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Das Buch

Paris, 1941. Die französische Hauptstadt ist fest in der Hand der Nazis, für die jüdische Familie Joffo wird es bald zu gefährlich, sich dort frei zu bewegen. Die Eltern befürchten das Schlimmste und bereiten die Flucht in die freie Zone vor. Da es zu auffällig wäre, als neunköpfige Familie gemeinsam durch das vom Krieg gezeichnete Land zu reisen, schicken sie den zehnjährigen Joseph und seinen älteren Bruder Maurice allein auf den Weg. Ein gefährliches Abenteuer beginnt, doch den Jungen gelingt es immer wieder, der Gestapo zu entkommen und sich so tapfer wie clever nach Südfrankreich durchzuschlagen. In der Kleinstadt Menton hoffen sie, endlich ihre Eltern wiederzutreffen.

Joseph Joffos packende autobiographische Erzählung wurde nach ihrem Erscheinen sofort zum Bestseller, in Dutzende Sprachen übersetzt und bereits zum zweiten Mal für die große Leinwand adaptiert.

Der Autor

Joseph Joffo wurde 1931 in Paris geboren. Als er 1971 nach einem Skiunfall Bettruhe halten musste, schrieb er den Roman Ein Sack voll Murmeln – die Erinnerungen an seine Kindheit im besetzten Frankreich. Heute lebt er mit seiner Familie in Paris nahe dem Arc de Triomphe.

Joseph Joffo

Ein Sack voll Murmeln

Roman

Aus dem Französischen von
Lothar van Versen

Vollständige Überarbeitung und
Übersetzung des Epilogs von
Ingola Lammers

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Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1620-8

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017
Copyright © 1973 by Éditions Jean-Claude Lattès
Titel der französischen Originalausgabe: Un sac de billes
Umschlagmotiv: © Thibault Grabherr
Dorian Le Clech (Joseph) und Batyste Fleurial Palmieri (Maurice)
Film »Ein Sack voll Murmeln« im Vertrieb von Weltkino Filmverleih
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München,
nach einer Vorlage von © Weltkino Filmverleih

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Für meine Familie

Ich danke meinem Freund,
dem Schriftsteller Claude Klotz,
der mein Manuskript gelesen und
so gewissenhaft korrigiert hat.

 

 

 

 

PROLOGDieses Buch ist kein Geschichtsbuch. Vielmehr erzählt es von meiner Kindheit in der Besatzungszeit. Dreißig Jahre sind seither vergangen, die eine oder andere Erinnerung ist verblasst, manches vergessen; aber das Wesentliche ist geblieben: das Echte, die Zärtlichkeit, das Komische, die Angst, die unser Leben begleitete. Um niemandem zu nahe zu treten, habe ich viele Namen geändert. Es ist die Geschichte zweier Kinder, die in einer grausamen und absurden Welt manchmal ganz unerwartet Hilfe und Unterstützung fanden.

 

 

 

 

1Ich spiele mit der Murmel in meiner Hosentasche. Es ist meine Lieblingsmurmel, und ich gebe sie nicht her. Dabei ist sie die hässlichste von allen, wenn ich sie mit den Achaten oder den dicken Buckern im Schaufenster von Vater Ruben an der Rue Ramey vergleiche. Sie ist aus Ton und voller Macken und Risse, sie sieht aus wie die Erdoberfläche.

Es ist ein tolles Gefühl, die ganze Welt in der Hosentasche zu haben: die Berge, die Meere, für andere unsichtbar.

Ich fühle mich wie ein Riese, der die Planeten mit sich herumträgt.

»Verdammt, wann entscheidest du dich endlich?«

Es ist Maurice; er wartet auf dem Gehsteig vor der Metzgerei auf mich. Seine Kniestrümpfe rutschen immer und werfen Falten, mein Vater nennt ihn nur den Ziehharmonikaspieler.

Vor ihm liegen vier Murmeln: drei auf dem Boden angeordnet, eine obendrauf.

Oma Epstein lugt aus ihrer Tür zu uns herüber. Sie kommt aus Bulgarien und sieht mit ihrem faltigen Gesicht wie ein altes Hutzelweib aus. Ihre Haut ist braun, von Wind und Wetter gegerbt. Sie sitzt jeden Tag auf ihrem Stuhl in der Tür, grüßt die Kinder, die aus der Schule kommen, und weder der graue Pariser Himmel noch die Porte de Clignancourt trüben den Glanz, den sie immer noch ausstrahlt.

Angeblich ist sie zu Fuß vor den Pogromen geflohen, durch ganz Europa ist sie geflüchtet, um schließlich hier im XVIII. Arrondissement zu stranden, wo sie die anderen Flüchtlinge aus dem Osten wiedertraf: die Russen und Rumänen, Tschechen, Gefährten von Leo Trotzki, Intellektuelle und Handwerker. Jetzt lebt sie seit zwanzig Jahren hier, ihre Erinnerungen sind verblasst, nur ihre Hautfarbe, das kräftige Braun, ist noch wie früher.

Sie amüsiert sich über meinen schlaksigen Gang. Ihre Finger zerknüllen den Saum ihrer Schürze, die so schwarz ist wie meine Schuluniform. In jener Zeit trug die Kindheit Trauer – man schrieb das Jahr 1941, die Vorboten einer Katastrophe zeichneten sich ab.

»Worauf wartest du denn noch?«

Ich zögere. Er hat gut reden! Ich war sieben Mal dran und hab’s immer vergeigt, während Maurice in der Pause so viele Murmeln gewonnen hat, dass sie kaum in seine Hosentasche passen. Er kann kaum laufen damit, und ich habe nur noch die eine, meine Lieblingsmurmel.

»Ich will hier doch keine Wurzeln schlagen«, meckert er.

Okay. Ich wage es. Meine Hand zittert. Ich ziele … Daneben! Das Wunder ist ausgeblieben. Und jetzt müssen wir nach Hause.

Die Metzgerei Goldenberg erinnert die Leute an ein Aquarium, sagen sie. In ihrem Fenster spiegeln sich die Häuser der Rue Marcadet.

Ich sehe nach links, damit Maurice, der rechts von mir geht, nicht sieht, dass ich weine.

»Hör auf zu heulen«, sagt Maurice.

»Ich heule nicht.«

»Wenn du zur anderen Seite guckst, dann weiß ich, dass du heulst.«

Ich wische mir mit dem Ärmel übers Gesicht. Ich sage nichts und beschleunige meinen Schritt. Seit einer halben Stunde sollen wir zu Hause sein; wir kriegen bestimmt Ärger.

Endlich sind wir da. Rue de Clignancourt; hier ist das Friseurgeschäft, in großen Buchstaben steht es auf dem Schaufenster: Joffo – Friseur.

Maurice boxt mich in die Seite.

»Hier, nimm.«

Ich sehe ihn an und nehme die Murmel. Einem Bruder gibt man die Murmel zurück, die man gerade von ihm gewonnen hat.

Ich habe meine Miniatur-Welt wieder! Damit werde ich morgen auf dem Schulhof gewinnen. Ich werde Maurice alle seine Murmeln abknöpfen. Er soll sich bloß nichts einbilden auf die lächerlichen vierundzwanzig Monate, die er älter ist als ich.

Ich bin immerhin zehn Jahre alt!

Dann gehen wir in den Salon, und sogleich umfangen mich die vertrauten Düfte. Jede Kindheit hat ihre typischen Gerüche, und ich habe sie alle aufgesogen: Lavendel, Veilchen, alles, was es gab. Heute noch sehe ich die Flakons vor mir, die im Regal standen, atme den Duft der weißen Handtücher, höre das klappernde Geräusch der Scheren, Musik der Kindheit.

Es herrschte Hochbetrieb, alle Stühle waren besetzt. Duvallier zog mich wie immer zur Begrüßung am Ohr. Ich glaube, er hat sein ganzes Leben im Friseursalon verbracht. Er liebte es hier, die lebendige Atmosphäre, die quirlige Betriebsamkeit, das ganze Drumherum. Ein alter Witwer, der in seiner Dreizimmerwohnung in der vierten Etage in der Rue Simart lebte. Kein Wunder, dass er nach Zerstreuung suchte. Tagtäglich ging er die Straße hinunter und verbrachte den Nachmittag bei den Juden, er saß immer auf demselben Stuhl bei der Garderobe. Und wenn alle Kunden weg waren, erhob er sich, nahm Platz auf einem der Frisierstühle und sagte: »Rasieren, bitte.«

Und Papa rasierte ihn. Papa, der so wunderbare Geschichten erzählen konnte, Papa, der König der Straße, Papa, von den Nazis in der Gaskammer ermordet.

Wir machten unsere Hausaufgaben. Ich hatte damals keine Uhr, aber sie dürften nicht länger als fünfundvierzig Sekunden in Anspruch genommen haben. Das Lernen fiel mir leicht. Danach beschäftigten wir uns eine Zeitlang in unserem Zimmer, damit Mama oder unsere Brüder nicht auf die Idee kamen, uns zurückzuschicken, und dann gingen wir raus.

Albert war gerade dabei, einem Kunden mit lockigem Haar einen ordentlichen Bürstenschnitt zu verpassen, was seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm; dennoch drehte er sich zu uns um.

»Ihr seid schon fertig mit den Hausaufgaben?«

Papa hatte uns natürlich auch gesehen, aber glücklicherweise musste er kassieren, so dass wir uns unbemerkt davonstehlen konnten.

Das war das Schönste!

Porte de Clignancourt 1941.

Ein Paradies für Rotzlümmel. Heute gibt es sogenannte Abenteuerspielplätze, Wasserrutschen, Spielplätze, die die Motorik fördern, pädagogisch wertvoll und nach bestimmten Konzepten angelegt – ausgearbeitet von Architekten und Kinderpsychologen. Kaum vorstellbar, dass wir damals so glücklich waren in unserem Viertel. Der graue Pariser Himmel, die Straßen spärlich beleuchtet von den Lichtern der Läden, die hohen Dächer, zwischen denen hier und da ein Stück Himmel zu sehen war. Die Bürgersteige waren mit Mülleimern vollgestellt, über die man klettern konnte, die Vorbauten der Häuser boten herrliche Verstecke, und auch die Klingelschilder hatten ihren Reiz. Plötzlich auftauchende Concièrges, Pferdewagen, die durch die Straßen ratterten, die Blumenhändler, die ihre prächtige Ware feilboten, und die Terrassen der Cafés. Scheinbar endlos dehnten sich die Straßen vor uns aus, ein Gewirr, so weit das Auge reichte. Was es nicht alles zu entdecken gab! Einmal stießen wir auf einen Fluss, am Ende einer schmutzigen Straße; später erfuhren wir, dass es sich um den Canal de l’Ourcq handelte. Dort, zwischen den glänzenden Öllachen und den Stahlgittern, trieben wir uns herum, bevor wir abends wieder nach Hause gingen.

»Wo gehen wir hin?«

Maurice ist derjenige von uns beiden, der die Fragen stellt.

Ich will gerade antworten, als mein Blick auf die Hauptstraße fällt.

Da sehe ich sie kommen.

Sie sind nicht zu übersehen.

Sie sind zu zweit; groß, schwarz gekleidet, Lederkoppel.

Sie tragen Stiefel, die so glänzen, als ob sie jeden Tag gewienert würden.

Maurice dreht sich um.

»SS«, murmelt er.

Sie kommen näher, ohne sich zu beeilen, sie gehen ruhig und aufrecht, als wären sie auf einer Parade auf einem großen Platz.

»Wetten, dass sie einen neuen Haarschnitt brauchen?«

Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee zuerst hatte. Wir duckten uns vor dem Schaufenster, und die Soldaten traten ein.

Wir bogen uns vor Lachen.

Mit unseren Körpern hatten wir das kleine Schild auf dem Schaufenster verdeckt, schwarze Buchstaben auf gelbem Grund: Yiddish Gescheft.

Im Salon hätte man hören können, wie eine Nadel zu Boden fällt. Zwei SS-Totenköpfe saßen mit aneinandergepressten Knien inmitten jüdischer Kunden, um ihren Hals meinem Vater oder meinen Brüdern anzuvertrauen.

Und draußen lachten sich zwei kleine Juden kringelig.

 

 

 

 

2Henri hat Bibi Cohens Nacken von den Resten der abgeschnittenen Haare befreit, und nun geht er zur Kasse. Maurice und ich haben uns in der Nähe postiert und beobachten das Geschehen.

So ganz wohl ist uns nicht. Vielleicht sind wir doch ein bisschen zu weit gegangen, indem wir die beiden SS-Männer hierher gelotst haben.

Henri wendet sich an den Deutschen.

»Bitte sehr, Monsieur.«

Der SS-Mann nimmt auf dem Friseurstuhl Platz; seine Mütze legt er auf seinen Knien ab. Scheinbar unbeeindruckt betrachtet er sein Gesicht im Spiegel. Es macht fast den Eindruck, als gefiele ihm nicht, was er sieht.

»Ganz kurz?«

»Ja, und den Scheitel rechts, bitte.«

Mir bleibt fast die Luft weg in meiner Ecke hinter der Kasse. Ein Deutscher, der französisch spricht! Und sein Akzent ist weniger stark als der mancher Nachbarn hier im Viertel.

Ich unterziehe ihn einer gründlichen Musterung. Er trägt eine kleine glänzende Pistolentasche. Man sieht den Griff. Der Ring schaukelt hin und her, wie an meiner Spielzeugpistole.

Gleich wird ihm aufgehen, wo er sich befindet, und dann holt er seine Waffe raus und legt uns alle um, sogar Mama, die in der Küche ist und überhaupt nicht ahnt, dass zwei Nazis bei uns im Salon sind.

Duvallier liest seine Zeitung. Neben ihm sitzt Crémieux, ein Nachbar, der bei einer Versicherung arbeitet und seinen Sohn regelmäßig zu uns zum Haareschneiden mitnimmt. Ich kenne ihn von der Schule, wir spielen manchmal in der Pause zusammen. Er macht keinen Mucks; er ist klein, aber jetzt sieht er so aus, als würde er am liebsten im Erdboden versinken.

An die anderen erinnere ich mich nicht. Ich habe sie alle vergessen. Meine Angst wurde immer größer.

Ich weiß nur noch, dass Albert mit einem Kunden herumflachste, während er noch ein Duftwässerchen in die frisch gestutzten Haare gab: »Kein Zuckerschlecken der Krieg, hein

Der SS-Typ zuckte zusammen. Das war sicher das erste Mal, dass er von einem Franzosen angesprochen wurde. Diese Chance ließ er sich nicht entgehen!

»Nein, wirklich nicht.«

Sie redeten weiter, die anderen im Salon mischten sich ein, man unterhielt sich gut miteinander. Der Deutsche übersetzte für seinen Kameraden, der nur mit Nicken oder Kopfschütteln reagierte, was Henri verzweifelt auszugleichen versuchte, da er ihm gerade die Haare schnitt. Schließlich durfte er dem Herrenmenschen keinen Schmiss verpassen, die Situation war schon kompliziert genug.

Mein Vater schwitzte Blut und Wasser, und mir wurde ganz anders bei dem Gedanken an die Tracht Prügel, die mich erwartete. Sobald diese beiden Typen zur Tür hinaus waren, würde Albert mich übers Knie legen, Henri würde sich Maurice schnappen, und dann würden wir sehen, wie lange es dauerte, bis ihnen die Hände weh taten.

»Bitte sehr, Sie sind dran.«

Mein Vater übernahm den anderen SS-Mann.

Ich hatte zwar großen Bammel, musste aber trotzdem lachen, als Samuel auftauchte.

Er kam täglich vorbei, um hallo zu sagen. Er war einer der Trödler vom Flohmarkt um die Ecke und hatte sich auf Wanduhren spezialisiert. Aber man konnte auch sonst alles Mögliche bei ihm finden, Maurice und ich stöberten gern in seinen Sachen herum.

Gut gelaunt trat er ein.

»Guten Tag, zusammen!«

Papa war gerade dabei, dem SS-Mann ein Handtuch umzubinden.

Samuel konnte gerade noch die Uniform sehen.

Seine Augen wurden so kugelrund wie meine Murmeln und dreimal so groß.

»Oh, oh!«, rief er. »Oh, oh …«

»Ja«, sagte Albert, »hier ist gerade viel los.«

Samuel strich sich über den Schnurrbart.

»Schon gut«, sagte er, »ich komme ein andermal, wenn es ruhiger ist.«

»In Ordnung. Meine Verehrung an Madame.«

Samuel stand da wie vom Donner gerührt und starrte die beiden an.

»Soso«, murmelte er, »soso.«

Ein paar Sekunden stand er wie angewurzelt dort, dann verschwand er mit unsicheren Schritten.

Dreißig Sekunden später wussten es alle von der Rue Eugène-Sue bis oben nach Saint-Ouen, von den jüdischen Restaurants bis hin zu den koscheren Metzgereien, dass Vater Joffo der ausgewählte Friseur der SS war.

Der Coup des Jahrhunderts!

Währenddessen wurde im Salon munter weiter geplaudert. Auch mein Vater beteiligte sich.

Der SS-Mann hatte uns im Spiegel entdeckt.

»Sind das Ihre beiden?«

Papa lachte.

»Ja, die Lausbuben gehören zu mir.«

Der Mann nickte gerührt. Schon merkwürdig, dass zwei Männer von der SS im Jahr 1941 bei zwei jüdischen Jungs sentimental wurden.

»Dieser Krieg ist einfach furchtbar. Daran sind nur die Juden schuld.«

Mein Vater hörte nicht auf zu schneiden. Jetzt war die Schermaschine dran.

»Glauben Sie?«

Der Deutsche nickte mit Bestimmtheit.

»Ja, natürlich.«

Papa beendete seine Arbeit, sah kritisch auf das Haupt seines Kunden und kniff wie ein Künstler ein Auge zu. Mit einer einzigen Bewegung entfernte er das Handtuch und hielt ihm den Spiegel hin.

Der SS-Mann lächelte zufrieden.

»Perfekt. Vielen Dank.«

Jetzt kamen sie beide zur Kasse. Ich schmiegte mich an meinen Vater und sah zu ihm hoch; er lächelte.

Die SS-Männer setzten ihre Mützen wieder auf.

»Sind Sie zufrieden mit dem Haarschnitt?«

»Danke. Ausgezeichnet.«

»Schön. Bevor Sie nun gehen, muss ich Ihnen noch sagen, dass alle hier im Salon Juden sind.«

In seiner Jugend hatte mein Vater Theater gespielt, und wenn er uns abends Geschichten erzählte, dann waren diese immer von großem Gestikulieren à la Stanislavsky begleitet. In diesem Moment hätte kein Schauspieler auf der Bühne majestätischer wirken können als mein Vater, wie er da hinter seiner Kasse stand.

Alle im Salon hielten die Luft an. Crémieux stand als Erster auf. Er nahm die Hand seines Sohnes, der sich ebenfalls erhob. Die anderen taten es ihm gleich.

Duvallier sagte nichts. Er legte seine Zeitung weg, nahm die Pfeife aus dem Mund. Und dann verließ auch François Duvallier, Sohn von Jacques Duvallier und Noémie Machegrain, getauft in Saint-Eustache und praktizierender Katholik, seinen Platz. Nun standen wir alle.

Der SS-Mann sah meinen Vater an, ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Lippen erschienen mir allerdings eine Spur schmaler.

»Ich meinte natürlich die reichen Juden.«

Die Münzen klimperten auf die Glasplatte der Ladentheke, danach hörte man das Geräusch sich entfernender Stiefel.

Sie waren bestimmt schon die Straße hinuntergelaufen, und wir standen immer noch wie angewurzelt da. Als ob eine böse Fee mit ihrem Zauberstab vorbeigekommen wäre und uns zu Stein erstarren lassen hätte.

Irgendwann war der Zauber gebrochen, und wir setzten uns wieder hin. Wir waren wohl um die Tracht Prügel herumgekommen.

Bevor er seine Arbeit wieder aufnahm, strich mein Vater Maurice und mir über den Kopf. Ich schloss die Augen, damit Maurice nicht noch einmal an diesem Tag behaupten konnte, dass ich weinte.

»Wollt ihr wohl ruhig sein!«, ruft Maman über die Trennwand hinweg. Wie jeden Abend kontrolliert sie, ob wir ordentlich Zähne geputzt haben und Ohren sowie Fingernägel sauber und gepflegt sind. Dann schüttelt sie unsere Kopfkissen auf und deckt uns gut zu, bevor sie nach einem Gute-Nacht-Kuss aus dem Zimmer verschwindet. Und kaum ist die Tür zu, werfe ich mein Kopfkissen durch das dunkle Zimmer, treffe Maurice, der wie ein Pferdekutscher zu fluchen beginnt. Wir prügeln uns oft abends und versuchen dabei so leise wie möglich zu sein.

Normalerweise fange ich an.

Ich spitze meine Ohren. Ich höre das Rascheln der Bettwäsche auf meiner rechten Seite. Maurice ist aufgestanden, das höre ich am verräterischen Quietschen seines Betts. Gleich wird er mich anspringen. Ich spanne meine Muskeln an und kann es kaum erwarten. Ich werde es ihm schon zeigen …

Das Licht geht an.

Geblendet wirft sich Maurice wieder in sein Bett, und ich tue so, als ob ich schliefe.

Papa steht im Zimmer.

Ihm können wir nichts vormachen.

»Ich erzähle euch die Geschichte weiter.«

Etwas Besseres kann uns gar nicht passieren.

Von all meinen Kindheitserinnerungen, und meine Kindheit währte nicht allzu lang, ist diese eine der schönsten.

Manchmal kam er abends in unser Zimmer, setzte sich bei mir oder Maurice auf die Bettkante und erzählte von Großvater.

Kinder sind von Geschichten fasziniert, egal ob man ihnen vorliest oder ob man sie erzählt. Ich erlebte es anders. In meinem Kopf war mein Großvater der Held. Sein Konterfei hing in einem ovalen Rahmen bei uns im Salon.

Sein strenges Schnurrbartgesicht hatte über die Jahre eine rosa Färbung angenommen, die mich immer an Babywäsche denken ließ. Unter seinem gut geschnittenen Anzug waren kräftige Muskeln zu erahnen. Er hatte sich auf einer wacklig aussehenden Stuhllehne abgestützt, der Stuhl schien jeden Augenblick unter dem Gewicht des großen Mannes zusammenzubrechen, und blickte stolz in die Kamera.

Die Erzählungen meines Vaters sind mir teilweise konfus in Erinnerung geblieben, und wie in einem Kaleidoskop fügen sie sich immer wieder zu neuen Bildern zusammen. Ich sehe weiße Schneewüsten, verwinkelte Gassen und Städte mit goldenen Glockentürmen vor mir.

Mein Großvater hatte zwölf Söhne, er war wohlhabend und großzügig, die Bewohner von Elisabethgrad in Russisch-Bessarabein, südlich von Odessa, kannten und schätzten ihn.

Er war glücklich und Herrscher über seine Sippe, bis die Pogrome begannen.

Diese Geschichten begleiteten mich durch meine Kindheit. Gewehrkolben schlugen Türen ein, Scheiben splitterten, die Bauern versuchten verzweifelt zu fliehen, und an den Häuserwänden züngelten Flammen. Ich sah herumwirbelnde Säbelklingen, die weißen Atemwolken der heranreitenden Pferde, Sporen, die im Sonnenlicht blitzten. Und hoch über allem thronte die riesige Gestalt meines Ahns Jacob Joffo.

Mein Großvater war niemand, der zusah, wie seine Freunde abgeschlachtet wurden.

Abends zog er seinen geblümten Schlafrock aus, begab sich in den Keller, wo er sich im matten Lichtschein in einen russischen Bauern verwandelte. Er spuckte in die Hände, rieb damit über die Mauer und schwärzte sein Gesicht mit Ruß. So machte er sich auf in die Nacht, zum Kasernenviertel und in die Soldatenkneipen. Er lauerte im Schatten der Häuserwände, und sobald er drei oder vier Soldaten ausmachte, näherte er sich ihnen ohne Hektik und erschlug sie mit der Ruhe und dem Selbstverständnis eines Mannes, der Gerechtigkeit übte. Dann kehrte er zufrieden heim, auf den Lippen ein jiddisches Lied.

Als die Massaker immer mehr um sich griffen, erkannte mein Großvater, dass seine Strafexpeditionen sinnlos waren, und gab sie zu seinem großen Leidwesen auf. Er trommelte seine Familie zusammen und teilte ihnen mit, dass er es unmöglich mit den drei Bataillonen aufnehmen könne, die der Zar geschickt hatte.

Sie müssten also fliehen.

Der Rest der Geschichte erzählt von einem abenteuerlichen Treck quer durch Europa, über Rumänien, Ungarn und Deutschland, von Gewitternächten, wilden Zechgelagen, Lachen, Tränen und Tod.

Auch heute hören wir gebannt zu. Mit weit aufgerissenen Augen und Ohren, selbst Maurice mit seinen zwölf Jahren kann sich der Faszination der Erzählung nicht entziehen.

Die Lampe wirft ihre Schatten an die Wand, und wir verfolgen Papas ausschweifende Gesten an der Decke. Dort erscheinen Flüchtlinge, verschreckte Frauen, vor Angst zitternde Kinder. Sie fliehen aus düsteren, verregneten Städten mit vollkommen überladenen Fassaden, auf verschlungene Wege, über eisige Steppe führt sie ihre Flucht, bis sie endlich eines fernen Tages die letzte Grenze überqueren. Der Himmel hatte aufgeklart, und der Trupp erreichte eine von der Sonne beschienene Ebene, sie hörten Vogelgezwitscher, entdeckten leuchtend gelbe Weizenfelder, Bäume und ein hübsches Dorf mit roten Dächern und einem Glockenturm. Auf den Stühlen vor den Häusern saßen freundliche alte Frauen mit einem Dutt.

An dem größten Haus war eine Inschrift zu lesen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Da legten die Flüchtlinge ihre Bündel ab, ließen den Handwagen stehen. Die Angst verschwand aus ihren Augen; sie wussten, sie waren angekommen.

Frankreich!

Ich habe die Liebe der Franzosen zu ihrem Land stets mit einer gewissen Gleichgültigkeit betrachtet; das ist selbstverständlich, ganz normal, doch ich weiß, dass niemand Frankreich je so geliebt hat wie mein Vater, der achttausend Kilometer von Frankreich entfernt geboren wurde.

Mir ging es wie den Kindern der Lehrer zu Beginn der bekenntnisfreien staatlichen Schule, deren Besuch für alle verpflichtend war: Von klein auf musste ich endlose Vorträge über Moral, Staatsbürgerkunde und Vaterlandsliebe über mich ergehen lassen.

Jedes Mal, wenn ich mit meinem Vater an dem Rathaus des XIX. Arrondissements vorbeiging, drückte er meine Hand und fragte mich: »Weißt du, was dort steht?«

Ich hatte früh Lesen gelernt, und mit fünf Jahren konnte ich die drei Worte mühelos erkennen.

»Exakt, Joseph, ganz genau. Und solange diese Worte dort oben stehen, sind wir hier in Sicherheit.«

Das stimmte. Jedenfalls eine Zeitlang.

Eines Abends, als wir bei Tisch saßen und die Deutschen gekommen waren, fragte Maman:

»Glaubst du, dass wir jetzt Schwierigkeiten bekommen?«

Natürlich hatten wir von Hitlers Politik in Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei gehört. Überall sprach man von den unheilvollen Rassengesetzen. Meine Mutter war Russin, sie verdankte ihre Freiheit gefälschten Papieren. Sie hatte den Alptraum erlebt und teilte den Optimismus meines Vaters nicht.

Ich spülte das Geschirr, und Maurice trocknete ab. Albert und Henri räumten den Salon auf, wir hörten sie lachen.

Papa beschrieb einen großen Bogen durch den Raum, wie ein Schauspieler der Comédie française.

»Nein, absolut nicht. Nicht hier in Frankreich. Niemals.«

Doch in der letzten Zeit hatte seine Zuversicht ernsthaft Schaden genommen. Da waren zum einen die Formalitäten für den Ausweis und vor allem der Zettel, den zwei Männer in Regenmänteln kommentarlos an das Schaufenster geklebt hatten. Den Größeren konnte ich sehen, er trug eine Baskenmütze und einen Schnurbart, sie erfüllten ihren Auftrag und stahlen sich dann wie Diebe in der Nacht davon.

»Gute Nacht, meine Kinder.«

Mein Vater schloss die Tür, und wir lagen im Dunkeln. Es war kuschelig unter unseren Decken, halblaute Stimmen, die allmählich leiser wurden, drangen an unsere Ohren. Eine ganz gewöhnliche Nacht, eine Nacht im Jahr 1941.

 

 

 

 

3»Jetzt du, Jo.«

Mit meiner Jacke über dem Arm komme ich langsam näher. Es ist acht Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel. Maman sitzt am Tisch. Auf ihrem Mittelfinger steckt ein Fingerhut, ihre zitternden Hände halten schwarzes Garn. Sie lächelt, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.

Ich drehe mich um. Maurice steht unter dem Lampenschirm und rührt sich nicht. Er streicht mit der Hand über den gelben Stern, der auf den linken Kragen genäht ist:

JUDE

Er sieht mich an.

»Heul nicht, du kriegst auch einen.«

Klar kriege ich auch einen. Alle im Viertel kriegen einen. Es wird aussehen, als ob mitten im Winter plötzlich der Frühling Einzug gehalten hätte: Jeder läuft mit der dicken gelben Blüte im Knopfloch herum.

Sobald man sie besitzt, kann man nicht mehr viel machen: kein Kino, kein Zugfahren, möglicherweise darf man noch nicht einmal mehr Murmel spielen, vielleicht darf man auch nicht mehr in die Schule gehen. Gar nicht so schlecht, die Rassengesetze, jedenfalls, was das angeht.

Maman beißt den Faden ab, und schwups bin ich abgestempelt. Sie klopft kurz auf ihr Werk, wie eine Näherin das eben macht, wenn sie eine Arbeit beendet hat; da kann sie nicht aus ihrer Haut.

Als ich die Jacke anziehe, kommt Papa herein. Er hat sich gerade rasiert, das merke ich an dem Duft der Seife oder des Rasierwassers, der mit ihm hereinströmt. Er blickt auf die Sterne, dann zu seiner Frau.

»Es ist also so weit …«

Ich nehme meine Schultasche, umarme Maman und will gehen. Papa hält mich fest.

»Und, weißt du, was du zu tun hast?«

»Nein.«

»Du musst der Beste in deiner Klasse sein. Weißt du warum?«

»Damit Hitler sich so richtig ärgert«, sagt Maurice.

Papa lacht.

»Wenn du es so siehst.«

Es ist kalt draußen. Unsere Schuhe hallen auf dem Pflaster wider. Aus irgendeinem Grund drehe ich mich um. Und dort stehen sie am Fenster, unsere Eltern, und sehen uns nach. In den letzten Monaten sind sie deutlich älter geworden.

Maurice legt ein strammes Tempo vor, aus seinem Mund sieht man weiße Wölkchen aufsteigen. In seinen Taschen klappern die Murmeln.

»Müssen wir den Stern lange tragen?«

Er bleibt stehen und sieht mich an.

»Ich weiß es nicht. Stört er dich?«

Ich zucke mit den Achseln.

»Warum sollte er mich stören? Er ist nicht schwer, er stört mich nicht beim Balgen, also …«

Maurice feixt.

»Wieso legst du dann deinen Schal darüber?«

Ihm entgeht wirklich nichts.

»Ich hab ihn nicht darüber gelegt. Das war der Wind.«

Maurice lacht mich aus.

»Na klar, Kleiner, der Wind ist schuld.«

Nach zweihundert Metern sind wir am Schulhof angekommen. Die Kastanienbäume sind noch schwarz zu dieser Jahreszeit. Allerdings sind sie für mich immer schon schwarz gewesen, diese Kastanien in der Rue Ferdinand-Flocon, vielleicht leben die Bäume längst nicht mehr. So wie sie da im Asphalt eingesperrt sind mit Eisenstangen, die sie am Wachsen hindern, können sie doch gar nicht mehr gedeihen.

»He, Joffo!«

Es ist Zérati. Mein Freund seit der Vorschule. Bei den drei Hosen, die wir jedes Jahr kriegen, macht das ein gutes Dutzend, das wir hier auf der verdammten Schulbank durchgesessen haben. Er rennt, um mich einzuholen. Sein Gesicht ist unter der Mütze kaum zu sehen, nur seine Nase lugt hervor. Sie ist knallrot vor Kälte. Er hat Fäustlinge an und ist in seinen grauen Umhang eingemummelt. Ich kenne ihn im Winter gar nicht anders.

»Salut.«

»Salut.«

Mit großen Augen starrt er auf meine Brust. Ich schlucke.

Wenn man klein ist, kommt einem das Schweigen viel länger vor.

»Mensch, hast du ein Glück! Das ist ja ein tolles Ding!«

Maurice und ich lachen vor Erleichterung. Zusammen gehen wir über den Hof.

Zérati kann es kaum glauben.

»Wirklich, es sieht aus wie ein Orden. Ihr habt wirklich Schwein.«

Ich habe große Lust, ihm zu sagen, dass wir gar nichts dafür können, aber irgendwie beruhigt mich seine Reaktion. Es sieht wirklich aus wie eine Medaille. Nur dass sie nicht glänzt.

Auf dem Schulhof stehen die Schüler in Gruppen zusammen. Manche toben herum, manche reden.

»He, habt ihr Joffo gesehen?!«

Er meint es gut; er ist stolz auf mich. Die anderen sollen mich bewundern, als ob ich eine Heldentat vollbracht hätte.

Im Nu hat sich ein Kreis um mich gebildet.

Kraber lacht. Sein Gesicht leuchtet im Schein der Lampen.

»Du bist nicht der Einzige, der so ein Ding hat. In der zweiten sind auch welche.«

Hinten im Schatten bewegt sich etwas. Zwei Gestalten lösen sich daraus. Sie lachen nicht.

»Bist du etwa Jude?«

Das ist unschwer zu erkennen.

»Die Juden sind schuld am Krieg.«

Das erinnert mich an etwas, ist noch gar nicht so lange her.

Zérati ist fassungslos. Er bringt keine fünfunddreißig Kilo auf die Waage, und bei jedem Kräftemessen ist er der Letzte, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, seine Muskeln anzuspannen, da ist so gut wie nichts zu sehen. Dennoch gibt er den Großen Kontra.

»Du Idiot. Was kann Jo denn dafür, dass jetzt Krieg ist?«

»Die Juden müssen weg!«

Gemurmel.

Was ist hier eigentlich los? Ich war ein ganz normaler Junge, der mit Murmeln und seinen Spielsachen spielte, zur Schule ging, ab und zu eine Ohrfeige kassierte oder von zu Hause ausriss. Papa hatte einen Friseursalon, in dem auch meine Brüder arbeiteten, Maman kochte, an den Wochenenden fuhr Papa mit uns nach Longchamps wegen der frischen Luft und der Enten, und in der Woche gingen wir in die Schule. Das war unser Leben. Und jetzt habe ich ein Stück Stoff an meiner Jacke und bin auf einmal Jude geworden.

Jude. Was bedeutet das? Was unterscheidet einen Juden von anderen Menschen?

Ich bin wütend, vor allem weil ich das alles nicht verstehe.

Der Kreis um mich wird enger.

»Hast du seinen Zinken gesehen?«

In der Rue Marcadet hing ein buntes Plakat an einem Schuhgeschäft. Darauf war eine Spinne mit einem Männerkopf abgebildet, ein grässliches Ungeheuer, das über die Erdkugel krabbelte. Der Mund war zu einer Grimasse verzogen, Schlitzaugen, wulstige Lippen und eine Nase, so gebogen wie ein Säbel, vervollständigten das Monster. Darunter stand: Die Juden wollen die Welt beherrschen. Maurice und ich gingen oft daran vorbei, doch es ließ uns kalt, schließlich hatten wir nichts damit zu tun. Gott sei Dank war ich blond und blauäugig, und meine Nase war völlig unauffällig. Ganz einfach: Ich war kein Jude.

Und auf einmal behauptete dieser Idiot, ich hätte einen Zinken wie das Monster auf dem Plakat. Nur weil ich den Stern tragen musste.

»Was hast du gegen meine Nase? Sieht sie anders aus als gestern?«

Der Blödmann suchte immer noch nach einer Antwort, als es klingelte.

Bevor ich mich in meine Reihe stellte, sah ich Maurice am anderen Hofende; um ihn herum standen etwa ein Dutzend Schüler, und sie schienen heftig zu diskutieren. Missmutig gesellte Maurice sich in seine Reihe. Ich war froh, dass es geklingelt hatte, denn sonst hätte es womöglich eine Prügelei gegeben.

Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit trödelte ich ein bisschen und stand schließlich am Ende der Reihe.

Wie immer ging ich neben Zérati, und hinter uns achtete der alte Boulier darauf, dass alles seine Ordnung hatte.

In der ersten Stunde stand Erdkunde auf dem Plan. Ich war schon lange nicht mehr drangekommen und befürchtete, dass es nun so weit war. Bouliers Blick wanderte wie jeden Morgen über unsere Köpfe, aber er blieb nicht bei mir hängen. Schließlich musste Raffard an die Tafel, wo er sein Fett abbekam. Trotzdem hatte ich ein komisches Gefühl: Was war, wenn ich gar nicht mehr dazugehörte? Wenn ich nicht mehr zählte? Vor ein paar Stunden noch hätte ich mich darüber gefreut, aber jetzt war ich durcheinander. Was hatten sie nur alle? Entweder wollten sie mich verprügeln oder sie ließen mich links liegen.

»Nehmt eure Hefte heraus, und schreibt das Datum an den Rand. Überschrift: Der Rhonegraben.«

Ich gehorchte wie alle anderen. Doch der Gedanke daran, dass er mich nicht geprüft hatte, ließ mir keine Ruhe. Ich wollte wissen, woran ich war; ob ich noch dazugehörte oder nicht.

Der alte Boulier hatte ein Steckenpferd, und das war die Ruhe. Er liebte es, die Fliegen herumschwirren zu hören. Wenn einer flüsterte oder seinen Füller fallen ließ, hielt er sich nicht lange mit Vorhaltungen auf. Er zeigte auf den Schuldigen und fällte sein Urteil: In der nächsten Pause ab in die Ecke und dreißigmal im Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II den Satz in Zukunft weniger Lärm machen konjugieren.

Ich legte meine Tafel in eine Ecke auf meinem Tisch. Es war eine echte Schiefertafel, eine Seltenheit. Die meisten von uns hatten Papptafeln, die nicht nass werden durften und auf denen man nicht gut schreiben konnte.

Meine hatte einen Rahmen aus Holz, in dem sich ein Loch für die Schnur befand, an der ein Schwämmchen baumelte.

Ich gab ihr einen kleinen Schubs, und schon fiel sie zu Boden.

Bums.

Die Hand an der Tafel hielt inne.

Boulier sah auf die Tafel am Boden und dann zu mir. Alle starrten uns an.

Es kommt nicht oft vor, dass ein Schüler bestraft werden möchte. Vermutlich ist es noch nie vorgekommen, aber ich hätte an diesem Morgen alles dafür gegeben, wenn er mit seinem Finger auf mich gezeigt und mich zum Nachsitzen verdonnert hätte: »Nachsitzen um halb fünf.« Dann hätte ich gewusst, dass alles wie immer war, dass ich noch derselbe war, ein Schüler wie alle anderen, den man beglückwünschte, bestrafte und ausfragte.

Monsieur Boulier sah mich an, dann wurde sein Blick leer, absolut leer, als ob all seine Gedanken plötzlich weg wären. Langsam nahm er das große Lineal von seinem Schreibtisch und zeigte damit auf die Landkarte von Frankreich, die an der Wand hing. Er beschrieb eine Linie von Lyon nach Avignon, während er erklärte:

»Der Rhonegraben trennt die alten Bergketten des Zentralmassives von den jüngeren …«

Die Stunde hatte angefangen, und ich begriff, dass die Schule für mich beendet war.

Mechanisch schrieb ich die Zusammenfassung mit, und dann klingelte es zur Pause.

Zérati stupste mich an.

»Komm schon, beeil dich.«

Sobald ich auf den Schulhof trat, ging es los.

»Jude! Jude! Jude!«

Sie tanzten im Kreis um mich herum, stießen mich in den Rücken, und ich flog jemandem vor die Brust, bevor mich der nächste Stoß traf und ich rückwärts stolperte. Ich blieb stehen und durchbrach mit einem Satz die Kette. Zwanzig Meter weiter sah ich Maurice, der sich ebenfalls prügelte. Schmerzensschreie drangen zu mir, und es gelang mir, einen der Schläger zu packen.

»Jude! Jude! Jude!«

Ich versetzte ihm einen Faustschlag und kassierte einen Fußtritt. Ich schrie, und in meiner Panik dachte ich, die Schule würde über mir zusammenbrechen und mich ersticken.

Meine Uniform war zerrissen, und mein Ohr tat fürchterlich weh. Plötzlich hörte ich die Trillerpfeife der Schulhofaufsicht, und mit einem Mal war der Spuk vorbei. Ich sah alles wie durch einen Nebel.

»Was ist hier los? Macht, dass ihr reinkommt!«

Ich befühlte mein Ohr, das ziemlich geschwollen war, und hielt Ausschau nach Maurice. Er hatte sein Knie mit seinem Taschentuch verbunden, auf dem braune Flecken von getrocknetem Blut zu sehen waren. Wir konnten uns nicht unterhalten, weil wir zurück ins Klassenzimmer mussten.

Ich setzte mich auf meinen Platz. Vor mir, über der schwarzen Tafel, hing ein Porträt von Maréchal Pétain. Ehrwürdig sah er unter seiner Offiziersmütze hervor. Darunter stand ein Zitat: »Ich halte meine Versprechen, sogar die anderer.« Ich fragte mich, wem er wohl versprochen haben könnte, dass ich einen Stern tragen würde. Wozu war das gut? Und warum wollten die anderen mich verprügeln?

Das, was außer der Schläge und der Gleichgültigkeit der Erwachsenen von diesem Morgen blieb, war mein Unverständnis. Was sollte das alles? Ich sah genauso aus wie die anderen, es machte keinen Unterschied. Ich hatte gehört, dass es verschiedene Religionen gab, und in der Schule gelernt, dass deswegen Kriege geführt worden waren. Aber ich besaß keine Religion. Jeden Donnerstag ging ich mit den anderen Jungs aus dem Viertel zur Jugendgruppe zum Basketballspielen hinter der Kirche. Das machte Spaß, und danach gab es beim Priester eine Brotzeit: Graubrot mit Schokolade – Besatzungsschokolade mit einer weißen Cremefüllung, nicht sehr süß und ein bisschen flüssig. Manchmal legte er getrocknete Bananenstückchen dazu oder einen Apfel. Maman war beruhigt, uns dort zu wissen, es war ihr lieber, als wenn wir uns auf der Straße herumtrieben, mit den Händlern von Saint-Ouen scherzten oder aus abgerissenen Häusern Holz klauten, um uns Hütten oder Waffen zu bauen.

Was war nur der Unterschied?

Halb zwölf.

Mein Ohr schmerzt immer noch ziemlich. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. Es ist kalt, Maurice wartet draußen auf mich. Sein verbundenes Knie hat aufgehört zu bluten.

Wir sprechen kein Wort, es ist nicht nötig.

Gemeinsam laufen wir die Straße hinunter.

»Jo!«

Schritte. Es ist Zérati.

Er ist etwas aus der Puste. In der Hand hält er ein zugeknotetes Stoffsäckchen, das er mir reicht.

»Ich tausch mit dir.«

Ich verstehe ihn nicht sofort.

»Gegen was?«

Er deutet mit seinem Zeigefinger auf meinen Kragen.

»Gegen deinen Stern.«

Maurice schweigt. Er schlägt die Hacken gegeneinander.

Die Entscheidung fällt mir nicht schwer.

»Einverstanden.«

Der Stern ist nicht sehr fest angenäht. Ich ziehe einmal fest daran, und schon halte ich ihn in meiner Hand.

»Bitte sehr.«

Zératis Augen leuchten.

Mein Stern. Gegen ein Säckchen Murmeln.

Das erste Geschäft meines Lebens.

Papa hängt seinen Kittel an die Garderobe hinter der Küchentür. Wir essen nicht mehr im Esszimmer, um Heizkosten zu sparen. Bevor wir uns hinsetzen, unterzieht er uns einer gründlichen Musterung. Mein geschwollenes Ohr, meine kaputte Uniform, das verletzte Knie von Maurice und sein Auge, das sich allmählich zu einem passablen Veilchen verfärbt.

Er schöpft Nudeln aus der Schüssel, reißt sich zusammen und zwingt sich zu einem Lächeln.

Er kaut, schluckt schwer und sieht Maman an, deren Hände zittern.

»Keine Schule heute Nachmittag.«

Uns fällt fast der Löffel aus der Hand. Ich fasse mich als Erster.

»Wirklich? Was ist mit meiner Mappe?«

Papa winkt ab.

»Ich hole sie. Keine Sorge. Heute Nachmittag habt ihr frei, aber seid zurück, bevor es dunkel wird; ich muss euch etwas sagen.«

Ich erinnere mich gut an die Freude und Erleichterung, die ich empfand.

Ein ganzer Nachmittag für uns! Und die anderen mussten arbeiten! Das geschah ihnen recht, schließlich hatten sie uns ausgeschlossen. Aber jetzt lachten wir, während sie über Rechenaufgaben und Grammatik brüteten und wir die Freiheit der Straße genießen durften, diese süße Freiheit der Straßen, die unser Paradies waren.

Wir rannten hinauf zu Sacré-Cœur. Die Treppen nach oben waren fürchterlich, dafür konnten wir auf den Geländern nach unten rutschen, mit brennendem Hintern auf kaltem Metall. Um uns herum Plätze, Bäume und ausgehungerte Katzen, die die Concièrges noch nicht zu falschem Hasen verarbeitet hatten.

Wir strolchten dort herum, zogen durch die leeren Straßen, in denen Fahrräder fuhren und ab und zu eines der seltenen gasbetriebenen Taxis. Vor Sacré-Cœur standen deutsche Offiziere in ihren langen Regenmänteln. Sie lachten und machten Fotos. Wir schlugen einen Haken um sie und rannten um die Wette nach Hause.

Am Boulevard Magenta halten wir inne, um Luft zu holen. Wir setzen uns in eine Toreinfahrt. Maurice tastet nach seinem Verband, den Maman erneuert hatte.

»Machen wir heute Nacht einen Bruch?«

Ich nicke.

»Okay.«

Manchmal überkam es uns einfach. Wenn alle schliefen, standen wir auf, öffneten leise die Zimmertür und stahlen uns davon. Wir schlichen barfuß hinunter in den Salon, damit wir auf der Treppe kein Geräusch verursachten. Das war gar nicht so leicht: Man balancierte vorsichtig auf Zehenspitzen hinunter. Dann hangelten wir uns an den Frisierstühlen entlang. Jetzt kam das Beste. Die Eisengitter vor den Fenstern ließen keinen Lichtstrahl herein. In der Finsternis tasteten meine Finger über die Ladentheke, fanden die Päckchen mit den Rasierklingen, das Schälchen für das Wechselgeld, bis wir endlich an die Schublade kamen. Darin lagen immer ein paar Münzen. Die nahmen wir heraus und verschwanden wieder in unserem Zimmer. Als Kinder hatten wir immer Lakritz. Die schwarzen Rollen klebten an unseren Zähnen und sorgten für Verstopfung.

Heute Nacht würden wir also wieder zu Einbrechern.

Auf unseren Streifzügen vergaßen wir die Ereignisse des Vormittags vollkommen. Wir ließen uns durch die Stadt treiben und rauchten Eukalyptuszigaretten.

Es war genial. In einem Land, in dem Tabak rationiert war, ging ich in die Apotheke und sah den Apotheker mit großen Augen an:

»Bitte ein Päckchen Eukalyptuszigaretten für meinen Großvater. Er hat Asthma.«

Manchmal klappte es nicht gleich, aber normalerweise funktionierte es. Triumphierend verließ ich die Apotheke, und an der nächsten Ecke rissen wir die Schachtel auf. Dann stolzierten wir mit der Kippe im Mundwinkel wie die Könige umher, die Hände in den Hosentaschen, eingehüllt in Tabakwolken. Die Erwachsenen auf der Straße bedachten uns mit finsteren Blicken. Häufig gaben wir Duvallier, Bibi Cohen und den Händlern welche ab, aber nach dem ersten Zug wich ihre Freude bald einer gewissen Enttäuschung. Es schmeckte einfach scheußlich. Vermutlich mag ich wegen der Eukalyptuszigaretten bis heute keine »echten« Zigaretten.

Wir standen oben auf dem Hügel von Montmartre.

»Lass uns gehen, es wird bald dunkel.«

Maurice hatte recht. Hinter der Kirche zog bereits die Abenddämmerung auf.

Zu unseren Füßen lag die Stadt und färbte sich allmählich grau.

Einen Moment blieben wir schweigend stehen. Ich liebte den Blick über die Dächer, die mächtigen Bauten, die in der Ferne verschwammen. Damals wusste ich noch nicht, dass ich dieses vertraute Bild nicht wiedersehen würde. Ich ahnte nicht, dass ich in wenigen Stunden kein Kind mehr sein würde.

Der Salon in der Rue de Clignancourt war geschlossen. Viele unserer Freunde waren in der letzten Zeit weggegangen.

Papa und Maman unterhielten sich leise, und ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf. Namen von Nachbarn und Stammkunden fielen, die man auch abends im Café getroffen hatte, sie waren fast alle weg.

Und andere Worte hörte ich: Ausweis, Kommandantur, Demarkationslinie …, auch Städtenamen fielen wie Marseille, Nizza, Casablanca.

NIEMALS

Wir nickten gleichzeitig.

»Auch eurem besten Freund dürft ihr es nicht sagen, auch nicht ins Ohr flüstern, ihr streitet es immer ab. Hört ihr: Immer. Joseph, komm einmal her.«

Ich stehe auf und gehe zu ihm. Ich erkenne ihn kaum wieder.

»Bist du ein Jude, Joseph?«

»Nein.«

Er schlägt mir ins Gesicht. Es knallt. Papa hat mich noch nie geschlagen. Es ist das erste Mal.

»Lüg mich nicht an. Bist du ein Jude?«

»Nein.«

Unwillkürlich habe ich geschrien, es kam aus tiefster Überzeugung.

Mein Vater steht auf.

»Nun wisst ihr Bescheid.«

Meine Wange brannte noch, aber von Anfang an hatte mir eine Frage auf den Lippen gelegen. Ich wollte unbedingt die Antwort hören.

»Ich möchte dich noch etwas fragen. Was genau ist denn ein Jude?«

Nun schaltete Papa die kleine Lampe mit dem grünen Schirm ein, die auf Maurice’ Nachttisch stand. Sie gefiel mir gut, ihr Licht war etwas diffus und sehr angenehm; ich sollte sie nie wieder sehen.

Papa kratzte sich am Kopf.

»Ich muss gestehen, mein Sohn, so richtig weiß ich das auch nicht.«

Wir sahen ihn an, und er schien zu spüren, dass er uns eine Erklärung schuldete, damit wir nicht glaubten, er wolle einen Rückzieher machen.

»Früher lebten wir in einem Land, aus dem wir vertrieben wurden. Also flohen wir. Manchmal wiederholt sich die Geschichte. So wie jetzt. Sie jagen uns wieder, also heißt es, die Sachen packen und verschwinden. Sich verstecken, bis es vorbei ist. Aber jetzt lasst uns essen, und danach müsst ihr euch sofort auf den Weg machen.«

Ich weiß nicht mehr, was wir gegessen haben; nur noch an das Klappern des Bestecks erinnere ich mich, an das Gemurmel bei Tisch, wenn jemand um das Salz oder ein Stück Brot bat. Auf einem Stuhl an der Tür lagen unsere prallen Taschen mit Wäsche, Toilettensachen und frischen Taschentüchern.

Die Uhr schlug siebenmal.

»Nun«, sagte Papa. »Ihr habt alles. In der Tasche mit dem Reißverschluss findet ihr einen Zettel mit der genauen Adresse von Henri und Albert. Ich gebe euch die Billets für die Metro. Nun verabschiedet euch von Maman.«

Maman half uns in die Mäntel, band uns den Schal um und zog uns die Socken noch einmal hoch. Sie lächelte dabei die ganze Zeit, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen. Ich spürte ihre nassen Wangen an meiner Stirn, ihre salzigen Lippen.

Papa zog sie hoch und lachte wieder gekünstelt. Nie hatte ich so ein unechtes Lachen gehört.

»Was ist denn?«, rief er. »Man könnte ja meinen, dass sie für immer weggehen, und sie sind doch keine Babys mehr. Nun geht, meine Kinder, auf Wiedersehen.«

Ein flüchtiger Kuss, und dann schob er uns zur Treppe, meine Tasche hing schwer an meinem Arm, und Maurice öffnete die Tür in die Dunkelheit.

Meine Eltern waren oben geblieben. Viel später erst habe ich erfahren, dass mein Vater oben stand und sich mit geschlossenen Augen hin- und herwiegte in seinem unermesslichen Schmerz.

In dieser finsteren Nacht – längst war die Ausgangssperre verhängt worden und die Straßen vollkommen verlassen – tauchten wir ein in die Dunkelheit. Es war das Ende unserer Kindheit.