ignorieren und nicht mehr in ihrem Bett zu schlafen. Er hatte sogar eine Koje in der dritten Klasse für sich gebucht, aber sie hatte bloß gelacht. Sie hatte sich gar nicht bemüht, ihm nachzulaufen. Sie wusste, er würde von ganz allein zurückkommen. Er war jung, und sie war sieben oder acht Jahre älter. Sie hatte die Oberhand.
Wer ist dieser Mann? Wer ist der Kerl?, hatte er sie gefragt. Mr Zung, hatte sie ihm geantwortet.
Schon auf der Hinreise war sie in Hongkong allein ausgegangen und hatte ihn den ganzen Tag im Hotel warten lassen. Zuerst hatte er gedacht, sie würde eine dieser Weißrussinnen treffen, die gezwungen waren, ihren letzten Schmuck zu verkaufen. Dann, auf der Fahrt nach Haiphong, hatte er diesen Mr Zung auf dem Schiff gesehen. Therese hatte so getan, als ob sie ihn nicht kennen würde, aber er hatte sie bis nach Hanoi verfolgt. Als er im Hotel die Treppe heruntergekommen war, um frische Zigaretten zu kaufen, hatte Hsueh ihn gesehen. Der Mann hatte sie bei ihrem Namen gerufen – Therese. Und dann war Therese mit ihm in sein Zimmer gegangen. Sie war erst um Mitternacht in ihr eigenes Zimmer zurückgekehrt. Hsueh hatte sie wütend verhört. Er hatte sie an die Wand gedrückt, ihr den Rock und den seidenen Schlüpfer heruntergerissen und ihr mit der Hand zwischen die Beine gegriffen. Sie hatte nicht einmal geduscht. Sie hatte die ganze Zeit nur gelächelt, bis er fragte: Wer ist das? Warum folgt er uns seit Hongkong?
Sie schob ihn weg und lachte. Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Er dachte, dass er sie liebte. Er liebte jedenfalls die Art, wie sie rauchte. Statt eine dieser Zigarettenspitzen aus Jade oder Achat zu benutzen, ließ sie es zu, dass der Tabak ihre geschwungenen Lippen färbte, während ihr kurzes, schwarzes Haar flackernde Schatten auf ihr blasses Gesicht warf.
Er saß auf der Bettkante, während sie immer noch schlief. Ihre Handtasche lag auf dem Nachttisch. Er griff danach und schaute hinein. Er hatte noch nie ihre Sachen durchsucht. Ein schmaler Lichtstreifen drang durch die Vorhänge und fiel auf einen schwarzen metallischen Gegenstand. Er steckte die Hand in die Tasche. Eine Pistole –
Die Tasche wurde ihm aus der Hand gerissen, und er bekam einen Tritt, der ihn auf den Boden schickte. Therese hatte sich aufgesetzt und lehnte am Kopfkissen. Der graue Himmel hatte sich leuchtend rot gefärbt, und die Morgensonne umhüllte sie. Ihre Schultern waren beinahe durchscheinend. Hsuehs Augen tränten. Er stand auf, schnappte sich seine Kamera und ging aufs Deck hinaus.
Der Nebel hatte sich aufgelöst, und der Fluss glitzerte. Die Sonne färbte das weiße Deck blutig rot. Hsueh ging die Treppe zum Bootsdeck hinunter. Aufgerollte Taue, Leinwand und Rettungsboote. Die Boote mit den geraden Nummern waren auf der anderen Seite des Schiffes. An der Reling hatten sich ein paar Leute versammelt, um den Sonnenaufgang zu bewundern.
Ein paar Tische und Sessel standen herum, aber sie waren nass, und es setzte sich niemand. Vorn am Bug war es noch windiger, und hier war niemand. Hsueh lehnte sich an die Reling. Acht Schiffe ankerten fächerförmig nebeneinander, den Bug nach Südwesten, nach Wu-sung-k’ou ausgerichtet. Ganz in der Nähe lag ein amerikanisches Schiff, die President Jefferson. Abfall trieb auf der Wasseroberfläche vorbei, und darüber kreisten die Möwen. Hsueh fluchte ziellos in Richtung des Himmels, und aus seinem Selbstmitleid wurde Wut.
Ein Schatten segelte vorbei. Es war ein seidenes Taschentuch, das wie eine weiße Qualle im Wind tanzte. Hsueh drehte sich um und sah eine fremde Frau an der Reling. Sie trug einen schwarzen Wollmantel, unter dem ihr dünnes Seidenkleid, ein grün-weißer Qipao, hervorlugte. Die Sonne strahlte jetzt von Steuerbord über den Jangtse und schimmerte in ihren Haaren. Ihr Gesicht war nass, als ob sie geweint hätte. Er hatte sie irgendwo schon einmal gesehen. Das Licht ließ die Tränen in ihren Augen blitzen. Es musste im Kino gewesen sein. Aber in welchem Film? Er konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
Die Glocke läutete zum Frühstück. Leng wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab. Sie warf einen Blick auf den einsamen Fremden, und gerade als sie weggehen wollte, bemerkte sie die Kamera, die von seiner Schulter hing. Der Linsendeckel flog auf, und der Auslöser wurde heruntergedrückt. Eilig lief sie davon.
Der Lotse kam um halb neun an Bord. Er war dafür verantwortlich, das Schiff durch den Ch’iang-k’ou-Kanal in die enge Mündung des Huangpu und zum Kung-ho-hsiang-Pier am nördlichen Ufer zu dirigieren. Er war nicht der Einzige, der an Bord der Paul Lecat kam. Kurz zuvor waren vier Männer in kurzen Ärmeln mit einem Motorboot vom Pier vor der Hafenbehörde gekommen – wahrscheinlich Gangster, denn sie waren bewaffnet.
Als die Männer in seiner Kabine erschienen, war Ts’ao vollständig bekleidet und hatte auch schon gefrühstückt. Zwei der Leibwächter schleppten seinen Überseekoffer hinaus aufs Deck. Er saß bequem auf dem Sofa, während Leng draußen an der Reling stand. Er hatte keine Ahnung, warum Leng nicht einfach zu Hause geblieben war. Sie bestand darauf, mit ihm zu reisen, aber wenn sie unterwegs waren, war ihr Gesicht immer traurig. Sie fröstelte, holte ein rotes Tuch aus ihrer Reisetasche und band es sich um den Kopf.
Die Polizei der französischen Konzession war über Ts’aos geheime Mission informiert, aber er brauchte vor allem den Schutz der Green Gang. Statt gleich an der Anlegestelle des Schiffes an Land zu gehen, nahm er eine Barkasse zum Kin-Lee-Yuen-Kai in der französischen Konzession, im Gebiet der Green Gang. Als sie an Bord waren, klagte seine Frau plötzlich über Übelkeit und verlangte, am Fenster zu sitzen, um frische Luft zu bekommen.
Der Himmel war klar. Lin P’ei-wen saß auf einer rostigen Leiter, die bis ins Wasser hinunterreichte. Lin war Student. Normalerweise trug er nur weiße Leinenanzüge, aber heute hatte er eine geflickte Hose und ein altes Hemd an. Er fühlte sich unwohl. Die Wellen plätscherten rings um den Pier und trugen Zweige und Blätter den Fluss hinunter. Von seinem Platz am Ufer konnte Lin die kupfernen Abzeichen auf den Jacken der Arbeiter auf dem Kin-Lee-Yuen-Kai sehen – nur registrierte Hafenarbeiter durften Anlegestellen betreten, auf denen Waren über die Bordwand heruntergelassen wurden. Lin sah nach Lokatse am östlichen Ufer des Flusses hinüber, der an dieser Stelle eine scharfe Biegung nach Süden machte. Die Halbinsel trug den Namen Lokatse, angeblich weil dort einmal sechs Familien gelebt hatten – lok bedeutet sechs. Aber jetzt standen dort vor allem die Lagerhäuser der ausländischen Handelsgesellschaften. Die wenigen verbliebenen Rapsfelder sahen aus wie Zahnlücken in einem Mund voller faulender Zähne. Ich habe gar keine Chance, all die Boote zu kontrollieren, die da um die Ecke kommen, dachte Lin.
Am frühen Morgen hatte er auf dem Telegrafenamt – unter falschem Namen und mit falschen Papieren – ein Telegramm entgegengenommen. Den Inhalt hatte er Ku gemeldet: Ihre Zielperson, der Held des Tages, würde wie geplant eintreffen. In gewisser Weise waren Lin und seine Leute nur Nebendarsteller.
Ku-Fu-kuang war über Nacht in Pu-tung gewesen und hatte den Fluss erst in den frühen Morgenstunden mit zwei anderen überquert. Die Behörden in der Konzession gestatteten die Überfahrt eigentlich nur den Booten der lizenzierten chinesischen und westlichen Fährgesellschaften, deren Passagiere scharf kontrolliert wurden. Aber es gab immer Bootsbesitzer, die es gegen entsprechende Bezahlung riskierten, illegale Passagiere über den Fluss zu bringen. Jetzt saßen die drei Männer in einem kastanienbraunen Peugeot am Eingang zum Kin-Lee-Yuen-Kai.
Lin sah zwei Barkassen dicht hintereinander um die Biegung kommen. Das Sonnenlicht glitzerte auf der verchromten Reling. In der Kabinentür der einen stand eine Frau, deren rotes Kopftuch im Wind flatterte. Lin verließ seinen Platz, kroch durch ein Loch im Zaun und winkte den Männern, die im Peugeot saßen. Kim Ya-min sprang aus dem Wagen und verschwand in der Menge.
Das Eingangstor lag direkt am vielbevölkerten Quai de France. Unter den Wartenden entdeckte Lin auch den Reporter Liao Pao-i, dessen unsteter Blick ihn verriet. Die Arsène Lupin hatte noch nie mehr als drei Angestellte gehabt. Sie erschien nur alle drei Tage, und bestand eigentlich nur aus einem großen Blatt, das einmal gefaltet wurde. Liao Pao-i einen Zeitungsreporter zu nennen, war also fast übertrieben. Aber er hatte offenbar einen Tipp bekommen und war früh genug erschienen, um ja alles mitzukriegen. Es war ein großes Ding und konnte ein Scoop werden, deshalb hatte er wohl nicht die Nerven gehabt, die Sache für sich zu behalten, sondern hatte seinen Tipp weiterverkauft an Kollegen von anderen Blättern, deren Reporter er regelmäßig im Teehaus traf. Sie standen gleich neben ihm, während sich die Fotografen ein Stück weiter weg aufgebaut hatten.
Dann erschien Sergeant Ch’eng Yu-t’ao mit ein paar seiner Männer am Eingangstor. Es wurde heute jemand von großer Bedeutung erwartet. Den Personenschutz hatte die Green Gang übernommen. Der Sergeant war nur dafür verantwortlich, dass die Ausfahrt frei war und die Zuschauer abgedrängt wurden. Außerdem musste er dafür sorgen, dass die Autokolonne direkt von der schwimmenden Anlegestelle zur Straße hinauffahren konnte. Als die Polizisten näher kamen, entfernte sich der braune Peugeot langsam.
Ku stand jetzt am östlichen Ende der Rue Takoo, direkt gegenüber der Ausfahrt des Hafengeländes. Der Browning No. 2 steckte, unter dem flatternden Hemd verborgen, in der rechten Tasche seiner grauen Leinenhose. Die Tasche war eigens für die Waffe genäht worden und so tief, dass der Browning bequem hineinpasste. Das eigenartige fensterlose Gebäude hinter ihm war das Kühlhaus eines Fischereibetriebs. Ku war auf sich selbst wütend. Er sah jetzt den Fehler in seinem Plan. Der Kai war von der Polizei vollkommen abgeriegelt, und niemand durfte die schwimmende Anlegestelle betreten. Falls die andere Seite mehrere Autos zur Verfügung hatte oder die Vorhänge der Wagen geschlossen waren, war alles verloren.
Lin P’ei-wen stand auf der anderen Straßenseite und sah unauffällig zu ihm herüber. In der Rue Takoo hinter Ku gab es hinter einem eisernen Gitter eine Polizeistation, und weiter südlich, wo aus dem Quai de France die Wai-ma-Straße wurde, weil die französische Konzession endete und das chinesische Gebiet begann, war das Hauptquartier der Marinepolizei. Diese beiden Gebäude sollte Lin scharf im Auge behalten. Ku selbst hatte sich den Standort mit dem besten Überblick ausgesucht und konnte den Eingang zum Kai gut sehen. Der Peugeot wartete am anderen Ende der Rue Takoo.
Leng war an Land gegangen und stand schon auf der schwimmenden Anlegestelle. Auch ihr war jetzt klar, dass die Dinge nicht nach Plan verlaufen würden. Es standen drei Ford Achtzylinder für ihren Mann und sie bereit. Sie stiegen in den mittleren, und Ts’ao setzte sich neben sie in den Fond. Ob jemand von außen sehen konnte, in welchem Wagen sie saßen, wusste sie nicht, die Vorhänge waren dicht zugezogen.
Ohne nachzudenken, traf sie ihre Entscheidung.
Sergeant Ch’eng begrüßte seine Gäste noch auf der Anlegestelle. Er bat Ts’aos persönliche Leibwächter, ihre Mauserpistolen jetzt abzugeben. Es kam nicht in Frage, dass Zivilisten nicht registrierte Feuerwaffen in der Konzession trugen. Sie standen ja unter dem Schutz der Garde Municipale, das musste genügen. Die Wagenkolonne rollte langsam die Rampe hinauf, an einem Hafengebäude vorbei und auf die Ausfahrt zu.
Es war kurz nach zehn. Der Reporter Liao Pao-i behauptete später sogar, er hätte die Uhr am Customs House schlagen hören. Jedenfalls erzählte er Hsueh das im Teehaus.
In diesem Augenblick explodierten mehrere Feuerwerkskörper mit lautem Krachen hinter den Rikschas, die nördlich des Eingangs aufgereiht standen. Die Polizei sollte später bestätigen, dass an den eisernen Zäunen rund um den Kai tatsächlich zahlreiche Knallfrösche angebracht worden waren. Der Boden war mit kleinen Papierfetzen bedeckt, und es stank nach Nitrat und Sulfat. Die Polizei in der Konzession war misstrauisch gegenüber den Feuerwerkskörpern. Sie waren zwar an sich harmlos, waren aber in letzter Zeit bei Demonstrationen und Massenaufläufen benutzt worden, um Chaos und Panik zu säen.
Eine Rikscha löste sich aus der Reihe und schnitt dem Wagen, in dem Leng und Ts’ao saßen, den Weg ab. Leng hatte ihr Fenster heruntergekurbelt und den Kopf aus dem Wagen gestreckt. Sie stieß sich den Zeigefinger tief in die Kehle und begann, die Milch zu erbrechen, die sie beim Frühstück getrunken hatte. Als der Wagen abrupt halten musste, wurde ihr Kopf nach vorn gerissen, und das Erbrochene klatschte auf die Karosserie. Den Mann, der hinter der Rikscha gewartet hatte, sah die junge Frau nicht. Die Wagentür wurde aufgerissen und sie fiel auf die Straße. Das Krachen der Schüsse bohrte sich wie ein Schraubenzieher in ihre Ohren.
Immer weitere Feuerwerkskörper explodierten zwischen den hohen Gebäuden am Quai de France. Aber Ku interessierte sich nicht für das Spektakel, sondern nur für die Wirkung. In dem Moment, in dem er Leng aus der Wagentür fallen sah, glaubte er zu wissen, wie sie sich fühlte. Als der Beschluss gefasst worden war, dass nicht Leng, sondern Kim Ya-min der Attentäter sein sollte, hatten die anderen kaum darauf reagiert. Aber Leng hatte sehr protestiert. Sie sei genauso tapfer wie Kim, sagte sie, und die Zelle habe doch festgestellt, dass dieser Ts’ao ihren ersten Mann im Gefängnis habe ermorden lassen. Ts’ao war Offizier der Kwangsi-Armee gewesen und jetzt der Chef der Militärjustiz in Shanghai.
Trotzdem hatte Ku dann Kim damit beauftragt, das Attentat auszuführen. Er wollte sicher sein, dass Ts’ao öffentlich hingerichtet wurde, an einem Ort, wo es viele Zeugen und Zuschauer gab. Das war auch insofern richtig gewesen, als man ihn wegen der polizeilichen Sicherheitsmaßnahmen an der Landestelle gar nicht hätte erschießen können, wie sich jetzt zeigte. Ku wusste auch, warum Kim so darum gekämpft hatte, Ts’ao töten zu dürfen. Der Mann, den Leng geliebt und den Ts’ao im Gefängnis hatte ermorden lassen, war Kims älterer Halbbruder und Lehrer gewesen.
Der Attentäter schob die Hand mit der Pistole ins Wageninnere, um zu feuern. Alle drei Kugeln trafen Ts’ao. Die letzte durchschlug seine Schläfe.
Die Polizei griff nicht ein. Später, bei einer Konferenz über den Zwischenfall, sagten die Beamten, es sei alles zu schnell gegangen. Auch die acht Leibwächter von der Green Gang zeigten sich überrascht. Sie saßen im ersten und dritten Wagen, und so wie sich das Publikum nach einer Theateraufführung für eine Sekunde entspannt, ehe der Beifall einsetzt, so hatten sie in ihrer Wachsamkeit nachgelassen, als sie sich in die Wagen gesetzt hatten. Diese Chance hatte der Attentäter genutzt.
Auch eine Untersuchungskommission der Regierung in Nanking beschäftigte sich mit dem Zwischenfall. Bei einer internen Besprechung stellte jemand fest, es sei doch merkwürdig, dass die Polizei von Ts’aos Leibwächtern die Übergabe ihrer Pistolen verlangt habe. Andere Stimmen waren der Ansicht, man müsse das Verhalten der Green-Gang-Eskorte genauer prüfen. Wer sonst hatte gewusst, wann Ts’ao an Land gehen würde? Wer sonst hatte Gelegenheit gehabt, die Information an den Attentäter weiterzugeben?
Aber all diese Spekulationen erledigten sich, als die Kommission aus Nanking entdeckte, dass Ts’aos Ehefrau in den frühen Morgenstunden ein Telegramm von Bord der Paul Lecat geschickt hatte. Weitere Nachforschungen enthüllten ein verblüffendes Detail nach dem anderen: ihre ungewöhnliche Vergangenheit, gewisse Telegramme, die sie von Hongkong nach Shanghai geschickt hatte, das rote Kopftuch und schließlich das Erbrechen im Auto. Die Frau selbst war verschwunden. Ihr Foto erschien in allen Zeitungen, und die Boulevardzeitungen benutzten viele Fragezeichen in ihren Berichten, um anzudeuten, dass etwas besonders Niederträchtiges geschehen war.
Jemand hatte das Formular gefunden, das der Mann auf dem Telegrafenamt hatte ausfüllen müssen, der Lengs Telegramm entgegengenommen hatte, aber niemand schien diesen »Mr Long« zu kennen. Der Skandalreporter Liao Pao-i wäre wahrscheinlich eine ergiebigere Quelle gewesen, aber an den kamen die Leute aus Nanking nicht heran. Er wohnte in der französischen Konzession und unterstand damit nur der Garde Municipale.
Aber irgendwas musste die Kommission ja in ihren Bericht schreiben. Ein gewisser Sergeant Ch’eng vom North-Gate-Revier schrieb in einer Stellungnahme, dass Liao mit dem Attentat nichts zu tun gehabt habe. Er hatte lediglich morgens früh einen anonymen Telefonanruf in der Redaktion und am Nachmittag einen braunen Umschlag erhalten. Liao galt als sehr gerissen und außerdem hatte er Verbindungen zur Green Gang. Aber er hatte in diesem Fall nicht einmal gegen die Pressegesetze verstoßen. Er hatte seinen Tipp und den Inhalt des braunen Umschlags an verschiedene, zum Teil ganz seriöse Blätter der Konkurrenz verkauft und selbst gar nicht über den Vorfall berichtet. In Nanking war man über diesen Rückschlag nicht allzu enttäuscht. Die Regierung hatte längst beschlossen, dass man die Beziehungen zur französischen Konzessionspolizei vollkommen neu regeln müsse.
Und weder Nanking noch die Konzessionspolizei noch die Green Gang konnten aus dem Attentäter selbst etwas herauskriegen. Denn nachdem er seine drei Schüsse auf Ts’ao abgefeuert hatte, richtete er seine Waffe auf die eigene Schläfe und drückte ab. Die Gerichtsmediziner ermittelten später, dass der Mann zugleich eine Zyankalikapsel zerbissen hatte, die er unter der Zunge trug. Die Kugel war nur zur Sicherheit.
25. Mai 1931, Montag
9 Uhr 10
Das Morris Teahouse war wie das Innere eines Segelschiffs eingerichtet. Das war in den ausländischen Konzessionen nichts Ungewöhnliches. Die älteren europäischen Geschäftsleute liebten es, ihre Häuser mit Bullaugen, Ankern und Steuerrädern zu dekorieren und so zu tun, als wären sie Schiffskapitäne. Andererseits war das Teehaus aber auch eine Art schwimmender, sechseckiger Pagode mit schmalen Treppen und Messinggeländern. Im dritten Stock gab es große Fenster, durch die man auf die Pferderennbahn hinaussehen konnte.
Morris Teahouse war ein lärmender Ort. Früher war es sogar mal ein Stall gewesen, und über der Tür hingen zwei große Hufeisen. Liao berührte sie jedes Mal, wenn er hineinging.
Das Teehaus war ein beliebter Treffpunkt der Journalisten, schon wegen der Nähe zum Rennplatz. An klaren Tagen konnte man von den Fenstern im dritten Stock aus sogar die Zahlen auf den Anzeigetafeln erkennen und sehen, wie die Quoten standen. Pffft! Liao spuckte Teeblätter aus dem Mundwinkel. Selbst der Tee schmeckte hier nach Pferdepisse.
Am Samstag hatte die Polizei in den frühen Morgenstunden sein Zimmer gestürmt. Liao wohnte in einer kleinen Kammer über einer Gemeinschaftsküche, was bedeutete, dass sein Zimmer nach gebratenem, salzigem Fisch stank. Er schlief noch halb, als die Polizisten ihn aus dem Bett zerrten und auf den nicht sehr sauberen Rücksitz ihres Autos schoben. Natürlich hätte er sein Zimmer abschließen können. Aber wozu? Es war ja nicht so, als ob er irgendwelche Wertgegenstände besessen hätte. Und wie schwungvoll die Polizisten durch den Hof gestürmt, durch die Küche marschiert und die ewig knarzende Treppe hinaufgerannt waren, ganz ohne die streitsüchtige Wirtin zu wecken! Zugegeben, es waren nun mal Polizisten mit Pfeifen, Knüppeln und Abzeichen auf den Uniformen, die konnte eh niemand aufhalten.
Deshalb hatte er auch noch geschlafen, als sie ihm die Decke wegzogen und ihn höflich gebeten hatten, sich anzuziehen.
Der Wagen fuhr los, bog ein paarmal scharf ab und hielt vor einem roten Backsteingebäude. Erst als sie ihn wieder herauszogen, kam er auf die Idee, sie zu fragen, wo sie eigentlich herkamen. Da hörten sie mit der Höflichkeit auf. Der eine schlug ihm mit der Faust auf den Hinterkopf. Dann stießen sie ihn in einen kahlen, weißgetünchten Raum.
Den Mann, der im Inneren auf ihn wartete, kannte er: Sergeant Ch’eng vom North-Gate-Revier. Ja, er kannte den Alten Pockennarbigen Ch’eng. Der Sergeant war genau wie Liao ein Mann der Green Gang und stammte aus einer reichen Shanghaier Familie. Aber im Gegensatz zu Liao war Ch’eng eine große Nummer.
Liao versuchte die Zugehörigkeit zur Gang ins Spiel zu bringen und erwähnte beiläufig seinen Capo, aber die Polizisten schlugen und traten ihn bloß immer weiter. Er war gezwungen, Ch’eng alles zu erzählen, was er wusste. Allerdings wusste er nichts. Auf jeden Fall hatte er nicht gewusst, dass ein Mann erschossen werden würde, sonst hätte er der Polizei das gemeldet – er war ein pflichtbewusster Bürger. Au! Na schön, er war kein so guter Bürger, aber er hätte trotzdem nicht die Nerven gehabt, ein solches Geheimnis für sich zu behalten. Er war zum Kai gegangen, weil ihm morgens um sieben ein anonymer Anrufer mitgeteilt hatte, dass ein großes Ding an der Anlegestelle passieren würde.
Aber wieso war er eigentlich schon morgens um sieben in der Redaktion gewesen? Liao erklärte, er wäre gar nicht erst nach Hause gegangen – er habe die ganze Nacht Mahjong gespielt. Und warum habe er diesem anonymen Anrufer geglaubt? Und womit habe er die anderen Reporter von dem Tipp überzeugt?
Hier zögerte Liao, und die Männer, die ihn verhörten, packten ihn an den Schultern und drückten ihn hart auf den Boden. Vielleicht war es die Stimme des Mannes gewesen, die von tödlichem Ernst war – wie ein kalter Lufthauch, der aus dem Hörer drang. Und wie hatte er die anderen überzeugt? Ach, das sei ganz einfach gewesen – hier kriegte er einen weiteren Schlag auf den Kopf. Ch’engs Männer mochten offenbar keine allzu lässigen Antworten. Reporter seien doch bereit, alles zu glauben, wenn sie damit einen Coup landen könnten.
Sergeant Ch’eng ließ ihn laufen. Er sagte ihm allerdings, wenn er seinen Capo nicht hätte und wenn er das Manifest der Attentäter nicht an die anderen Blätter verkauft, sondern selbst im Arsène Lupin gedruckt hätte, würde er die nächsten Jahre im Gefängnis der Lunghwa-Garnison verbringen. Die Zeitungen hatten ganz groß über die Schießerei am Kin-Lee-Yuen-Kai berichtet und hatten auch den Aufruf der Attentäter an die Bevölkerung von Shanghai abgedruckt, ohne sich um die von der Armee und der Kuomintang-Regierung eingerichtete Zensurbehörde im East-Asia-Hotel auch nur im Mindesten zu kümmern.
Das Teehaus begann sich mit Menschen zu füllen, und Liao setzte sich an eins der nach Norden ausgerichteten Fenster. Hsueh saß ihm gegenüber, und seine Kamera lag auf dem kleinen Tisch.
»Wo bist du am letzten Dienstag gewesen? Ich hab die ganze Nacht nach dir gesucht. Ich bin sogar am Morgen noch hier gewesen, um dich zu erwischen. Aber du warst nirgends zu finden.«
Liao sagte jetzt die Wahrheit. Gegenüber Sergeant Ch’eng hatte er nicht die Wahrheit gesagt.
Hsueh schien es zu bedauern, dass er den Scoop verpasst hatte. Natürlich hatte Liao den Tipp dann einfach jemand anderem verkauft. Hsueh blätterte noch einmal durch die Fotos. Einige davon waren von den Zeitungen schon gedruckt worden, aber es gab auch welche, die Hsueh noch nicht gesehen hatte. Das waren die für die China Times, und der Fotograf hatte für Liao einen Satz Abzüge extra gemacht.
Von allen Bildmotiven schätzte Hsueh Tatort-Fotografien am meisten. Hier zum Beispiel nahm die Leiche des Attentäters die rechte Diagonale des Fotos ein. Er lag direkt unter dem Reserverad, das an der Rückwand des Fords hing. Man sah die Pistole und das schwarze Blut auf dem Boden. Die Shun Pao sagte, es sei eine Selbstladepistole vom Typ Mauser C96, während andere ihren Spitznamen box cannon gun benutzten, weil das irgendwie gefährlicher klang. Ein anderes Bild war eine Nahaufnahme eines Polizisten. Seine erhobene schwarze Pfeife war so dicht vor der Linse, dass sie wie eine verwelkte Blume aussah, und hinter dem Mützenschirm sah man die offene Wagentür und auf dem Rücksitz die Leiche des Opfers. Unter der Tür konnte man den Saum eines schwarzen Mantels erkennen. Der gehörte dieser Frau, die mit dem Opfer verheiratet war. Ein anderes Bild zeigte ihr leeres Gesicht, als sie auf der Straße lag und sich mit einer Hand aufzurichten versuchte. In ihrem Mundwinkel hing noch das Erbrochene. Liao hatte noch ein anderes Foto von ihr gesehen, in Millards Review, ein Archivbild, das ursprünglich bei Mr Ts’aos Hochzeitsanzeige abgedruckt worden war. Es hieß, dass Ts’aos Tod etwas mit seiner Frau zu tun hatte, die jetzt von der Polizei gesucht wurde.
»Die Frau hab ich auf dem Schiff gesehen. Ich hab ein Foto von ihr, das viel besser ist. Der Typ hat nicht gut gearbeitet. Seine Kamera taugt nichts, und seine Technik ist miserabel.« Offensichtlich war es dem Mann von der China Times schwergefallen, in dem Chaos seine Kamera richtig einzustellen, und das Gesicht der Frau war sehr unscharf.
»Zeig mir dein Bild«, sagte Liao.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Hsueh. Er klang etwas geistesabwesend. »Du müsstest mir fünfzig Yuan zahlen.«
Liao verlor sofort das Interesse. Das Attentat war keine Nachricht mehr. Es lag jetzt eine Woche zurück, die Zeitungen hatten der Story zahllose Seiten gewidmet, und niemand wollte mehr etwas darüber hören. Nur Hsueh interessierte sich noch dafür.
»Also diese Frau«, sagte er. »War sie wirklich eine Kommunistin? Und wie sind diese Leute auf dich verfallen?«
Liao fing wieder an zu lügen. »Sie haben mich auf der Straße angehalten und gebeten, zu ihnen ins Auto zu steigen.« In Wirklichkeit hatte ihn eine Frau ins Gesicht geschlagen und Streit mit ihm angefangen. Dann hatte das Auto angehalten und er war auf den Rücksitz geschoben worden. Er war gekidnappt worden. Aber das war ihm peinlich und er mochte es nicht erzählen.
»Wie haben die Leute ausgesehen?«
»Was denkst du? Glaubst du, sie hatten alle rotes Haar und grüne Augen? Hast du noch nie einen Kommunisten gesehen? Vor ein paar Jahren haben sie noch an jeder Straßenecke gestanden.«
Beim bloßen Gedanken an den Entführer kriegte er eine Gänsehaut. Der Mann war ungefähr vierzig gewesen und hatte die ganze Zeit seinen Hut aufbehalten, sogar im Haus. Seine Augen waren sehr durchdringend, wenn er unter der Krempe des Hutes hervorspähte. Er hatte eine Zigarette nach der anderen geraucht. Liao wagte nicht, sich mit ihm anzulegen – er merkte gleich, dass der Mann viel gefährlicher war als die Polizei. Er brauchte einen gar nicht zu fragen, was man dachte. Er schien es zu wissen. Und je höflicher er wurde, desto mehr Angst hatte Liao. Womöglich konnte man für ein falsches Wort gleich erschossen werden. Die Pistole des Mannes lag jedenfalls schon auf dem Tisch.
Er warnte Liao, keinen Unsinn zu machen und etwa heimlich die Polizei einzuschalten. Liao müsse sich genau an das halten, was ihm gesagt wurde. Um neun Uhr morgens solle er zum Kin-Lee-Yuen-Kai kommen, genau hinschauen und einen guten Bericht schreiben. Wenn wir das nächste Mal kommen, bringen wir dir etwas mit, sagte er.
Aber sie waren nicht selbst gekommen. Am Nachmittag nach der Tat hatten sie ihm bloß diesen braunen Umschlag mit dem Manifest geschickt, in dem es hieß, die Spezialabteilung der Kommunistischen Partei in Shanghai und ihre Genossen von der Volksmacht hätten im Namen des chinesischen Volkes den Konterrevolutionär Ts’ao Chen-wu hingerichtet. Zum Beweis, dass es der Absender ernst meinte, hatte er eine Pistolenkugel dazugelegt. Er hätte natürlich auch zwei Kugeln schicken können, aber was hätten zwei Kugeln deutlicher machen können als eine?
Liao hatte es nicht gewagt, das Manifest abzudrucken. Stattdessen hatte er sich eines alten Tricks bedient und den Aufruf an einige der respektableren Blätter geschickt. Er war der Ansicht, dass er damit den Wünschen seines Entführers mehr als Genüge getan hatte. Natürlich verdiente er nicht schlecht bei diesem Geschäft. Sogar mit einer ausländischen Zeitung war er sich einig geworden. Die Kommunisten würden sich über ein bisschen internationale Aufmerksamkeit bestimmt nicht beschweren.
Nicht all diese Einzelheiten erzählte er Hsueh. Es wurde Zeit, die Story zu vergessen. Sie war abgestanden, und er war sich ziemlich sicher, die Entführer würden ihn jetzt in Ruhe lassen. Außer Hsueh war den ganzen Morgen niemand gekommen, um mit ihm darüber zu reden. Und Hsueh war offensichtlich mehr an dieser Frau interessiert als an der Geschichte. Als er sich verabschiedete, bat er Liao, ihm die Fotos der Frau zu schenken, obwohl er die Arbeit des Fotografen von der China Times ziemlich schlecht fand. »Klar«, sagte Liao, »die Story ist nicht mehr aktuell. Ich hab mehr als achtzig Yuan damit verdient. Nimm die Fotos ruhig alle. Willst du wissen, wie die Frau heißt?«
»Ich weiß, sie heißt Leng Hsiao-man.«
Hsueh wandte sich ab und verschwand eilig die Treppe hinunter.
25. Mai 1931, Montag
10 Uhr 50
Während er die Straße hinunterging, musste Hsueh ständig an diese Frau denken. Sie erinnerte ihn an jemanden, aber er wusste immer noch nicht, an wen. Alle Filme, die er gesehen hatte, zeigten nur westliche Schauspielerinnen. Vielleicht war es ja ein besonderer Gesichtsausdruck oder die Zeile eines Dialogs, an die er sich erinnerte? Unsinn, er hatte ja nicht mal mit ihr gesprochen. Und jetzt, wo ihr Foto in allen Zeitungen gewesen war, begann er sogar zu zweifeln, ob sie wirklich dieselbe war, die er an der Reling gesehen hatte. Plötzlich schlug ihm jemand auf die Schulter. Sein Schulterriemen glitt ab, und er musste rasch den Arm krümmen, um seine Kamera aufzufangen. Es war Barker.
Barker war Amerikaner. Er hatte Finger, die so dick wie kantonesische Würste waren. Seine Fingerspitzen waren vernarbt.
»Essigsäure«, hatte ihm Barker mal in der Bar gesagt. Er hatte die Finger gespreizt und auf den runden Tisch gelegt. Man konnte seinen Namen ändern und sich einen Bart wachsen lassen, aber seine Fingerspitzen konnte man nicht austauschen. Die Polizei hatte jetzt eine neue Methode der Identifizierung entwickelt: Man musste die Finger erst auf ein Stempelkissen und dann auf Papier drücken. Die Fingerabdrücke, die dabei entstanden, wurden in großen Aktenschränken gesammelt, und danach durfte man sich nie mehr erwischen lassen – die Polizisten konnten einen immer identifizieren. Man konnte sich ja nicht die Finger abschneiden. Die Fingerspitzen in Essigsäure zu baden, war hilfreich, aber es dauerte ein paar Wochen. Als Barker ihm das alles in der Bar erzählt hatte, kannten sie sich erst einen Monat.
Kennengelernt hatten sie sich beim Roulette im Saloon. Als die Glücksspiele im International Settlement verboten wurden, waren alle Spielhöllen in die engen Straßen der französischen Konzession umgezogen, aber Ausländer waren dort selten. Hsueh hatte sich deshalb sofort für den Amerikaner interessiert. Er wusste gern Bescheid über auffällige Leute um ihn herum.
Barker zog ihn mit sich zur Rennbahn. Die abschließende Steeplechase sei manipuliert, sagte er. Der Favorit sei Chinese Warrior, aber die Jockeys hätten beschlossen, ihn zwischen zwei anderen Pferden einzuklemmen, damit er nicht lospreschen könne. Black Cacique, ein krasser Außenseiter, würde gewinnen.
Die Rennplatzbesucher benahmen sich wie verrückt, man hätte glauben können, die Wettscheine wären Ablasszettel gewesen, die ihnen das ewige Leben versprachen. Als die Lautsprecher die Steeplechase ankündigten, stürmten die Zuschauer auf die Tribüne. Es war eine Massenpanik, ein Mahlstrom.
Hsueh änderte abrupt seine Meinung. Er hatte keine Lust, in diesem Strudel mitzuschwimmen. Er verabschiedete sich von Barker und ging in Richtung Avenue Édouard VII. Er würde im Manor Inn zu Mittag essen, und später am Nachmittag würde Therese im Astor Hotel auf ihn warten. Die Luxus-Suite im vierten Stock kostete zwölf Yuan am Tag.
Hsueh war der Sohn eines Franzosen, der mit einem Koffer voll abgetragener Kleider in Marseille an Bord gegangen war, um in Asien sein Glück zu machen. Er hatte sich in den Bars von Saigon und Kanton herumgetrieben und hatte mit seinen Abenteuern geprahlt, bis er schließlich in Shanghai einen Job fand. Es war die beste Zeit seines Lebens. Hsuehs Mutter hatte er nie geheiratet. Sie hatte eine dunkle Gesichtsfarbe und stammte aus der Provinz Kanton. Sie trug eine traditionelle Jacke mit einem unauffälligen Muster, und ihre welligen Haare stießen bei jedem Schritt auf den Stehkragen. Ehe sie Hsuehs Vater getroffen hatte, war sie weniger streng gewesen, aber danach weigerte sie sich, je etwas anderes zu tragen. Sie hing Hsueh auch heute noch um den blassen Hals, direkt über dem Schlüsselbein, denn er trug ihr Foto in einem Medaillon, das er nie ablegte. Die etwas zu schwere Silberkette war von seinem Schweiß schwarz geworden. Selbst wenn er Therese im Bett schmutzige Dinge ins Ohr flüsterte, die sie nicht verstand, hing seine Mutter noch zwischen ihnen.
Im Ersten Weltkrieg erfasste Hsuehs Vater eine große, ungeahnte Begeisterung, und er eilte in die Schützengräben von Verdun. All seinen Besitz, seine chinesische Geliebte und seinen Sohn ließ er in Shanghai zurück und kam niemals wieder. Hsueh war gerade mal zwölf Jahre alt. Aber es war nicht so, dass sein Vater seine kleine Familie vergessen hätte. Er schrieb ihnen Briefe vom Schlachtfeld, und die Briefe, die übers Meer kamen, enthielten oft sogar ein paar Fotos. Hsuehs Lieblingsfoto zeigte seinen Vater im Schützengraben. Es war Sommer, sein Vater trug ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und sein Gesicht war voller Bartstoppeln. Auf einem anderen Foto stand ein Mann splitternackt im Eingang zur Dusche. Seine Uniform hing an der Wand. Auch das war sein Vater. Er grinste in die Kamera und verdeckte sein Schamhaar mit einer Hand. Dieses Foto hatte seine Mutter sofort versteckt, und Hsueh fand es erst nach ihrem Tod. Auf der Rückseite stand eine Bildunterschrift: Poux – je n’ai pas de poux! Keine Läuse! Hsueh vermutete, dass dieses Foto der Grund war, warum seine Mutter keinen anderen Mann geheiratet hatte.
Im Winter hatte sein Vater neben ein paar Dutzend Leichen posiert. Er trug einen Mantel und seine Feldflasche über der Schulter. Es waren so viele Leichen, dass es aussah wie in einem Schlachthaus. Manche lagen nebeneinander im Schnee, während andere auf einen Lastwagen gestapelt waren. Noch schlimmer waren die Fotos von den Verletzten: Einer war von Kopf bis Fuß in Bandagen eingehüllt, nur für Augen und Nase gab es drei Löcher.