3»Jetzt du, Jo.«
Mit meiner Jacke über dem Arm komme ich langsam näher. Es ist acht Uhr morgens, draußen ist es noch dunkel. Maman sitzt am Tisch. Auf ihrem Mittelfinger steckt ein Fingerhut, ihre zitternden Hände halten schwarzes Garn. Sie lächelt, aber das Lächeln erreicht ihre Augen nicht.
Ich drehe mich um. Maurice steht unter dem Lampenschirm und rührt sich nicht. Er streicht mit der Hand über den gelben Stern, der auf den linken Kragen genäht ist:
JUDE
Er sieht mich an.
»Heul nicht, du kriegst auch einen.«
Klar kriege ich auch einen. Alle im Viertel kriegen einen. Es wird aussehen, als ob mitten im Winter plötzlich der Frühling Einzug gehalten hätte: Jeder läuft mit der dicken gelben Blüte im Knopfloch herum.
Sobald man sie besitzt, kann man nicht mehr viel machen: kein Kino, kein Zugfahren, möglicherweise darf man noch nicht einmal mehr Murmel spielen, vielleicht darf man auch nicht mehr in die Schule gehen. Gar nicht so schlecht, die Rassengesetze, jedenfalls, was das angeht.
Maman beißt den Faden ab, und schwups bin ich abgestempelt. Sie klopft kurz auf ihr Werk, wie eine Näherin das eben macht, wenn sie eine Arbeit beendet hat; da kann sie nicht aus ihrer Haut.
Als ich die Jacke anziehe, kommt Papa herein. Er hat sich gerade rasiert, das merke ich an dem Duft der Seife oder des Rasierwassers, der mit ihm hereinströmt. Er blickt auf die Sterne, dann zu seiner Frau.
»Es ist also so weit …«
Ich nehme meine Schultasche, umarme Maman und will gehen. Papa hält mich fest.
»Und, weißt du, was du zu tun hast?«
»Nein.«
»Du musst der Beste in deiner Klasse sein. Weißt du warum?«
»Damit Hitler sich so richtig ärgert«, sagt Maurice.
Papa lacht.
»Wenn du es so siehst.«
Es ist kalt draußen. Unsere Schuhe hallen auf dem Pflaster wider. Aus irgendeinem Grund drehe ich mich um. Und dort stehen sie am Fenster, unsere Eltern, und sehen uns nach. In den letzten Monaten sind sie deutlich älter geworden.
Maurice legt ein strammes Tempo vor, aus seinem Mund sieht man weiße Wölkchen aufsteigen. In seinen Taschen klappern die Murmeln.
»Müssen wir den Stern lange tragen?«
Er bleibt stehen und sieht mich an.
»Ich weiß es nicht. Stört er dich?«
Ich zucke mit den Achseln.
»Warum sollte er mich stören? Er ist nicht schwer, er stört mich nicht beim Balgen, also …«
Maurice feixt.
»Wieso legst du dann deinen Schal darüber?«
Ihm entgeht wirklich nichts.
»Ich hab ihn nicht darüber gelegt. Das war der Wind.«
Maurice lacht mich aus.
»Na klar, Kleiner, der Wind ist schuld.«
Nach zweihundert Metern sind wir am Schulhof angekommen. Die Kastanienbäume sind noch schwarz zu dieser Jahreszeit. Allerdings sind sie für mich immer schon schwarz gewesen, diese Kastanien in der Rue Ferdinand-Flocon, vielleicht leben die Bäume längst nicht mehr. So wie sie da im Asphalt eingesperrt sind mit Eisenstangen, die sie am Wachsen hindern, können sie doch gar nicht mehr gedeihen.
»He, Joffo!«
Es ist Zérati. Mein Freund seit der Vorschule. Bei den drei Hosen, die wir jedes Jahr kriegen, macht das ein gutes Dutzend, das wir hier auf der verdammten Schulbank durchgesessen haben. Er rennt, um mich einzuholen. Sein Gesicht ist unter der Mütze kaum zu sehen, nur seine Nase lugt hervor. Sie ist knallrot vor Kälte. Er hat Fäustlinge an und ist in seinen grauen Umhang eingemummelt. Ich kenne ihn im Winter gar nicht anders.
»Salut.«
»Salut.«
Mit großen Augen starrt er auf meine Brust. Ich schlucke.
Wenn man klein ist, kommt einem das Schweigen viel länger vor.
»Mensch, hast du ein Glück! Das ist ja ein tolles Ding!«
Maurice und ich lachen vor Erleichterung. Zusammen gehen wir über den Hof.
Zérati kann es kaum glauben.
»Wirklich, es sieht aus wie ein Orden. Ihr habt wirklich Schwein.«
Ich habe große Lust, ihm zu sagen, dass wir gar nichts dafür können, aber irgendwie beruhigt mich seine Reaktion. Es sieht wirklich aus wie eine Medaille. Nur dass sie nicht glänzt.
Auf dem Schulhof stehen die Schüler in Gruppen zusammen. Manche toben herum, manche reden.
»He, habt ihr Joffo gesehen?!«
Er meint es gut; er ist stolz auf mich. Die anderen sollen mich bewundern, als ob ich eine Heldentat vollbracht hätte.
Im Nu hat sich ein Kreis um mich gebildet.
Kraber lacht. Sein Gesicht leuchtet im Schein der Lampen.
»Du bist nicht der Einzige, der so ein Ding hat. In der zweiten sind auch welche.«
Hinten im Schatten bewegt sich etwas. Zwei Gestalten lösen sich daraus. Sie lachen nicht.
»Bist du etwa Jude?«
Das ist unschwer zu erkennen.
»Die Juden sind schuld am Krieg.«
Das erinnert mich an etwas, ist noch gar nicht so lange her.
Zérati ist fassungslos. Er bringt keine fünfunddreißig Kilo auf die Waage, und bei jedem Kräftemessen ist er der Letzte, auch wenn er sich noch so sehr anstrengt, seine Muskeln anzuspannen, da ist so gut wie nichts zu sehen. Dennoch gibt er den Großen Kontra.
»Du Idiot. Was kann Jo denn dafür, dass jetzt Krieg ist?«
»Die Juden müssen weg!«
Gemurmel.
Was ist hier eigentlich los? Ich war ein ganz normaler Junge, der mit Murmeln und seinen Spielsachen spielte, zur Schule ging, ab und zu eine Ohrfeige kassierte oder von zu Hause ausriss. Papa hatte einen Friseursalon, in dem auch meine Brüder arbeiteten, Maman kochte, an den Wochenenden fuhr Papa mit uns nach Longchamps wegen der frischen Luft und der Enten, und in der Woche gingen wir in die Schule. Das war unser Leben. Und jetzt habe ich ein Stück Stoff an meiner Jacke und bin auf einmal Jude geworden.
Jude. Was bedeutet das? Was unterscheidet einen Juden von anderen Menschen?
Ich bin wütend, vor allem weil ich das alles nicht verstehe.
Der Kreis um mich wird enger.
»Hast du seinen Zinken gesehen?«
In der Rue Marcadet hing ein buntes Plakat an einem Schuhgeschäft. Darauf war eine Spinne mit einem Männerkopf abgebildet, ein grässliches Ungeheuer, das über die Erdkugel krabbelte. Der Mund war zu einer Grimasse verzogen, Schlitzaugen, wulstige Lippen und eine Nase, so gebogen wie ein Säbel, vervollständigten das Monster. Darunter stand: Die Juden wollen die Welt beherrschen. Maurice und ich gingen oft daran vorbei, doch es ließ uns kalt, schließlich hatten wir nichts damit zu tun. Gott sei Dank war ich blond und blauäugig, und meine Nase war völlig unauffällig. Ganz einfach: Ich war kein Jude.
Und auf einmal behauptete dieser Idiot, ich hätte einen Zinken wie das Monster auf dem Plakat. Nur weil ich den Stern tragen musste.
»Was hast du gegen meine Nase? Sieht sie anders aus als gestern?«
Der Blödmann suchte immer noch nach einer Antwort, als es klingelte.
Bevor ich mich in meine Reihe stellte, sah ich Maurice am anderen Hofende; um ihn herum standen etwa ein Dutzend Schüler, und sie schienen heftig zu diskutieren. Missmutig gesellte Maurice sich in seine Reihe. Ich war froh, dass es geklingelt hatte, denn sonst hätte es womöglich eine Prügelei gegeben.
Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit trödelte ich ein bisschen und stand schließlich am Ende der Reihe.
Wie immer ging ich neben Zérati, und hinter uns achtete der alte Boulier darauf, dass alles seine Ordnung hatte.
In der ersten Stunde stand Erdkunde auf dem Plan. Ich war schon lange nicht mehr drangekommen und befürchtete, dass es nun so weit war. Bouliers Blick wanderte wie jeden Morgen über unsere Köpfe, aber er blieb nicht bei mir hängen. Schließlich musste Raffard an die Tafel, wo er sein Fett abbekam. Trotzdem hatte ich ein komisches Gefühl: Was war, wenn ich gar nicht mehr dazugehörte? Wenn ich nicht mehr zählte? Vor ein paar Stunden noch hätte ich mich darüber gefreut, aber jetzt war ich durcheinander. Was hatten sie nur alle? Entweder wollten sie mich verprügeln oder sie ließen mich links liegen.
»Nehmt eure Hefte heraus, und schreibt das Datum an den Rand. Überschrift: Der Rhonegraben.«
Ich gehorchte wie alle anderen. Doch der Gedanke daran, dass er mich nicht geprüft hatte, ließ mir keine Ruhe. Ich wollte wissen, woran ich war; ob ich noch dazugehörte oder nicht.
Der alte Boulier hatte ein Steckenpferd, und das war die Ruhe. Er liebte es, die Fliegen herumschwirren zu hören. Wenn einer flüsterte oder seinen Füller fallen ließ, hielt er sich nicht lange mit Vorhaltungen auf. Er zeigte auf den Schuldigen und fällte sein Urteil: In der nächsten Pause ab in die Ecke und dreißigmal im Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II den Satz in Zukunft weniger Lärm machen konjugieren.
Ich legte meine Tafel in eine Ecke auf meinem Tisch. Es war eine echte Schiefertafel, eine Seltenheit. Die meisten von uns hatten Papptafeln, die nicht nass werden durften und auf denen man nicht gut schreiben konnte.
Meine hatte einen Rahmen aus Holz, in dem sich ein Loch für die Schnur befand, an der ein Schwämmchen baumelte.
Ich gab ihr einen kleinen Schubs, und schon fiel sie zu Boden.
Bums.
Die Hand an der Tafel hielt inne.
Boulier sah auf die Tafel am Boden und dann zu mir. Alle starrten uns an.
Es kommt nicht oft vor, dass ein Schüler bestraft werden möchte. Vermutlich ist es noch nie vorgekommen, aber ich hätte an diesem Morgen alles dafür gegeben, wenn er mit seinem Finger auf mich gezeigt und mich zum Nachsitzen verdonnert hätte: »Nachsitzen um halb fünf.« Dann hätte ich gewusst, dass alles wie immer war, dass ich noch derselbe war, ein Schüler wie alle anderen, den man beglückwünschte, bestrafte und ausfragte.
Monsieur Boulier sah mich an, dann wurde sein Blick leer, absolut leer, als ob all seine Gedanken plötzlich weg wären. Langsam nahm er das große Lineal von seinem Schreibtisch und zeigte damit auf die Landkarte von Frankreich, die an der Wand hing. Er beschrieb eine Linie von Lyon nach Avignon, während er erklärte:
»Der Rhonegraben trennt die alten Bergketten des Zentralmassives von den jüngeren …«
Die Stunde hatte angefangen, und ich begriff, dass die Schule für mich beendet war.
Mechanisch schrieb ich die Zusammenfassung mit, und dann klingelte es zur Pause.
Zérati stupste mich an.
»Komm schon, beeil dich.«
Sobald ich auf den Schulhof trat, ging es los.
»Jude! Jude! Jude!«
Sie tanzten im Kreis um mich herum, stießen mich in den Rücken, und ich flog jemandem vor die Brust, bevor mich der nächste Stoß traf und ich rückwärts stolperte. Ich blieb stehen und durchbrach mit einem Satz die Kette. Zwanzig Meter weiter sah ich Maurice, der sich ebenfalls prügelte. Schmerzensschreie drangen zu mir, und es gelang mir, einen der Schläger zu packen.
»Jude! Jude! Jude!«
Ich versetzte ihm einen Faustschlag und kassierte einen Fußtritt. Ich schrie, und in meiner Panik dachte ich, die Schule würde über mir zusammenbrechen und mich ersticken.
Meine Uniform war zerrissen, und mein Ohr tat fürchterlich weh. Plötzlich hörte ich die Trillerpfeife der Schulhofaufsicht, und mit einem Mal war der Spuk vorbei. Ich sah alles wie durch einen Nebel.
»Was ist hier los? Macht, dass ihr reinkommt!«
Ich befühlte mein Ohr, das ziemlich geschwollen war, und hielt Ausschau nach Maurice. Er hatte sein Knie mit seinem Taschentuch verbunden, auf dem braune Flecken von getrocknetem Blut zu sehen waren. Wir konnten uns nicht unterhalten, weil wir zurück ins Klassenzimmer mussten.
Ich setzte mich auf meinen Platz. Vor mir, über der schwarzen Tafel, hing ein Porträt von Maréchal Pétain. Ehrwürdig sah er unter seiner Offiziersmütze hervor. Darunter stand ein Zitat: »Ich halte meine Versprechen, sogar die anderer.« Ich fragte mich, wem er wohl versprochen haben könnte, dass ich einen Stern tragen würde. Wozu war das gut? Und warum wollten die anderen mich verprügeln?
Das, was außer der Schläge und der Gleichgültigkeit der Erwachsenen von diesem Morgen blieb, war mein Unverständnis. Was sollte das alles? Ich sah genauso aus wie die anderen, es machte keinen Unterschied. Ich hatte gehört, dass es verschiedene Religionen gab, und in der Schule gelernt, dass deswegen Kriege geführt worden waren. Aber ich besaß keine Religion. Jeden Donnerstag ging ich mit den anderen Jungs aus dem Viertel zur Jugendgruppe zum Basketballspielen hinter der Kirche. Das machte Spaß, und danach gab es beim Priester eine Brotzeit: Graubrot mit Schokolade – Besatzungsschokolade mit einer weißen Cremefüllung, nicht sehr süß und ein bisschen flüssig. Manchmal legte er getrocknete Bananenstückchen dazu oder einen Apfel. Maman war beruhigt, uns dort zu wissen, es war ihr lieber, als wenn wir uns auf der Straße herumtrieben, mit den Händlern von Saint-Ouen scherzten oder aus abgerissenen Häusern Holz klauten, um uns Hütten oder Waffen zu bauen.
Was war nur der Unterschied?
Halb zwölf.
Mein Ohr schmerzt immer noch ziemlich. Ich ziehe mich an und gehe hinaus. Es ist kalt, Maurice wartet draußen auf mich. Sein verbundenes Knie hat aufgehört zu bluten.
Wir sprechen kein Wort, es ist nicht nötig.
Gemeinsam laufen wir die Straße hinunter.
»Jo!«
Schritte. Es ist Zérati.
Er ist etwas aus der Puste. In der Hand hält er ein zugeknotetes Stoffsäckchen, das er mir reicht.
»Ich tausch mit dir.«
Ich verstehe ihn nicht sofort.
»Gegen was?«
Er deutet mit seinem Zeigefinger auf meinen Kragen.
»Gegen deinen Stern.«
Maurice schweigt. Er schlägt die Hacken gegeneinander.
Die Entscheidung fällt mir nicht schwer.
»Einverstanden.«
Der Stern ist nicht sehr fest angenäht. Ich ziehe einmal fest daran, und schon halte ich ihn in meiner Hand.
»Bitte sehr.«
Zératis Augen leuchten.
Mein Stern. Gegen ein Säckchen Murmeln.
Das erste Geschäft meines Lebens.
Papa hängt seinen Kittel an die Garderobe hinter der Küchentür. Wir essen nicht mehr im Esszimmer, um Heizkosten zu sparen. Bevor wir uns hinsetzen, unterzieht er uns einer gründlichen Musterung. Mein geschwollenes Ohr, meine kaputte Uniform, das verletzte Knie von Maurice und sein Auge, das sich allmählich zu einem passablen Veilchen verfärbt.
Er schöpft Nudeln aus der Schüssel, reißt sich zusammen und zwingt sich zu einem Lächeln.
Er kaut, schluckt schwer und sieht Maman an, deren Hände zittern.
»Keine Schule heute Nachmittag.«
Uns fällt fast der Löffel aus der Hand. Ich fasse mich als Erster.
»Wirklich? Was ist mit meiner Mappe?«
Papa winkt ab.
»Ich hole sie. Keine Sorge. Heute Nachmittag habt ihr frei, aber seid zurück, bevor es dunkel wird; ich muss euch etwas sagen.«
Ich erinnere mich gut an die Freude und Erleichterung, die ich empfand.
Ein ganzer Nachmittag für uns! Und die anderen mussten arbeiten! Das geschah ihnen recht, schließlich hatten sie uns ausgeschlossen. Aber jetzt lachten wir, während sie über Rechenaufgaben und Grammatik brüteten und wir die Freiheit der Straße genießen durften, diese süße Freiheit der Straßen, die unser Paradies waren.
Wir rannten hinauf zu Sacré-Cœur. Die Treppen nach oben waren fürchterlich, dafür konnten wir auf den Geländern nach unten rutschen, mit brennendem Hintern auf kaltem Metall. Um uns herum Plätze, Bäume und ausgehungerte Katzen, die die Concièrges noch nicht zu falschem Hasen verarbeitet hatten.
Wir strolchten dort herum, zogen durch die leeren Straßen, in denen Fahrräder fuhren und ab und zu eines der seltenen gasbetriebenen Taxis. Vor Sacré-Cœur standen deutsche Offiziere in ihren langen Regenmänteln. Sie lachten und machten Fotos. Wir schlugen einen Haken um sie und rannten um die Wette nach Hause.
Am Boulevard Magenta halten wir inne, um Luft zu holen. Wir setzen uns in eine Toreinfahrt. Maurice tastet nach seinem Verband, den Maman erneuert hatte.
»Machen wir heute Nacht einen Bruch?«
Ich nicke.
»Okay.«
Manchmal überkam es uns einfach. Wenn alle schliefen, standen wir auf, öffneten leise die Zimmertür und stahlen uns davon. Wir schlichen barfuß hinunter in den Salon, damit wir auf der Treppe kein Geräusch verursachten. Das war gar nicht so leicht: Man balancierte vorsichtig auf Zehenspitzen hinunter. Dann hangelten wir uns an den Frisierstühlen entlang. Jetzt kam das Beste. Die Eisengitter vor den Fenstern ließen keinen Lichtstrahl herein. In der Finsternis tasteten meine Finger über die Ladentheke, fanden die Päckchen mit den Rasierklingen, das Schälchen für das Wechselgeld, bis wir endlich an die Schublade kamen. Darin lagen immer ein paar Münzen. Die nahmen wir heraus und verschwanden wieder in unserem Zimmer. Als Kinder hatten wir immer Lakritz. Die schwarzen Rollen klebten an unseren Zähnen und sorgten für Verstopfung.
Heute Nacht würden wir also wieder zu Einbrechern.
Auf unseren Streifzügen vergaßen wir die Ereignisse des Vormittags vollkommen. Wir ließen uns durch die Stadt treiben und rauchten Eukalyptuszigaretten.
Es war genial. In einem Land, in dem Tabak rationiert war, ging ich in die Apotheke und sah den Apotheker mit großen Augen an:
»Bitte ein Päckchen Eukalyptuszigaretten für meinen Großvater. Er hat Asthma.«
Manchmal klappte es nicht gleich, aber normalerweise funktionierte es. Triumphierend verließ ich die Apotheke, und an der nächsten Ecke rissen wir die Schachtel auf. Dann stolzierten wir mit der Kippe im Mundwinkel wie die Könige umher, die Hände in den Hosentaschen, eingehüllt in Tabakwolken. Die Erwachsenen auf der Straße bedachten uns mit finsteren Blicken. Häufig gaben wir Duvallier, Bibi Cohen und den Händlern welche ab, aber nach dem ersten Zug wich ihre Freude bald einer gewissen Enttäuschung. Es schmeckte einfach scheußlich. Vermutlich mag ich wegen der Eukalyptuszigaretten bis heute keine »echten« Zigaretten.
Wir standen oben auf dem Hügel von Montmartre.
»Lass uns gehen, es wird bald dunkel.«
Maurice hatte recht. Hinter der Kirche zog bereits die Abenddämmerung auf.
Zu unseren Füßen lag die Stadt und färbte sich allmählich grau.
Einen Moment blieben wir schweigend stehen. Ich liebte den Blick über die Dächer, die mächtigen Bauten, die in der Ferne verschwammen. Damals wusste ich noch nicht, dass ich dieses vertraute Bild nicht wiedersehen würde. Ich ahnte nicht, dass ich in wenigen Stunden kein Kind mehr sein würde.
Der Salon in der Rue de Clignancourt war geschlossen. Viele unserer Freunde waren in der letzten Zeit weggegangen.
Papa und Maman unterhielten sich leise, und ich schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf. Namen von Nachbarn und Stammkunden fielen, die man auch abends im Café getroffen hatte, sie waren fast alle weg.
Und andere Worte hörte ich: Ausweis, Kommandantur, Demarkationslinie …, auch Städtenamen fielen wie Marseille, Nizza, Casablanca.
NIEMALS
Wir nickten gleichzeitig.
»Auch eurem besten Freund dürft ihr es nicht sagen, auch nicht ins Ohr flüstern, ihr streitet es immer ab. Hört ihr: Immer. Joseph, komm einmal her.«
Ich stehe auf und gehe zu ihm. Ich erkenne ihn kaum wieder.
»Bist du ein Jude, Joseph?«
»Nein.«
Er schlägt mir ins Gesicht. Es knallt. Papa hat mich noch nie geschlagen. Es ist das erste Mal.
»Lüg mich nicht an. Bist du ein Jude?«
»Nein.«
Unwillkürlich habe ich geschrien, es kam aus tiefster Überzeugung.
Mein Vater steht auf.
»Nun wisst ihr Bescheid.«
Meine Wange brannte noch, aber von Anfang an hatte mir eine Frage auf den Lippen gelegen. Ich wollte unbedingt die Antwort hören.
»Ich möchte dich noch etwas fragen. Was genau ist denn ein Jude?«
Nun schaltete Papa die kleine Lampe mit dem grünen Schirm ein, die auf Maurice’ Nachttisch stand. Sie gefiel mir gut, ihr Licht war etwas diffus und sehr angenehm; ich sollte sie nie wieder sehen.
Papa kratzte sich am Kopf.
»Ich muss gestehen, mein Sohn, so richtig weiß ich das auch nicht.«
Wir sahen ihn an, und er schien zu spüren, dass er uns eine Erklärung schuldete, damit wir nicht glaubten, er wolle einen Rückzieher machen.
»Früher lebten wir in einem Land, aus dem wir vertrieben wurden. Also flohen wir. Manchmal wiederholt sich die Geschichte. So wie jetzt. Sie jagen uns wieder, also heißt es, die Sachen packen und verschwinden. Sich verstecken, bis es vorbei ist. Aber jetzt lasst uns essen, und danach müsst ihr euch sofort auf den Weg machen.«
Ich weiß nicht mehr, was wir gegessen haben; nur noch an das Klappern des Bestecks erinnere ich mich, an das Gemurmel bei Tisch, wenn jemand um das Salz oder ein Stück Brot bat. Auf einem Stuhl an der Tür lagen unsere prallen Taschen mit Wäsche, Toilettensachen und frischen Taschentüchern.
Die Uhr schlug siebenmal.
»Nun«, sagte Papa. »Ihr habt alles. In der Tasche mit dem Reißverschluss findet ihr einen Zettel mit der genauen Adresse von Henri und Albert. Ich gebe euch die Billets für die Metro. Nun verabschiedet euch von Maman.«
Maman half uns in die Mäntel, band uns den Schal um und zog uns die Socken noch einmal hoch. Sie lächelte dabei die ganze Zeit, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen. Ich spürte ihre nassen Wangen an meiner Stirn, ihre salzigen Lippen.
Papa zog sie hoch und lachte wieder gekünstelt. Nie hatte ich so ein unechtes Lachen gehört.
»Was ist denn?«, rief er. »Man könnte ja meinen, dass sie für immer weggehen, und sie sind doch keine Babys mehr. Nun geht, meine Kinder, auf Wiedersehen.«
Ein flüchtiger Kuss, und dann schob er uns zur Treppe, meine Tasche hing schwer an meinem Arm, und Maurice öffnete die Tür in die Dunkelheit.
Meine Eltern waren oben geblieben. Viel später erst habe ich erfahren, dass mein Vater oben stand und sich mit geschlossenen Augen hin- und herwiegte in seinem unermesslichen Schmerz.
In dieser finsteren Nacht – längst war die Ausgangssperre verhängt worden und die Straßen vollkommen verlassen – tauchten wir ein in die Dunkelheit. Es war das Ende unserer Kindheit.