Gustave Flaubert
Ein schlichtes Herz
eISBN/EAN: 9783959091527
Gustave Flaubert: »Ein schlichtes Herz«. Übersetzung: Arthur Schurig. Erstdruck 1877. Die Orthografie dieser Ausgabe wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst und die Interpunktion behutsam modernisiert.
Erscheinungsjahr: 2017
Erscheinungsort: Berlin, Deutschland
Europäischer Literaturverlag GmbH, Beymestr. 13 a, 12167 Berlin (http://elv-verlag.de).
Printed in Germany
Cover: Mathias Stoltenberg: »Porträt Hanna Winsnes«, Ausschnitt, 1871.
I
II
III
IV
V
Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgerinnen von Pont-l'Évêque Frau Aubain um ihre Magd Félicité. Für hundert Franken im Jahre versah sie Küche und Haus, nähte, wusch, plättete, verstand ein Pferd zu schirren, Geflügel zu mästen, zu buttern – allezeit ihrer Herrin treu, die nichts weniger war als eine angenehme Person.
Frau Aubain hatte einen hübschen Jungen ohne Vermögen geheiratet, der ihr bei seinem Tode, zu Beginn des Jahres 1809, zwei ganz kleine Kinder sowie eine Menge Schulden hinterließ. Da verkaufte sie ihre Liegenschaften bis auf die Meierhöfe Toucques und Geffosses, die ihr, wenn es hoch kam, fünftausend Franken Pachtzins eintrugen, und zog aus ihrem Haus in Saint-Melaine in ein weniger kostspieliges, das ihren Vorfahren gehört hatte und hinter der Markthalle stand.
Dieses Haus, ein mit Schiefer verkleidetes Gebäude, stand zwischen einem Durchgang und einer zum Fluss führenden schmalen Gasse. Der Boden drinnen hatte eine andere Höhe als der draußen, sodass man stolperte. Ein enger Flur trennte die Küche von der »Großen Stube«, in der Frau Aubain den ganzen Tag in einem Großvaterstuhl am Fenster zu sitzen pflegte. An der weiß gestrichenen Wandtäfelung standen nebeneinander acht Mahagonistühle. Auf einem alten Klavier, über dem ein Wetterglas hing, türmte sich eine Pyramide von Kästen und Schachteln. Zwei bestickte Lehnsessel spreizten sich links und rechts vom Rokokokamin aus gelbem Marmor. Die Standuhr mitten darauf stellte einen Vestatempel vor und das ganze Zimmer roch ein wenig nach Moder, denn die Diele war tiefer als der Garten.
Im ersten Stock lag zunächst das Zimmer der »gnädigen Frau«, ein sehr großer Raum mit blasser Blumentapete und dem Bild des »gnädigen Herrn« als Dandy. Von da ging es in ein kleineres Zimmer, wo man zwei Kinderbettstellen ohne Matratzen sah. Dahinter kam die »Gute Stube«, die immer verschlossen blieb und reich an Möbeln mit Leinwandüberzügen war. Sodann führte ein Gang zu einem Studierzimmer. Drinnen stand ein breiter Schreibtisch aus schwarzem Holz und darum ein dreiteiliges Gestell mit Büchern und Schriften in den Fächern. Die Rückwände der beiden Flügel verschwanden unter Federzeichnungen, GouacheLandschaften und Stichen von Audran, Überbleibseln besserer Zeiten und längst entschwundenen Prunks. Im zweiten Stock lag die Kammer von Félicité, belichtet von einem Dachfensterchen mit Ausblick über die Wiesen.
Félicité stand bei Tagesgrauen auf, um die Messe nicht zu versäumen, und arbeitete ohne Unterlass bis zum Abend. War das Mahl zu Ende, das Geschirr wieder in Ordnung und die Haustür gut verschlossen, dann überdeckte sie noch die glimmenden Kohlen mit Asche und nickte, den Rosenkranz in den Händen, am Herd ein. Beim Einkaufen konnte niemand hartnäckiger feilschen. In puncto Sauberkeit brachten ihre blitzblanken Pfannen alle anderen Mägde zur Verzweiflung. Sparsam, wie sie war, aß sie langsam und tippte mit dem Finger vom Tisch die Krumen ihres Brotes auf, eines eigens für sie gebackenen, zwölf Pfund schweren Brotes, das drei Wochen vorhielt.
Zu jeglicher Jahreszeit trug sie ein buntes Kattuntuch, das hinten mit einer Nadel zusammengesteckt war, eine Haube auf dem Haar, graue Strümpfe, einen roten Unterrock und über ihrer Jacke eine Latzschürze wie die Krankenschwestern.
Ihr Gesicht war hager, ihre Stimme scharf. Mit fünfundzwanzig Jahren sah sie aus wie eine Vierzigjährige. Von den Fünfzigern an nahm man keine Altersveränderungen mehr an ihr wahr; und in ihrer Schweigsamkeit, mit ihrer steifen geraden Haltung und ihren abgemessenen Bewegungen machte sie den Eindruck einer automatisch funktionierenden Holzfigur.
Wie jede andere hatte sie ihre Liebesgeschichte gehabt. Ihr Vater, ein Maurer, war vom Gerüst zu Tode gestürzt. Dann starb die Mutter. Ihre Schwestern kamen dahin und dorthin. Sie selbst wurde von einem Pächter aufgenommen, bei dem sie, noch ein Kind, die Kühe zu hüten hatte. Sie fror unter ihren Lumpen, trank, platt auf dem Boden, aus den Pfützen, wurde um nichts geprügelt und schließlich wegen eines Diebstahls von zwölf Groschen, den sie nicht begangen hatte, fortgejagt. Sie verdingte sich auf einem andern Pachthof, als Viehmagd, und weil sie dem Gutsherrn gefiel, waren ihre Mitmägde eifersüchtig auf sie.
Eines Abends im August – sie war nunmehr achtzehn Jahre alt – nahm man sie mit nach Colleville auf die Kirmes. Ihr wurde sofort schwindelig. Der Lärm der Musikanten, die Lichter in den Bäumen, das bunte Durcheinander der Kleider, der Putz, die Goldkreuze, die herumwirbelnde Menschenmenge, alles das betäubte sie. Bescheiden hielt sie sich abseits. Da trat ein stattlicher, junger Mann – er hatte zuvor, die Ellenbogen auf eine Karrendeichsel gestürzt, seine Pfeife geraucht – auf sie zu und forderte sie zum Tanz auf. Er bezahlte Apfelwein, Kaffee, Kuchen, kaufte ihr ein seidenes Tüchlein und trug ihr, im Glauben, sie verstände ihn, an, sie heimzugeleiten. Am Rain eines Haferfeldes zwang er sie roh zu Boden. Sie bekam Angst, begann zu schreien, und er machte sich davon.
An einem anderen Abend wollte sie, auf dem Wege nach Beaumont, an einem großen Heuwagen, der langsam dahinfuhr, vorüber, und wie sie sich an den Rädern hindrückte, erkannte sie Theodor wieder.
Ohne irgendwelche Verlegenheit redete er sie an und sagte, sie dürfe ihm nicht böse sein. Der Wein sei schuld daran gewesen.
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, und am liebsten wäre sie weggelaufen.
Gleich darauf sprach er von der Ernte und von den Großen in der Gemeinde. Sein Vater wäre von Colleville weg und habe den Ecots-Hof übernommen, sodass sie jetzt Nachbarn seien.
»So!«, sagte sie.
Er fügte hinzu, dass man ihn verheiraten wolle, indessen, er habe keine Eile und warte auf eine Frau nach seinem Geschmack.
Sie senkte den Kopf. Da fragte er sie, ob sie nicht auch ans Heiraten dächte. Sie lächelte und sagte, es sei nicht recht, dass er sich über sie lustig mache.
»Bei Gott, das tue ich nicht!«, beteuerte er und umfasste sie mit dem linken Arm. So ging sie von ihm gehalten. Sie verlangsamten den Schritt. Der Wind war weich. Die Sterne funkelten. Die mächtige Heufuhre vor ihnen schwankte dahin und die vier Gäule schleppten ihre Hufe durch den aufwirbelnden Staub. Dann bogen sie von allein nach rechts ab. Er drückte sie noch einmal an sich. Sie verschwand im Dunkel.
In der Woche darauf erlangte Theodor von ihr ein Stelldichein nach dem anderen.